karstlandschaften
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Spezialwanderführer
Christian Gnägi Karstlandschaften und
Schauhöhlen der Schweiz
Inhaltsverzeichnis
Vorwort 7
Einführung 8
– Karstlandschaften? 8
– Zum Gebrauch des Führers 9
– Auswahl der Jahreszeit 10
– Das Entdecken von Höhlen auf eigene Faust (Philipp Häuselmann) 10
Teil I: Karstlandschaften und Schauhöhlen nach Regionen 15
1 Tessin 15
1.1 Monte Generoso 16
1.2 Val Piora–Lukmanier 36
2 Wallis–Westschweiz 60
2.1 Sanetsch–Tsanfleuron 61
2.2 Unterirdischer See St-Léonard (Lac souterrain) 76
2.3 Feen-Grotte in St-Maurice (Grotte aux Fées) 78
2.4 Tour d’ Aï–Tour de Mayen–Tour de Famelon 80
3 Jura 90
3.1 Vallée de Joux 91
3.2 Grotten von Vallorbe (Grottes de Vallorbe) 105
3.3 Unterirdische Mühlen Col-des-Roches (Moulins souterrains) 108
3.4 Grotten von Réclère (Grottes de Réclère) 110
4 Berner Oberland und Innerschweiz 114
4.1 Niederhorn–Hohgant-Kette 114
4.2 St. Beatus-Höhlen 125
4.3 Stöckalp–Melchsee–Graustock 128
4.4 Höllgrotten Baar 139
4.5 Rätschtal–Charetalp–Glattalp–Mären 142
4.6 Hölloch Muotatal 154
5 Ostschweiz 158
5.1 Churfirsten 159
5.2 Kristallhöhle Kobelwald 170
Teil II: Fachliche Hintergrundinformationen 173
1 Kleine Geologie 173
2 Karst 176
2.1 Verbreitung des Karsts in der Schweiz 176
2.2 Karstentstehung und Kalklösung 176
2.3 Verkarstungsfähige Gesteine 177
2.4 Landschaftsformen 179
2.5 Höhlen 182
2.6 Höhlenforschung (Philipp Häuselmann) 187
2.7 Kalk- und Karstvegetation der höheren Zonen 189
2.8 Karst- und Höhlenfauna 193
Literatur- und Linkverzeichnis 195
Begriffserklärungen und Abkürzungen 196
Übersicht Schauhöhlen 200
Abbildungen
Fotos:
Karten:
Ohne anderslautenden Vermerk stammen sie vom Autor
Reproduziert mit Bewilligung von swisstopo (BA081248)
Um Bilder von schönen Landschaften und Pflanzen zu schiessen, muss der Fotograf nur zur richtigen
Zeit am richtigen Ort sein, sie laufen nicht davon. Mit Tieren ist dies etwas anders. Oft
werden sie erst nach zufälligem Aufscheuchen entdeckt, wenn sie sich durch ihr Flüchten verraten.
Ich habe bewusst darauf verzichtet, für diesen Führer Bilder von seltenen Tieren einzukaufen.
Die abgebildeten Tiere können von allen beobachtet werden, die zu Randzeiten still auf
wenig begangenen Wegen unterwegs sind.
Literaturverweise
Die meisten Literaturverweise erfolgen direkt bei den einzelnen Landschaftsbeschreibungen.
Im Literaturverzeichnis am Schluss des Buches sind nur grundlegende Werke aufgeführt. In die
Verweise wurden auch ältere Publikationen aufgenommen, die vergriffen sind, sofern mir nichts
Neueres bekannt war. Sie sind über Universitätsbibliotheken oder die Schweizerische Nationalbibliothek
Bern beschaffbar. Dann ist es leider so, dass Internetlinks nur temporäre Gültigkeit
haben. Es kann keine Garantie übernommen werden, dass zum Zeitpunkt des Kaufs dieses
Buches noch alle funktionieren.
Vorwort
Da sich viele alpine Karstlandschaften weder
zu intensiver touristischer Nutzung noch zur
Besiedlung eignen, haben sie ihre wilde Ursprünglichkeit
bewahrt. Gerade die hoch gelegenen
Karrenfelder mit dem nackten Karst, den
offenen Schächten, Spalten und Höhlen haben
immer einen ganz besonderen Reiz auf mich
ausgeübt. Da ist die Landschaft noch so, wie
sie durch die Verwitterungs- und Erosionskräfte
geschaffen wurde. Wie in den Hochmooren
sind es auch in Karstlandschaften oft nur Spezialisten
unter den Pflanzen, die solch extremen
Bedingungen trotzen können. Allen voran wieder die Föhre, der kein
Fels zu heiss, zu sturmumtobt oder zu trocken ist. Eine Felsspalte genügt ihr
schon als Wurzelraum. Ich staune immer wieder, wie viele Tiere sich hier zu
Hause fühlen. Höhlenschächte, die sich im Bodenlosen verlieren, haben etwas
Schauerliches. Aber haben Sie nicht auch schon in eine Höhle hineingeschaut
und mit dem Gedanken an eine Begehung gespielt? Schauhöhlen bieten
unter gesicherten Bedingungen etwas von diesem Abenteuergefühl.
Aus der Fülle der Landschaften haben wir eine Auswahl der schönsten und
reichhaltigsten getroffen. Einige auszuwählen, bedeutet immer auch, andere
wegzulassen. Dies war oft ein schwieriger Entscheid. Die Auswahl fiel z. T.
bewusst auf weniger bekannte. Andere, die schon oft beschrieben wurden,
konnten deshalb leichter weggelassen werden. Nicht zuletzt ist der Umfang
eines solchen Führers beschränkt. Nehmen Sie es mir also bitte nicht übel,
wenn «Ihre» Karstlandschaft nicht dabei ist.
Abb. 1 Eine Föhre
zuäusserst auf einem
Felsturm der
Denti della Vecchia
Dank
Ich möchte allen danken, die zum Gelingen dieses Buches beigetragen haben:
– den Besitzern der Schauhöhlen für Dokumentationsmaterial und Bilder,
– dem Schweizerisches Institut für Speläologie und Karstforschung (Organ
der Schweizerischen Gesellschaft für Höhlenforschung, SGH) für die Beiträge
von Philipp Häuselmann und die fachliche Durchsicht der Texte auf
karstologische Richtigkeit,
– den Höhlenforschern für ihre Hilfe bei der Auswahl der Landschaften,
– Emmanuel Reynard für seine Unterlagen zu Sanetsch–Tsanfleuron,
– meiner Frau und meinen Kindern, die sich an der Entstehung mitfreuten,
mich oft begleiteten und zuweilen auch entbehren mussten.
Vorwort 7
Einführung
Karstlandschaften?
