ST:A:R_20
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Stapelt die gezogenen Briefe auf einen Stoß. Nimmt Zeichenbrett und Griffel zur Hand.<br />
Nun die Liste:<br />
Semjonow, Timofeew, Jegorow, Petrow, Sorokin, Korowin, Toporow, Kurizyn, Tjulkin,<br />
Ustjugow, Schuljak, Lewin, Feldman, Kormilzew, Stodolski, Bajkeew, Sabatjugin, Gadasik,<br />
Beberaschwili, Simogljadow, Sawin, Osipow, Injuschin, Rubzow …<br />
So! Morgen sind alle verhaftet …<br />
Von diesem Moment an sind sie alle Verräter …<br />
Volksfeinde …<br />
2. BILD<br />
Gradusow erhebt sich vom Tisch. Ordnet die Uniform. Tritt vor den Spiegel, rupft sich ein<br />
Haar aus der Nase. Niest.<br />
Gradusow: Was für eine enorme Hitze! Vierzig Grad! Nein, wahrscheinlich sind es nur<br />
dreißig… Egal, es ist unerträglich heiß! Ich brauche eine Abkühlung, ich fahre an die Donau<br />
baden, ein wenig schwimmen.<br />
Zieht sein Moped aus der Wand, startet und fährt weg. Die Bühne dreht sich.<br />
Donauufer. Froschgequake. Gradusow stellt den Motor ab, zieht sich aus und begibt sich ins<br />
Wasser. Schwimmt.<br />
Gradusow: Huch, was ist das? Wer …?<br />
Pater Bonifaz erhebt sich aus dem Wasser, er ist ebenfalls nackt.<br />
Pater Bonifaz: Haben Sie keine Angst, ich bin es, Pater Bonifaz! Ich tauche hier.<br />
Gradusow: Pater Bonifaz? Haben Sie mich erschreckt!<br />
Pater Bonifaz: Entschuldigen Sie, ich bin zufällig hier.<br />
Der nackte Pater Bonifaz erhebt sich aus dem Wasser und schüttelt Gradusow die Hand.<br />
-11-<br />
Gradusow: Tauchen Sie öfters hier?<br />
Pater Bonifaz: Fast täglich.<br />
Gradusow: Es ist schön hier …<br />
Pater Bonifaz: Haben Sie sich bereits eingewöhnt?<br />
Gradusow: Ja, alles bestens. Ich wohne bei einem Bauern und habe ein großes, helles<br />
Zimmer. Ich bin zufrieden. Die besten Voraussetzungen für eine fruchtbare Arbeit.<br />
Pater Bonifaz: Was, haben Sie so viel zu arbeiten?<br />
Gradusow: An Arbeit mangelt es uns nie!<br />
Pater Bonifaz: Aber der Krieg ist doch zu Ende! Gegen wen kämpfen Sie noch?<br />
Gradusow: Wie, gegen wen? Gegen den ideologischen Feind.<br />
Pater Bonifaz: Aha …<br />
Gradusow: Hören Sie, bei einem Spaziergang um das Kloster stieß ich auf einen großen<br />
Sportplatz mit einem Fußballfeld. Er gehört wahrscheinlich zum Kloster. Spielen Sie<br />
Fußball? Spielen Mönche Fußball?<br />
Pater Bonifaz: Ja, wir haben in der Tat eine Fußballmannschaft. Ich bin der Trainer. Ich<br />
selbst spiele nicht mehr, ich stehe im Tor. Im März haben wir sogar gegen die Mannschaft<br />
des 4. Bataillons der „Totenkopf-Panzerdivision aus Amstetten gewonnen.<br />
Gradusow: Früher habe ich auch Fußball gespielt. Im Krieg hatte ich keine Möglichkeit<br />
dazu.<br />
Pater Bonifaz: Der Krieg ist zu Ende! Zeit Fußball zu spielen!<br />
Gradusow: Ja. Fußball …!<br />
Pater Bonifaz: Wir haben zurzeit niemanden gegen den wir antreten können! Die<br />
-6-<br />
Und die Mädchen wollen es auch! Ihre Männer sind im Krieg gefallen oder wurden als<br />
Kriegsgefangene nach Sibirien verschleppt. Von dort kehrt kaum einer zurück, und sollte es<br />
doch einmal einer schaffen, ist ungewiss wann. Es kommen nur Vereinzelte, gebrochen und<br />
