FACTS and STORIES 10 Leseprobe
Dieses FACTS & STORIES Heft beschäftigt sich wieder mal mit der Psyche des Menschen. Es geht jedoch mehr darum, wie man sich selbst helfen kann, wie das Umfeld mit einem Menschen mit seelischen Problemen umgeht und wie sich Psychiatrie-Erfahrene selbst engagieren können. Da wäre zum Ersten die Recovery-Bewegung, die wir beleuchten. Eine Bewegung die von Menschen mit psychiatrischen Diagnosen ausging, die sich nicht mehr damit abfinden wollten, dass sie unheilbar krank seien, sondern durch ihren Umgang mit ihrer Erkrankung, einen Heilungsprozess durchlaufen. Zum Zweiten wäre da die Anti-Stigma-Arbeit. Da stellen wir Projekte vor, die etwas gegen Vorurteile und Ausgrenzung von Menschen mit seelischen Erkrankungen tun. Zum Dritten geht es um Selbsthilfe und EX-IN, aber dazu später mehr. Außerdem werden zwei Bücher von den beiden Autor*innen vorgestellt. Und es gibt mal wieder eine Menge Comics und Illustrationen. Dieses Heft entstand in Zusammenarbeit mit dem EX-IN Mecklenburg-Vorpommern e. V., dem Landesverband seelische Gesundheit Mecklenburg-Vorpommern e. V. Und dem Instutut für neue Medien Rostock gGmbH. Vielen Dank an Fonds Soziokultur für das Sponsoring. Also viel Spaß mit diesem Heft.
Dieses FACTS & STORIES Heft beschäftigt sich wieder mal mit der Psyche des Menschen. Es geht jedoch mehr darum, wie man sich selbst helfen kann, wie das Umfeld mit einem Menschen mit seelischen Problemen umgeht und wie sich Psychiatrie-Erfahrene selbst engagieren können.
Da wäre zum Ersten die Recovery-Bewegung, die wir beleuchten. Eine Bewegung die von Menschen mit psychiatrischen Diagnosen ausging, die sich nicht mehr damit abfinden wollten, dass sie unheilbar krank seien, sondern durch ihren Umgang mit ihrer Erkrankung, einen Heilungsprozess durchlaufen.
Zum Zweiten wäre da die Anti-Stigma-Arbeit. Da stellen wir Projekte vor, die etwas gegen Vorurteile und Ausgrenzung von Menschen mit seelischen Erkrankungen tun.
Zum Dritten geht es um Selbsthilfe und EX-IN, aber dazu später mehr.
Außerdem werden zwei Bücher von den beiden Autor*innen vorgestellt. Und es gibt mal wieder eine Menge Comics und Illustrationen.
Dieses Heft entstand in Zusammenarbeit mit dem EX-IN Mecklenburg-Vorpommern e. V., dem Landesverband seelische Gesundheit Mecklenburg-Vorpommern e. V. Und dem Instutut für neue Medien Rostock gGmbH. Vielen Dank an Fonds Soziokultur für das Sponsoring. Also viel Spaß mit diesem Heft.
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www.facts-and-stories.de
Inhalt
Seite 3:
Seelische Gesundheit von Christian Kaiser
____________________________________________________________________________________________________________
Seite 4:
Fantasy-Illustrationen von Elikal Ial'borcales
____________________________________________________________________________________________________________
Seite 11:
Projekt zur gesellschaftlichen
Anerkennung von Entwicklungstrauma
von www.traumaleben.blog
Seite 26:
Erfahrungsbericht von Anne Wend
_______________________________________________________________________________
Seite 28:
Buchvorstellungen:
AUSwege finden – Kinder
psychisch kranker
Eltern von Gabi Pertus
Und:
Lus Bücher
von Luise Müller
Seite 12:
Die Katze im Badezimmerspiegelschrank
von Benedikt Franke
____________________________________________________________________________________________
Seite 18:
Recovery, Hoffnung, Sinnhaftigkeit,
EX,IN, Anti-Stigma und das verrückte
Schulprojekt von Christian Kaiser
_________________________________________________________________________________________
Seite 22:
Was ist ein Genesungsbegleiter
Von Christian Kaiser
_________________________________________________________________________________________
Seite 24:
„Meltdown“ Erfahrungsbericht einer
Mutter eines autistischen Kindes
__________________________________________________________________________________________
Seite 30:
Der große Hexenmeister
von Suskar Lötzerich
_________________________________________________________________________________
Seite 38:
Eine kurze Geschichte der Psychiatrie
von Mathias Krämer
2
Seelische Gesundheit
Liebe Leser,
RÜCKBLICK: Die letzten Monate
waren sehr schwer für mich. Passend
zum Thema des Heftes:
SEELISCHE GESUNDHEIT
kamen im Sommer diesen Jahres
wieder starke seelische Belastungen
auf mich zu, weil ich mich überarbeitet
hatte und wegen privater
Probleme. Doch jetzt liegt sogar
schon Weihnachten hinter uns und
trotz Corona war es ein schönes Fest. Aber was ist der
Geist oder gar der Sinn von Weihnachten? Heuzutage
ist es hier in der westlichen Welt wohl Konsum. Und
trotzdem bleibt für mich der Zauber von Weihnachten
erhalten.
Weihnachten ist nicht nur der Geburtstag von Jesus
Christus. Es ist auch Sinnbild für Besinnlichkeit, aber
auch für Trubel und Weihnachtsstress. Und trotzdem
für Familie und Freunde kann gerade dieses von der
Pandemie heimgesuchte Jahr ein Besonderes werden.
Und das nicht nur im negativen Sinne.
Denken wir an Jesu Geburt zurück. War das nicht auch
eine schwere Zeit für Josef und Maria? Es gab eine
Volkszählung und so mussten sich Maria und Josef auf
eine beschwerliche Reise machen.
So eine Reise habe auch ich hinter mir. Wie schon
Anfangs erwähnt lag ich viele Monate in der Psychiatrie
und bis wenige Tage vor Weihnachten nach einer
Verletzung in der Chirurgie. Es war eine schwere Zeit
und irgendwie auch wie eine Reise. Allerdings eine
Reise der Genesung. Es war teilweise auch eine schöne
Zeit, weil ich neue Freunde gewinnen konnte. Und
wahre Freunde können sogar zur Familie werden.
