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Dritte Ausgabe der ST/A/R - Zeitung

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TIRO L 20 00 RU PERT VOLGG ER<br />

Fünfte Überschrift: Wertschätzung des fremden Blicks<br />

Untertitel: Die Szene öffnen, externe Beiräte fördern<br />

Soweit ich weiss hat Feldkirch als einzige der Vorarlberger Gemeinden, in denen<br />

unabhängige Architekturbeiräte wirken, einen Beirat mit externen Fachleuten.<br />

Und das spiegelt sich auch im Niveau der dort geleisteten Arbeit.<br />

Man sollte diese Öffnung auch anderswo und viel breiter wagen. Ich möchte sie<br />

dazu an eines erinnern: die Pionierleistungen der hiesigen Baukultur wurden<br />

nicht von Architekten allein definiert. Es waren bildende Künstler, Literaten,<br />

Grafiker, Musiker, Kleinkünstler usw., die damals weit über den heimischen<br />

Tellerrand blickten, - und ihre spezifische Sensibilität, ihre Lebens- und Weltsicht<br />

war ein wesentliches Ferment für die Evolution einer neuen Architektur.<br />

Sechste Überschrift: Vom Leistungsdenken zum Sprachbewusstsein<br />

Untertitel: Vom guten Bauen zur Syntax der Baukunst<br />

Ich sage es überspitzt: Null-Energie ist schön, macht aber noch keine Architektur.<br />

Oder anders formuliert: in der extrem fleißigen, tüchtigen alemannischen<br />

Gesellschaft, herausdestilliert unter den harten, historischen Bedingungen von<br />

Mangel aber auch früher Eigenverantwortung, ist das Preis-Leistungsverhältnis<br />

oberste Maxime, und solche objektivierbare Sachlichkeit ist auch die große<br />

Stärke dieser Mentalität. Aber das hat auch seine Grenzen, kann sich im<br />

eindimensionalen Schematismus erschöpfen. Das Leben ist nicht nur<br />

Notwendigkeit, nachvollziehbares Schema; es muss auch Sinn machen. Und Sinn<br />

entsteht nur dort, wo wir weiterfragen: nicht nur, was leisten diese Dinge, was l e i s<br />

t e n unsere Elemente, sondern - was s a g e n sie uns. So wie in der Sprache: der<br />

grammatikalisch richtige, schlackenlose Satz ist durchaus nützlich; aber über die<br />

blosse Verständigung hinaus werden die Wörter erst zu einer Sprache, die uns<br />

auch über uns selbst etwas sagt und so erst zum kulturellen Instrument wird, wenn<br />

sie über reine Logik hinausreichende Werte erreicht, in andere Dimensionen<br />

dringt, mit der Syntax bewusst zu arbeiten und zu spielen beginnt, komplexere<br />

Bedeutungen und ja auch so etwas wie Witz erlangt (Witz im Sinne Wittgensteins<br />

„Aspektwechsel“ von Logik, Spielregeln oder Syntax..). Baukunst ist Raumkunst,<br />

und das beginnt natürlich, wie Mies van der Rohe anmerkte, „dort, wo zwei Ziegel<br />

sorgfältig aufeinander gesetzt werden“, aber bitte genau lesen: der Weg b e g i n nt<br />

dort, das Ziel ist noch weit...<br />

Siebente Überschrift: Vertiefung des kritischen Dialogs<br />

Untertitel: Weg mit der Lobhudelei, Zeit für Reflexion!<br />

Es war eine besondere Charakteristik in den Pionierphasen der Vorarlberger<br />

Architektur, speziell der „Baukünstler“, dass es den intensiven und offenen<br />

Gedanken- und Erfahrungsaustausch zwischen den Akteuren gab, - vermutlich<br />

auch „erzwungen“ als Solidarität in einer Gruppierung von Außenseitern, die sich<br />

zum Überleben gegen die Widerstände und die Normen der herrschenden<br />

Gesellschaft formieren mussten, gegenseitig stärken und bestärken mussten,<br />

Strategien und Knowhow teilen und gemeinsam verbessern, vorantreiben<br />

mussten. Höhepunkt war sicher der „Befugnisstreit“ gegen die<br />

Architektenkammer Mitte der 80er Jahre. Seit den 90er Jahren ist dieses interne,<br />

auch selbstkritische Gespräch rückläufig, der äußere Widerstand fiel immer mehr<br />

weg, die Aufträge wurden immer mehr, Zeit zur Reflexion des Tuns individuell<br />

oder gar gemeinsam - gibt es heute praktisch nicht mehr. Es gibt auch nicht, wie in<br />

anderen Regionen, eine Universität, die eine solche Rolle der kritischen Ebene<br />

spielen könnte, es gibt dafür jetzt Institutionen wie das VAI oder die verjüngte<br />

Zentralvereinigung. Es liegt an diesen, nun ein solches kritisches, reflexives<br />