gebeugt, wieder.<br />
Wenn die Nazi-Befehlshaber, die all diese Verbrechen in Auftrag gegeben haben, durch den<br />
internationalen Gerichtshof in Nürnberg verurteilt sind, werden Millionen von Soldaten<br />
und Offizieren, die gezwungen waren, diese Befehle auszuführen, ohne Gericht und ohne<br />
Verfahren zur Zwangsarbeit nach Russland verfrachtet, um unsere vom Krieg zerstörte<br />
sozialistische Wirtschaft wiederaufzubauen. Und wir, die Sieger, dürfen nicht einmal ihre<br />
Frauen heiraten!<br />
Hitler züchtete sich die Herrennation, Stalin die der Sklaven. In der deutschen Armee war<br />
die Anrede „Herr“ üblich, bei uns „Genosse“! Das russische Wort für Genosse „Towarisch“<br />
hat eine zweifelhafte Etymologie, es wurde erstmals zu Zeiten Iwan des Schrecklichen<br />
im Umgang unter Banditen, die Kaufleute mit den Worten „towar ischi – such die Ware“<br />
ausraubten, schriftlich festgehalten …<br />
Magdalena erhebt sich vom Bett und kleidet sich an.<br />
Magdalena: (deutsch) Andrej, es wird schon hell, ich muss gehen! (deutet zum Fenster)<br />
Gradusow: Warte! Es ist noch völlig dunkel! Und die Nacht ist warm! Gehen wir baden?<br />
Fahren wir mit dem Motorrad an die Donau! Ich kenne einen schönen Ort! Lass uns<br />
schwimmen gehen! (macht Schwimmgesten) Dawaj, kommst du?<br />
Magdalena: (russisch) Dawaj!<br />
Gradusow: Ja, du verstehst alles, was ich dir sage! Und kennst sogar zwei Worte auf<br />
Russisch: „da“ und „dawaj“! Sehr gut!<br />
Magdalena: Da, da …<br />
Gradusow zieht sich an und startet das Moped, schaltet den Scheinwerfer ein. Steigt auf das<br />
Moped. Magdalena löscht die Tischlampe, setzt sich auf den Rücksitz, schlingt die Arme um<br />
seine Hüften.<br />
Gradusow: Halte dich gut fest! Ich gebe Vollgas! Wie schon Gogol sagte: „Ach, welch Russe<br />
liebt es nicht, mit ungaublicher Geschwindigkeit dahinzujagen!“<br />
Magdalena: Dawaj, dawaj!<br />
Der Scheinwerfer zerschneidet die Dunkelheit, das Moped dreht einige Kreise und Achter.<br />
Es hält. Erste Morgendämmerung. Am Horizont ist die aufgehende Sonne zu sehen.<br />
Gradusow und Magdalena entkleiden sich und steigen in die Donau. Lachen und Plätschern<br />
des Wassers.<br />
Zur selben Zeit pirscht sich die dunkle Silhouette eines Mannes an das Moped heran,<br />
sammelt die Kleidungsstücke der Badenden auf und läuft davon. Eine Minute später steigen<br />
Gradusow und Magdalena aus dem Wasser. Gradusow blickt sich um.<br />
Gradusow: Zum Teufel!<br />
Magdalena: (deutsch) Mein Gott!<br />
Gradusow: Unser Gewand ist weg! (spuckt aus) Wer ist da? Was soll der Scherz? (sieht sich<br />
um) Geben Sie das Gewand zurück! Her mit den Kleidern! Haben Sie gehört? Geben Sie<br />
sofort unsere Sachen her!<br />
Keine Antwort.<br />
Magdalena: (bedeckt das Gesicht mit den Händen) Mein Gott!<br />
Gradusow: Verdammte Scheiße! (stürzt zum Moped) Schnell, solange es noch nicht ganz<br />
hell ist! Fahren wir! So wie wir sind, nackt! Schnell! Dawaj! Dawaj!<br />
Sie fahren. Helles Tageslicht.<br />
Pater Bonifaz: (wehrt den Ball geschickt ab) Sagen Sie schon, ich sterbe vor Neugierde!<br />
Gradusow: Marschall Malinowski hat Marschall Rokossowski, den Kommandanten der 1.<br />