Jesus hatte echt viele Freunde und auch ich merkte,
dass viele Menschen mich in der Klinik besuchten. Jetzt
wieder zum Sinn von Weihnachten. Dieses Fest soll uns
zeigen, dass Kinder, so wie Jesus eines war, unsere
Zukunft sind. Und jedes Kind ist ein Gottesgeschenk.
Weihnachten ist nicht nur das Fest der Familie, es ist
das Fest der Wunder und vielleicht geschehen dieses
neue Jahr wieder Wunder. Auf diese hoffe ich!
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Dieses FACTS & STORIES Heft beschäftigt
sich wiedermal mit der Psyche des
Menschen. Es geht jedoch mehr darum,
wie man sich selbst helfen kann,
wie das Umfeld mit einem Menschen
mit seelischen Problemen umgeht und
wie sich Psychiatrie-Erfahrene selbst
engagieren können.
Da wäre zum Ersten die Recovery-Bewegung,
die wir beleuchten. Eine Bewegung
die von Menschen mit
psychiatrischen Diagnosen ausging, die
sich nicht mehr damit abfinden wollten,
dass sie unheilbar krank seien,
sondern durch ihren Umgang mit ihrer
Erkrankung, einen Heilungsprozess
durchlaufen.
Zum Zweiten wäre da die Anti-Stigma-
Arbeit. Da stellen wir Projekte vor, die
etwas gegen Vorurteile und Ausgrenzung
von Menschen mit seelischen Erkrankungen
tun.
Zum Dritten geht es um Selbsthilfe und
EX-IN, aber dazu später mehr.
Außerdem werden zwei Bücher von
den beiden Autor*innen vorgestellt.
Und es gibt mal wieder eine Menge
Comics und Illustrationen.
Dieses Heft entstand in Zusammenarbeit
mit dem EX-IN Mecklenburg-Vorpommern
e. V., dem Landesverband
seelische Gesundheit Mecklenburg
Vorpommern e. V. Und dem Instutut
für neue Medien Rostock gGmbH. Vielen
Dank an Fonds Soziokultur für das
Sponsoring. Also viel Spaß mit diesem
Heft.
Chrisitan Kaiser
Fantasy-Illustrationen von Elikal Ial'borcales
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Projekt zur gesellschaftlichen
Anerkennung von Entwicklungstrauma
Dieses Projekt wurde im März 2020 ins Leben
gerufen. Es entwickelt sich ständig weiter,
wächst mit den Autor*innen und
Ambitionen der Teilnehmenden. Aus diesem
Grund gibt es viele verschiedene Medienformate,
so dass jede teilnehmende
Person sich mit dem individuell bevorzugten
Medium ausdrücken kann, z.B.
durch schreiben (Artikelbeiträge), fotografieren,
filmen (Foto- und Videobeiträge)
oder sprachlichen Ausdruck (Podcastbeiträge).
Wenn sich genug Menschen finden, die sich
in diesem Projekt wiederfinden, kann
dieses mit den Ideen jeder einzelnen Person
weiter wachsen, vllt. sogar zu einem Verein.
Mit einem Verein können Projekte von Personen
unterstützt werden, die das Thema
„komplexe posttraumatische Belastungsstörungen
und Traumafolgen“ behandeln –
sowohl finanziell als auch öffentlichkeitswirksam.
In diesem Sinne können Theaterstücke
oder andere Gruppen mit
künstlerischem Ausdruck, Veröffentlichungen
und andere Ideen gefördert werden.
Die Autor*innen von TRAUMALEBEN ermöglichen
in diesem Gemeinschaftsblog
Einblicke in ihre Gefühls- und Bedürfniswelt
sowie Erfahrungen aus Kindheit, Jugend
und Erwachsenenalter. Sie teilen ihren Alltag
sowie Gedanken rund um Schmerz,
Hoffnung, Einschränkungen und weiteren
Geschehnissen, die anderen Menschen vielleicht
nur schwer über die Lippen kommen.
Traumaerfahrene erlernen Inhalte der
Traumathematik nicht theoretisch, in Ausbildung
oder Studium, sie ERLEB(T)EN Trauma,
leben mit ihnen, meist seit einer langen
Zeit. So können sie oftmals auf kognitiver,
als auch auf emotionaler Ebene die Schmerzen,
das Leid und die Ohnmacht aus eigener
Erfahrung nachvollziehen, nachfühlen und
verstehen.
Wir sehen Trauma-Erfahrene als Ressource
für Informationen rund um das Thema, als
Informationsquelle für gesellschaftliche
und soziale Defizite, für wirkungsvolle und
weniger wirkungsvolle Therapieansätze, als
Brückenbauer*innen zwischen Ursachen
von Entwicklungstrauma und Professionellen,
Institutionen u.a. gesellschaftlichen
Einrichtungen. Da Betroffene unmittelbar
und mittelbar an Missständen unserer Gesellschaft
erkranken, also durch frühere sowie
vorherrschende Strukturen und
sozialisierte Normen, Werte und damit soziale
Umgangsweisen – wie z.B. gewaltvolle
Beziehungen in Familien, Freundschaften
oder Partnerschaften, durch ein armutsförderndes
Bildungssystem mit der Aufrechterhaltung
von generationsübertragenen
Privilegien, Mobbing in sozialen Gruppen,
soziale und institutionelle Ausgrenzung von
Randgruppen, Repressionen im Schulsystem,
Strukturen und Zustände unseres Arbeitsmarktes
mit Auswirkungen auf den
Familienhabitus oder durch nicht genügend
sichtbare oder vorhandene Hilfesysteme
für Betroffene jeden Alters – sind sie hervorragende
Informationsquellen und können
zur Aufklärung, Minimierung oder
Auflösung der Defizite beitragen.
In diesem Sinne sehen wir dieses Projekt als
Wissens- und Informationsspeicher. Es umfasst
theoretisches Wissen, genauso wie
Zeugnisse unterschiedlichster Erfahrungen.
Quelle: www.traumaleben.blog
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Immunsystem
Empowerment
Sozialpsychiatrie
Lebensmut
Genesungsbegleiter
Seelische Gesundheit
Peer-Berater
Glück
Vertrauensperson
Resilienz EX-IN
Psychologie
Vertrauen Widerstandskraft
Stehaufmännchen Freundschaften
Recovery
Schutzfaktoren
Psychiatrie
Was ist Recovery?
