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Österreichische Post AG; PZ 18Z041372 P; Biber Verlagsgesellschaft mbH, Museumsplatz 1, E 1.4, 1070 Wien
www.dasbiber.at
MIT SCHARF
APRIL
2021
+
TERROR IN WIEN:
ANGEHÖRIGE KLAGEN AN
+
AUSZUG VON MEINEN
TÜRKISCHEN ELTERN
+
FREE AHMED:
WIENER STUDENT IN
ÄGYPTISCHER HAFT
+
„MAMA, NICHT
MEHR LERNEN!“
WARUM STUDIEREN FÜR ALLEIN
ERZIEHENDE KEIN KINDERSPIEL IST
1 2
3
Nastavite da štitite sebe i druge, i od sada se
redovno testirajte. Bilo u ulicama za testiranje,
apotekama, na poslu ili kod kuće.
Ali imajte na umu: Negativan test je samo
trenutno stanje i ne štiti od infekcije.
Dodatne informacije na oesterreich.gv.at
Čuvaj
sebe,
Nosite FFP2
masku.
čuvaj
mene.
Držite rastojanje
od dva metra.
Testirajte se
svaka tri dana.
3
minuten
mit
Toxische
Pommes
Irina, besser bekannt als „toxische
Pommes“, schlüpft auf Tiktok
humorvoll in die Rollen von
Wiener Bobos namens Lorenz
oder von hitzigen Balkanmüttern
und macht auch vor der Woke-
Bubble keinen Halt. Wir trafen
die Wienerin mit montenegrinischen
Wurzeln ganz privat.
Interview: Nada El-Azar, Foto: Zoe Opratko
BIBER: Wie kam das Pseudonym „toxische
Pommes“ zustande?
IRINA: Nach einer Trennung vergangenes
Jahr ging ich auf Tiktok, um mich
aufzuheitern. Ich war in einer toxischen
Beziehung und ich liebe Pommes.
Deine Videos bekommen viele Tausend
Likes. Gibt es auch negatives Feedback?
Viele Menschen wissen gar nicht,
dass ich selber Migrationshintergrund
habe, und finden es rassistisch, wenn
ich „Jugo“ sage und mich Stereotypen
bediene. Aber ich versuche auf
humoristische Art Dinge zu verarbeiten,
mit denen ich als Kind oft konfrontiert
wurde. Es gibt ein Tiktok, in dem ich
in der Bim BKS rede und eine Frau
um klammert sofort ihre Handtasche
fester – so was ist mir in Wiener Neustadt,
wo ich aufgewachsen bin, auch
wirklich passiert. Ein großes Problem
sind auch sexistische Kommentare. Mir
schreiben Leute teilweise, dass ich aussehen
würde wie ein Mann. Abgesehen
davon, dass das ziemlich transphob ist:
Wen juckt’s?
Was hast du über dich mit deinen Tiktoks
lernen können?
Ich entdeckte diese „Jugo-Seite“
von mir erst jetzt, über die Videos.
Die längste Zeit wollte ich die perfekt
integrierte Österreicherin sein und
hatte in Wiener Neustadt auch immer
viele österreichische Freunde. Meine
Eltern steckten mich unabsichtlich in
eine fancy Schule, wo man Französisch
lernt. Dort gab es nicht viele Migrantenkinder.
Erst als ich mit 18 nach Wien
zog, um Jus zu studieren, begann ich
meine Identität zu hinterfragen. Zum
Beispiel auch, warum ich mich als Kind
geschämt habe eine andere Sprache
als Deutsch zu sprechen.
Wie hast du das Aufwachsen in Niederösterreich
erlebt?
Meine Familie ist 1992 vor dem Krieg
nach Österreich geflüchtet. Mein Vater
hat nie so richtig Anschluss gefunden
und meine Mutter hat ihr Medizinstudium
erst nach fünf Jahren hier anerkennen
lassen. Sie sind beide Akademiker,
haben aber hier jahrelang geputzt oder
auf dem Feld gearbeitet. Als ich klein
war, haben meine Eltern auf Straßenkehrer
gezeigt und gesagt, dass das ich
sein könnte, wenn ich nicht gut in der
Schule bin. Zugegeben, schwarze Pädagogik.
Das hat mich stark geprägt.
Wurdest du in Wien öfter erkannt?
Ja, manchmal sogar auf Tinder (lacht).
Ich war einmal in einem Geschäft auf
der MaHü und die Verkäuferin hat mich
gefragt, ob ich Tiktoks mache. Als ich
„Ja“ sagte, begann sie plötzlich zu
heulen. Sie war wahrscheinlich um die
25 Jahre alt - das war merkwürdig.
Manchmal wache ich nachts auf und
denke mir: Oh Gott, ich werde niemals
einen Job finden. Ich habe die Untiefen
meiner Persönlichkeit ausgebreitet,
mich im Internet geoutet… dabei bin ich
im echten Leben eher peinlich berührt
in sozialen Situationen.
Name: Irina / „Pommes“
Beruf: Juristin
Funfact: Hat Angst vor Hamstern
/ 3 MINUTEN / 3
BKA_SADSAM_123_srb_Biber_207x270abf.indd 1 07.04.21 09:13
3 3 MINUTEN MIT
TOXISCHE POMMES
Wir trafen die Wiener Tik-Tok-Sensation
ganz privat.
8 IVANAS WELT
Dreißig Tage Quarantäne und Corona mit
quengelndem Baby – Ivana Cucujkić hat es
gelebt.
10 FACE OF THE MONTH
Starmania-Kandidatin Teodora Špirić
im Interview über den Eurovision Song
Contest und ihre „Mörderstimme“.
POLITIKA
12 DIE MENSCHLICHKEIT
IST TOT
Hinterbliebene der Opfer des Terroranschlags
vom 2. November über fehlende Unterstützung
vom Staat.
18 SEXUELLE BILDUNG FÜR ALLE
Menerva Hammad ist Muslima und spricht
offen über Sex. Warum denn auch nicht?