Weißrussischen Front zum Match eingeladen!<br />
Pater Bonifaz: Oho, sieh einer an!<br />
Gradusow: Und das ist immer noch nicht alles!<br />
Pater Bonifaz: Das kann nicht sein.<br />
Gradusow: Doch, ist es!<br />
Pater Bonifaz: Nun!<br />
Gradusow: (schießt den Ball in Richtung Pater Bonifaz) Marschall Rokossowski Hat Marschall<br />
Wasiljewski, den Kommandanten der 2. Weißrussischen Front eingeladen!<br />
Pater Bonifaz: (verfehlt den Ball, der hinter die Kulissen landet) Was Sie nicht sagen!<br />
Gradusow: Ja! Das wird ein Spiel!<br />
Pater Bonifaz: Drei Marschalls auf einen Schlag! AhA!<br />
Gradusow: (biegt einen Finger nach dem anderen zurück, zählt auf) Malinowski, Rokossowski<br />
und Wasiljewski!!<br />
Pater Bonifaz: Malinowski, Rokossowski und Wasiljewski!<br />
Gradusow: (ballt die Hand zur Faust) Hurra!<br />
Pater Bonifaz: (klopft Gradusow auf den Rücken) Hurra!<br />
Gradusow vollführt einen spontanen Freudentanz, springt, läuft, einen imaginären Ball mit<br />
Füßen und Kopf in Richtung Tor schlagend. Pater Bonifaz sieht ihm lachend zu.<br />
Gradusow: (hält inne) Wer zuletzt lacht, lacht am besten!<br />
Pater Bonifaz: Wer zuletzt lacht, lacht am besten!<br />
Gradusow: Ich fahre und stelle die Mannschaft zusammen!<br />
Pater Bonifaz: Gute Fahrt!<br />
Gradusow springt auf das Moped, dreht einige Kreise und Achterschleifen auf der Bühne<br />
und fährt mit einem lauten „Hurra“ ab.<br />
2. BILD<br />
Völlige Finsternis. Knarren eines Bettes. Stöhnen. Gedämpfte Schreie.<br />
- Magdalena!<br />
- Andrej!<br />
- Magdalena!<br />
- Andrej!<br />
- Magdalena!<br />
- Andrej!<br />
Ein Streichholz flammt auf, die Tischlampe wird angezündet. Gradusows Zimmer. Die<br />
Einrichtung ist unverändert, nur drei Portraits hängen jetzt über dem Bett: Marschall<br />
Malinowski, Marschall Rokossowski und Marschall Wasiljewski. Im Bett liegen Gradusow<br />
und Magdalena.<br />
Schon wieder Post? Die wurde heute doch schon einmal gebracht! Oder irre ich mich?<br />
-7-<br />
Gradusow: Wie schön! Niemals zuvor in meinem Leben war ich so glücklich! Ich liebe dich,<br />
Magdalena!<br />
Magdalena: (deutsch) Ich liebe dich, Andrej!<br />
Gradusow: Magdalena! Magda und Lena! Zwei in einem! Zwei Namen in einem, die<br />
deutsche Magda und die russische Lena. Darf ich dich Lena nennen?<br />
Magdalena: (nickt, auf Russisch) Da, da, Lena…<br />
Gradusow: Lena! Lena… (küsst sie auf die Stirn)<br />
Magdalena: Andrej…<br />
Gradusow: Warum kann ich dich nicht heiraten? Wieso ist es uns verboten, Kontakt mit<br />
österreichischen Mädchen zu haben? Nichts dürfen wir. Dabei ist der Wunsch so stark!<br />
-10-<br />
Wehrmachtstruppen haben sich zerschlagen, die einen sind umgekommen, die anderen in<br />
Gefangenschaft geraten. Es wäre übrigens nicht uninteressant gegen die Russen zu spielen!<br />
Gradusow: (nachdenklich) Ich könnte wahrscheinlich eine Mannschaft aufstellen.<br />
Pater Bonifaz: Versuchen Sie es!<br />
Gradusow: Ich kann Ihnen nichts versprechen, ich muss erst mit meinen Vorgesetzten<br />
reden.<br />
Pater Bonifaz: Nun denn, reden Sie mit Ihnen! Sobald Sie etwas wissen, kommen Sie ins<br />
Kloster und fragen Sie nach Pater Bonifaz, man wird Sie zu mir führen. Sie können auf<br />
