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ein Reader zum Themenschwerpunkt des Festival Theaterformen ...

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Jahren getroffen hatten, konfrontiert waren: Seither wurde ihr Glaube<br />

immer wieder durch das Leid, das sie sahen, in Frage gestellt. Dennoch<br />

halten sie an ihm fest.<br />

Was tun die Missionare, die Du getroffen hast?<br />

Sie sind oft an Schulen oder als Gefängnisgeistliche beschäftigt.<br />

Dann gibt es die berühmten ‚Broussards’ im Busch… Viele sind auch im<br />

Gesundheitssektor tätig. Bei Kikwit kümmern sie sich beispielsweise<br />

um Patienten, die an der durch <strong>ein</strong>e Anomalie der roten Blutkörperchen<br />

ausgelösten, unglaublich schmerzhaften Sichelzellenanämie leiden.<br />

Frappiert hat mich die Kreativität dieser Missionare: Sie lernen selbst<br />

Prothesen zu bauen, basteln Rollstühle und bemühen sich unermüdlich<br />

um Gelder für <strong>ein</strong>e Augenklinik und andere Projekte. Neunzig Prozent<br />

der Missionarsarbeit ist Improvisation. Ein Missionar wird an <strong>ein</strong>e Schule<br />

in Bongolo versetzt. Er reist dorthin. Kommt am Dienstagabend an,<br />

und am Mittwochmorgen steht er schon vor s<strong>ein</strong>er Klasse. Ein Lehrer<br />

erzählte mir, dass er alle Fächer unterrichten müsse: von Französisch,<br />

über Wirtschaft und Geschichte bis zu Theologie. Nur Niederländisch<br />

nicht: Er kam aus Westflandern und sprach mit Akzent. Dafür lehrte er<br />

Griechisch. Ein anderer Missionar sagte mir: „Drei Dinge darfst du nie<br />

vergessen: d<strong>ein</strong> Moskitonetz, d<strong>ein</strong>e Geräte für die heilige Messe und<br />

<strong>ein</strong>e Zange, um Zähne zu ziehen.“<br />

Missionare arbeiten sicher unter extrem schweren Bedingungen.<br />

Ein Beispiel: In Lubumbashi traf ich Baudouin Waterkeyn, den Bruder<br />

<strong>des</strong> Architekten, der das Atomium gebaut hatte. 1958, in dem Jahr,<br />

als s<strong>ein</strong> Bruder berühmt wurde, ging er in den Kongo, wo er seitdem<br />

lebt. Ich traf ihn am Vorabend <strong>des</strong> fünfzigsten Jahrestages s<strong>ein</strong>er Priesterweihe<br />

und er zeigte mir s<strong>ein</strong>en Arbeitsplatz, das Krankenhaus von<br />

Lubumbashi. Dort sieht man die absolute Verzweiflung <strong>ein</strong>es Lan<strong>des</strong><br />

wie <strong>des</strong> Kongo: Seit vier Jahren gibt es in diesem Krankenhaus k<strong>ein</strong>en<br />

Tropfen Wasser; um die Toiletten zu benutzen, muss man sich <strong>ein</strong>en<br />

Weg durch <strong>ein</strong>e sechs Zentimenter hohe Furt voll von Urin und Exkrementen<br />

bahnen. In <strong>ein</strong>em Akt von Großmut hat der neue Gouverneur<br />

von Katanga der Klinik <strong>ein</strong>en Leichenwagen und zwei Kühlschränke<br />

zur Aufbahrung der Leichen geschenkt. Wasser jedoch gibt es nicht!<br />

Ich sah <strong>ein</strong>en hübschen Jungen im Rollstuhl in der Kapelle. Er hatte<br />

weder Hände, noch Füße. Nur noch Stümpfe. Man hatte ihn beim Diebstahl<br />

von Kabeln erwischt. Da es im Kongo praktisch k<strong>ein</strong>e offizielle<br />

Gerichtsbarkeit gibt, goss man Benzin über s<strong>ein</strong>e Hände und Füße und<br />

zündete sie an. Es blieb ihm nur <strong>ein</strong> Daumen.<br />

Ich habe so viele be<strong>ein</strong>druckende Geschichten gehört. Ich traf<br />