20 OHNE KLAGE IN HAFT
Seit Februar befindet sich der Wiener
Student Ahmed Samir Santawy in Ägypten
in Untersuchungshaft, ohne Kontakt zur
Außenwelt. Wir sprachen mit seinen
Angehörigen.
26 „CORONA HAT WIEN
500 MILLIONEN EURO
GEKOSTET“
Finanz-Stadtrat Peter Hanke über Gastroinseln,
Frauenquote und Club-Öffnungen.
RAMBAZAMBA
30 ZWISCHEN WICKELTISCH
UND HÖRSAAL.
Auf sich allein gestellt: Der harte Alltag
alleinerziehender Studentinnen.
35 DER STAAT KANN NICHT
MIT DATEN UMGEHEN
Adam Bezeczky über Impfungen, teure
Lautsprecher und die neue Mondbasis
38 AUSZUG VON MEINEN
20
„AUF DEN
KANZLER HABEN
WIR VERGEBLICH
GEWARTET“
Nedzip Vrenezi war
eines der Opfer der
Wiener Terrornacht.
Ein halbes Jahr
danach fühlt sich die
Familie des Austro-
Mazedoniers von der
Politik völlig im Stich
gelassen.
OHNE KLAGE IN HAFT
Der Wiener Student Ahmed Samir Santawy
sitzt seit Monaten ungerechtfertigt in Ägypten
in Untersuchungshaft. Wir haben mit seinen
Angehörigen gesprochen.
12
30
„MAMA, NICHT MEHR LERNEN!“
Alleinerziehende Studentinnen über
den harten Alltag zwischen Wickeltisch
und Seminarraum.
IN HALT APRIL
2021
38
DER TÜRKISCHE
ALBTRAUM
Als junge Türkin
unverheiratet
von den Eltern
ausziehen? Keine
Selbstverständlichkeit.
Unsere Autorin hat es
trotzdem getan.
© Mafalda Rakoš, © bereitgestellt, © Zoe Opratko, © Linda Steiner ,Cover: © Zoe Opratko
TÜRKISCHEN ELTERN
Naz Kücüktekin über das Stigma des Alleine-
Wohnens in ihrer Community.
LIFE&STYLE
41 BOTOX UND UNTERGRUND
Aleksandra Tulej erklärt, wie Face-Liftings und
zwielichtige Milieus zusammenhängen.
42 CECI N’EST PAS UN
KOPFTUCH
Ein Kunstprojekt als Antwort auf die ewige
Kopftuch-Diskussion.
44 TSCHETSCHENISCHE
HELDIN
Über Emanzipation in der tschetschenischen
Community.
KARRIERE
46 ACH, DIE JUNGEN KOMMEN
SCHON ZURECHT!
StudentInnen bleiben im Krisen-Management
der Regierung auf der Strecke,
findet Anna Jandrisevits.
48 GERECHTE ENTLOHNUNG
STATT APPLAUS, BITTE
24-Stunden-Pflegerinnen berichten über ihren
Alltag zwischen Applaus und Verzweiflung.
KULTUR
51 IN ÖSTERREICH FEILSCHT
MAN NICHT!
Jad Tujrman wollte in einem Wiener
Schuhgeschäft um den Preis verhandeln. Das
ging ziemlich schief.
52 LIEBES TAGEBUCH
Nada El-Azar liefert uns private Einblicke in ihr
altes Tagebuch und gibt Kultur-Tipps für den
Frühling.
54 TODOR
Leiden beeindrucken Leute.
IMPRESSUM
Liebe Leserinnen und Leser,
was kann man erwarten, wenn der Sohn bei einem Terrorattentat im eigenen
Land getötet wird? Einen Anruf und eine Entschuldigung vom Innenminister?
Immerhin war der Attentäter bekannt und der Bundesverfassungsschutz
MEDIENINHABER:
Biber Verlagsgesellschaft mbH, Quartier 21, Musuemsplatz 1, E-1.4,
1070 Wien
HERAUSGEBER
Simon Kravagna
CHEFREDAKTEURIN:
Delna Antia-Tatić
STV. CHEFREDAKTEUR:
Amar Rajković
CHEFiN VOM DIENST:
Aleksandra Tulej
GESCHÄFTSFÜHRUNG:
Wilfried Wiesinger
KONTAKT: biber Verlagsgesellschaft mbH Quartier 21, Museumsplatz 1,
E-1.4, 1070 Wien
Tel: +43/1/ 9577528 redaktion@dasbiber.at marketing@
dasbiber.at abo@dasbiber.at
WEBSITE: www.dasbiber.at
hat offenkundig Fehler gemacht. Kann man erwarten, mehr als 3600 Euro
Begräbniszuschuss zu bekommen? Die Familie von Nedzip Vrenezi, einem der
vier Terroropfer, weiß sechs Monate später: Nein, zu viel erwartet. Sie fühlt
sich im Stich gelassen. Unser stellvertretener Chefredakteur Amar Rajković
CHEFREPORTERIN:
Aleksandra Tulej
FOTOCHEFIN:
Zoe Opratko
ART DIRECTOR: Dieter Auracher
ÖAK GEPRÜFT laut Bericht über die Jahresprüfung im 1. HJ 2020:
Druckauflage 70.663 Stück
verbreitete Auflage 66.363 Stück
DRUCK: Mediaprint
besucht mit Nedzips Cousin den Ort des Geschehens, redet mit ihm über
Frust und Trauer. Die Reportage „Die Menschlichkeit ist gestorben“ zeigt, wie
weit die mediale Inszenierung von Politikern und der reale „Papierkrieg“ für die
Angehörigen auseinanderklaffen. Seite 12.
KOLUMNIST/IN:
Ivana Cucujkić-Panić, Todor Ovtcharov, Jad Turjman
LEKTORAT: Florian Haderer
REDAKTION & FOTOGRAFIE:
Adam Bezeczky, Nada El-Azar, Hanna Begic, Sandra
Schmidhofer, Sven Beck,Anna Jandrisevits
„
Dann bist du nicht mehr
unsere Tochter!“ droht ihr
Vater. Vergeblich: biber-
Autorin Naz Kücüktekin zieht
trotzdem von daheim aus.