unserem Platz trainieren, der Fußballplatz ist hervorragend.<br />
Gradusow: Das wäre großartig!<br />
Pater Bonifaz: Wie immer, es hat mich gefreut, Sie kennen zu lernen, ich würde mich<br />
freuen, Sie wieder zu sehen. Ich werde nun wieder in die Kühle der Donau eintauchen.<br />
Pater Bonifaz schüttelt Gradusow die Hand und begibt sich in die Gewässer der Donau.<br />
Gradusow kleidet sich an, steigt auf das Moped und fährt ab.<br />
3. BILD<br />
Das Zimmer von Gradusow. Es wird bereits dunkel. Auf dem Tisch steht eine Lampe.<br />
Gradusow geht nervös im Zimmer auf und ab. Greift sich mit den Händen an den Kopf.<br />
Gradusow: Herrgott, warum muss ich das tun? Die Verurteilung tausender unschuldiger<br />
Menschen unterschreiben, heldenhafte sowjetische Offiziere in den Tod schicken, die ihr<br />
Leben im Namen des Sieges eines Diktators über den anderen riskiert haben?<br />
Ich will nicht, ich will nicht mehr, ich will es nicht!!! Wenn ich es allerdings nicht tue,<br />
werde ich selbst Repressionen ausgesetzt. Ich tue das nur um meine eigene Haut zu retten!<br />
Tue ich es nicht, macht es ein anderer! „Niemand ist unersetzbar!“, wer kennt ihn nicht,<br />
Stalins Ausspruch, den er gegenüber seiner Frau Nadjeschda Krupskaja äußerte, als sie<br />
versuchte ihn zu kritisieren. „Wir erklären eine andere Frau zur Witwe des Führers.“ Und<br />
die Krupskaja sagte kein Wort mehr. Und trotzdem hat er sie dann vergiftet. Wie den Maxim<br />
Gorkij. Und viele andere. Auch Lenin soll er auf dem Gewissen haben …<br />
Was, wenn Hitler gewonnen hätte? Die Amerikaner warteten bis zum Schluss, bevor sie die<br />
zweite Front eröffneten, weil sie Angst hatten in den Konflikt der zwei Ungeheuer involviert<br />
zu werden. Sie warteten ab. Hätte sich Hitler als Sieger abgezeichnet, hätten sie ihn<br />
unterstützt und wären auf jegliche Verhandlungen und Abkommen mit ihm eingegangen.<br />
Sie verstanden, dass es Hitler nicht um Sibirien ging, dass er nicht weiter als bis zum<br />
Ural vorstoßen würde, zumindest stand es nicht auf seinem Plan, die Territorien östlich<br />
des Uralgebirges und des Kaukasus zu erobern. Ihn interessierte nur das Öl und Erz, und<br />
keineswegs die grenzenlose unwegsame Taiga. Der Plan der Amerikaner war es, Stalin in<br />
den Rücken zu fallen, indem sie den Fernen Osten und die Halbinsel Kamtschatka, die<br />
Weiten Südsibiriens bis zum Baikalsee einnahmen und Mittelasien Japan in Pacht abgeben<br />
würden. Nur zu gerne hätten Sie die UdSSR mit Hitler geteilt, so wie seinerzeit Polen<br />
zwischen Hitler und Stalin aufgeteilt worden war.<br />
Jetzt teilen sich Stalin und die Amerikaner Europa. Mir kommt das Kotzen angesichts<br />
dieser ganzen Politik. Da ist es wohl besser, mit den Mönchen Fußball zu spielen. Ich muss<br />
den Vorschlag Oberst Rogatkin unterbreiten und eine Mannschaft aufstellen. Marschall<br />
Malinowski würde sich in einem Match sicher auch nicht schlecht machen. Wenn er Spaß<br />
an dem Spiel findet, könnte er mich zum Mannschaftskapitän der 2. Ukrainischen Front<br />
ernennen, und wir würden die Mannschaft der 3. Ukrainischen Front, die es zwar noch<br />
