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ein Reader zum Themenschwerpunkt des Festival Theaterformen ...

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Decolonializing Germany –<br />

Zur Notwendigkeit postkolonialer<br />

Perspektivverschiebungen*<br />

Kien Nghi Ha (Berlin)<br />

Prof. Dr. Esiaba Irobi hatte angekündigt an dieser Stelle über Probleme<br />

mit postkolonialer Theorie aus <strong>ein</strong>er afrikanischen, diasporischen<br />

und postkolonialen Perspektive zu sprechen. Ich bedauere zutiefst,<br />

dass Esiaba Irobi s<strong>ein</strong>e Argumente und Ideen nicht mehr persönlich mit<br />

uns teilen kann und s<strong>ein</strong> Wissen wie s<strong>ein</strong>e darin enthaltenen persönlichen<br />

Lebenserfahrungen uns nur noch medial vermittelt zur Verfügung<br />

stehen. M<strong>ein</strong> tief empfundenes Mitgefühl gilt zuallererst s<strong>ein</strong>en Familienangehörigen<br />

und FreundInnen.<br />

Die Nachricht über s<strong>ein</strong>en Tod kam für mich sehr überraschend<br />

und hat mich in <strong>ein</strong>em Zustand der Trauer und Verwirrung versetzt. Ich<br />

war persönlich umso mehr bestürzt, da ich noch im April dieses Jahres<br />

auf <strong>ein</strong>er gem<strong>ein</strong>samen Tagung an der Freien Universität Berlin die<br />

Möglichkeit hatte Esiaba Irobi zu begegnen, als er <strong>ein</strong>en Vortrag über<br />

die Repräsentation und Marginalisierung schwarzer Kultur in der Weißen<br />

1 , angloamerikanischen Imagination hielt. S<strong>ein</strong>e brillante Intellektualität<br />

und s<strong>ein</strong> leidenschaftliches Eintreten in der Aus<strong>ein</strong>andersetzung<br />

mit den allgegenwärtigen Hinterlassenschaften <strong>des</strong> europäischen Kolonialismus<br />

haben mich außerordentlich be<strong>ein</strong>druckt. S<strong>ein</strong>e großartige<br />

Stimme und Persönlichkeit, die in vorbildhafte Weise wissenschaftliche<br />

Kritikfähigkeit mit individueller Verantwortung und politischem Engagement<br />

zu verbinden wusste, und s<strong>ein</strong>e von <strong>ein</strong>er tiefen universellen<br />

Humanität gekennzeichneten Einsichten werden im kritischen Diskurs<br />

zweifellos schmerzlich vermisst. Diejenigen, die das Glück und Privileg<br />

hatten Esiaba Irobi auch nur für <strong>ein</strong>en kurzen Moment kennenzulernen,<br />

werden ihn als <strong>ein</strong>en klugen, leidenschaftlichen und weltoffenen Intellektuellen<br />

in Erinnerung behalten, der sich mit Nachdruck gerade auch<br />

gegen die weniger offensichtlichen Seiten von Rassismus und anderen<br />

gesellschaftlichen Ungleichheitsverhältnissen <strong>ein</strong>setzte.<br />

Mir ist es vollkommen unmöglich Esiaba Irobi in irgend<strong>ein</strong>er Weise<br />

zu ersetzen oder s<strong>ein</strong>e Positionen zu repräsentieren. Trotzdem ist<br />

es möglich, dass das Thema m<strong>ein</strong>es Vortrags, dass die kolonialen Tradierungen<br />

in der politischen Kultur Deutschlands kaleidoskopartig und<br />

beispielhaft zur Diskussion stellt, aus der umgekehrten Richtung mit<br />

dem von Esiaba Irobi für die heutige Veranstaltung vorgeschlagenen<br />

Thema <strong>ein</strong>er post-kolonialen, d.h. <strong>ein</strong>er nicht im theoretischen, sondern<br />

im historischen Sinne gewendeten Dezentrierung Afrikas jenseits <strong>des</strong><br />

kolonialen Mantra verbunden ist. Während die <strong>ein</strong>dimensionale Reduktion<br />

Afrikas auf die koloniale Erfahrung gerade aus afrikanischer Perspektive<br />

als Form der fortgesetzten geistesgeschichtlichen Verarmung<br />

und kulturellen (Re-)Kolonialisierung ersch<strong>ein</strong>en kann, erleben wir auf<br />

der anderen Seite oftmals die Inszenierung <strong>ein</strong>er Perspektive, in der<br />

die europäische Moderne sch<strong>ein</strong>bar nur lose und eher beiläufig mit<br />

der bis in die jüngste Zeit andauernden, jahrhundertealten Geschichte<br />

der Kolonialisierung verbunden ist. Bereits diese Externalisierung der<br />

kolonialen Dimension aus dem gesellschaftlichen Selbstverständnis<br />

und die damit verbundene <strong>ein</strong>seitige Auslagerung aus dem kollektiven<br />