Das Recovery-Konzept ist von Psychiatrie-
Erfahrenen in den 1990ern in den USA entwickelt
worden. Vorreiterinnen der Bewegung
wie Patricia Deegan wollten sich nicht
damit abfinden, dass Ärzte sie als „unheilbar
krank“ oder „austherapiert“ abstempelten.
Aus eigener Erfahrung wussten sie:
Genesung ist auch bei schweren psychischen
Erkrankungen möglich. Es geht
hierbei nicht um Heilung im klassischen
Sinne, sondern darum trotz Erkrankung eine
gute Lebensqualität zu haben.
Gemeinsam mit engagierten Fachleuten
und Angehörigen setzten sie sich für eine
alternative Art der psychiatrischen Behandlung
ein, in der ein positiver, ganzheitlicher
und gesundheitsfördernder Blick auf psychische
Erkrankungen im Mittelpunkt steht.
Aber was bedeutet „Recovery“ eigentlich?
Wenn wir den Begriff im Englisch-Wörterbuch
nachschauen, dann finden wir folgende
Übersetzungen: Erholung,
Besserung, Gesundung, Wiederherstellung,
Rückgewinnung.
Unter persönlicher Recovery versteht man
den individuellen Entwicklungsprozess eines
Betroffenen aus den Beschränkungen der
Patientenrolle hin zu einem sinnerfüllten,
hoffnungsvollen und selbstbestimmten Leben
mit positiver Identität und positiver sozialer
Rolle (Graf,M. et al. 2014)
Hoffnung
Das ist der Beginn von allem, wenn ein
Mensch keine Hoffnung auf eine bessere
Zukunft hat, fehlt ihm die Kraft, Dinge anzugehen
und zu gestalten. Während einer
schweren Erkrankung ist es für viele Betroffene
schwierig, die Hoffnung auf ein erfülltes
Leben zu bewahren oder neu
aufzubauen. Dies ist in Krisenzeiten normal
und völlig verständlich. Recovery bedeutet,
wieder Hoffnung zu haben. Mit dieser positiven
inneren Haltung ist es möglich, die
Selbstheilungskräfte anzuregen und aktiv
Einfluss auf die Gestaltung des eigenen Lebens
zu nehmen.
Das Erlangen und die Erhaltung von Hoffnung
ist der Schlüssel zu Recovery. Gesundung
ist eine Haltung, eine Einstellung und
ein Weg, die täglichen Herausforderungen
anzugehen. Es ist ein selbstgesteuerter Prozess,
um Sinn und Zielsetzung ins Leben
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zurückzugewinnen. Somit muss aber gleichzeitig
gesagt werden: Recovery braucht ein
hoffnungsstiftendes Umfeld. Betroffene
brauchen Menschen um sich herum, die
ihnen Mut machen und positiv eingestellt
sind. Hoffnung und die Sinnsuche im Leben
sind eng verwoben.
Sinnhaftigkeit
Hoffnung kann nur dort entstehen, wo es
Menschen gelingt, einen Sinn im Leben zu
finden. Um einen Sinn im Leben zu finden,
brauch man aber mehr als Menschen, die
einem Mut machen. Das Leben wird vom
Menschen dann als sinnvoll und lebenswert
empfunden, wenn es gelingt, die eigene
Biographie und den eigenen Weg zu akzeptieren
und gleichzeitig neue Perspektiven
und Ziele zu haben, trotz aller Hindernisse
und Schwierigkeiten.
Wenn man sein Leben als gescheitert ansieht,
verengt sich der Blick, und man betrachtet
sich nur noch als „Kranken“. Dies
gilt nicht nur für psychische Erkrankungen,
sondern für alle Lebensbereiche. Auch
wenn es schwierig ist: Menschen brauchen
in einer solchen dramatischen Krisensituation
eine Perspektive ,um ihr Leben positiv
gestalten zu können. In der Recovery-Arbeit
sollen Betroffene lernen, ein oft unklar
definiertes Behandlungsziel einer „Heilung“
um ein subjektives Sinnkonzept zu ergänzen.
Mit Empowerment werden Prozesse bezeichnet,
in deren Verlauf die betroffenen
Menschen Möglichkeiten und Fähigkeiten
gewinnen, ihr Leben eigenverantwortlich zu
gestalten. Sie werden dabei unterstützt, ihre
Probleme eigenständig zu lösen. Das Empowerment
der Betroffenen und ihre
eindrucksvollen Erfolge sowie die Tatsache,
dass die Betroffenenbewegung Wege und
Formen gefunden hat, das professionelle
System mitzugestalten, ist die Grundlage
für die Entwicklung in Richtung Recovery.
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Das wirklich Neue an Recovery ist die zunehmende
Bereitschaft und Expertise in der
Zusammenarbeit zwischen Betroffenen,
Angehörigen und Freund*innen sowie professionellen
Helfern.
Das Zauberwort ist EX-IN, Psychiatrie-Erfahrene
arbeiten in der Sozialpsychiatrie als
Erfahrungs-Experten*innen.
Was ist EX-IN, was steckt
dahinter?
Jede Form der Unterstützu
ng von Betroffenen durch andere
Betroffene kann man als „Peer-Support“
bezeichnen, was übersetzt so viel
bedeutet wie: „Unterstützung für Betroffene
von Betroffenen“, Peer-Support ergänzt
in vielen Fällen das Behandlungsteam
sinnvoll, indem es die Betroffenenperspektive
einbringt und so den Horizont aller Beteiligten
erweitert.
Die Achtsamkeit der Mitarbeitenden und
der Teams im Umgang mit den Klienten und
sich selbst wird durch den anderen Blickwinkel
der Genesungsbegleiter erhöht.
Durch den Austausch mit Pee
rbegleiter*innen können die Mitarbeiter ihr
eigenes Handeln hinterfragen und zu neuen
Lösungsideen kommen. Unterschiedliche
Zugänge zu Klienten*innen bringen neu
Wege und Lösungen.