nicht gibt, die sich aber sicher finden wird, zum Kampfe herausfordern. Dann wäre ich von<br />
meinen leidigen Pflichten als Feldzensor befreit!<br />
Keine schlechte Idee! Traumhaft!<br />
Es klopft an der Tür. Gradusow schreckt auf. Gereiztheit spiegelt sich in seinem Gesicht.<br />
ER<strong>ST</strong>ER AKT<br />
1. BILD<br />
Drehbühne mit zerstörten Gebäuden, gebrochenen Bäumen und Wrackteilen eines<br />
abgestürzten Flugzeugs. Unter den Klängen des russischen Kriegsliedes „Tag des Sieges“<br />
beginnt sich die Bühne zunächst langsam, dann immer schneller zu drehen. Hinter den<br />
Kulissen ist ein Motorengeräusch zu vernehmen. Der Major der sowjetischen Roten Armee<br />
Andrej Gradusow erscheint auf einem alten Moped. Er fährt auf die Drehbühne und beginnt<br />
dort Kreise und Achterschleifen zu ziehen.<br />
Ruf: Halt! Oder ich schieße!<br />
Eine sowjetische Militärpatrouille bestehend aus einem Offizier und zwei Soldaten stürzt<br />
auf die Bühne. Gradusow bleibt stehen.<br />
Offizier: Ihren Ausweis!<br />
Gradusow zieht seine Dokumente aus der Tasche und reicht sie dem Offizier.<br />
Offizier: (liest) So, so. Major des NKWD - Volkskommissariat für innere Angelegenheiten<br />
Gradusow Andrej Stepanowitsch. Das sind Sie? (blickt Gradusow eindringlich an) Wohin des<br />
Wegs?<br />
Gradusow: Nach Melk!<br />
Offizier: Haben Sie eine Weisung?<br />
Gradusow: Hier, bitte. (kramt ein weiteres Papier aus der Tasche)<br />
Offizier: (liest) Befehl der 4. Armee, 2. Ukrainische Front. Hiermit berufe ich Major<br />
Andrej Stepanowitsch Gradusow zum Leiter der Feldzensur der 326. Sondereinheit<br />
der Zentralgruppe der sowjetischen Besatzungsstreitkräfte in Melk. Unterzeichnet:<br />
Kommandant der 2. Ukrainischen Front, Marschall R.J. Malinowski, Zweifacher Held der<br />
Sowjetunion. (Der Offizier hebt seine Hand zum Gruß an den Helm und händigt dem Major die<br />
Papiere aus) Gute Reise, Genosse Major!<br />
Gradusow grüßt auf gleiche Weise zurück und steigt auf das Moped.<br />
Offizier: Genosse Major, erlauben Sie mir eine Frage, nur aus Neugierde: Woher haben Sie<br />
das Motorrad? Eine Kriegsbeute? Ist es ein deutsches?<br />
Gradusow: (stolz) Ein italienisches! Ich habe es in der Garage des Sohnes vom<br />
Burgtheaterdirektor in Wien gefunden. Es gab ein zweites Motorrad dort, noch steiler als das<br />
hier, doch Oberst Rogatkin kam mir zuvor. Leider!<br />
Offizier: Genosse Major! Wollen Sie nicht tauschen? Ich gebe Ihnen zehn Paar Schweizer<br />
Uhren dafür, wollen Sie? … Oder zwölf?<br />
Gradusow: Nein, ich tausche nicht!<br />
Offizier: Dann verkaufen Sie es mir!<br />
Gradusow: (startet das Moped) Ich gebe das Motorrad nicht her, um kein Geld in der Welt!<br />
Zieht einige Kreise und Achterschleifen auf der Bühne und verschwindet hinter den<br />
Kulissen. Ein dicker österreichischer Bauer in kurzen Lederhosen und mit einem Tirolerhut<br />
auf dem Kopf tritt auf die Bühne.<br />
Offizier: Halt! Oder ich schieße!<br />
Der Bauer bleibt erschrocken stehen.<br />
Offizier: Die Uhr! Dawaj, her mit der Uhr!<br />
Gradusow: (völlig erschöpft) Lena! Ich liebe dich! Lena-a-a!<br />
-15-<br />
Der Bauer versteht nicht, was der Offizier von ihm will. Der Offizier erklärt gestikulierend,<br />
