72 <strong>ST</strong>/A/R Buch IX - LITERATUR Nr. <strong>20</strong>/<strong>20</strong>09 GANZHEITLICHE Ä<strong>ST</strong>HETISCHE PRINZIPIEN v. Manfred Stangl Gegenwärtige postmoderne oder „hochpostmoderne“ Ästhetiken weisen sich durch die Verweigerung fassbarer, verbindlicher Auflistung von ästhetischen Mitteln oder gar ästhetischer Prinzipien eher als Anti-Ästhetiken aus. Letztlich führt der Dekonstruktionsprozess so weit, dass das Wort Ästhetik selbst in Misskredit gerät, sofort an Vorgaben, Einengung, fremdbestimmte Totalität gedacht wird. Die „alte“ Frage nach der instrumentellen Deutung von Kunst – also danach, ob die Anwendung ästhetischer Mittel auf das Erreichen eines bestimmten Zwecks in der Kunst abzielt, erscheint lächerlich, weil Kunst ja als jeglicher genaueren Einordnung, jeder Zweckunterwerfung erhaben definiert ist. Allerdings hängt der solches Denkende folgsam den gängigen Kunstkonzeptionen an, übersieht zumindest, dass Kunst erst seit Baudelaire, seit Heine (bzw. Hegel) als dem Fortschritt und dem Neuen verpflichtet verstanden wird und ignoriert im schlimmsten Fall die Tatsache, dass moderne Kunst vollständigerweise durch ein strenges, rigides Korsett beengt wird: der Ich-Heiligung, der Zentrierung des Ichs als den Mittelpunkt der Welt. Wobei ja pikanterweise so getan wird, als engten alle Normen, Werte und Verbindlichkeiten das Ich in dessen unbändigen Expansionsstreben ein und müsste daher alles „Bewertende“, wie schön/hässlich, links/ rechts, gut/böse Dichotomien abgeschafft werden – ein Hauptanliegen der aktuellen Kunst – die meist nur „Neuartigkeit“ als Kriterium für Kunst anerkennen will, wodurch sie in Wirklichkeit oft unheimlich seicht und aufgeblasen funktioniert. Insofern ist fast jede moderne, postmoderne und „hochpostmoderne“ (sich jeglicher Deutung entziehen wollende) Kunst instrumentell zu deuten: sie wendet ästhetische Mittel an, um die Größe und die Kreativität, die Grenzenlosigkeit und die unermessliche Vielseitigkeit des Ichs zu feiern. Ihre ästhetische Mittel sind dabei die bewusst unnachvollziehbar gestaltet Vernetzung konträrer Inhalte und Formen, die Vielschichtigkeit und quasimystische Undurchschaubarkeit und Tiefe vorgaukeln soll, aber in Wahrheit in ihrer ich-erhöhenden Absicht – sobald man den begreifenden Blick dafür hat – oberflächlich, geschwätzig, selbstdarstellerisch und kitschig gekünstelt wirkt. Jene (hochpost-)modernen Künstler/Autoren sind in ihrem Selbstdarstellungskitsch pikanterweise der Romantik verpflichtet, die ja dieses überhöhte Ich-Konzept mitgestaltete; zudem forciert die sich gerne innovativ gebende Gegenwartsliteratur die Rolle der Kunst als Ersatzreligion, womit sie die Kunstreligionskonzeption der Romantiker des 18 Jahrhunderts zur Vollendung bringt, worin die Wurzeln der - eben ins Negative gepolten – Verkitschung liegen. Die „Ästhetik der Ganzheit“ benennt dezidiert ästhetische Prinzipien, die mittels entsprechender Mittel angestrebt werden können – aber natürlich von überhaupt niemandem nachvollzogen werden müssen – ist es doch die freie Entscheidung jedes Einzelnen, sich durch jene Prinzipien inspirieren und bereichernd erweitern zu lassen oder nicht. Zu den