Dazu wurde eine Weiterbildung für Psychiatrie-Erfahrene
Menschen entwickelt. In dieser
EX-IN-Weiterbildung beschäftigen sich
die Teilnehmer damit, wie ihre Krise ausgelöst
wurde, wie sie sie erlebten und was sie
von innen und außen unterstützt hat herauszukommen,
also das Leben mit allen
Einschränkungen zu leben. Die Teilnehmer
erfahren auf diesem Weg, dass sich nichts
ändern kann, wenn sie nicht selbst etwas
dafür tun. In der Ausbildung erlernen sie
diese Erfahrung einzusetzen um andere Betroffene
zu unterstützen.
Genesungsbegleiter*innen werden eingesetzt,
um Menschen mit seelischen Handicaps
zu begleiten, statt zu betreuen. Die
Tätigkeitsfelder sind so unterschiedlich wie
wir EX-In-ler*innen selbst.
Wie bereits erwähnt ist der Kurs keine Ausbildung
sondern eine Weiterbildung. Es erfolgt
im Anschluss an den Kurs nicht
automatisch eine Anstellung in der Sozialpsychiatrie.
Jedoch gelingt es immer mehr
Absolvent*innen eine Anstellung zu finden
und somit die Idee von EX-IN in M-V zu
verbreiten. Aus dem jetzigen Kurs haben
viele Teilnehmer*innen eine Anstellung gefunden.
Doch Menschen mit seelischen Handicaps
haben es in der Gesellschaft oftmals schwer
anerkannt zu werden. Die
Genesungsbegleiter*innen wollen dem
durch positive Beispiele entgegenwirken.
Doch woher kommt diese Ausgrenzung, die
Menschen mit psychischen Problemen in
unserer Gesellschaft erleben?
Stigmatisierung durch Vorurteile
Die Ausgrenzung und Diskriminierung von
Menschen mit seelischen Problemen nennt
man auch Stigmatisierung. Sie erfolgt auf
unterschiedlichen Ebenen: Im Rahmen zwischenmenschlicher
Beziehungen, am Arbeitsplatz,
in der Nachbarschaft, durch die
Politik oder allein durch eine diskriminierende
Darstellung in den Medien von Menschen
mit seelischen Erkrankungen.
Die Ausgrenzung findet dabei nicht immer
in offener Ablehnung und Benachteiligung
statt, sondern auch verdeckt und schleichend.
Betroffen sind dabei nicht nur die
Menschen mit seelischen Problemen
selbst, sondern häufig auch ihre Angehörigen.
Sie erfahren ebenfalls Ablehnung
oder müssen die Ausgrenzung der ihnen
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nahestehenden Menschen miterleben.
Stigmatisierung kommt durch die Angst
vor dem, was anders ist. In den Medien
wird Stigma häufig, wenn wohl auch teilweise
ungewollt noch verstärkt.
Eine sehr verbreitete Erklärung für die
Ursache von Stigmatisierung ist fehlendes
und falsches Wissen und das Vorherrschen
von Vorurteilen.
Häufige Erkrankungen wie etwa Depressionen
werden von der Gesellschaft immer
besser akzeptiert. Seltene psychische Störungen,
wie Angstzustände oder Psychosen,
rufen immer noch Vorurteile hervor,
die sich in unserer Sprache zeigen. Menschen
werden dann als "verrückt" bezeichnet.
Es ist wichtig, dass sich jeder
seine eigene Meinung bildet, und nicht
alles ungefiltert aufsaugt.
Da bietet es sich an selbst über die Medien
aktiv zu werden und eine Anti-Stigma-
Kampagne zu starten…
Die Anti-Stigma-Kampagne des Landesverbandes
Sozialpsychiatrie M-V e. V.
Die Kampagne wirbt für die Auseinandersetzung
mit dem Thema Entstigmatisierung
von Menschen mit psychischen
Beeinträchtigungen auf mehreren Wegen.
In einer Arbeitsgruppe, zusammen gesetzt
aus Betroffenen, Angehörigen
und Fachkräften der
Sozialpsychiatrie wurden
Plakate, Postkarten
und die
Homepage
http://antistigma-mv.de/ entwickelt. Die
Plakate und Postkarten können von der
Homepage heruntergeladen werden. Sie
wurden entwickelt, um über diese Bilder
ins Gespräch zu kommen. Begleitend wer-
den Veranstaltungen umgesetzt, die über
psychiatrische Krankheitsbilder und Stigmatisierungsprozesse
informieren und das
Nachdenken über den eigenen Umgang mit
Vorurteilen anregen. Die Veranstaltungen
richten sich unter anderem an Mitarbeitende
aus dem Medienbereich, an Multiplikatoren
aus der Arbeitswelt, an Betroffene,
Angehörige und Fachkräfte aus dem psychiatrischen
Bereich.Eine wichtige Präventionsstrategie
bei den Veranstaltungen ist es,
Begegnungen und Austausch mit Menschen
zu schaffen, die Erfahrungen mit
psychiatrischen Erkrankungen gemacht haben.
Das Schulprojekt
Eine andere Art der Anti-Stigma-Arbeit sind
die Schulprojekte, die es schon in einigen
Städten gibt, unter anderem in Leipzig,
Hamburg, Bremen und Rostock. Aber auch
in vielen anderen Städten, nicht nur in
Deutschland. Jede
Schülerin, jeder
Schüler,
aber auch die
Lehrer und Lehrerinnen
wissen,
welchem Druck
Schüler gerade
in der Pubertät
ausgesetzt sind,
wie stressig der
Schulaltag sein
kann und wie
schwer es manchmal für Teenager ist, zuversichtlich
in die Welt zu schauen.
Ausgerechnet in dieser, für die Zukunft der
Jugendlichen, so wichtigen Lebensphase
beginnen psychische Erkrankungen wie Depressionen
oder Ängste, Süchte und selbstschädigendes
Verhalten so häufig wie in
keinem anderen Lebensabschnitt. Deshalb
brauchen viele Jugendliche Hilfe, um ihre
Probleme besser bewältigen zu können.
Herangehensweise des Schulprojekts
In Projektstunden und Projekttagen der
Schulen setzen sich die Schüler mit dem
Thema seelische Gesundheit auseinander
mit Hilfe eines idealerweise trialogisch besetzten
Teams. Es werden gruppenfördernde
Spiele und Therapieansätze von in
der Sozialpsychiatrie professionell Tätigen
durchgeführt, die ihren Einsatz auch in Therapien
in Kliniken oder anderen sozialen
Einrichtungen finden.