Karstlandschaften sind Landschaften, die von der Wasserlöslichkeit des darunterliegenden
Gesteins geprägt sind. Lösliche Gesteine sind bei uns reiner
Kalk, Dolomit und Gips. Karstlandschaften finden wir überall dort, wo diese
Gesteine in der Nähe der Oberfläche liegen. Die grösste Verbreitung haben
sie im Jura, in den Préalpes romandes sowie in den Kalkalpen der Alpennordseite
und des Tessins. Durch die Auflösung des Gesteins entstehen faszinierende
und typische Landschaftsformen: Höhlen, Felsflächen voller Spalten
(Karrenfelder), in einem Loch verschwindende Bäche (Schwundloch), aus
Höhlen und Felswänden entspringende Quellen (Karstquellen), abflusslose
Seen, Täler ohne Wasserlauf (Trockentäler) und manchmal ganze Serien von
Mulden im Gelände (Dolinen). Die Entwässerung dieser Landschaften erfolgt
weitgehend unterirdisch und geheimnisvoll durch Höhlen und Spalten. Diese
Höhlensysteme enthalten Flüsse, Wasserfälle, Seen und Tropfsteingalerien.
In Schauhöhlen können wir einen Blick auf diese Wunderwelt werfen, die
sonst nur Forschern mit Spezialausrüstung vorbehalten ist. Durch die unterirdische
Entwässerung sind Karstlandschaften von Trockenheit und geringmächtigen
Böden geprägt. Deshalb sind sie in den Alpen meist spärlich oder
gar nicht bewachsen. Es sind nur Spezialisten unter den Pflanzen, die unter
diesen Bedingungen leben können.
Karstlandschaften sind Un-Landschaften: unzugänglich, unwegsam, unerschlossen,
unwirtlich und unheimlich – also richtige Wüsten. Warum sollte
man dort hingehen? Gerade deshalb! In diesem Schroffen, Grauen, Abweisenden,
Scharfkantigen liegt ihr Reiz. Oft sind sie menschenleer. Sie wollen
entdeckt, erobert, bezwungen werden. Nur dem, der sich hineinwagt, genau
hinschaut, nachfragt, in die Tiefe dringt, eröffnen sie ihren Reiz. Durch die
Unendlichkeit eines Karrenfelds zu streifen, scheinbar ziellos von Fels zu
Fels zu springen, ins bodenlose Grauen der Spalten hinunterzustaunen, sich
von den vielen Farbtupfern der Blumenpolster berühren zu lassen – dies hinterlässt
starke emotionale Eindrücke. Zudem sind Karstlandschaften Tore zu
unentdeckten unterirdischen Welten von bezaubernder Schönheit.
Karstlandschaften sind aber auch gefährlich, unerschlossene Höhlen sowieso.
Allein, bei Nebel und im Winter sollte man sich nicht in ein grosses Karrenfeld
wagen. Es gibt Karstschächte, die 100 m tief sind. Karstspalten können
wie Gletscherspalten von Schnee zugeweht sein, der nicht trägt. In den
weglosen Labyrinthen ist schon bei Sonnenschein die Orientierung schwierig.
Im Nebel ist man sofort verloren. Glatte Felsen, die nass sind, werden
leicht glitschig. Wenn jemand allein verunfallt, selbst wenn er Handy-Empfang
haben sollte, was in den Bergen oft nicht der Fall ist: Wie will er jemandem
beschreiben, wo er liegt, wenn es keine Orientierungspunkte gibt?
8 Karstlandschaften und Schauhöhlen der Schweiz
Zum Gebrauch des Führers
Der Führer ist in zwei Teile gegliedert. In Teil I werden die Schauhöhlen und
die schönsten Karstlandschaften der Schweiz nach Regionen vorgestellt. Bei
jeder Landschaft wird auf einige Schwerpunkte hingewiesen, die sich beobachten
lassen. Aber es ist unmöglich, alles zu beschreiben, was es zu sehen
gibt. In Teil II werden naturwissenschaftliche Zusatzinformationen angeboten
und einige Fachbegriffe näher erläutert. Dieses Buch bildet einen
Mix zwischen Landschafts- und Routenführer. Der Fokus liegt darauf, das
Schöne und Besondere der betreffenden Landschaft vorzustellen. Die Auswahl
der Zugänge soll nach individuellen Interessen erfolgen können. Jeder
Zugang bietet seine besonderen Reize. Für diejenigen, die froh sind darum,
sind jeweils auch ein paar bewährte Routenvorschläge ausgewählt worden.
Grundlage ist immer die Landeskarte 1 : 25 000, die durch den Führer
auf keinen Fall ersetzt wird. Die beigefügten Karten dienen der allgemeinen
Orientierung. Die eingezeichneten Routen geben nur den ungefähren Wegverlauf
an, entscheidend sind die lokalen Markierungen! Im Internet sind
bereits eine grosse Anzahl von Routenvorschlägen publiziert worden, gerade
auf den regionalen Tourismusseiten. Oft wird auf diese Beschreibungen
oder schon bestehende Exkursionsführer verwiesen. Das Gleiche mehrmals
zu publizieren, macht keinen Sinn. Mit den Marschzeitangaben ist es so eine
Sache. Die stimmen grundsätzlich nie. Alle haben ihr eigenes Tempo.
Dann sind vielleicht Kinder dabei, die mehr Verschnaufpausen brauchen.
Unterwegs vertieft man sich ins Beobachten und Fotografieren ... Die altbewährte
Berechnung von 300 m Höhendifferenz pro Stunde (inklusive kurze
Pausen), plus eine Stunde pro 5 km Wanderstrecke, dünkt mich nach wie
vor eine gute Faustregel.
Der Schwerpunkt bei den Höhlen liegt auf den erschlossenen, den Schauhöhlen.
Bei Abenteuern in nicht gesicherten Höhlen gab es leider schon zu
viele Todesfälle und aufwendige Rettungsaktionen. Wenn möglich wird aber
bei jeder Karstlandschaft auf eine Höhle hingewiesen, die ungefährlich ist
und ohne Spezialausrüstung erforscht werden kann (siehe auch den übernächsten
Abschnitt «Das Entdecken von Höhlen auf eigene Faust»). Die prähistorisch
bewohnten Höhlen wurden weggelassen. Einerseits hätte es den
Rahmen dieses Buches gesprengt, wenn wir auch diese Höhlen vorgestellt
hätten, andererseits wurden viele bereits in früheren Exkursionsführern des
Ott-Verlags beschrieben oder bieten nur dem Wissenschaftler etwas.
Im Text erwähnte Ortsbezeichnungen sind der Landeskarte der Schweiz
1 : 25 000 entnommen. Auf lateinische Pflanzennamen wurde verzichtet. Die
verwendeten deutschen Namen stammen aus der Flora Helvetica. Am Schluss
des Buches befindet sich ein Verzeichnis mit Erklärungen der im Text verwendeten
Fachbegriffe und Abkürzungen sowie eine Literaturübersicht für
weiterführende Informationen.