Es war keine Entscheidung
gegen die Eltern, sondern eine
für sich. Wie sie als 19-Jährige
ohne jegliche familiäre
Unterstützung ihren Wunsch
nach Unabhängigkeit verwirklicht
hat, erzählt sie in einem
bewundernswerten, persönlichen
Text. Mein Lesetipp,
Seite 38.
Delna Antia-Tatić “
Chefredakteurin
Ein anderer Fall, ein anderes Land: Ahmed Samir Santawy ist nicht gestorben.
Und doch wurde der Wiener Student von einem Moment auf den anderen
aus seinem Leben gerissen. Während eines Familienbesuchs in Kairo wurde
er Anfang Februar überraschend verhaftet und sitzt in Untersuchungshaft
– ohne Aussicht auf einen fairen Prozess. Die Anschuldigungen gegen ihn
wirken bizarr, weltweit gibt es Protestaktionen für seine Freilassung. Biber-
Redakteurin Nada El-Azar hat sich auf Spurensuche begeben: Was für ein
Mensch ist Ahmed eigentlich? Und wie geht es seiner Familie und Verlobten?
In ihrer Reportage „Wie vom Erdboden verschluckt“ erzählen Freunde von
Ahmeds Naivität, Reiselust und seinen Bedingungen in ägyptischer Haft.
Seite 20.
Auf einer ganz anderen Ebene setzt sich diese Wienerin für Menschenrechte
ein: Menerva Hammad ist Bestseller-Autorin und eine bekannte Mama-
Bloggerin, jetzt bildet sie sich zur Sexualpädagogin weiter. „Sexuelle Bildung
ist ein Menschrecht“ sagt die Muslima im biber-Interview und erzählt über
die Bedürfnisse ihrer muslimischen Kundinnen und über Mythen rund ums
Jungfernhäutchen. Seite 18.
Aber auch abseits von tabuisierter Bildung, ist der Zugang nicht leicht.
Nämlich dann, wenn man Anfang zwanzig ist und alleinerziehend. „Nicht mehr
lernen, Mama!“ fordert die Tochter unserer Autorin Sandra Schmidhofer.
Sandra ist nicht nur Stipendiatin der biber-Akademie, sondern auch
alleinerziehende Mutter. Die junge Frau berichtet in ihrer Reportage über
den anstrengenden Unialltag mit Kleinkind und warum das alles, nur kein
Kinderspiel ist. Seite 30.
Mit diesen und noch vielen anderen Geschichten schenken wir Euch
Ablenkung und Auszeit im gefühlt ewigen Lockdown-Leben!
CONTENT CREATION, CAMPAIGN MANAGEMENT
Aida Durić
SOCIAL MEDIA:
Weronika Korban
REDAKTIONSHUND:
Casper
BUSINESS DEVELOPMENT:
Andreas Wiesmüller
npo-fonds.at
Weil ich in
unserem Verein
mein Bestes
geben kann.
Der NPO-Fonds unterstützt
gemeinnützige Organisationen.
Unsere Gesellschaft braucht
dieses Engagement.
Jetzt
Antrag
stellen !
Erklärung zu gendergerechter Sprache:
In welcher Form bei den Texten gegendert wird, entscheiden
die jeweiligen Autoren und Autorinnen selbst: Somit bleibt die
Authentizität der Texte erhalten - wie immer „mit scharf“.
Foto: © stock.adobe.com/maranso
ENTGELTLICHE EINSCHALTUNG
Haltet die Ohren steif und die Regeln ein!
Bussis, Eure biber-Redaktion
6 / MIT SCHARF /
© Zoe Opratko
Mit dem NPO-Fonds konnten bisher bereits knapp 20.000 Vereine und Organisationen
aus den Bereichen Sport, Kunst und Kultur, Umweltschutz oder Soziales
in der Corona-Krise unterstützt werden.
Sichern auch Sie sich Hilfe für Ihren Verein.
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Alle Informationen dazu auf www.npo-fonds.at
In Ivanas WELT berichtet die biber-Redakteurin
Ivana Cucujkić über ihr daily life.
IVANAS WELT
Ivan Minić
NEMA PROBLEMA
FOTONOVELA
BEZAHLTE ANZEIGE
Jelena wird nach 11 Monaten in ihrem neuen Job
als Kellnerin schwanger. Als sie es ihrem Chef sagt,
kündigt er sie einfach. Jelena ist am Boden zerstört,
doch Mama Senada will kein Jammern hören.
NEUES AUS DEM LEBEN
DER FAMILIE PRAVDOVIĆ
YOU GIVE ME FEVER
Was soll
ich jetzt nur
machen? Ich krieg
gleich einen mental
Breakdown.
Ich
konnte kein
Deutsch, kannte
niemanden, nix…
Und…
Jaja Mama,
ich weiß schon.
Aber das hilft mir jetzt
echt nicht weiter.
Corona 2021:
Wir waren dabei. Dreißig Tage Quarantäne. Wo ist mein Orden?
„Nicht mit der Zahnbürste auf die Klobrilleee!“
Ritsch. Ratsch. Mein Dreijähriger übt Revolte. Er
mag nicht mehr. Nicht mehr zuhause sitzen. Das
muss er nämlich seit vierzehn Tagen als sogenannte
K1 Person (Kontaktperson 1). Die britische Mutation
des Coronavirus kursierte im Kindergarten und
erwischte seine Erzieherin. Zwei Wochen Heimquarantäne
für die Kindergartengruppe, so lautet die
Verordnung.
zen ins Bett, schnürt mir den Hals zu. Ich tippe in
Gedanken schon die 144. Zwei Stunden später wiege
ich schmerzfrei auf dem Balkon das Baby in den
Schlaf, genieße die frische Luft. Das Leben in mir
keimt wieder auf. Das war also jetzt dieses Corona.
Alles wieder vorbei? Am selben Abend zittere ich
vor Schmerzen in den Muskeln, jeder Schritt eine
Tortur.
Alo was
soll das?! Glaubst
du, dass ich es mit so
einer Einstellung aus
dem Krieg geschafft
hätte??
Boah,
schon wieder
das… Hätte ich mal
lieber den Mund
gehalten.