Wissenskanon sagt etwas über die Macht der kolonialen Präsenz aus.<br />

Über die r<strong>ein</strong>e Vergangenheitsaufarbeitung hinaus geht es mir in diesem<br />

Diskussionsbeitrag darum, <strong>ein</strong>e Perspektive anzudenken, in der<br />

die Abschiebung und Entsorgung der kolonialen Dimension aus der<br />

eigenen westlichen Kultur- und Sozialgeschichte als gesellschaftlicher<br />

Mythos entziffert wird, der <strong>ein</strong>en irrationalen, nicht zuletzt auf ideologische<br />

Ausblendung abzielenden Umgang mit Rassismus und kolonialen<br />

Praktiken produziert. Die besonders in Deutschland weit verbreitete<br />

Maxime, das etwas nicht existent s<strong>ein</strong> kann, das im Rahmen der mühsam<br />

gepflegten politischen Kultur <strong>des</strong> westlich-aufgeklärten Überlegenheitsanspruch<br />

<strong>zum</strong>in<strong>des</strong>t offiziell nicht s<strong>ein</strong> darf, verleitet zu <strong>ein</strong>em<br />

selektiven Selbstbild, das auf historische Verdrängung und politische<br />

Realitätsverleugnung hinausläuft und daher weder im Stande ist, gesellschaftliche<br />

Veränderungen anzustoßen, noch sich seriös auf <strong>ein</strong>en<br />

kritischen, sich selbst in Frage stellenden Dialog im globalen Rahmen<br />

<strong>ein</strong>zulassen.<br />

Kolonialismus ist in Deutschland – sobald er als kritische Analysekategorie<br />

und nicht wie gewohnt als ideologischer Gewaltapparat<br />

gebraucht wird – <strong>ein</strong> unnahbarer, geradezu un-heimlicher Begriff. S<strong>ein</strong>e<br />

Untiefen ersch<strong>ein</strong>en in ihrer unbehaglichen Abgründigkeit so un-wirklich,<br />

dass dieses Unwort sorgsam ver- und gemieden wurde. Wie die<br />

Rassismuskritik löst die Erinnerung an koloniale Unterdrückungen bei<br />

Weißen Deutschen das Bedürfnis nach augenblicklicher Distanzierung<br />

aus. Meist schlagen sich solche Entlastungsstrategien in der Sehnsucht<br />

nach <strong>ein</strong>em endgültigen Schlussstrich nieder. Die Weigerung der deutschen<br />

Dominanzgesellschaft, sich mit den kolonialen Grundlagen ihrer<br />

eigenen Kulturgeschichte und politischen Identität aus<strong>ein</strong>ander zu setzen,<br />

hat weitreichende Folgen. Sie reflektiert <strong>ein</strong>en Prozess, in dem weder<br />

die Unterwerfung <strong>des</strong> Anderen noch die Frage nach der kolonialen<br />

Konstruktion der deutschen Nation zur Sprache kommt. Entsprechend<br />

steht auch das Fortwirken dieses Machtfel<strong>des</strong> auf die gegenwärtige<br />

Verfassung der deutschen Gesellschaft nicht im Fokus der Debatte.<br />

Diese Frage wird um so gefährlicher und unzulässiger, je stärker der<br />

Blick auf das gebrochene, aber un<strong>ein</strong>deutige Verhältnis zwischen Vergangenheit<br />

und Gegenwart, auf den Zusammenhang von äußeren und<br />

inneren Zwängen, kurz auf die ungeklärte Aktualität deutscher Kolonialkultur<br />

gelenkt wird. Bisher hat das gesellschaftliche Schweigen, das<br />

Verschweigen, das Totschweigen, das Feld <strong>des</strong> notwendig Sagbaren<br />

weitgehend verdrängt. Das Schweigen ist <strong>ein</strong>e bewusste Amnesie, und<br />

die Amnesie ist <strong>ein</strong>e politische Ausdrucksform <strong>des</strong> kollektiven Gedächtnisses.<br />

Daher ist das konsensuale Schweigen <strong>ein</strong>e dominante Machtartikulation,<br />

die sich der Aufarbeitung und Sichtbarmachung imperialer<br />

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