-2-<br />
WWW.TOL<strong>ST</strong>OI.RU<br />
Magdalena: Wem nützen die in Moskau gedruckten Schilling? Die sind wertlos, dafür<br />
kannst du doch nichts zu kaufen! Leopold nimmt nur amerikanische Dollar oder englische<br />
Pfund!<br />
Gradusow: Dollar? Pfund? Ich habe weder Pfund noch Dollar. Aber ich kann die Uhr<br />
verkaufen! (zeigt seine Uhr) Eine erbeutete deutsche Uhr. Ich habe sie einem gefallenen<br />
Offizier in Polen abgenommen.<br />
Magdalena: Die Uhr verkaufen? Das reicht ja nicht einmal für den Zug nach Wien!<br />
Gradusow: Was sollen wir denn tun? Was?<br />
Magdalena: Wir können uns umbringen, wie Hitler und Eva Braun …<br />
Gradusow: Nein! Du musst leben! Du musst nach Wien fahren, die Abtreibung hinter dich<br />
bringen und ein neues Leben beginnen. Mich wird man garantiert bestrafen und nach<br />
Sibirien ins Lager schicken. Man wird mir nie verzeihen, dass ich das Match gegen die<br />
Mönche verloren habe …<br />
Magdalena: Sibirien…<br />
Gradusow: Ja, nach Sibirien, ins Lager … Vielleicht treffe ich dort deine Brüder. Deine<br />
Brüder, hörst du? Wie heißen sie? Deine Brüder von der WaffenSS …<br />
Magdalena: (russisch) Da, da … (deutsch) Sie heißen Siegfried und Manfred.<br />
Gradusow: Gut, ich versuche es nicht zu vergessen. Siegfried und Manfred …<br />
Pause.<br />
Magdalena: Doktor Leopold nimmt keine Abtreibungen ohne Geld vor! Weißt du, wie lange<br />
die Warteschlange ist? Die Freundinnen von Amerikanern, Franzosen und Engländern,<br />
Soldaten der Besatzungsmächte. Er macht nur dreißig Abtreibungen am Tag … (zeichnet die<br />
Zahl mit dem Finger auf den Tisch) 30 Abtreibungen pro Tag!<br />
Gradusow: (zuckt zusammen) 30 am Tag, das ist ja wie bei mir, meine Planvorgabe! Jeden<br />
Tag erstelle ich eine Liste mit dreißig Namen und unterschreibe faktisch ihr Todesurteil,<br />
den Abtransport nach Sibirien.<br />
Nur vernichte ich die unsrigen, er jedoch Fremde, Feinde. Doktor Leopold ist ein getarnter<br />
Partisan. Er tötet die Kinder der Okkupatoren, bevor sie geboren sind.<br />
Magdalena: Woher das Geld nehmen, wie soll ich nach Wien fahren??<br />
Gradusow: (tippt sich auf die Stirn) Mein Motorrad! Ich werde es nicht mehr brauchen! Du<br />
fährst mit meinem Motorrad nach Wien und verkaufst es dort! Dann hast du Geld. Es reicht<br />
für die Abtreibung und für ein neues Leben!<br />
Magdalena: Dein Motorrad … Ja, aber ich kann nicht Motorrad fahren! Ich habe keinen<br />
Führerschein …<br />
Gradusow: Das ist ganz leicht. Ich zeige es dir. Komm!<br />
Sie löschen die Lampe und verlassen das Zimmer. Die Sonne geht auf. Der Tag beginnt.<br />
Gradusow holt das Moped. Zeigt Magdalena wie man es startet und lenkt. Sie zieht einige<br />
Kreise und Achterschleifen. Hält.<br />
Gradusow: Siehst du, es ist ganz einfach!<br />
Magdalena: Ich muss fahren, bevor Vater munter wird!<br />
Gradusow: Lass dich umarmen, bevor du abfährst! Komm zu mir…<br />
Sie umarmen sich und versinken in einem langen Kuss.<br />
Magdalena: Andrej!<br />
Gradusow: Magdalena! Lena …<br />
Magdalena steigt auf das Moped, startet und fährt ab. Gradusow begreift, dass sie sich nie<br />