Einführung 9
Auswahl der Jahreszeit
Jede Landschaft präsentiert sich durch die verschiedenen Jahreszeiten anders.
Je nachdem, was einem wichtig ist, empfiehlt es sich, die Jahreszeit
für einen Besuch bewusst zu wählen.
– Frühling: Je nach Höhenlage und Exposition beginnt der Frühling zu unterschiedlichen
Zeiten. Die Flora ist durch Frühblüher und den Bergfrühling
geprägt (z. B. Soldanelle, Krokus, Flühblümchen, Erika).
– Sommer: Der Frühsommer ist die Hauptblütezeit mit der grössten Blumenvielfalt
(z. B. Männertreu, blaue Enziane, Alpen-Aster, Edelweiss, gelbe
und violette Veilchen, Sonnenröschen, Fingerkraut, Alpenrose). Auf der
Alpensüdseite ist dies Mai bis Juni, auf der Alpennordseite Juni bis Mitte
Juli, je nach Höhenlage. In dieser Zeit lassen sich oft Tiere mit Jungen beobachten.
Nur wenige Pflanzen haben ihren Blütezeitpunkt erst im Spätsommer
(August: z. B. Blauer und Gelber Eisenhut, Purpur-Enzian, Gel ber
Enzian, Getupfter Enzian, Feld-Enzian, Schnittlauch, Alpendost, Alpen-
Lein). Wer schöne Blumen sehen möchte, plant in Gebieten mit Alpwirtschaft
eher einen früheren Besuch. Sobald die Tiere in den Weiden sind,
ist die Blumenpracht abgefressen ...
– Herbst: Die Blütenpracht ist vorbei. Das Besondere dieser Jahreszeit liegt
in den schönen Farben der Landschaft, dem charakteristischen Herbstlicht
und der gegenüber dem dunstigen Sommer oft klareren Fernsicht.
Da in den Kalkgebieten der schweizerischen Alpennordseite die Flora zum
grössten Teil identisch ist, wird in jedem Gebiet nur auf eine Auswahl von
Pflanzen hingewiesen. Mehr Informationen über die Zusammensetzung der
Flora und die Pflanzengesellschaften finden sich in Teil II.
Das Entdecken von Höhlen auf eigene Faust
Philipp Häuselmann
Abb. 2 Karstlandschaft
am Graustock
(Kt. Obwalden)
Karstlandschaften üben
einen starken Reiz aus –
sie sind abweisend und
anziehend zugleich.
«Hei, chumm mir gö o eis ine Höhli, das fägt.» – Wer möchte nicht gerne
auch einmal etwas entdecken, was noch niemand gesehen hat? Etwas Abenteuer
verspüren? Etwas Gruseln auch? – Allein, es ist nicht ungefährlich!
Das grösste Risiko beim Höhlenforschen geht nicht von der Höhle selbst aus:
Sauerstoff ist in Schweizer Höhlen fast immer genügend vorhanden, die Gefahr
eines Einsturzes ist meistens sehr klein – einzig ein Wassereinbruch bei
Regenwetter kann schnell verhängnisvoll sein. Die grösste Gefahr ist eindeutig
die mangelnde Erfahrung. Sie hat Fehleinschätzungen zur Folge: bezüglich
der benötigten Ausrüstung, der Zeit, die es für den Hin- und Rückweg
braucht, sowie der eigenen Kräfte. Abseilen geht einfacher als Hinaufklettern,
nach ein paar Stunden Forschung wieder ans Tageslicht zu steigen,
ist streng. Die fehlende Übung bewirkt ein erstaunlich rasches Ermü-
10 Karstlandschaften und Schauhöhlen der Schweiz
Einführung 11
den, und damit steigt die Unfallgefahr: Schnell ist ein Misstritt oder Ausrutscher
geschehen, und schon fällt man in den Schacht, aus dem man vorher
mit Mühe hochgestiegen ist. Eine Rettung aus einer Höhle ist aber eine
komplizierte Angelegenheit. Nur schon bis der Alarm an die REGA gegeben
werden kann (Tel. 1414), können einige Stunden vergehen. Und die Rettung
durch den Speleo-Secours (Höhlenrettungsgruppe) geht viel länger ...
oft bis zu mehreren Tagen.
Aus diesem Grunde raten wir generell davon ab, Höhlen auf eigene Faust zu
erforschen. Doch es gibt einen Ausweg: Die Schweizerische Gesellschaft für
Höhlenforschung SGH sucht laufend Nachwuchskräfte. Mit der Hilfe eines erfahrenen
Höhlenforschers ist es problemlos möglich, eine Höhle auch ohne
elektrische Beleuchtung und Betontreppen zu besuchen, ja vielleicht sogar
bei einer Vermessungstour mitzuhelfen, wo es um neue Gänge geht. Dazu
profitieren die Besucher vom Fachwissen der Höhlenforscher. Sie kennen
als Ortskundige nicht nur die Gefahren der Höhlen, sondern können auch die
vielen Fragen beantworten, die einem in der Unterwelt einfallen. Die Kontaktadressen
der jeweiligen Sektionen finden sich auf der Website der SGH
(www.speleo.ch).
Wer nicht gerade ins Höhlenforschen einsteigen möchte, dem bieten sich
diejenigen Höhlen an, von denen bekannt ist, dass sie wenig gefährlich
sind. Weil sie nicht ausgebaut sind, vermitteln sie trotzdem einen Hauch
von Abenteuer. Im Regionalteil des Buches wird auf solche Höhlen hingewiesen.
Ein typisches Beispiel ist das Nidlenloch am Hinterweissenstein (Jura).
Wer einsteigen will, muss sich im Restaurant Hinterweissenstein voranmelden
und bekommt dann gegen eine Gebühr den Schlüssel zur Höhle ausgehändigt.
Alle müssen angeben, wohin sie gehen und wann sie wieder zurück
sein wollen. Kommt jemand nicht zurück, wird Alarm ausgelöst. Dies
gibt eine gewisse Sicherheit. Trotzdem sind einige Vorsichtsmassnahmen unabdingbar.
Nicht zuletzt könnte es sonst im Fall eines Unfalls dazu kommen,
dass die Unfallversicherung die Leistungen kürzt, weil die Besucher Abenteuersport
betrieben haben und ein Wagnis eingegangen sind. Einige Regeln
sind dieselben, die auch für Bergtouren gelten:
– Informationen einholen über die Höhle, den Zustieg und die Wetterbedingungen
(Hochwassergefahr bei Gewittern und ergiebigen Niederschlägen).
– Pro Person immer zwei ausreichende und unabhängige Lichtquellen mitnehmen.