KEINER SCHÜTTELT QUARANTINIES…
Und da hocken wir nun aufeinander. Mit einem
Säugling im Wachstumsschub, der uns kaum schlafen
lässt und einem Kleinkind in der Autonomiephase,
dessen stündlichen Wutanfälle unsere Geduld in
der Toilette versenkt. Zehn Tage waren geschafft,
wir längst durch. Glück gehabt. Ist doch nicht so
ansteckend, wie alle propagieren… Das geregelte
Leben war bereits in Griffweite und dann kam Tag
elf. Fieber, Kopfweh, Halsschmerzen. Schwindel,
Schwitzen. Das Essen schmeckt nicht. Zwei Striche
für jeden.
Und nein, es ist eben nicht wie eine Grippe. Wenn
diese deinen Körper niedermäht, verkriechst du
dich mit Hühnersuppe und Medikamenten unter die
Decke. Es geht dir dreckig, aber jeden Tag ein wenig
besser, und dann bist du wieder fit.
…ODER BÄCKT BANANENBROT
Mit Corona ist es wie in einer toxischen Beziehung.
Der Virus gibt mir Zuckerbrot und Peitsche. Zuerst
katapultiert er mich mit hämmernden Kopfschmercucujkic@dasbiber.at
WARM SOCKS EVERY DAY KEEPS THE
VIRUS AWAY
Und mein Umfeld? Das zeigt sich wenig beeindruckt
von meiner Virus-Erkrankung, die grad den halben
Planeten bedroht. „Vielleicht, weil du ständig ohne
Socken herumläufst? Und du stillst ja noch. Kein
Wunder, dass dein Immunsystem so schwach ist.“
Die größte Sorge im Leben von Balkaneltern ist es,
dass ihre Kinder niemanden unehelich schwängern
oder geschwängert werden. Und ich bekomme auf
meine Covid-Erkrankung ein „du rennst halt ohne
Socken herum“. Statt Drama und Mitleid gibt’s ein
„Weitermachen, Soldat!“ und einen „Vielleicht hilft
ja Schnaps? lol“-Witz hinterhergeworfen.
Zehn unlustige Tage haben wir noch abzusitzen.
Erziehung und Struktur laufen im Notfallbetrieb.
Wir gehen konflikttechnisch den geringsten Widerstand
und reizen das tägliche Trickfilm-Pensum
maximal aus. Schlafenszeit ist dann auch mal um
23 Uhr und Gummibärchen zum Frühstück ist grad
null Problemo. Ja, und die Socken, die ziehen wir
jetzt auch alle brav an.
Fotos: Zoe Opratko
Nenad schreit
vom Sofa: „Wenn
du nicht wieder Mamas
Lebens geschichte hören
willst, hör lieber mal zu,
was die AK dazu sagt.
Rufst
du etwa grad
an???
Ja klar, hab
die Gerechtigkeit
schon dran!
Schwanger! Und jetzt? Schau AK TV auf Youtube!
AK Juristin Sara
Pöcheim und AK
Jurist Alexander
Tomanek erklären dir
Schritt für Schritt,
welche Rechte du
jetzt hast.
8 / MIT SCHARF /
FACE
OF THE MONTH:
TEODORA SPIRIĆ
Von Hanna Begić, Foto: Zoe Opratko
Teodora Spirić spielt mit ihren zarten 20 Jahren viele Rollen:
als Lehramtsstudentin, Callcenter-Telefonistin und jetzt Starmania-
Kandidatin. Ihr Traum: Die Leidenschaft Musik zum Hauptberuf zu
machen. Dabei unterstützen sie auch ihre Eltern, mit denen sie
sogar den Song „Sudnji dan“ (dt.: Der Tag des Jüngsten Gerichts)
komponiert hat. Teodora ist jung, aber beileibe nicht unerfahren in
der Talenteshow-Szene. In den letzten Jahren hat sie sowohl 2019
für Österreich als auch für Serbien im Jahr 2020 an den nationalen
Ausscheidungen für den Eurovision Song Contest teilgenommen.
Dort stellte sie eindrucksvoll ihre Songwriter-Skills unter
Beweis. Auf der serbischen Beovizija hat sie im Finale den 10.
Platz eingenommen und in Österreich war sie unter den Top 3.
Die Karriere als Pop-Star ist kein Zufall, sondern harte Arbeit. Die
Austro-Serbin hat zahlreiche Songwriter Camps besucht, unter
anderem das Songwriting Camp CZ in Tschechien, das seit 2018
jährlich stattfindet und internationale Interpreten, Produzenten,
Komponisten und Texter verbindet. Sogar ihr Studium ist in ihre
musikalischen Aspirationen integriert. Liedertexte zu schreiben
muss ja gelernt sein und ein Lehramtsstudium für Englisch und
Deutsch dürfte da kein Nachteil sein. Die aufgeweckte Brünette
ist eine aufmerksame Beobachterin, die ihr eigenes aber auch
das Leben anderer in den Songs wiedergeben möchte. Angesprochen
auf ihre Identität, hat Teodora eine klare Vorstellung. Ganz
nach dem Motto „Sowohl als auch“ sieht sie sich als Österreicherin
und Serbin. An Nationalitäten möchte sie sowieso nicht ihre
Zeit verschwenden, viel wichtiger sind ihr SängerInnen, mit denen
sie kollaborieren möchte. Da wäre der Song-Contest Teilnehmer
für Österreich Vincent Bueno, die Pop-Sängerin Sanja Vučić
aus Serbien oder auch Nathan Trent. Besonders Sanja
Vučić, die selbst 2016 Serbien beim Eurovision
Song Contest vertreten hat, gilt für
Teodora als Vorbild mit ihrer
“Mörderstimme”, wie
sie schwärmt.
Für das Starmania-Finale am 7 Mai hofft Teodora,
ihren eigenen Song singen zu dürfen.
Die Chancen stehen nicht schlecht. Sie kam
mit dem Star-Ticket direkt in die nächste
Runde. Wir drücken der Wienerin mit Wurzeln
in Kladovo die Daumen für den weiteren
Verlauf.