wieder sehen werden, stürzt ihr nach, rennt, strauchelt, fällt, steht wieder auf und rennt,<br />
rennt …<br />
Major Gradusow springt von der Seite auf die Bühne und schießt den Ball mit Schwung<br />
in Richtung Tor. Pater Bonifaz wehrt den Ball ab. Enttäuschtes Raunen geht durch das<br />
Stadion.<br />
Major Gradusow stellt sich ins Tor. Pater Bonifaz versetzt dem Ball einen Tritt, der elegant<br />
im Tor landet. Enttäuschtes Raunen im Stadion.<br />
Wieder Pater Bonifaz im Tor. Gradusow am Ball. Pater Bonifaz fängt den Ball. Enttäuschtes<br />
Raunen geht durch das Stadion.<br />
Im Tor erneut Major Gradusow. Pater Bonifaz schießt den Ball und trifft ins Tor.<br />
Enttäuschtes Raunen im Stadion.<br />
Zum dritten Mal im Tor – Pater Bonifaz. Gradusow am Ball. Pater Bonifaz schlägt den Ball<br />
ab. Enttäuschung im Stadion.<br />
Major Gradusow steht im Tor. Pater Bonifaz versetzt dem Ball einen Tritt und schießt ein<br />
Tor. Enttäuschtes Raunen geht durch das Stadion.<br />
Wieder steht Pater Bonifaz im Tor. Gradusow kickt. Pater Bonifaz wehrt den Ball ab.<br />
Enttäuschtes Gemurmel geht durch das Stadion.<br />
Noch einmal Major Gradusow im Tor. Pater Bonifaz kickt, der Ball landet im Tor.<br />
Enttäuschung im Stadion.<br />
Pater Bonifaz im Tor. Gradusow schießt. Pater Bonifaz wehrt den Ball ab. Enttäuschtes<br />
Raunen im Stadion.<br />
Zum fünften Mal steht Major Gradosow im Tor. Pater Bonifaz nimmt Anlauf und schießt<br />
den Ball ins Tor. Anhaltendes Raunen der Enttäuschung, das in Gejohle übergeht.<br />
Schlusspfiff …<br />
Die Sonne geht unter, es wird dunkel.<br />
5. BILD<br />
Die Lampe auf Gradusows Tisch flammt auf. Im Zimmer befinden sich Gradusow und<br />
Magdalena. Gradusow steht am Tisch, Magdalena sitzt auf dem Bett.<br />
Mönch: Keine Angst, es wird Sie keiner belästigen, wenn Sie bei uns über Nacht bleiben.<br />
-3-<br />
Gradusow: Wir haben gegen die Mönche verloren, aufs Schändlichste verloren! An einem<br />
derartigen bedeutungsvollen Tag, vor Malinowski, Rokossowski und Wasiljewski, am Vortag<br />
ihrer Versetzung an die japanische Front. Der Krieg mit Japan geht weiter. Die quantunische<br />
Armee mischt China auf. Wir müssen dem Genossen Mao Tse-dung helfen!<br />
Puh, was rede ich! Ich spucke auf diesen Mao Tse-dung! Wir haben das Match gegen die<br />
Mönche verloren! Meine Mannschaft … die Mannschaft der ruhmreichen Roten Armee!<br />
Hast du gesehen wie mich Oberst Rogatkin, mein direkter Vorgesetzter, nach dem Match<br />
angesehen hat? Ein Blick, der mehr als tausend Worte sagt! Das ist das Ende! Morgen wird<br />
man mich verhaften! Vollkommen klar. Es gibt keinen Zweifel daran …<br />
Magdalena: (deutsch) Andrej, ich habe gute Nachrichten! Ich habe erfahren, dass es in Wien<br />
einen jungen Arzt gibt, Doktor Leopold, der Abtreibungen vornimmt. Aber er verlangt viel<br />
Geld, er braucht das Geld, er sammelt österreichische Kunst, die unter Hitler als entartete<br />
Kunst degradiert und verbrannt wurde und jetzt wieder in Mode kommt: Egon Schiele,<br />
Gustav Klimt, Oskar Kokoschka … Er hat eine ganze Sammlung! Eine riesige Kollektion! Er<br />
braucht Geld!<br />
Gradusow: Geld? Hier nimm! Das ist mein Offiziersgehalt. Österreichische Schilling.<br />