Einbeziehung von Psychiatrie-Erfahrenen
In Gesprächsrunden mit Betroffenen von
psychischen Problemen, können die Schüler
Fragen stellen, zu allem was ihnen auf
den Nägeln brennt. Diese persönlichen Begegnungen
sind besonders wichtig. Idealerweise
sollte auch das Schulprojekt
trialogisch besetzt sein, oft findet es aber
ohne Angehörigenvertreter statt, so dass
nur die Sicht der Menschen mit seelischen
Problemen und der in der Sozialpsychiatrie
Tätigen vertreten ist.
Zahlen und Fakten zu psychischen Krankheiten
bei Jugendlichen
20% der 13- bis 18-Jährigen haben psychische
Gesundheitsprobleme.
Oft vergehen mehrere Jahre, bis sie Hilfe
suchen und bekommen.
Ca. zwei bis drei Millionen Heranwachsende
in Deutschland haben mindestens
einen Elternteil, der psychisch erkrankt ist.
Dies kann für die Heranwachsenden mit
Problemen verbunden sein. Dadurch kann
es dazu kommen, dass sie selbst psychisch
erkranken.
90% der jungen Menschen, die durch Suizid
sterben, hatten zuvor eine psychische Erkrankung.
Lasst es nicht so weit kommen
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Christian Kaiser
Was ist ein Genesungsbegleiter?
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23
„Meltdown“
Manchmal beschreiben Wörter in einer
anderen Sprache viel besser Vorgänge als
ihre deutsche Übersetzung. So kann meltdown
in diesem Kontext mit Zusammenbruch
übersetzt werden. Aber ist es nicht
viel mehr ein Dahinschmelzen der äußeren
Fassade, wenn zu viele Reize auf ein
autistisches Kind einwirken und er diese
nicht mehr verarbeiten kann? Das scheinbar
angepasste Kind reagiert für Außenstehende
plötzlich völlig unverständlich,
sozial-emotional auffällig oder schlichtweg
schlecht erzogen. Und schon beginnen
einige Hobby-Pädagogen gut
gemeinte Ratschläge über die Eltern zu
ergießen, ohne die Gründe des Verhaltens
zu wissen und ich als sturer Elternteil sehe
mich wiederum auch nicht in der Pflicht,
die selbsternannten Super-Nannys über
mein Kind aufzuklären.
Natürlich ist es für mich manchmal
schwer auszuhalten, wenn sich mein Kind
weigert, im Museum einen bestimmten
Weg zu gehen und wir alleine zurückbleiben,
wenn er sich unter meinem Rock
versteckt, weil zu viele Geräusche auf ihn
einwirken oder wenn er meine Hände
überdehnt und durchknetet oder im besten
Falle einen anderen Gegenstand, weil
für ihn alles zu viel wird. Für ihn ist dies die
einfachste Möglichkeit, mit der Reizüberflutung
fertig zu werden. Aber immerhin
ist dies noch kein Meltdown.
Doch wenn auch dies nicht hilft und andere
Dinge während des Tages geschahen,
von denen wir nicht wissen, schmilzt am
Abend, vor allem zu Hause, die Fassade.
Wie ein Mensch, der an Tourett erkrankt
ist, beleidigt er alles und jeden mit dem
ganzen Repertoire an Schimpfwörtern,
das ihm zur Verfügung steht, und scheint
mit körperlich aggressivem Verhalten zu
drohen. Wir als Eltern reagieren manchmal
mit innerer Anspannung und nicht
immer fällt es uns leicht, ruhig zu bleiben,
aber wir können sein Verhalten kognitiv
verstehen und beziehen dies nicht auf
uns. Aber wie sieht es mit seinen Geschwistern
aus? Wie schaffen wir den
Spagat zwischen Verständnis und Grenzziehung?
Was kann seinen Geschwistern
zugemutet werden? Gelingt es uns meistens,
ihnen zu sagen und ihnen das Gefühl
zu geben, dass es nicht ihre Schuld ist,
wenn er überreagiert? Und immer stehen
auch die Bedürfnisse unseres Kindes, das
besonders ist, dem gegenüber.
Er kann erst nach einem Meltdown erzählen,
was am Tag passiert ist, was für ihn zu
viel oder unverständlich war. Er sucht die
Nähe seiner Geschwister und Eltern, obwohl
es für ihn besser wäre, sich eine
Auszeit in seinem Zimmer zu nehmen,
weil sich ein Meltdown ankündigt. Reize,
die nicht immer von uns kommen müssen
oder die wir abwenden können, bringen
dann das Fass zum Überlaufen. Zwar zeigt
er auf seine linkische Art seinen Geschwistern
und seinen Eltern im Nachhinein,
dass es ihm leid tut, weil er wieder ausgerastet
ist, obwohl er dies nicht möchte
und seine Familie liebt, dennoch schleichen
sich manchmal irrationale Gefühle
ein. Gefühle des Versagens oder der Situation
nicht gerecht zu werden. Da hilft es
auch nicht von Außenstehenden, die unsere
Familie kennen, dies verneint zu bekommen.
Der nagende Restzweifel, nicht
immer „situationsangemessen“ zu reagieren,
bleibt. Aber geht dies anderen Eltern
nicht auch so? Ja, wir haben ein besonde-
24
res Kind und manches ist dadurch anders,
dennoch denke ich, sollte es nicht Ziel
einer Familie sein, perfekt zu sein, sondern
in einer harmonische Grundstimmung,
in der jeder mit seinen Ecken und
Kanten geliebt und akzeptiert wird, zu
leben. Und gleichwohl ich hinter dieser
Einstellung stehe, kann ich meine negativen
Gefühlen, die in schwachen Momenten
aufkommen, nicht zum
Schweigen bringen.
Aber es ist nicht alles schlimm. So bringen
uns seine nüchternen Reaktionen auf
Emotionen oft zum Schmunzeln, was
nicht bedeutet, dass er gefühlskalt ist,
vielmehr kann er manche Dinge viel rationaler
betrachten. Er hat einen besonderen
Blick für das Ästhetische. Welcher
Junge kauft gern Blumen, achtet auf eine
schöne Tischdekoration und gibt sich Mühe
beim Herrichten, wenn ein besonderes
Ereignis ansteht? Seine Leidenschaften
für das Kochen und Züge, reale und Modelleisenbahnen,
versetzen uns immer
wieder ins Staunen. Und sein Kampfgeist
ist bemerkenswert. Er weiß, welche äußeren
Umstände eine Herausforderung für
ihn darstellen. Aber anstatt diesen Situationen
auszuweichen, stellt er sich ihnen –
er will diese aushalten, ohne ein Meltdown
zu erleiden.
