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ein Reader zum Themenschwerpunkt des Festival Theaterformen ...

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auf <strong>ein</strong>er graslosen Wiese. Ein Sandkasten ohne Kinder, acht mal acht<br />

Meter groß. Jemand schaltet den Kassettenrecorder <strong>ein</strong>. Es gibt k<strong>ein</strong><br />

Licht, k<strong>ein</strong>e Bühne, k<strong>ein</strong>e Spiegel, k<strong>ein</strong>e Stange, nichts. Auch k<strong>ein</strong>en<br />

Schatten. Nur Staub. Und ich realisiere, dass hier <strong>ein</strong> passionierter<br />

Choreograf s<strong>ein</strong>em künstlerischen Drang folgt und Aufführungen konzipiert,<br />

die in den prächtigen Theatersälen der Hauptstädte Europas<br />

aufgeführt werden.<br />

6. Zwar ist Kinshasa die Stadt in der Faustin Linyekula s<strong>ein</strong>e Studios<br />

Kabako formte, doch Kisangani ist die Stadt, die er in sich trägt. Kl<strong>ein</strong>er<br />

und ruhiger als Kin leckt Kisangani heute, nach vier Jahren Bürgerkrieg<br />

und unvorstellbarer menschlicher Grausamkeit, die Wunden. Für<br />

das Wiener New Crowned Hope <strong>Festival</strong> beschloss Faustin, in s<strong>ein</strong>e<br />

Heimatstadt zurückzukehren, in dem vollen Bewußts<strong>ein</strong>, dass die Stadt,<br />

die er in sich trägt, <strong>ein</strong>e Stadt geworden ist, von der man nur noch<br />

träumen kann. Das <strong>ein</strong>st prachtvolle Hotel Zaire Palace, <strong>ein</strong>st Objekt<br />

s<strong>ein</strong>er kindlichen Fantasien, ist heute <strong>ein</strong> besetztes Haus. Noch werden<br />

die Zimmer in der ersten Etage vermietet, aber nicht mehr pro Nacht<br />

sondern pro Monat. Der Preis ist zwanzig Dollar.<br />

Faustin betritt aufs Neue s<strong>ein</strong>e Heimatstadt und fragt sich, wer<br />

inzwischen besessen ist: Kisangani oder s<strong>ein</strong> Körper? Die Stadt, die er<br />

kannte, existiert nicht mehr. S<strong>ein</strong>e Freunde sind in alle Winde verstreut.<br />

Was bleibt von Kisangani, jetzt, da die Freunde fort sind? Vielleicht ihre<br />

Worte.<br />

Kabako, <strong>des</strong>sen Name Faustins Tanzcompany trägt, starb nahe der<br />

ugandischen Grenze an <strong>ein</strong>er Krankheit die man für ausgestorben hielt:<br />

die Beulenpest. Einige s<strong>ein</strong>er Texte sind in die neue Inszenierung <strong>ein</strong>geflossen.<br />

Kabako starb in <strong>ein</strong>em kl<strong>ein</strong>en Dorf, in dem es k<strong>ein</strong>en Friedhof<br />

gibt, denn dort werden die Toten in der Regel auf ihrem eigenen<br />

Land begraben. Ein Dörfler ohne Geschwister oder Freunde kümmerte<br />

sich um die Leiche <strong>des</strong> jungen Unbekannten: Kabako erhielt s<strong>ein</strong> Grab<br />

unter <strong>ein</strong>em Kaffeebaum. Der Körper, selbst der tote, ist Gegenstand<br />

von Mitleid und Vergessen. Doch Kabakos Freunde bedauern, dass der<br />

Weg zu s<strong>ein</strong>em Grab weit ist.<br />

Faustins anderer Freund Vumi (Antoine Vumilia Muhindo) gehört<br />

zu den dreißig Männern, die als angeblich am Mord an Präsident Laurent-Désiré<br />

Kabila Beteiligte <strong>zum</strong> Tode verurteilt wurden. Der Prozess,<br />

in dem er verurteilt wurde, gilt als Schauprozess. Vumi war – ist – <strong>ein</strong><br />

Dichter, doch er galt als Spion. S<strong>ein</strong> Text Un monologue du chien (Monolog<br />

<strong>ein</strong>es Hun<strong>des</strong>) ist die literarische Grundlage in Faustins jüngster<br />

Performance. War der Dichter lange Zeit Narr <strong>des</strong> Königs, so ist der<br />

Spion <strong>des</strong> Königs Hund.<br />

7. Sieben Personen auf der Bühne: vier Tänzer, <strong>ein</strong> Schauspieler,<br />

<strong>ein</strong> Countertenor, <strong>ein</strong> Techniker. Ihr Ausgangspunkt sind die Träume<br />

der Bewohner Kisanganis. Den Endpunkt setzt der 21jährige kongolesische<br />

Breakdancer Dinozord, <strong>des</strong>sen Spitzname lautmalerisch das<br />

französische Wort ‚dinosaure’ (Dinosaurier) nachempfindet. Das Pseudonym<br />

passt, denn er sieht sich als letzten Mann s<strong>ein</strong>er Rasse, für den<br />

der Körper, selbst verstümmelt und krank, immer noch heilig ist. S<strong>ein</strong><br />

Solo im Finale verschmilzt im Duett mit dem siebzehnjährigen, bemerkenswert<br />

reifen Opernsänger Serge Kakudji aus Lubumbashi. „Denn“,<br />

so sagt Faustin Linyekula, „das letzte Wort sollte der Jüngste in der<br />

Gruppe haben.“<br />

Die Produktion ist k<strong>ein</strong>e nostalgische Rückkehr <strong>ein</strong>es mittlerweile<br />

etablierten Tänzers zu s<strong>ein</strong>en Wurzeln, k<strong>ein</strong>e erwartbare Reise in die<br />

Vergangenheit von jemandem, der es geschafft hat. Es ist die Erforschung<br />

<strong>ein</strong>er Stadt in Trauer und wiederbelebte Hoffnung. „Ich muss“,<br />

sagt Faustin Linyekula, „nach Hause zurückkehren, bevor ich mich neu<br />

auf den Weg machen kann. Ich wende das Blatt, bevor ich <strong>ein</strong>e neue<br />

Seite beginne. Es ist, als hätte Mozart s<strong>ein</strong> Requiem vor der Zauberflöte<br />

geschrieben.“<br />

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