Eine Lichtpanne ist nicht tödlich, aber fatal, denn in der Höhle
gibt es keine Sterne – es herrscht absolute Finsternis. Sonstige Ausrüstung:
wasserdichte Kleidung (in den Höhlen tropft es meistens, und wer
nass ist, kühlt schnell aus), Gummistiefel, Helm (Höhlendecken sind oft
tief und kantig).
– Nie allein in eine Höhle gehen! Es muss nicht einmal ein Unfall passieren,
12 Karstlandschaften und Schauhöhlen der Schweiz
denn auch wenn es einem schlecht wird,
die Kräfte plötzlich zu Ende sind, die Orientierung
versagt oder das Licht ausgeht, ist
man allein hoffnungslos verloren.
– Immer jemandem Ziel und geplante Rückkehrzeit
mitteilen und den Plan nicht ändern,
ohne wieder zu orientieren. Nur so
kann bei Überfälligkeit Alarm ausgelöst
und rechtzeitig Hilfe geleistet werden.
– Kräfte einteilen und bedenken, dass der
Rückweg genauso lang ist wie der Einstieg,
aber zusätzlich viel mühsamer und zeitraubender,
weil man schon müde ist. Abwärts
geht es oft leichter als aufwärts. Im Zweifel:
HALT! Dies gilt auch für Kletterstellen.
Angst ist nicht ein Zeichen von Schwäche,
sondern von drohender Gefahr und ein gutes Mittel, um zu überleben. Es
braucht nur etwas Mut, zu sich und seinen Ängsten zu stehen.
– Genug zu essen und eine kleine Notfallapotheke mitnehmen. Die ungewohnte
Fortbewegung in der Höhle braucht mehr Kraft als vermutet. Ein
kleiner Sturz muss nicht bedrohlich sein – aber die Wunde abzudecken, damit
sie nicht verschmutzt, ist sicher sinnvoll.
– Die Höhle und allfällige Gefahrenzeichen beobachten: Rauscht der Bach
stärker, ist ein Hochwasser im Anzug? Ist der Block, an dem das Seil befestigt
ist, stabil?
– Nach der Tour: unbedingt zurückmelden! Es wurde schon mehrmals fast die
Höhlenrettung aufgeboten, weil jemand sich nicht zurückmeldete, sondern
sofort ins warme Bett hüpfte.
Vielleicht wurde Ihnen etwas mulmig bei all den möglichen Gefahren? Es
geht uns nicht darum, Angst zu machen, sondern vor unnötigen Schwierigkeiten
zu bewahren. Doch wer weiss ... vielleicht ist die Höhlenforschung
so faszinierend, dass wir von der SGH Sie einmal bei uns begrüssen dürfen?
Es würde uns freuen!
Abb. 3 Faszination
Winterlandschaft
Neuschnee ist verlockend,
sei es für Skioder
Schneeschuhtouren.
Doch nur wenige
Karstlandschaften eignen
sich für eine Winterbegehung.
Die Routenwahl
hat wegen
der durch Schnee verdeckten
Höhleneingänge
und Spalten besonders
sorgfältig zu erfolgen.
Es gibt Karstschächte,
die sind
100 m tief ...
Abb. 4 Wagenmoos und Karrenfeld der Sieben Hengste (Berner Oberland)
Die Verzahnung von Moor- und Karstlandschaft macht den besonderen Reiz dieses Gebiets aus.
(Seite 14)
Einführung 13
Teil I: Karstlandschaften und Schauhöhlen nach Regionen
1 Tessin
Kalkgebiete sind im Tessin seltener als auf der Alpennordseite. Neben dem
Monte Generoso und der Piora-Mulde sind auch die wild zerklüfteten Kalkfelsen
der Denti della Vecchia (Sotto Ceneri) und der Karst beim Basodino
(Maggiatal) interessante Landschaften. Der Generoso besticht landschaftlich
durch den Gegensatz von schroffen Felsen über blauem See auf der einen
Seite sowie sanften Weiden und Wäldern auf der andern. Die Rundsicht
ist trotz der niedrigen Höhe (1700 m ü. M.) an klaren Tagen phänomenal.
Dies verdankt der Generoso seiner frei stehenden Lage an der Südspitze der
Tessiner Alpen. Durch das insubrische Klima und seine eiszeitliche Geschichte
weist er einige für die Schweiz einzigartige Pflanzen und Tiere auf (Endemiten).
Die Piora-Mulde ist gesamtschweizerisch etwas Besonderes. Sie
besticht durch die grosse flächenmässige Ausdehnung des Gips-Dolomit-
Karsts, das landschaftliche Zusammenwirken von Mooren, Karstformen und
Gletscherüberprägung, das parallele Auftreten von Kristallin- und Karbonatgestein,
die vielen Bergseen und eine grosse Vielfalt an alpinen Pflanzen.
Abb. 5 Monte
Generoso
Der Generoso ist ein
eindrücklicher Berg:
mal klotzige, feingeschichtete
Kieselkalkfelsen,
mal sanfte,
blumenbestandene
Grashänge – Il Giardino
della Regina: der Blumengarten
der Königin.
Tessin 15
Abb. 6 Der Wilde
Westen des Generoso
Steil und schroff
ragen die 500 m mächtigen
Westwände über
den Dörfern Rovio
und Arogno auf. Im
weichen Abendlicht
wirken sie fast sanft.
1.1 Monte Generoso
Der Monte Generoso ist wie eine grosse Schatztruhe. Er bietet eine riesige
Fülle an Schönheiten und seltenen Vorkommen, die zum Entdecken einladen.
Es ist unmöglich, auf ein paar wenigen Seiten diesem Reichtum gerecht
zu werden. Es sei deshalb gleich zu Beginn auf den ausgezeichneten Führer
von Angelo Valsecchi verwiesen (Literatur am Schluss des Kapitels). Er ist
am Fusse des Generosos aufgewachsen und ein beeindruckender Kenner des
Gebiets. Seine Routenbeschreibungen sind mit vielen interessanten Bildern
und Informationen zu Kultur und Natur angereichert. Er stellt nicht nur die
viel begangenen Wege, sondern auch einige Insider-Routen vor.
Landschaft im Überblick
Der Monte Generoso liegt auf der Grenze zu Italien, an der Südspitze des Tessins.
Er ist ein wunderschöner Aussichtsberg, hoch über Mendrisio und dem
Luganersee. An klaren Tagen ist das Panorama eindrücklich: Der Rundblick
reicht von der Bernina über die Jungfrau bis zum Monte Rosa, von den oberitalienischen
Seen über einen grossen Teil der Poebene – die sich meist im
16 Karstlandschaften und Schauhöhlen der Schweiz
Lage
Anfahrt, ÖV
Südspitze des Tessins, über dem Luganersee
Auto: Autobahn Lugano–Chiasso, Ausfahrt Melide
(für Arogno, Melano und Rovio) oder Mendrisio (für
Capolago und Valle di Muggio).