Bild: www.asperger-kids.net
25
Erfahrungsbericht von Anne Wend
Tommy und Annika: "Der Sturm wird stärker!"
- Pippi:"Macht nichts. Ich auch!"
Aus "Pippi Langstrumpf"
von Astrid Lindgren
Mein Leben war von Anbeginn geprägt
von Krisen im Elternhaus, einer dysfunktionalen
Familie. Nach außen hin sollte ich
das Bild einer "ordentlichen" Familie präsentieren,
in der alles "gut" läuft. Also
wurde ich eine Vorzeigeschülerin mit besten
Noten und Verhalten. Angepasst, das
zu machen, was von mir erwartet wurde.
Ich wurde erfolgreich.
Um dem eisigen Schweigen in der Familie
zu entkommen, studierte ich ein Jahr im
Ausland und floh später für vier Jahre
nach Bratislava, um dort zu arbeiten.
Ich überlebte die Herkunftsfamilie, indem
ich meine Gefühle von mir abgespaltet
habe (so erklärte es mir ein Psychologe).
Das fühlt sich Scheiße an. Das Gefühl der
Gefühllosigkeit. Ihr wisst, was daraus folgt.
Rückzug von den Menschen. Alleinsein.
Einsamkeit. Alles mit mir allein ausmachen.
Damit bloß niemand weiß, wie es in
dieser Familie zugeht. Alles geschluckt.
Nix rausgelassen.
Dann kam "endlich" die Krankheit Depression.
Sie schlich sich an - lautlos - überfiel
mich - schrecklich - dieses Gefühl im Körper
- ich will gesund werden - ich fragte
die Psychiaterin: Werde ich wieder gesund?
Das war vor 27 Jahren. Das volle
Programm lief ab: Psychiater - Psychopharmaka
- Gesprächstherapie - und doch
nach 8 Jahren das berufliche Aus.
Ein paar Jahre Tagesstätte im Bodelschwingh
- Hof brachten Struktur in den
Tag und viel Übung, um die Konzentration
zu verbessern: das Lesen. Frau Ehrlich und
Frau Oswald hier einen besonderen Dank.
Familiäre Ereignisse waren der Auslöser
für weitere Stunden in der Gesprächstherapie
seit 2011. Die Psychologin erklärte
mir vieles, war mir freundlich zugewandt
und hörte zu. Reden, nach den vielen Jahren
Schweigen. Ich schrieb in der Zeit intensiv
Tagebuch,befreite mich von
Schuld. Es begann ein neues Leben.
Sprache ist Ausdruck der Seele und des
Geistes.
Dann kam ich mit Worten nicht mehr weiter.
Seit Winter 2019 /2020 suche ich eine
Kunsttherapeutin auf. Egal ob ich ein Bild
in nur einer Farbe male oder in zwei Farben
- es ist fantastisch! In den Stunden
konnte ich viel klarer und stärker werden.
"Kunst wäscht den Staub des Alltags von
der Seele" - Picasso
Seit 2012 male ich wieder in Malgruppen,
u.a. war ich 7 Semester an der VHS. Das
Fantastische daran ist, dass ich Hobbykünstlerinnnen
kennen gelernt habe, mit
denen ich Ausstellungen besuche, mit denen
mich etwas verbindet. Was ich seitdem
über die Kunst ab dem 19.Jhd bis
heute erfahren habe, ist interessant, fantastisch,
erfüllend!!!! Ich könnte Vorträge
halten über die Entwicklung der Kunstrichtungen,
egal ob Impressionismus, Expressionismus,
Surrealismus, Kubismus,
Realismus.... Das ist pure Begeisterung!
Ich reise auch mal alleine zu Ausstellungen,
in Potsdam sah ich von Van Gogh 27
26
Stillleben und von Monet 120 Bilder.
Karl Hagemeister ein Havelländischer
Impressionist, wird auch in Potsdam gezeigt.
In Frankfurt am Main gab es 50
Bilder von Van Gogh zu bewundern. Architektur
ist ebenfalls eine feine Sache,
egal ob alte Städte wie Quedlinburg, Bad
Langensalza... Fotografieren und nach
Fotos malen.
Da beginnt die Seele zu fliegen!
Aus dem Leben der Künstler des 19. Jhd,
ihren Ansichten, Weisheiten, finde ich
viel für mich. Und ich bin mutig geworden!
Das umschreibe ich mit einem weiteren
Zitat von Pippi Langstrumpf :
"Das habe ich noch nie vorher gemacht,
also bin ich völlig sicher, dass ich es
schaffe."
Das betrifft auch die Weiterbildung zur
Genesungsbegleiterin, die ich 2017 begann.
Ich dachte vorher oft, dass ich das
nicht kann. Ein Jahr lang lernen? Das
Reflektieren der eigenen Geschichte hat
mich weiter gebracht und gestärkt. Natürlich
der Austausch mit den Teilnehmern
ebenso wie eine Perspektive, in
der Selbsthilfe tätig zu sein:hier im tlpe.
Für Menschen dasein.
Ich führe ein zufriedenes und erfülltes
Leben. Vor 5 Jahren hätte ich das nicht
gedacht, dass ich so viel Lebensqualität
haben würde.
Von Astrid Lindgren ist auch folgender
Satz :"Sei frech und wild und wunderbar!"
Jawoll - egal ob mit Texten oder Bildern.
In diesem Sinne wünsche ich Allen gute
Besserung und nie aufgeben!
Anne - Julie im Mai 2020
27
Dieses Buch richtet
sich an psychisch
kranke
Menschen sowie
deren Angehörige,
Freunde und
Bekannte. Diese
Texte möchten
Menschen erreichen,
welche die
psychische
Krankheit eines
Nachbarn, Kollegen
oder Sportkameraden im Umfeld
registriert haben, aber nicht wissen,
wie sie damit umgehen sollen.