Prinzipien der „Ästhetik der Ganzheit“ zählen: Einfachheit In erster Linier als Reaktion gegen die mystifizierende Unsitte heutiger Kunst, Banales oder Unsinniges mittels unnachvollziehbarer Privatassoziationen komplex und kompliziert erscheinen zu lassen. Einfachheit meint allerdings nicht Knappheit und Strenge (wie das klassizistische Ideal vorgibt) oder moderne Verknappung, die eher dem männlichen Prinzip entspricht. Einfachheit mag sich üppig und sinnlich und vollrund äußern: in solch Einfachheit ist tatsächliche Vielschichtigkeit aufgehoben – diese wird aber nicht (hoch-)postmodern durch massige Summation und willkürliche Verkreuzung der Ebenen hergestellt, sondern in der Wahrheit erkannt: dass im Regentropfen der Mond wohnt und der Himmel und die breiten Schultern der Berge. Einfach ist der Sommerregen, der auf die duftenden Gärten einer Brust fällt; einfach ist der Wind, der auf seiner Panflöte das Lied vom Vergessen und Verwehen haucht; einfach sind das Leben und der Tod. Ausgewogenheit Meint ein Gleichgewicht in einem Kunstwerk, einem Text herzustellen zwischen Zwist, Kritik, Ironie, Provokation (Stilmittel der Moderne) und der Würdigung der Schönheit des Seins, der Freude an der Existenz. Moderne Kunst/Literatur ergießt sich in die Darstellung des Negativen, Hässlichen zu Kritisierenden (zu recht oftmals); ausschließlich die Zerrissenheit und Zerstörtheit der Welt und der Seelen zu beschwören führt jedoch leicht dazu, die Zerrissenheit als allgültige Wahrheit misszudeuten. Nicht sind die Menschen nur entfremdet, in jedem blüht eine Knospe der Schönheit des Seins, ist die Potenz zu Glück und Liebe eingefaltet. Ein ganzheitliches Kunstwerk wird diesen Umstand betonen, statt ausschließlich die Zerstückelung und Kaputtheit moderner Welten zu klonen (oder wir in postmodernen Texten die Versatzstücke der Zerbrochenheit beliebig und emotionslos aneinanderzulöten – dabei geht jegliche Betroffenheit und der Wille zur Besserung und Entwicklung flöten). Stille Viel zu laut jault und schrillt die Welt in ihrer Jagd und Gier nach dem Geld. Die Kunst quietscht eifrig mit: spreizt die Beine für das fetteste Bankkontenglied. Schreit und windet sich und stößt spitze Töne aus, dem Vorgetäuschten Sinnlichkeitsorgasmus zollt der Eventbesucher befriedigt Applaus. Prinzipiell schreit jeder: „ich bin die Nummer eins. Seins ist kleiner und weniger wichtig als meins. Die Medien machen eifrig mit, bemerken den, der am Lautesten um Aufmerksamkeit buhlt und nach dem Skandal schielt. Soviel Lärm ist in der Welt, Eitelkeit und Kunst, die mittels aus sich selbst verweisender Codes nur sich selbst gefällt – deshalb interessiert niemand wirklich sich für Kunst, außer die Kunstbetriebangehörigen und Skandalblättchen, wenn wieder mal wer öffentlich brunzt. Stille aber ist die Erde in uns, aus der der Himmel erblüht, ist der O-Ton einer Musik, der man sich versunken hingibt. Ist die Bedächtigkeit und Kraft mit der ein Text die Menschen liebt Ist die Tiefe der Farben, der ruhige Kameraschwenk am Abend, das vertrauensvolle Heilenlassen der Narben. Still ist das herzliche Lachen des Kinds, der Schrei im Orgasmus, der aus der Ewigkeit stammt, das aufwühlende Flüstern