Zug/Bus: Monte-Generoso-Bahn ab Bhf. Capolago.
Bus ins Valle di Muggio vom Bhf. Mendrisio und
Chiasso. Bus nach Rovio und Arogno ab Bhf. Maroggia–Melano.
Schiff: Lugano–Capolago
Besonderheiten Weiter Rundblick, seltene Pflanzen, Tierbeobachtungen,
berauschende Tiefblicke, schroffe Felsen, Karstquellen,
bäuerliche Kultur, Zahnradbahn, südliches
Ambiente
Übernachtung
www.mendrisioturismo.ch/lista_alloggi.asp
Lokaltourismus www.montegeneroso.ch
www.mendrisioturismo.ch
www.valledimuggio.ch
Literatur
Karten
Valsecchi, Angelo (1990): Monte Generoso – 26 Wanderrouten
zur Entdeckung des Berges
Grenzüberschreitende Wanderkarte Monte Generoso:
Vom Luganersee bis zum Comersee; Landeskarte
1 : 25 000 Nr. 1353 Lugano und 1373 Mendrisio
Dunst verliert – bis zum Apennin. Die Nord- und Ostseite liegen in Italien:
Valle Mara und Valle Breggia. Die Waldgrenze wurde durch Rodungen auf
1300 bis 1500 m ü. M. hinuntergedrückt. Der untere Teil des Valle Breggia
liegt in der Schweiz und heisst Valle di Muggio. Die Breggia ist einer der
wenigen Tessiner Flüsse, deren Wasser am Ende nicht in den Lago Maggiore,
sondern in den Lago di Como fliesst. Dass sich praktisch der ganze Kanton
Tessin in den Lago Maggiore entwässert (auch das Wasser des Luganersees
fliesst über die Tresa in den Lago Maggiore), hat vor allem bei intensiven
Niederschlägen schwerwiegende Konsequenzen. Immer wieder werden
dabei die Promenade von Ascona und die Piazza von Locarno überflutet. Die
aktuelle Hochwassermarke liegt 8 m (!) über dem heutigen Seespiegel. Wie
alle insubrischen Seen sind auch der Lago Maggiore und der Lago di Lugano
Tessin 17
Abb. 7 Cima dei
Torrioni
Das Gebiet rings um den
Monte Generoso ist Teil
des Bundesinventars
der Landschaften von
nationaler Bedeutung
(BLN). Es weist eine
sehr grosse Vielfalt
an Lebensräumen auf:
vom warmen Seeufer
auf 270 m ü. M. bis
zum sturmgepeitschten
Felsenturm.
Zungenbeckenseen eiszeitlicher Gletscher. Der Damm von Melide führt über
eine ihrer Endmoränen.
Die malerischen Dörfchen im Valle di Muggio erinnern an das einstig pulsierende,
aber karge landwirtschaftliche Leben. Heute wohnen viele Leute
in der Agglomeration Chiasso–Mendrisio, wo sich Industrie angesiedelt hat,
18 Karstlandschaften und Schauhöhlen der Schweiz
die Arbeitsplätze anbietet. Die vielen neu gebauten, schmucken Einfamilienhäuser
spiegeln den jetzigen Wohlstand im einstmals armen Kanton. Die
Häuser im Bergtal oben werden oft nur noch als Feriendomizil genutzt. Das
untere Valle di Muggio erinnert mit seinen Obstplantagen, Rebbergen und
Feldern schon etwas an die Hügellandschaft der Toscana.
Von Capolago führt seit 1890 eine Zahnradbahn in 40 Min. bis unter den
Monte Generoso (Station Vetta, 1620 m ü. M.). Das Gipfelhotel bietet auch
Übernachtungen an. Will man zu Fuss hinauf, ist die Wahrscheinlichkeit am
Morgen früh am grössten, noch einige der scheuen Gämsen zu Gesicht zu
bekommen. Zudem wird es im Tessin im Sommer schon bald einmal heiss.
Die Anstiege von der Westseite her sind steil und zum Teil ausgesetzt. Dafür
sind sie abenteuerlich, romantisch und reichhaltig. Beim Aufstieg sieht man
immer wieder den blauen Luganersee unter sich und imposante Felsentürme
über sich. Die Anstiege von der Süd- und Ostseite sind sanfter und offener.
Sie führen über ehemalige Alpweiden und geben Einblick in die frühere bäuerliche
Kultur. Auf vielen Alpen fallen kreisrunde, fensterlose Türme auf: die
Nevere (z. B. Alpe Nadigh, Alpe Génor, Alpe d’ Orimento). In ihnen wurde der
Abb. 8 Felstürme am
Gipfelgrat
Im Fels wechseln sich
Kieselkalkpakete mit
dünnen Mergelschichten
(Stein aus kalkhaltigem
Ton) ab. Die Mergel sind
weicher und wittern dadurch
stärker zurück. So
entstehen pa rallele Fugen
im Fels, die ihm
den Anschein einer
Backsteinmauer geben.
Tessin 19
Schnee aufbewahrt, um im Sommer die Milch zu kühlen. Das Regenwasser
wurde in Zisternen gesammelt, da Quellen auf dieser Seite des Berges wegen
der unterirdischen Entwässerung des Karsts selten sind.
Abb. 9 Versteinerungen
An bestimmten Orten
können versteinerte
Ammoniten (rechts),
Brachiopoden (oben)
und Belemniten (unten)
gefunden werden.
Das Naturhistorische
Museum Lugano besitzt
eine Ausstellung davon.
Geologie und Landschaftsformen
Der Monte Generoso gehört zu den Südalpen. Als letzte Bastion überwacht er
die Poebene. Das Tal Lugano–Mendrisio folgt einem tiefen, nordsüdlich verlaufenden
Bruch im Gebirge, der Luganer-Verwerfung. Entlang solcher Störungen
sind die Gesteine stärker zerbrochen und können daher durch Gletscher
und Flüsse leichter erodiert werden. Die Verwerfung verläuft über Arogno–Rovio–Capolago.
Westlich davon steht eine bis 1000 m mächtige Schicht
uralter vulkanischer Gesteine an (Rhyolithe und Andesite). Der Generoso
selbst besteht vorwiegend aus grauem Kieselkalk. Er wurde in der Zeit des
Lias (vor ca. 200 Millionen Jahren) in einem untiefen Meeresbecken des «Urmittelmeers»
(Tethys) abgelagert. Die Kieselsäure stammt von Kieselalgen
und -schwämmen. Sie liegt im Gestein als Quarz (Si0 2
) vor, der härter ist
als Stahl. Wird Kieselkalk mit einem Messer geritzt, entsteht deshalb nicht
ein weisser Strich auf dem Stein wie beim gewöhnlichen Kalk, sondern ein
silbriger vom Messer. Manchmal sammelte sich die Kieselsäure auch in Knollen
(Silex oder Hornstein genannt), aus dem schon die Steinzeitmenschen
ihre Waffen und Werkzeuge herstellten. Diese schwarzen Knollen und Bänder
können überall um den Generoso gefunden
werden. In der Majolica, einem weissen
Kalk, der z.B. in der Breggiaschlucht ansteht,
ist der Hornstein sogar rot. Mit Hornsteinen
lassen sich Funken schlagen (Feuerstein).