Fünftausend, mein Lohn für diesen Monat. Ich habe nichts davon ausgegeben.<br />
-14-<br />
WWW.TOL<strong>ST</strong>OI.RU<br />
deutet auf die Uhr. Der Bauer nimmt eilig die Uhr ab und reicht sie dem Offizier. Dieser<br />
betrachtet aufmerksam das Ziffernblatt.<br />
Offizier: Eine echte Schweizer! Wahnsinn, 17 Steine! Fast neu. (krempelt den linken<br />
Hemdärmel hoch, findet keinen freien Platz für eine weitere Uhr, krempelt den rechten Ärmel hoch,<br />
findet dort ebenfalls keine freie Stelle und versenkt die Uhr in der Tasche)<br />
Der Bauer beobachtet ihn, zitternd vor Angst.<br />
Offizier: (blickt auf) Was stehst du da, wie der Ochs vorm Scheunentor? Verpiss dich, du<br />
deutscher Wichser! (tritt dem Bauern mit dem Stiefel in den Arsch)<br />
Der Bauer nimmt Reißaus. Der Offizier holt ihn unter lautem Gejohle ein und versetzt ihm<br />
weitere Tritte in den dicken Hintern. Die Soldaten machen es ihm gleich. Sie verschwinden<br />
allesamt hinter den Kulissen. Hundegebell ist zu hören. Das Licht wird gedämmt und<br />
erlischt fast völlig.<br />
Andrej Gradusow kommt, mit eingeschaltetem Scheinwerfer, auf die Bühne gefahren und<br />
zieht einige Kreise und Achter.<br />
3. BILD<br />
Dunkelheit. Lautes Klopfen. Scharren einer Tür. Ein Riegel wird hörbar zurückgeschoben.<br />
Licht fällt durch die Türöffnung, in der die Silhouette eines Mönches erscheint. Andrej<br />
Gradusow tritt aus der Dunkelheit.<br />
Gradusow: Ich suche die Kommandantur!<br />
Mönch: (auf Russisch) Es gibt keine Kommandantur hier, die ist in das Schulgebäude<br />
übersiedelt.<br />
Gradusow: Sie sprechen russisch?<br />
Mönch: Ja, ich war zwei Jahre in russischer Gefangenschaft, in Irkutsk. Von 1916 bis 1918.<br />
Im Ersten Weltkrieg.<br />
Gradusow: Und wo befindet sich die Schule?<br />
Mönch: Unten in der Stadt. Ziemlich weit von hier. Ich fürchte, Sie werden sie in der<br />
Dunkelheit nicht finden, die Straßenbeleuchtung funktioniert nicht. Kommen Sie doch auf<br />
einen Tee herein, wollen Sie? Übernachten Sie bei uns im Kloster, morgen begleite ich Sie<br />
zur Kommandantur. Übrigens, ich bin Pater Bonifaz!<br />
Gradusow: Sehr erfreut! Major Andrej Gradusow.<br />
Mönch: Treten Sie ein, Herr Major! Was? Sie sind mit dem Motorrad gekommen?<br />
Gradusow: Ja, ich bin mit dem Motorrad da. Das Benzin ist ausgegangen und ich musste es<br />
den ganzen Berg hochschieben.<br />
Mönch: Nicht so schlimm, morgen gebe ich Ihnen Benzin.<br />
Gradusow: Was ist das für ein Kloster?<br />
Mönch: Wir sind Benediktiner! Ein religiöser Orden. Als ich aus der russischen<br />
Gefangenschaft zurückkehrte, beschloss ich ins Kloster zu gehen. Hier lebe ich nun schon<br />
seit 25 Jahren.<br />
Gradusow: Wie viele Mönche leben hier?<br />
Mönch: Bis zum Anschluss Österreichs an Deutschland waren es etwa zwanzig. Jetzt sind<br />
es fast <strong>20</strong>0. Viele sind in den letzten Jahren zu uns gestoßen, um dem Armeedienst zu<br />
entkommen. Aber nicht nur. Auch einige Homosexuelle, die von den Nazis verfolgt wurden,<br />
fanden bei uns Unterschlupf.<br />
Bei diesen Worten macht Gradusow erschrocken einen Schritt zur Seite und wirft Pater<br />
Bonifaz einen misstrauischen Blick zu.