10 / MIT SCHARF /
/ MIT SCHARF / 11
„Die Menschlichkeit
ist gestorben.“
Er war erst 21 Jahre und feierte seine Abrüstung vom Bundesheer als Nedzip Vrenezi vom
islamistischen Attentäter in Wien erschossen wurde. Fast ein halbes Jahr nach der Terrornacht
fühlt sich die Familie des Austro-Mazedoniers von der Politik völlig im Stich gelassen.
Die bisherige Bilanz: 3.600 Euro fürs Begräbnis, sechs Stunden an psychosozialer Beratung
und ein Innenminister auf Tauchstation.
Text: Amar Rajković, Mitarbeit: Aleksandra Tulej, Fotos: Mafalda Rakoš
Es ist ein wechselhafter Apriltag mitten im Lockdown.
Es sind nur wenige Menschen in den verwinkelten
Gässchen des Wiener Bermuda-Dreiecks
zu sehen. Eugen Kaba ist einer von ihnen. Der
35-jährige Besitzer einer Reinigungsfirma hält kurz inne, als
er sich über den grauen Gedenkstein am Desider-Friedmann-
Platz im 1. Bezirk beugt. Dort steht eingraviert: „In Gedenken
an die Opfer des Terroranschlags vom 2. November 2020“,
darunter die Übersetzung auf Englisch und ein Wappen der
Stadt Wien. Schluss. Kaba telefoniert bei unserer Ankunft.
Wortfetzen wie „Verfassungsschutz“, „Gericht“ oder „so
schnell wie möglich“ sind zu vernehmen. Er wirkt müde,
geschlaucht. Die fünf Monate seit dem Anschlag haben ihre
Spuren hinterlassen. Körperlich, aber vor allem seelisch.
Kabas 21-jähriger Cousin Nedzip Vrenezi war das erste Opfer
des ebenfalls aus Mazedonien stammenden Terroristen. Er
feierte an diesem Abend das Ende seines Präsenzdienstes
und wurde auf der Jerusalemstiege erschossen, einen Steinwurf
vom schmucklosen Gedenkstein entfernt, wo wir im
einsetzenden Schneetreiben Fotos von Kaba schießen.
VIEL IST NICHT PASSIERT
Am 2. November 2020 tötet ein Islamist
vier Menschen im beliebten Ausgehviertel
„Bermudadreieck“ in der Wiener
Innenstadt. Das ganze Land steht unter
Schock. Bürgermeister Ludwig spricht
von einer „Zäsur“, Bundeskanzler Kurz
„von einem Anschlag auf die freie
Gesellschaft“. Der für diese Anlässe
typische Satz „Unsere Gedanken und
unser Mitgefühl sind bei den Opfern und
Die einzigen PolitikerInnen,
die sich gemeldet
haben, waren Bundespräsident
Alexander
Van der Bellen und die
Wiener Kultur stadträtin
Veronica Kaup-Hasler.
ihren Angehörigen“, ist omnipräsent. Die Mittäter würden zur
Rechenschaft gezogen, das Land würde zusammenrücken in
diesen schwierigen Zeiten, die Familien der Opfer ihre Unterstützung
bekommen, war der Grundtenor.
UND, WAS IST PASSIERT?
Nicht viel, wenn man den Ausführungen Kabas zuhört: „Bei
uns Muslimen sind die Türen bis drei Tage nach dem Tod
eines Angehörigen für jeden offen. Auf den Besuch des
Innenministers oder Kanzlers haben wir vergeblich gewartet“,
erinnert er sich und konstatiert: "Die Menschlichkeit ist
gestorben." Die einzigen PolitikerInnen, die sich bei ihnen
gemeldet hätten, seien Bundespräsident Alexander Van der
Bellen und die Wiener Stadträtin für Kultur Veronica Kaup-
Hasler gewesen. Zwar auch nur in Form eines Briefes, aber
immerhin. Das seien aber die falschen Personen. Bundeskanzler
Kurz und Innenminister Nehammer müssen sich bei
ihm und seiner Familie entschuldigen, fordert Kaba, der im
Namen der Familie spricht. Nehammer, weil er als Innenminister
die Verantwortung für den Bundesverfassungsschutz
trage, und Kurz, weil er der Chef der Regierung ist. Der
zweifache Familienvater, der in letzter
Zeit öfters im Fernsehen zu sehen
war, werde sich auch von anonymen
Drohanrufen nicht einschüchtern lassen,
verkündet er. Einschüchtern lassen?
Kaba zuckt mit den Achseln: „Ich wurde
vor ein paar Tagen von einer anonymen
Nummer angerufen, die Stimme am
Telefon riet mir, ich solle gefälligst die
Schnauze halten. Einschüchtern lasse
ich mich sicher nicht!“ Matthias Burger,
„
Mir geht es gut. Ich habe
Kinder zu Hause, die ich
heute noch sehen werde.
“
Eugen Kaba,35, ist der
Cousin des ermordeten
Nedzip und Sprecher seiner
traumatisierten Familie
12 / POLITIKA /
/ POLITIKA / 13
Matthias Burger
vertritt die
Familie gegen
die Republik.
der Anwalt der Familie, hatte Mitte Februar bekanntgegeben,
die Republik mit einer Amtshaftungsklage zu belegen. Da
seiner Meinung nach das Verschulden des Innenministeriums
auch laut der eigenen Untersuchungskommission nachgewiesen
wurde, fordert der Anwalt je 30.000€ Trauerschmerzen-Entschädigung
für Mutter, Vater, Bruder und 26.000 für
das Begräbnis, welches in Nordmazedonien stattgefunden
hat. Die vom Staat zugeschossenen 3.600€ seien da schon
einkalkuliert, so Burger.
Eine Woche vor unserem Treffen am Desider-Friedmann-
Platz telefoniere ich mit Karl Newole. Der Wiener Anwalt
vertritt 19 Angehörige und Opfer des Anschlags. Auf ihn
aufmerksam wurde ich durch einen TV-Auftritt auf Oe24.