Brachiopoden (Armfüsser) sind die häufigsten
Versteinerungen am Generoso. Sie haben
nicht wie die Muscheln zwei symmetrische
Schalen, sondern die eine ist etwas
grösser als die andere. Dort, wo sie zusammengewachsen
sind, hat es ein kleines
Loch. Durch dieses Loch wuchs ein Stiel hinaus,
mit dem sie sich fest im Meeresgrund
verankerten. Als Belemnit wird das versteinerte
Hinterteil eines Kopffüssers bezeichnet.
Die Ammoniten, ebenfalls Kopffüsser,
besitzen ein spiralförmig aufgerolltes Gehäuse.
Deshalb werden sie etwa mit Schnecken
verwechselt. Sie sind aber den Tintenfischen
ähnlich. Der Name Ammonit oder
20 Karstlandschaften und Schauhöhlen der Schweiz
Ammonshorn geht auf den griechischen Gott Ammon zurück, der mit Widderhörnern
dargestellt wurde. Der Ammonitico Rosso, ein roter Kalk, der besonders
viele Ammoniten enthält, taucht z. B. 300 m südlich von Balduana
am Strassenbord auf. Bei der Breggiaschlucht wird der Kieselkalk noch von
jüngeren Gesteinsschichten überdeckt, die weiter oben bereits abgetragen
sind. Die Breggia hat sich durch sie hindurchgesägt und in der Schlucht bei
Mendrisio (Gole della Breggia) ein Freilandmuseum geschaffen. Lange wurde
ein Teil der Gesteine in einem Steinbruch ausgebeutet. Dann wurde der
Wert dieses einzigartigen Aufschlusses anerkannt und mit dem Parco delle
Gole della Breggia ein Geopark geschaffen. Eine kleine Wanderung zwischen
Castel San Pietro und Morbio Superiore bietet nun Einblick in die regionale
Geologie. Der Rundweg führt grösstenteils durch die wunderschöne Schlucht
mit herrlichen Wasserbecken und lauschigen Rastplätzen. Alle Informationen
sind auf einer umfangreichen Website zu finden.
Im späten Tertiär reichte das Mittelmeer noch bis ins Tessin, und die heutige
Poebene bildete ein Meeresbecken. Der Generoso ragte als Küstenberg darüber
hinaus. Vor etwa 5 Millionen Jahren wurde dann das Klima trockener, und
Abb. 10 Gesteine
des Monte Generoso
Die verbreitetsten und
auffälligsten Gesteine
am Monte Generoso sind
von oben links nach
unten rechts:
– Kieselkalk mit
schwarzem Silex,
– Ammonitico Rosso mit
einem Ammonitenbruchstück,
– Rhyolith mit hellen
Quarzkörnern,
– Kalk mit rotem Silex.
Tessin 21
Abb. 11 Buco della
Sovaglia
Diese eindrückliche
Karstquelle sprudelt
am Fusse einer Felswand
aus einer Höhle.
Sie liegt auf 680 m
ü. M. in einem Seitental
der Sovaglia. Das
Wasser stammt zum
grössten Teil aus dem
Valle Breggia, wo es in
Löchern und Spalten
versickert. Es fliesst
unter dem Generoso
hindurch bis hierhin.
Die Quelle versiegt nur
in extremen Trockenjahren.
(siehe auch
Route Nr. 2 Seite 31)
infolge von Kontinentalverschiebungen
kam über die Meerenge
bei Gibraltar kein Atlantikwasser
mehr herein. Dadurch trocknete
das Mittelmeer aus. Die Tessiner
Flüsse gruben sich tiefe Canyons
bis auf den Grund des Meers. Deshalb
sind heute die Talflanken der
Tessiner Täler so steil. Die Seebecken
sind in Wirklichkeit tiefe
Schluchten. Obwohl die Gletscher
sie wieder etwas auffüllten, liegen
die Seeböden z. T. immer noch unter
dem Meeresspiegel. Der Monte
Generoso selbst war während der
letzten Eiszeiten nicht vergletschert.
Er wurde von den Eisströmen
des Ticino- und Addagletschers
umflossen. Der Addagletscher
schickte vom Comersee her
einen Arm via Porlezza ins Luganese
und einen über Lanzo ins Val
Mara nach Arogno. In der grössten
Vereisung gelangte sogar etwas
Eis über den Monte Orimento
ins obere Breggiatal. Überall in den Gräben rund um den Monte Generoso
(z.B. in Rovio, Melano oder Val Mara) trifft man noch bis 900 m ü. M. auf Moränenreste
und Findlinge. Moräne unterscheidet sich deutlich von gewöhnlichem
Hangschutt: verschieden stark gerundete Steine unterschiedlichster
Grösse schwimmen in einer feinkörnigen, hellen, verdichteten Grundmasse.
Hangschutt ist locker, und die Steine sind immer kantig. Bachablagerungen
sind grobkörniger und lockerer als Moräne. Sie enthalten viel sandig-kiesiges
Material und nur stark gerundete Steine.
Karst und Höhlen
Kieselkalk verkarstet schlechter als gewöhnlicher Kalk. Deshalb ist die Oberfläche
des Monte Generoso nur wenig verkarstet. Eigentliche Karrenfelder
hat es keine. Aber an verschiedenen Orten sind Felsen mit Rinnenkarst und
Dolinen zu sehen. Es gibt eine Sage, die erzählt, dass der Monte Generoso
von einem geheimnisvollen Labyrinth von Höhlen durchzogen sei. Erst in
den letzten Jahrzehnten fand man heraus, dass dies wirklich so ist. Bis heute
wurden schon mehr als 90 Höhlen entdeckt. Etwa 20 davon liegen in der
22 Karstlandschaften und Schauhöhlen der Schweiz
Valle Breggia auf italienischem Gebiet. Die grösste ist über 4 km lang und
380 m tief. In der Grotta dell’ Orso (Bärenhöhle) wurden bedeutende Reste
von über 300 Höhlenbären gefunden, die vor etwa 40 000 Jahren hier lebten.
Die am Ostabhang des Monte Generoso gelegene Höhle wurde so hergerichtet,
dass alle sie besuchen können. Sie ist von Juni bis September geöffnet.
Das Eintrittsbillet muss im Restaurant der Bergstation gelöst werden. Von
dort gelangt man in einer halben Stunde zur Höhle.