des Sommerwinds, die Glut, von Sonne und Mond entflammt. Mitgefühl Das ästhetische Prinzip „Mitgefühl“ kontrastiert Kälte, Isolation und Gleichgültigkeit in der (hochpost-) modernen Welt. „Ästhetisches Prinzip“ meint - um zu verdeutlichen, wie das, heute ja gar verpönte Wort „Prinzip“ gemeint ist – ein Text oder ein Kunstwerk wird formal unter Anwendung diverser Stilmittel derart gestaltet, das der Leser, Betrachter, Hörer im besten Falle zu Mitgefühl bzw. Empathie angeregt wird, zumindest aber die Absicht des Autors/ Künstlers verspürt, mit Personen/Gestalten, Menschen oder Tieren such mitfühlend zu identifizieren. In optimaler Ausgestaltung sind im Kunstwerk Prinzip Mitgefühl und Ausgewogenheit gleichrangig vertreten, bei einem Text, wie ihn der Roman „evil“ von Jack Ketchum darstellt, in dem das Martyrium, die Vergewaltigung und bestialische Quälerei eines Mädchens geschildert werden, appelliert wohl der Autor ans Mitgefühl und die Haltung des Nicht-Wegsehens und wirkt damit auf die Verhinderung solcher Vorfälle ein, ein zynischer und weltverachtender Zeitgenosse aber mag den Roman als Beweis für die Grausamkeit der Menschen sowie der Sinnlosigkeit jeglichen Optimismus oder Veränderungswillen ansehen und die bequeme Position des gleichgültig Gefühlskalten zementieren. Emotionalität/ Sinnlichkeit/Intuition Dieses Prinzip der „Ästhetik der Ganzheit“ fußt auf der Notwendigkeit die Durchdrungenheit der Literatur und der Kunst von abstrakten Konstrukten (Beispiel Konzeptkunst, Intellektuellen- Bildungsbürgerroman. wie etwa „Die Vermessung der Welt“) die Sinnlichkeit, die Pracht und die Fülle der Natur, der Gefühle der Menschen und Tiere (und zwar nicht nur die ausschließlich „negativen“) gegenüberzustellen, um Lebensfreude und sinnliches Glück (und eben nicht nur rein sexuelles) in die logisch-dualistische technozentrierte, Abstraktheit verherrlichende abendländische Kultur zu reintegrieren. Ebenfalls sollen die vergessenen Ebenen von Intuition und Synchronizität bedacht sein. „Positive Emotionalität“ meint übrigens nicht im Mindesten jenen verordneten Dauerspaß in den angesagten Partydomen, hinter deren Fassaden die Leere und die Depression einer ausgehöhlten, entsinnlichten und entfremdeten Kultur schaurig lauern. Diverse Stilmittel: Verwendung analoger, zyklischer Formen, Märchen, Fabel, Weisen, lyrische Prosa; Transzendierung der Romanform durch epische, lyrische Formen etc…. „Ja aber, was sollen wir denn nun machen?“ fragen die Zeitgenossen des Hohns, der Ironie, der Auflösung und der gewohnten Distanz. „Lasst uns einen Frühling machen“, zwitschert eine Amsel zur Antwortet, „einen März, den wir fühlen von den Wurzeln bis ins goldblaue Blätterdach. Dann lasst uns einen Mai machen, den nie jemand zwingt. Und lasst uns einen Regen machen mit schweren Tropfen die nach Thymian duften und Hoffnung süß und silbrigweich wie der Mond. Und lasst uns dann noch einen Regenbogen machen, in mindestens sieben Farben; das Orange für die Löwen, das Gelb für die Kinder, die wieder im Sonnenlicht spielen, das himmeldunkle Blau für den Wind, wie er vertrauend einschläft im heilendweißen Arm des Monds. Zusammenfassung der „Ästhetik der Ganzheit“ von