Zusammen mit Kewen und Kexin Li, die Töchter eines
erschossenen austro-chinesischen Restaurantbesitzers,
erhob der Anwalt dort schwere Vorwürfe gegen die österreichische
Republik. In einem früheren Interview sagte Newole,
„die Entschädigungssummen verdienen den Namen ‚Entschädigung‘
gar nicht.“ Konkret hätten die beiden jungen
© Stephan Mussil
Frauen und ihre Mutter jeweils 2.000€ erhalten. „2.000€?“,
frage ich sicherheitshalber nach. Newole bestätigt. Warum
seine KlientInnen – genauso wie Nedzips Familie – bis jetzt
ignoriert wurden und keine zuständige PolitikerIn den Telefonhörer
angerührt hat, ist dem Anwalt rätselhaft. Er kann
nur mutmaßen, vielleicht ließe sich „Minister Nehammer erst
dann blicken, wenn eine Klage gegen die Republik droht“, so
Newole.
WUNDEN, DIE NICHT HEILEN
Kurz bevor ich die Fragen an die Pressestelle des Innenministers
abschicke, fällt mir ein: Erst vorletzte Woche habe ich
ein Kurier-Interview mit der Schwester und der Mutter der
getöteten deutschen Kunststudentin gelesen. Dort kritisiert
die in Tränen aufgelöste Mutter die österreichische Politik
scharf und sagt anschließend, sie habe jetzt endlich ein
Gespräch mit Innenminister Nehammer führen können und
dieser habe sich „sehr empathisch“ gezeigt. Das macht für
mich keinen Sinn. Warum sollte der Innenminister die Angehörigen
des deutschen Opfers treffen und die Angehörigen
der österreichischen Opfer mit Balkan-Background ignorieren?
Stimmt der Vorwurf des Anwalts, oder ist das alles im
Corona-Wahnsinn untergegangen? Ich ergänze die Fragen
und drücke auf „Senden.“
Zurück im Bermudadreieck. Kaba hat mittlerweile widerwillig
für unsere Kameras posiert und führt uns auf die Spur
des Attentäters. „Hier wurde Nedzip erschossen und dort
haben sie ihn gefunden. Schau hier vor dem Kaktus hat der
Attentäter die Person erschossen, von der im Netz Kameraaufnahmen
kursierten, lange bevor sie die großen Sender
zeigten“, zeigt Kaba auf den Fenstervorsprung, wo das Opfer
mit Schüssen niedergestreckt wurde. Wie es ihm jetzt gehe,
wenn er den Tatort begeht, möchte ich von Kaba wissen.
Der Angehörigen-Anwalt
Karl Newole schrieb diesen
Brief an den damaligen
Interims-Justizminister
Werner Kogler. Bis Redaktions
schluss kam keine
Antwort.
Einschusslöcher an der
Tür des erschossenen
Restaurantbesitzers und
Familienvaters Qang Li
14 / POLITIKA /
/ POLITIKA / 15
Bezahlte Anzeige
„Ich habe Kinder zu Hause“, antwortet
er. Ich bin verdutzt. Wie meint er das?
„Mir geht es gut, ich habe Kinder zu
Hause, die ich heute noch sehen werde.
Das können die Eltern von Nedzip nie
wieder behaupten.“ Er wiederholt:
„Nie wieder.“
„Nie wieder.“
„Nie wieder.“
„Niemals werden die Wunden
verheilen. Du kannst ja nicht Bepanthen
draufschmieren und gut ist.“ Kaba spaziert
weiter. Bedrückende Stille erfüllt
die mit Pflastersteinen bedeckte Gasse,
an denen teilweise noch die Spuren der
Kripo zu sehen sind.
AUF AUGENHÖHE BEGEGNEN
Das Sozialministerium verweist auf den eigens für Verbrechensopfer
eingerichteten Verein „Weisser Ring“ (siehe
Infobox „Wer hat Hilfen in Anspruch genommen?“). Der
Verein kümmert sich um die Abwicklung der Leistungen an
die Angehörigen des Terroranschlags. Zu diesen Leistungen
gehören das Auszahlen von Schmerzensgeld (Pauschalbeiträge
belaufen sich zwischen 2.000 und 12.000€),
das Übernehmen der Kosten für eine etwaige Bestattung,
Psychotherapie, Heilfürsorge. Für den Angehörigen-Vertreter
Newole als auch für den Cousin des ermordeten Nedzip ist
das reine Augenauswischerei. Newole verlangt eine Entschädigung
von über einer Million Euro für die 19 Opfer, am
besten auf einem außergerichtlichen Weg, weil ein Prozess
die Angehörigen retraumatisieren könnte. „Stattdessen
handelt die Regierung hier kleinkariert, man schickt die Opfer
auf Gerichtswege und in den Papierkrieg“, erzürnt sich der
Anwalt. In eine ähnliche Kerbe schlägt Kaba: „Jeder, der
seine Arbeit nicht gut macht, muss Konsequenzen tragen“,
fordert er. „Es sei ganz klar, dass das BVT (Anm. d. Red.:
Bundesamt für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung)
hier Fehler gemacht habe. Außerdem musste die
TERROR VON WIEN: WER HAT HILFE IN ANSPRUCH GENOMMEN?
Aus dem Sozialministerium heißt es: „Im Zusammenhang
mit dem Terroranschlag in Wien am 2. November
2020 haben bislang 68 Personen Leistungen nach dem
Verbrechensopfergesetz (VOG) beantragt, wovon an 41
bereits Leistungen ausbezahlt wurden. Das kann jeder
beantragen, der vom Anschlag betroffen ist. Weiters
heißt es: „Die Höhe der Pauschalentschädigung für
Schmerzensgeld ist abhängig vom Ausmaß der erlittenen
Gesundheitsschädigung. Insgesamt haben zudem
50 Opfer und Hinterbliebene um Unterstützung für
Psychotherapie und/oder Krisenintervention angesucht.
Davon konnten bereits 46 Anträge bewilligt werden.“
All diese Hilfen verdienen das Wort „Entschädigung“
Warum ignoriert Innenminister
Nehammer den Großteil der
Angehörigen? Leider wollte er uns
diese und weitere Fragen nicht
beantworten.