Etwas ganz Spezielles ist der Lauf des Wassers. Oft entsteht dadurch erst
das besondere Gepräge einer Karstlandschaft. Auch hier am Monte Generoso
sind die meisten Karstphänomene dem versteckten Wasserfluss zuzuschreiben.
Da gibt es unterirdische Seen, Trockentäler, Schlucklöcher, Quellen,
die mitten aus einer Felswand entspringen, und Höhlen, in denen man das
Rauschen von unterirdischen Wasserfällen hört. Da Kalk ein hartes Gestein
ist, frisst sich das Wasser oft eindrückliche Schluchten hinein. Einige schöne
Beispiele sind entlang der Breggia zu finden, im Val dei Cugnoli, im Valle
della Croce und im Val Scura oberhalb von Rovio. Einige dieser Täler sind Trockentäler.
Weil das Wasser unterirdisch versickert, führen sie nur bei Schneeschmelze
und in Hochwassersituationen Wasser, wenn die Karstspalten nicht
mehr alles zu schlucken vermögen. Gewitter können am Generoso unheimlich
heftig sein. Durch die intensive Thermik im Luganerseebecken entwickeln
sich in den Sommermonaten oft stürmische Gewitterzellen, die stunden-
oder tagelang kreisen und in kurzer Zeit grosse Wassermengen niederprasseln
lassen. Dieser Berg gehört zu den am meisten vom Blitz getroffenen
Gebieten der Schweiz. Einige Kreuze erinnern an Opfer. Das Wasser,
das im Tal der Breggia versickert, fliesst unter dem Monte Generoso durch
und kommt in verschiedenen Karstquellen oberhalb des Luganersees wieder
zum Vorschein: Cà del Feree (Arogno), Sorgente Bossi (Arogno), Sorgenti del
Paolaccio (Mendrisio) oder Buco della Sovaglia (Rovio). Dies konnte durch
Wasserfärbungen mit fluoreszierendem Farbstoff nachgewiesen werden. Dem
Einzugsgebiet der Breggia gehen durch Versickerung
400 Liter Wasser pro Sekunde verloren.
Dabei entstehen manchmal unterirdische
Flüsse, in denen das Wasser mit hoher
Geschwindigkeit unterwegs ist. An anderen
Stellen sickert es aber oft nur einige Meter
pro Stunde durchs Gestein.
Vegetation und Flora
Die Landschaft rund um den Monte Generoso
wurde noch bis zum Zweiten Weltkrieg intensiv
landwirtschaftlich bearbeitet. Der Boden
war aber auf den steilen Hängen karg, die Fa-
Der Höhlenbär
Der Höhlenbär (Ursus spelaeus) ist eine ausgestorbene
Bärenart der letzten Kaltzeit (Würm-Kaltzeit). Er war
in Europa von Nordspanien bis zum Ural verbreitet.
Höhlen brauchte er als Winterschlafplatz, Wurfplatz
und Sterbelager. Die Länge des Höhlenbärs betrug bis
zu 3,5 m, seine Schulterhöhe ca. 1,70 m. Er war daher
deutlich grösser als der heutige Braunbär. Der Höhlenbär
war ein Allesfresser, ernährte sich aufgrund seiner
Zähne aber vermutlich hauptsächlich von Pflanzen. Er
ist wahrscheinlich infolge von klimatischen Veränderungen
ausgestorben.
Tessin 23
Abb. 12 Gemeines
Alpenveilchen
Das Alpenveilchen oder
Zyklame, wie es auch
heisst, kommt fast nur
in den tiefer gelegenen
Karstlandschaften vor.
Es gehört zu den Kalkzeigerpflanzen
und
wächst am liebsten in
trockenen Wäldern. Die
leuchtend rosaroten
Farbtupfer wirken wohltuend
im sonst artenarmen
Buchenwald.
milien gross und die Leute dadurch arm. Jeder Flecken wurde wenn möglich
genutzt und auch die steilsten Wiesen gemäht. Damit der oft heftige Regen
die kostbare Erde nicht fortschwemmte, wurde das Gelände terrassiert. Diese
Terrassen sind im Valle di Muggio auch heute noch ein prägendes Landschaftselement.
In diesem Tal bestanden auch ausgedehnte Kastanienselven
(Baumgärten) mit mächtigen Bäumen. Die Kastanien dienten als Brotersatz.
Sie wurden im Spätherbst auf Rosten über Muttfeuern getrocknet. So blieben
die Kastanien haltbar, und die Würmer starben ab. An verschiedenen Orten
stehen noch Dörrhäuschen. Die dünnen, getrockneten Häutchen liessen sich
mit Knüppeln abschlagen, und ein Teil der Früchte wurde zu Mehl gemahlen.
Dort, wo Bäche ständig fliessen, stehen verfallene Getreide- und Nussmühlen
(z. B. an der Sovaglia oberhalb von Rovio). Das Nussöl diente als Brennstoff
für Öllampen. Die Südhänge am Fuss des Berges sind mit Weinbergen
und Obsthainen bepflanzt, die auch heute noch gepflegt werden.
Die Tessiner nutzten die Buchenwälder als Niederwälder für die Brennholzgewinnung,
das heisst, die Wälder wurden regelmässig ganz abgeholzt. Im Val
Carbonera oberhalb von Rovio wurde Holzkohle gebrannt. Bei diesem Prozess
wird das Holz nicht verbrannt, sondern durch Verkohlung getrocknet. Bei einem
Brunnen auf der Südseite des Generoso fand jemand eine neolithische
24 Karstlandschaften und Schauhöhlen der Schweiz
(jungsteinzeitliche) Axt. Dies zeigt, dass die Menschen schon früh den höher
gelegenen Wald rodeten, um Sommerweiden zu gewinnen. Dies erlaubte,
auf den ebenen und nahe bei den Höfen gelegenen Talflächen Heu einzubringen
und Ackerbau zu betreiben. Die Einheimischen nennen den Gipfel
Calvagione (Kahlkopf), weil er nicht mehr bewaldet ist. Daraus wurde mit
der Zeit Gioner und später Generoso. Heute werden nur noch wenige Alpen
genutzt. Viele der höher gelegenen Flächen sind vergandet. Wo Wiesen nicht
mehr gemäht und beweidet werden, verbuschen sie rasch. Zuerst wachsen je
nach Standort Brombeere, Heckenrose, Haselnuss, Adlerfarn und Besenginster
auf. Dann folgen Birken und Erlen. Steigt man von Arogno über die Cima
Crocetta auf den Gipfel, so trifft man im Wald in der Nähe der Grenzwächterhütte
plötzlich auf romantische Wiesen mit langem, weichem Gras und verlassene,
birkenbestandene Terrassen. Auf den sauren Böden nehmen nach
den Büschen die Kastanien überhand, auf den kalkhaltigen die Buchen. In
der collinen Höhenstufe ist es die in der Schweiz nur im Tessin und den Südtälern
Graubündens vorkommende Hopfenbuche. In der montanen Stufe dominiert
artenarmer Rotbuchenwald. Im Gegensatz zur Alpennordseite reicht
die Buche hier bis auf 1500 m ü. M. Auf warm-trockenen Standorten gedeiht
die mediterrane Flaum- und die Traubeneiche. An einigen Orten wächst sogar
Abb. 13
Montpellier-Nelke
Dies ist eine der
Pflanzen, die in der
Schweiz nur im Gebiet
des Monte Generoso
vorkommt. Sie hat die
letzte Eiszeit hier überdauert
und blüht im Juli
auf den höher gelegenen
Trockenwiesen.