Manfred Stangl und das komplette Kapitel über ganzheitliche ästhetische Prinzipien sowie Stilmittel und Formen unter www.sonneundmond.at Andreas Okopenko: Rezension des Gedichtbands: „Gesang des blauen Augenvogels“ v. Manfred Stangl Der Philosoph und Lyriker Manfred Stangl, der eine umfassende „Ästhetik der Ganzheit“ verfasst hat, in der er unserer gängigen Kunstauffassung und darüber hinaus der Lebensweise unserer modernen Zivilisation mit ihrer bis zur Vernichtungsgefahr gehenden Polarisierung und Megalisierung und ihrem Prinzip Schein statt Sein den Kampf ansagt, hat es sich zum Anliegen gemacht, in seinem Werk als Lyriker eine – wie er es nennt – mystische für alle Welt eingängige Lyriksprache zu entwickeln. Schon sein erster Lyrikband „Ein Auge Sonne, ein Auge Mond“, der sich im Untertitel als Sammlung „Magischer Naturgedichte“ ausweist, zeigt deutlich und unter Aufbietung reiner Poesie fernab von hochakademischer Indoktrinierung diese Tendenz des Dichters. Nun geht Stangl in seinem zweiten - an Aussagekraft gewachsenen - Lyrikwerk, den Weg weiter, der nicht die Herkunft des Poeten von der fernöstlichen Schule verleugnet, der er in all seinem Denken und Fühlen weit jenseits oberflächigen Haiku-Formalismus stark verbunden ist. Das „magisch“ ist nicht als Hokuspokus mit dem Kaninchen aus dem Ärmel zu verkennen, vielmehr – wenn ich mich aus einem frühen Gegenbekenntnis aus Zeiten des vielstrapazierten „Magischen Realismus“ in der bildenden Kunst zitieren darf – im Sinn meines Satzes: „Magischer Realismus ist eine Tautologie; die Dinge s i n d magisch, durch ihr Sein; durch ihre unendlichfaltigen Beziehungen, Möglichkeiten; die Dinge sind von Natur aus magisch; der Mensch kann sie nur negativ verzaubern, nämlich entzaubern.“ Bei Stangl stehen die Dinge, besonders die Jahreszeiten und Landschaften, nicht allegorisch für irgendwas Anderes da, sondern als das, was sie konkret s i n d. Ein Fluss fließt, oder kühlt, oder beschmutzt… - vergleiche: „Was immer der Zen-Meister mitteilt, ist nicht Symbol, sondern die Sache selbst.“ (Alan W. Watts: Zen-Buddhismus). Und Feng- Hsüch erwiderte auf die Frage, wie zwischen Reden und Schweigen einem Irrtum auszuweichen sei: „Ich denke immer an Kiangsu im März – an den Ruf des Rebhuhns, an die Fülle der duftenden Blumen.“ Viel von solchem Geist spricht den Leser aus Stangls „Naturlyrik“ an, mag ihn die Elfen- und Nixen-Sicht in manchen Gedichten auch – heute befremdlich – an den Animismus der Urreligionen erinnern, mit der Vorstellung, alle Naturdinge seien belebt, beseelt – das „belebt“ wird schwer abzuweisen sein. Zudem wird der Leser, selbst wenn er nicht auf einer Wellenlänge mit Stangl ist, wohl in dessen Botschaft ein abweichendes aber respektables perfekt durchdachtes und durchfühltes Ganzes und im Gedichtschatz ein echtes Lyricum sehen. „Gesang des blauen Augenvogels – mystische Naturlyrik“, Wien, 2oo8, geb. 116 S. Verkaufspreis. 15 € im Buchhandel. ISBN: 978-3-2oo-o1111-3 direkt bestellbar unter info@sonneundmond.at
Städteplanung / Architektur / Religion Buch X - AUTO-<strong>ST</strong>AR <strong>ST</strong>/A/R 73 David Staretz schreibt, redigiert und fotografiert den Auto-<strong>ST</strong>/A/R