<strong>ein</strong>e Schweizer Schwester, die seit drei Jahren in der Nähe von Bukavu<br />

mit Vergewaltigungsopfern arbeitet. Tausende von Frauen sind von<br />

diesem Verbrechen betroffen. Oder von Jo Deneckere in Lubumbashi,<br />

der den Krieg zwischen Hema und Lendu in Ituri erlebt hat. Um ihn zu<br />

vertreiben, hatte man mit Kalaschnikows auf ihn geschossen und dabei<br />

in Richtung s<strong>ein</strong>es Kopfes gezielt. Noch heute hat er Schwierigkeiten,<br />

zu hören. Dennoch ist er in der Region geblieben, da wo sich weder<br />

die MONUC noch die UNO hintrauen. Er erzählte mir, dass er <strong>ein</strong>mal<br />

durch <strong>ein</strong>e zu dieser Zeit befriedete Zone fuhr, in der es jedoch immer<br />

noch regelmäßig Patrouillen gab. Er sah <strong>ein</strong>en Zivilisten auf der Straße.<br />

Dieser Mann hatte neun Kugeln im Körper und lag im Sterben. Jo hielt<br />

an und nahm ihn mit ins Krankenhaus, um ihn zu pflegen.<br />

Du hast mir erzählt, die kongolesischen Bischöfe hätten <strong>ein</strong>en Brief geschrieben,<br />

in dem sie beklagen, dass der moralische Verfall das größte<br />

Problem in ihrem Land sei. Teilst Du diese Auffassung?<br />

Die Bischöfe haben Recht. Die Krise im Kongo begann in der Tat<br />

als ökonomische und politische Krise, als Krise der Demokratie: Aber<br />

heute ist es auch <strong>ein</strong>e veritable Moralkrise. Der Verfall <strong>des</strong> Lan<strong>des</strong> spiegelt<br />

sich im Leben fast aller Kongolesen. Die Vorstellung, es gäbe in<br />

Afrika noch <strong>ein</strong> sichtbares Gem<strong>ein</strong>schaftsgefühl und Solidarität, ist <strong>ein</strong>e<br />

Illusion. Der Kongo schleppt sich nicht an der Krücke der neoliberalen<br />

Weltordnung vorwärts, sondern ist das extremste Beispiel dafür, wie<br />

der Neoliberalismus durch den mit ihm <strong>ein</strong>hergehenden extremen Egoismus<br />

und übersteigerten Individualismus <strong>ein</strong> Land vernichten kann. Es<br />

gibt immer mehr Organisationen und Institutionen. Jeder will Direktor<br />

s<strong>ein</strong>. Die Armee zählt mehr Offiziere als <strong>ein</strong>fache Soldaten. Bürgersinn<br />

ist <strong>ein</strong> Fremdwort. Im Kongo lebt man nicht mehr zusammen, man<br />

überlebt im Kollektiv. Zum Glück trifft man auch ab und an großartige<br />

Menschen, und sie sind <strong>ein</strong>e Quelle der Hoffnung. Die Missionare<br />

vertrauen auf ihren Glauben und versuchen, Emanzipation und<br />

Gem<strong>ein</strong>schaftlichkeit im Land zu fördern und dazu beizutragen, dass die<br />

Wunden der Vergangenheit heilen.<br />

Wie wirst Du das Material D<strong>ein</strong>er Recherche ordnen? Hast Du schon<br />

<strong>ein</strong>e Idee?<br />

Die globale Struktur <strong>des</strong> Stücks wird durch <strong>ein</strong> oder zwei Interviews<br />

vorgegeben. Diese werden ergänzt durch weitere Berichte. Vieles<br />

von dem, was man mir erzählt hat, ist sehr bewegend. Das wird die Texte<br />

prägen. Es fällt mir allerdings schwer, dies jetzt und hier im Gespräch zu<br />

formulieren: Scham, Emotion, Angst vor Geschmacklosigkeit und Sensationalismus<br />

hemmen mich. Vielleicht ersch<strong>ein</strong>t es nach all dem, was<br />

ich berichtet habe, erstaunlich, aber auch Humor wird in Missie <strong>ein</strong>e<br />

Rolle spielen. Mit den Missionaren habe ich auch viel gelacht.<br />

Veröffentlicht im Magazin KVS_Express, Ausgabe November - Dezember 2007<br />

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