Tessin 25
die Zerr-Eiche, ein Baum, den es in der Schweiz nur im südlichen Tessin gibt.
Nadelbäume treffen wir selten, am meisten in Aufforstungen. Nur im oberen
Valle del Bové hat sich ein Bestand Rottannenwald erhalten.
Rund um den Monte Generoso wachsen über 800 verschiedene Pflanzenarten.
Dies hängt mit den Standortfaktoren zusammen. Viele der für Pflanzen
wichtigen Lebensbedingungen verändern sich mit der Höhe über Meer. Vom
Luganersee auf 270 m ü. M. bis zum Gipfel des Generoso auf 1700 m ü. M.
sind es fast 1500 m Höhendifferenz. Ein zweiter wichtiger Faktor ist der des
geologischen Untergrunds. Auf Kalk entstehen meist basische Böden und auf
Kristallin (hier kristallinhaltige Moränen) und vulkanischen Gesteinen saure
Böden. Auf Kalkböden können nur spezialisierte Pflanzenarten gedeihen, die
mit dem Calcium-Überschuss im Boden umgehen können. Der einflussreichste
Faktor von allen ist aber der Mensch. Erst durch die Waldrodung und den
jährlichen Schnitt der Trockenwiesen entstand die grosse Artenvielfalt. Die
artenreichen Trockenwiesen des Monte Generoso sind fürs Inventar der Trockenwiesen
und -weiden von nationaler Bedeutung vorgeschlagen worden.
Wenn nun die Wiesen aufgelassen werden und verbuschen, dann verschwinden
auch viele Pflanzenarten wieder. Während der letzten Eiszeiten war der
Generoso ein unvergletscherter Gipfel, der über die eiserfüllten Täler hinausragte.
Dadurch wurde er zum Rückzugsraum für verschiedene Pflanzenarten.
Mediterrane Arten wachsen neben atlantischen und arktische neben
alpinen. Einige gibt es schweizweit nur hier oder allgemein im südlichsten
Tessin. Dazu gehören Echte Pfingstrose, Montpellier-Nelke, Clavenas Schafgarbe,
Busch-Gladiole, Christrose und Schwarzer Germer. Der Weisse Affodill
und das Gedrehte Läusekraut blühen nur hier und im Wallis. Mai und Juni
sind ganz besonders schöne Monate für Blumenfreunde. Da leuchten ganze
Wiesen von weissen Narzissen, an besonderen Orten die purpurnen Köpfe
der Pfingstrose, die rosa Rispen der Busch-Gladiole und viele Orchideen
(23 Arten).
Fauna
Von der grossen Pflanzenvielfalt profitieren viele Insektenarten, die sich
darauf spezialisiert haben, allen voran die Schmetterlinge. Eine Unterart
des Mohrenfalters kommt nur am Generoso vor. Die Insektenvielfalt wiederum
bietet einer grossen Zahl von Vögeln die Nahrungsgrundlage. Rund um
den Monte Generoso wurden über 130 Vogelarten beobachtet. Diese Landschaft
gehört zu den Important Bird Areas (IBA). Sie ist ein wichtiges Brutgebiet
der Vögel der collinen und submontanen Höhenstufen. Dazu zählen
z. B. Grünspecht, Wendehals, Waldschnepfe, Neuntöter, Gartenrotschwanz,
Girlitz, Baumpieper usw. Der Wendehals ist eine der bedrohten Vogelarten
in der Schweiz. Er ist etwas grösser als der Spatz, hat ein reich gemustertes,
orange-braunes Gefieder und einen grauen Rückenteil. Der Wendehals
26 Karstlandschaften und Schauhöhlen der Schweiz
Abb. 14 Perlmutterfalter
Ein farbenprächtiger
Schmetterling, der oft
auf Disteln beobachtet
werden kann.
ist ein Höhlenbrüter. Es wird geschätzt, dass mehr als 20 Paare in der kleinstrukturierten
Terrassenlandschaft auf der Südseite des Monte Generoso zu
Hause sind. Mit der zunehmenden Verwaldung der aufgelassenen Landwirtschaftsflächen
schwindet aber sein Lebensraum. In den Gipfelfelsen sind
Steinrötel, Alpen- und Mauersegler, Zippammer, Steinhuhn, Felsenschwalbe,
Alpenbraunelle und Mauerläufer regelmässige Gäste. Auch Wanderfalken
und Blaumerle sind zu beobachten. In Lesesteinhaufen und den Wiesen
auf der Ostseite nisten Steinschmätzer, Feldlerche, Berg- und Baumpieper
und ab und zu die Wachtel. Der Ruf des Steinschmätzers tönt, wie
wenn man zwei Steine aneinander schlägt. Im Winter ist auch der Steinadler
regelmässiger Gast. Eine wichtige Vogelzugbahn zwischen den Alpen und
der Poebene führt über den Monte Generoso. Im
Frühling und Herbst können deshalb während der
Zugphasen zusätzlich viele ortsfremde Vögel beobachtet
werden.
Von den 64 Säugetierarten des Tessins sind dank
der hohen Lebensraumvielfalt um den Generoso
53 zu finden, z. B. Gämse, Hirsch, Fuchs, Hase,
Reh, Dachs, Iltis, Steinmarder, Wiesel, Wildschwein
und viele Fledermausarten. Da viele
nachtaktiv sind, ist der frühe Morgen die ideale
Beobachtungszeit. In den Sechzigerjahren wurden
die ersten Gämsen ausgesetzt. Heute sind es
Important Bird Areas (IBA)
Die Schweizerische Vogelwarte und Bird Life
Schweiz haben eine Auswahl an Gebieten getroffen,
die die Lebensräume derjenigen Vögel schützen
soll, die innerhalb der Schweiz ihre Verbreitungszentren
haben. Das sind primär Alpenvögel,
wie z.B. der Steinadler, die Alpenbraunelle,
die Alpendohle, die Ringdrossel oder der Schneesperling.
Es gibt 31 IBA mit einer Fläche von
6440 km 2 . Es sind vor allem Brutgebiete in den
Alpen und Überwinterungsgebiete im Tiefland.
Tessin 27