In 24 Interviews berichten nun erwachsene
Personen aus ihrer Kindheit
mit einem psychisch kranken Elternteil.
Der Erzählstil kommt ohne Fachund
Fremdwörter aus. In gleicher Art
und Weise werden die psychischen
Krankheiten im Anhang erklärt.
Die Erkrankung eines Elternteils für
Jungen und Mädchen stellt eine dramatische
Herausforderung dar. Es
geht nicht nur um das Scheidungsrisiko
der Eltern und die krankheitsbedingte
Armut. Es geht vor allem um die
Bindungserfahrungen der Kinder. Sicherheit
und Vertrauen in das elterliche
Erziehungsverhalten sind gestört.
Daran können Kinder unter bestimmten
Voraussetzung wachsen, viele
aber leiden ihr Leben lang darunter.
Sie bleiben verunsichert, beschämt,
misstrauisch und entwickeln Bewältigungsverhalten,
das zerstörerische
Formen annehmen kann.
Die Journalistin Gabi Pertus hat in ihren
bisherigen Veröffentlichungen immer
wieder versucht, hinter die
Sichtschutzmauern der öffentlichen
Wahrnehmung zu leuchten. Sie lässt
die Betroffenen selbst zu Wort kommen,
anrührend und berührend. Es
wird die Auseinandersetzung mit den
Eltern beschrieben, die –von ihrer Erkrankung
vereinnahmt – den kindlichen
Bedürfnissen nicht immer
gerecht werden können. Zur Sprache
kommen die kindliche Wut, die Ängste,
die Einsamkeit und die Überforderung.
Aber auch das Verzeihen als für
die schmerzliche Einsicht in die elterliche
Not.
Ihr Motiv für diese Themenwahl in den
biografischen Zügen von Gabi Pertus
zu suchen. Ihr Engagement für die Belange
von Menschen mit psychischen
Erkrankungen und deren Angehörige
ist groß. Selbst psychiatrieerfahren,
machte sie die EX-IN-Weiterbildung
zur Genesungsbegleiterin und kann
auf diese Art und Weise ihre Erfahrungen
einbringen.
Gabi Pertus „AUSwege finden –
Kinder psychisch kranker Eltern“
erschienen 2017 bei tredition
Paperback, Hardcover, e-Book
Gabi Pertus, Journalistin, Autorin
und EX-IN-lerin (Genesungsbegleiterin)
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Lus Bücher
Hallo Mein Name ist Luise aber die meisten
nennen mich Lu. Ich habe 2017 angefangen
über mein Leben zu schreiben, was bis dahin
nicht gerade sehr einfach war, es gab mehr
Tiefs als Hochs. Aber warum habe ich überhaupt
angefangen zu schreiben und dann
gerade noch über mein Leben .Ich werde es
euch erzählen.
Ich war schon immer anders als andere und
habe Dinge im Leben erlebt die zu keiner
gesunden Entwicklung meiner Psyche beigetragen
haben. Als ich dann 2013 das erste
Mal in der Psychiatrie hier in Rostock war,
habe ich gedacht es sei Endstation und ich
werde mein Leben nicht mehr frei gestalten
und leben können. Ich habe alles verloren
was ich mir bis dahin mit viel Mühe aufgebaut
habe.
Ich habe Diagnosen bekommen von den ich
vorher wenig oder gar nichts wusste und ich
fühlte mich sehr alleine. Da kam schon immer
der Gedanke, eigentlich müsste ich ein
Buch schreiben aber so richtig wusste ich zu
dem Zeitpunkt noch nicht wie und ob es sich
lohnt. Bis mich Ende 2016 eine sehr gute
Freundin nochmals drauf angesprochen hat
und sagte: „Lu du musst das mal aufschreiben,
was du bis jetzt alles erlebt hast!“, und
so kam es das mein erstes Buch 2017 fertig
war und in die Veröffentlichung ging.
Und ja was soll ich sagen mittlerweile habe
ich 3 Bücher über mein Leben geschrieben
.Es geht in den Büchern um Therapien, Klage
vor dem Sozialgericht, um Gedanken und
Gefühle, was die Erkrankungen mit mir und
meinem Umfeld macht und der Umgang mit
Skills. Alle 3 Bücher haben maximal 108 Seiten.
Ich lasse meine Bücher über Bookmundo
vertreiben das heißt das die Bücher erst ab
Bestellung gedruckt und gebunden werden.
Ich wollte nie zu einem großen Verlag mit
meinen Büchern, weil ich ganz alleine entscheide
was rein gehört und was nicht, der
Leser soll nicht das Buch zu klappen und weinen
sondern er soll an sich glauben und seinen
Träumen folgen und Mut finden sein
Leben zu leben. Das ist mir ganz wichtig, dass
die Menschen merken, dass sie nicht alleine
sind. Die Bücher sind für alle geeignet
die sich mit dem Thema Depression und
Borderline auseinandersetzten wollen.
Es wird auch ganz kurz das Thema Posttraumatisch
Belastungsstörung sowie
Schmerzmittel Abhängigkeit angeschnitten
. Es ist nicht nur für Betroffene geschrieben
sondern wirklich für alle auch
in sehr leichter Sprache. Ich wollte nie
ein Fachbuch raus bringen sondern ein
ganz einfaches Buch. Um mit Menschen
in den Austausch zu kommen und meine
Welt zu erklären und zu zeigen, nur so
können wir aufeinander zugehen um
Barrieren abzubauen.
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Eine kurze Geschichte der Psychiatrie - Teil 1
von Mathias Krämer
Die Psychiatrie gilt als das medizinische
Fach, das am stärksten mit dem Zeitgeist
verwoben ist. Im Kern liegen ihr Menschenbilder
und Verhaltenserwar-tungen
zu Grunde, die veränderlich sind und wesentlich
von politischen oder gesellschaftlichen
Trends beeinflusst werden.
Entsprechend ist es auch wenig überraschend,
dass es keine linear verlaufende
Psychiatrie-Geschichte zu beschreiben
gibt. Denn das Wesen des Zeitgeistes ist
es nun mal, dass er sich sprunghaft entwickelt
und immer wieder selbst korrigiert.