© Tobias Steinmaurer / picturedesk.com
Mutter von Nedzip nach ihrer sechsten
Behandlung mit der Psychotherapeutin
einen Antrag bei der Krankenkasse stellen,
um „20–30% der Kosten rückerstattet
zu bekommen“, so Kaba bedrückt.
Wir sind am Ende unserer Terror-
Tour angelangt. Kaba hat es eilig und
streckt uns die Faust als Verabschiedung
entgegen. Ich möchte von ihm
abschließend wissen, ob er und die
Familie eine verspätete Entschuldigung
des Innenministers oder Bundeskanzlers
annehmen würden. Er grinst: „Bei uns
in Mazedonien sagt man dazu – entschuldige
den Ausdruck – Scheiße mit
Pisse wegwischen.“ Die Untätigkeit der
Politik hat tiefe Spuren hinterlassen. Die
traumatisierte Mutter, die jeden Sonntag zum Tatort fährt,
um Blumen niederzulegen, sei „eine gebrochene Person, die
am liebsten zu Nedzip gehen möchte. „Selbst Putin würde
die Terroropfer besuchen“, wirft Kaba noch ein. Tatsächlich
ist Österreichs Politik weit entfernt von den Aktionen eines
französischen Präsidenten Macron, der zum Begräbnis von
Terroropfern kommt, oder einer neuseeländischen Premierministerin
Jacinda Ardern, die aus Solidarität zu den Opfern
des Moschee-Anschlags in Christchurch ein Kopftuch trug
und die Trauernden umarmte. Einladung zum Trauergottesdienst
im Stephansdom wäre ein Anfang gewesen, oder
auch ein Treffen des Innenministers mit Angehörigen, wie
von Anwalt Newole und dem Cousin des ermordeten Nedzip
Vrenezi gefordert.
Die Fragen von biber an das Innenministerium blieben bis
Redaktionsschluss unbeantwortet.
In Gedenken an Nedzip Vrenezi, Qang Li, Vanessa Preger-
McGillivray und das vierte Todesopfer, deren Angehörige
nicht den Namen in der Öffentlichkeit lesen wollen. ●
gar nicht und wären ein Schlag ins Gesicht der Angehörigen,
so Opfer-Anwalt Karl Newole, der 19 Betroffene
vertritt. Der Anwalt fordert rund eine Million Euro von
der Republik, am besten auf au8ergerichtlichen Weg,
um die wirtschaftlichen Schäden abzufedern. Von der
kurz nach dem Terroranschlag bekannt gewordenen
politischen, einen Entschädigungsfonds für Hinterbliebene
einzurichten, hat Newole noch nichts erfahren: „Das
wurde uns versprochen, sieht jedoch mehr nach einer
Beruhigungs- bzw. Marketingaktion aus.“ Aus dem Sozialministerium
heißt es dazu: „Die Frage der Einrichtung
eines gesonderten Fonds zur Entschädigung von Terroropfern
wird derzeit auf politischer Ebene diskutiert.“
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„Sexuelle Bildung ist ein
BIBER: Menerva, du machst
gerade die Ausbildung zur
Sexualpädagogin. Was ist
der Unterschied zwischen
einer Sexualtherapeutin und
einer Sexualpädagogin?
Wieviel kostet dann so ein
Gespräch mit dir?
MENERVA HAMMAD: Derweil
nichts. Ich will einfach
Frauen in ihrer Sexualität
bestärken und ich werde
erst dann Beratung anbieten,
wenn ich mit der Ausbildung
fertig bin. Ich beantworte die
Fragen momentan per Mail
oder wir machen uns ein
Gespräch über Zoom aus.
Der Unterschied ist, dass
Sexualpädagogik die sexuelle
Bildung als Auftrag hat. Eine
Sexualtherapeutin macht
etwas anderes, da werden
PatientInnen therapiert, eben
wie beim Psychotherapeuten.
Mir geht es einfach darum,
zu sagen, dass sexuelle
Bildung ein Menschenrecht
ist und mit den Mythen
aufzuräumen und Fakten
darzustellen.
Menschenrecht“
Eine Muslima, die offen über Sex spricht? Davon gibt es im deutschsprachigen Raum viel zu
wenige, findet Menerva Hammad. Deshalb tut sie es. Menerva ist Autorin, Journalistin und
angehende Sexualpädagogin. Sie räumt mit Mythen rund um Sex und den weiblichen Körper
auf. Außer- aber auch vor allem innerhalb der muslimischen Community.
Interview: Aleksandra Tulej, Foto: Asma Aiad
Welche Mythen sind das dann
zum Beispiel?
Ich bin sehr wohl in der Lage,
zu sagen: was ist Kultur, was
ist Tradition, was ist Religion.
ich bin davon überzeugt,
dass manches einfach falsch
übernommen wurde. Das
erste Wort im Koran ist „lies“-
also “bilde dich weiter.” Und
ich finde, damit sollte man
sofort anfangen. Vor allem
beim eigenen Körper und
bei der eigenen Sexualität.
Was die Mythen angeht:
Vor allem die rund um das
Jungfernhäutchen. Im Koran
steht nirgendwo, dass du
in der Hochzeitsnacht zu
bluten hast, und diese ganze
Geschichte mit dem Bettlaken
auch nicht. 50 Prozent
aller Frauen bluten nicht beim
ersten Mal. Das sind Flausen,
die wir in den Kopf gesetzt
bekommen. Ein Tampon kann
dich nicht entjungfern, genauso
wenig wie irgendein Sport.
Du bist keine Jungfrau mehr,
sobald du Sex hattest. Punkt,
aus, Ende. Alles andere sind
irgendwelche Erfindungen.
Aber genau das scheint ja viele junge
Frauen zu beschäftigen. Und da kommst
du ins Spiel.