Moment in der Szene wiederzubeleben, die konstruktive Konfrontation mit der<br />

jungen, nächsten Generation, mit den immer noch präsenten Pionieren und mit<br />

den Etablierten zu fördern, Impulse von aussen hereinzuholen usw., die<br />

publizistische Ebene nicht nur im Sinne von Propaganda sondern auch der<br />

analytischen Qualität zu fördern...<br />

Achte Überschrift: Rückkehr zu neuen Konzepten<br />

Untertitel: Design ist nicht das Sein<br />

Im Zentrum der Entwicklung der neuen Vorarlberger Baukunst stand die Suche<br />

nach den baulichen Strukturen für neue Lebensformen. Die Pioniere und ihre<br />

Sympathisanten, ihre Bauherren, suchten nach neuen Lebensmodellen, suchten<br />

nicht primär das Design oder die optimierte Hülle. Dieser konzeptionelle Ansatz,<br />

das war die „provocation constructive“, die bis heute weiterwirkte, und jetzt auch<br />

von aussen und retrospektiv studiert und wiederentdeckt wird. Wenn das jetzt so<br />

blendend eingespielte Räderwerk des modernen Bauens nicht schöner Leerlauf<br />

werden soll, muss wieder an der konzeptionellen Sicht, an der Grundmotivation<br />

der Baukunst gearbeitet werden. Als neuer Slogan steht jetzt einmal<br />

„Lebensqualität“ im VAI zur Debatte. Slogan, der erst mit Inhalten zu füllen ist...<br />

Neunte Überschrift: Berührbarer Raum<br />

Untertitel: Architektur jenseits des schönen Bildes<br />

Auch das war ein Merkmal der Pionierphase: Bauen von einfachen, offenen,<br />

robusten Strukturen, offen für die Veränderung, für die individuelle<br />

Bemächtigung, den Wechsel von Nutzungen usw. Nicht die Perfektion des einmal<br />

in Szene gesetzten Ambientes stand im Vordergrund, das perfekt aufgeräumte,<br />

geschlossene Bild bewohnbarer Ästhetik, sondern die Elastizität, die Offenheit<br />

für den Gebrauch, die Berührbarkeit der Räume. An solchen Qualitäten, wären<br />

auch künftige, neue Baumodelle zu messen...<br />

Wolfgang Juen mit Respekt<br />

(die Redaktion)<br />

Letzte Überschrift: Evolution des Rhizoms<br />

Untertitel: Vorhandene Stärken weiter stärken<br />

In keiner anderen Region gibt es heute ein so brisantes Gefüge zwischen Planern,<br />

politisch/institutioneller Ebene und Ausführenden. Nicht nur im Holzbau, aber<br />

gerade dort habt Ihr heute Partner auf der Seite der Technologie, der Ausführung,<br />

wie man sie sich nur wünschen, erträumen kann. Überhaupt gibt es hier ein<br />

Kraftfeld zwischen lokaler Politik, zwischen kleinen, aber höchst innovativen,<br />

enorm beweglichen Unternehmensstrukturen, schlanken Institutionen für<br />

Marketing und Vermittlung - und dynamischen Planungsbüros, und dieses<br />

Rhizom verlangt geradezu nach neuen Herausforderungen, neuen<br />

Wegmarkierungen. Es ist das ein enorm starker, guter Nährboden, auf dem alle<br />

vorhin genannten Ideen weiter diskutiert, vorangetrieben, ausprobiert,<br />

nachjustiert und vielleicht auch mehr als bisher exportiert werden können. Aber<br />

Ihr wisst ja: gesundes Wachstum im Export bedeutet reziprok immer auch<br />

Zulassen des Wachstums für Import...<br />

Als Nachsatz für Euch, die regionalen Weltmeister des modernen Pragmatismus,<br />

der Präzision im Konkreten ein Zitat von Richard Senett aus seinem Buch „Die<br />

Großstadt und die Kultur des Unterschieds“:<br />

„Unsere Kultur misst der Konkretion einen hohen Wert bei, zu Lasten der<br />

Abstraktion. Mach es wirklich, indem du es konkret machst! ist nicht nur ein Gebot<br />

für den Künstler, sondern auch ein Gebot für den Alltag...Für gewöhnlich<br />

erscheint das Konkrete als solide, als terra firma, als eine Welt aus Marmor. Das<br />

Ungewisse hingegen scheint der Sphäre ungreifbarer Unschlüssigkeit und<br />

zartfühlender, nach innen gerichteter Subjektivität anzugehören. Aber die<br />

Bereitschaft, Ungewissheit zu dulden, ist Teil ebenso der wissenschaftlichen<br />

Forschung wie der künstlerischen Kreativität. Ein Wissenschaftler, der<br />

methodisch von einem selbstverständlichen Faktum zum nächsten<br />

voranschreitet, entdeckt gar nichts. Er entwickelt kein Gespür für die<br />

Phänomene, keinen Argwohn, keine Neugier. Ein guter Krebsforscher dagegen<br />

will eine Zelle finden, die nicht dort sein sollte, wo sie ist...Und je mehr ein guter<br />

Musiker sein kritisches Gehör schult, desto provisorischer erscheinen ihm die<br />

Lösungen, die er findet... Seine Konzentration aufs Konkrete wird belohnt durch<br />

Entdeckungen, die das Unerwartete und das Problematische offenbaren. In<br />

ebendiesem Sinne besteht die Korrelation zwischen Konkretion und<br />

Ungewissheit.“<br />

Wie gesagt, versteht meine Wortmeldung nicht als Nörgelei des Außenstehenden,<br />

ich verstehe mich eher als sporadischer Katalysator. Ihr wisst selber sehr gut, wo<br />

Euch der Schuh drückt, ihr „leidet auf hohem Niveau“, sagte eben einer Eurer<br />

Besten. Je höher das Niveau, desto tiefer siehe Sennet kann und muss man sich<br />

eben der Ungewissheit stellen. Dazu wünsche ich das Allerbeste!<br />

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