In einem fortlaufenden Prozess findet eine
Auseinandersetzung zwischen einer
Vielzahl verschiedener, sich in Teilen widersprechender
Ideen und Haltungen
statt. Zuvor gänzlich fern-liegende Denkmuster
gewinnen die Oberhand und machen
die vormals herrschenden
bedeutungslos. Sei es, weil sich die Verhältnisse
ändern oder Gegenbewegungen
entstehen, nachdem vorherige Absolutsetzungen
zu Exzessen geführt haben. Befördert
wurde die Sprunghaftigkeit auch
dadurch, dass sich gerade psychiatrische
Behandlungs-methoden für lange Zeit aus
einer Abfolge von Versuch und Irrtum ergaben.
Vor diesem Hintergrund sollten wir es uns
nicht zu einfach machen und mit unserem
heutigen Wissen und unseren heutigen
Wertungen zurückblicken und richtend
oder naserümpfend früheres Geschehen
be-trachten. Denn auch wir unterliegen
einem Zeitgeist. Sinnvoller scheint es, mit
Hilfe eines kritischen Blickes auf
Vergangenheit und Gegenwart eine
eigene Perspektive und Haltung zu
gewinnen. Und sich dabei immer vor
Augen zu führen, dass wir nicht nur dem
Zeitgeist unterliegen. Wir gestalten ihn
auch durch unser Verhalten mit.
Altertum und islamisches Mittelalter
Der Beginn der Psychiatriegeschichte wird
meist im Altertum, bei den Hochkulturen
der Ägypter und Griechen gesehen. In
beiden Kulturen gab es bereits eine
ausgeprägte medizinische Kultur. Es
entwickelten sich diverse Theorien über
Krankheitsursachen. Behandlungsformen
wurden weiterentwickelt.
Ägyptische Schriftrollen stellen mit einem
Alter von ungefähr 4.000 Jahre die
ältesten medizinische Texte dar. Darauf
enthalten sind viele Erkrankungen
einschließlich psychischer Störungen. Es
werden Symptome beschrieben und
Behandlungen. Ein zentraler Name der
ägyptischen Heilkunst ist Imhotep (lebte
um 2.700 v. Chr.) Er gilt als einer der
größten Universalgelehrten seiner Zeit. Er
war u.a. Priester, Architekt, Astrologe und
Arzt. Imhotep gilt als Begründer der
ägyptischen Medizin. Und wurde damals
als gottähnliches Wesen und hier speziell
als Heilgott verehrt.
Im alten Griechenland wurde die Erforschung
der Seele fast schon wissenschaftlich
betrieben. So veröffentlichte der
große griechische Universalgelehrte Aristoteles
(384 - 322 v. Chr.) eine Schrift
„Über die Seele“ (= „de anima“). Diese
wird oft als erstes Werk der Psychologie
bezeichnet. Viel diskutiert wurde zu dieser
Zeit bereits, ob psychische Erkrankungen
u.a. auch durch Konflikte oder
Frustrationen ausgelöst werden können.
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Aristoteles verneinte dies und folgte der damals
herrschenden Überzeugung, wonach
Störungen der Psyche durch die Galle verursacht
werden (sog. Humoralpathologie =
Krankheitslehre von den Körpersäften). Bemerkenswert
ist der damals vorherrschende
unaufgeregt, nüchterne Blick auf seelische
Krankheiten. Diese wurden als Krankheiten
wie andere auch angesehen und behandelt.
Verbreitete Behandlungsmethoden waren
Massagen, Diäten, Aderlässe, unterschiedlichste
Medikamente, aber auch Gespräche
oder Gewalt. Vielfach sollte der Verstand
durch Musik, Sport und Theater gestärkt werden.
Besonders verbreitet war der bereits auf
die Ägypter zurückgehende Tempelschlaf.
Hier verbrachten Kranke eine Nacht in einem
meist prächtigen Tempel. Nach Reinigungsund
Fastenritualen wurden sie in einen tranceähnlichen
Zustand versetzt, den sog. Tempelschlaf.
In diesem sollten den Kranken
göttliche Wesen im Traum erscheinen und die
Krankheit heilen oder Ratschläge für eine Behandlung
geben.
Bei all den Beschreibungen darf man aber
nicht vergessen, dass es damals noch lange
keinen rein naturwissenschaftlichen Blick auf
die Medizin gab. So war die Medizin Ägyptens
noch untrennbar mit Magie verwoben. Und
auch im antiken Griechenland war eine Heilbehandlung
zumeist mit religiösen Ritualen
verbunden. Und trotzdem waren beide Hochkulturen
ungemein prägend für die spätere
Weiterentwicklung von Medizin und dem
Wissen um psychische Zusammenhänge.
Bisweilen liest man in Büchern der Psychiatriegeschichte
sogar, dass auf die Periode der
Griechen fast 2.000 Jahre ohne nennenswerte
Entwicklung folgten, bis im 18. Jh. die moderne
Psychiatrie begründet wurde. Weitestgehend
unbestritten ist jedenfalls, dass sich die
Medizin bis zum 12. Jh. n. Chr. im Wesentlichen
auf die Kenntnisse der berühmten
Ärzte des Altertums, wie Hippokrates, Galen
oder Aristoteles, beschränkte.
Vor allem im islamischen Mittelalter setzte
sich (anders als noch in den christlich geprägten
Ländern) zunehmend die Überzeugung
durch, dass Krankheiten des Geistes auf
Störungen des Gehirns zurückzuführen sind.
An zahlreichen Orten wurden Krankenhäuser
gebaut, die zu den modernsten ihrer Zeit zählten.
Entsprechend der Vorgaben des Korans
war der fürsorgliche Umgang mit Kranken
selbstverständlich. Jeder wurde unabhängig
von Glauben und Herkunft kostenlos behandelt.
Zu nennen ist für diese Periode vor allem
der Name Avicenna (ca. 980 – 1037), wieder
ein seine Epoche prägender Universalgelehrter.
Avicenna war Arzt, Naturwissenschaftler,
Physiker, Philosoph, Jurist und einer der berühmtesten
Personen seiner Zeit. Er veröffentlichte
eine Vielzahl medizinischer
Schriften. Bis ins 17. Jahrhundert galten viele
davon als Grundlage der medizinischen Heilkunde,
auch an den medizinischen Fakultäten
Europas.
Fortsetzung folgt!
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IMPRESSUM:
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Kreativgruppe Mad Artists. Es erscheint in unregelmäßigen
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