Es sind sehr oft Fragen, die kulturell –
und hier sage ich bewusst nicht islamisch
– verankert sind. Aber auch Fragen wie:
„Ich habe nach der Geburt meines Kindes
keine Lust mehr auf Sex, was mache ich
jetzt?” Aber ganz oft kommt die Frage
“Ich bin keine Jungfrau mehr, aber werde
bald heiraten. Was soll ich tun? Soll ich
das Jungfernhäutchen rekonstruieren
lassen oder es ihm sagen?” Wenn sich
eine junge Frau an mich wendet, die sich
verliebt hat, dem Mann vertraut hat und
mit Aussicht auf Heirat mit ihm geschlafen
hat. Und dann war er weg. Die Frau
ist dann fix und fertig und hat das Gefühl,
dass sie mit niemandem darüber sprechen
kann, weil sie sonst verurteilt wird.
Und was antwortest du dann so einer
Frau?
Das Erste, was ich ihr dann klar mache,
ist, dass Sex außerhalb der Ehe für Mann
und Frau verboten ist. Das gilt für beide
gleichermaßen. Das ist keine Sache, für
die sie sich jetzt schämen muss. Das
ist islamisch gesehen eben ein Fehler
den sie gemacht hat und jetzt geht das
Leben weiter. So auf: Vergiss diesen
Fuckboy und gut is’ (lacht). Du bist
deswegen jetzt nicht weniger wert oder
hast weniger Ehre. Ich rate so einer Frau
dann, ehrlich zu ihrem Nächsten zu sein.
Wenn er ein richtiger Ehrenmann (lacht)
ist, nimmt er dich für das, was du bist,
und nicht für das, was vorher war. Wenn
die Frau das will, kann ich auch gerne
mit ihren Eltern sprechen. Natürlich ist
das schwierig, denn viele Eltern denken
anders, die Gesellschaft denkt anders,
die Community denkt anders. Das Problem
ist nämlich, dass viele die Religion
nicht gelesen haben, sondern durch
Hörensagen weitervererbt bekommen
haben. Vor allem in der Generation unserer
Eltern. Unsere Generation liest und
recherchiert nach. Ich bleibe natürlich
im islamischen Rahmen, aber ich bin der
Meinung, dass man nicht alles einfach so
hinnehmen sollte, sondern sich auch mal
fragen kann, ob einige Dinge nicht falsch
interpretiert wurden.
Wer richtet sich denn hauptsächlich an
dich?
Meist Musliminnen aus dem deutschsprachigen
Raum. Ob verheiratet oder
unverheiratet. Sie finden einfach keine
Anlaufstelle, wenn es um Fragen zu ihrer
Sexualität geht. Angenommen, ich bin
vegan und suche eine Ernährungsberaterin.
Dann wende ich mich an eine
Ernährungsberaterin, die auf vegane
Ernährung spezialisiert ist. Denn da
geht es ja auch nicht nur darum, keine
tierischen Produkte zu essen, sondern
um die Lebenseinstellung. Und da gehe
nicht zu jemandem, der mich verurteilt,
oder sich nicht auskennt. Du willst nicht
hingehen und dich erstmal zwei Stunden
erklären. Das was ich mache, machen
viele. Aber eben als deutschsprachige
Muslima jemanden, der dich versteht
und in diesem Rahmen mit dir spricht,
zu finden… das gibt's nicht. Oder es
wird nicht darüber gesprochen, wenn
dann nur wissenschaftlich und trocken.
Und genau deshalb bin ich da (lacht). Es
wenden sich aber auch Frauen außerhalb
der Community an mich.
Warum glaubst du, dass die Arbeit, die
du leistest, in der muslimischen Community
so wichtig ist?
Es ist islamisch gesehen nicht haram
oder verboten, sich mit der eigenen
Sexualität zu befassen. Dass man weiß,
wie der eigene Körper ausschaut, dass
man sich einmal klarmacht, wie eine
Klitoris wirklich aussieht, oder wie sie
richtig zu stimulieren ist. 80 Prozent der
hetero Frauen kommen nicht nur durch
Penetration zum Orgasmus. Da musst
du schon bissi mehr machen. Und wenn
das weder die Frau noch der Mann weiß,
dann wirds schwierig. (lacht) Es geht
aber nicht nur um Sex, sondern um den
Zugang zum eigenen Körper. Einmal hat
sich eine 17-Jährige an mich gewandt,
die ein Vulva-Lippen-Lifting machen
wollte, weil sie sich untenrum hässlich
fand. Weil einfach nicht kommuniziert
wird, dass es da kein schirch und kein
schön gibt. Junge Frauen sind da oft
verunsichert. Ich spreche auch über Themen
wie Monatshygiene, Alternativen zu
Binden und Tampons und alles, was den
weiblichen Körper angeht.
Wie ist die Resonanz aus der Community?
Alle Frauen feuern mich an - egal ob
innerhalb oder außerhalb der Community.
Bei Männern ist das gemischt, es gibt
solche und solche. Aber einige Menschen
sind aufgrund meines Kopftuchs
verwirrt. Ich bekomme dann Kommentare
wie “Du trägst den Hijab nicht
richtig, weil man deinen Hals oder deinen
Haaransatz sehen kann.” Dann heißt es,
ich solle das Kopftuch doch ablegen, weil
das nur halbe Sachen sind, die ich damit
repräsentiere. Aber dann kommt wieder
die Frage “Wie kannst du Sexualpädagogin
sein und das mit deinem Kopftuch
vereinbaren?” - Und dann denke ich mir
“Na hallo, ich dachte mein Kopftuch zählt
nicht?” Dann ist der Hijab aber plötzlich
doch genug.
Einblicke in Menervas Arbeit findet ihr
auf ihrem Blog „Hotel Mama“ und auf
instagram unter @kakaotschifrau.
LUST AUF MEHR?
Menerva hat ab Mai auf SALAM FM,
dem ersten deutsch-muslimischen
Radiosender, eine eigene Sendung
zu weiblicher Sexualität. Unbedingt
reinhören!
Menervas Buch „Wir treffen uns in der
Mitte der Welt: Von fehlender Akzeptanz
in der Gesellschaft und starken
Frauen“.
Menerva hat Frauen auf der ganzen
Welt über ihr Leben interviewt und
erzählt deren Geschichten. So schreibt
sie über eine Genitalverstümmlerin,
die später zur Sexualberaterin wird,
von einer jungen Frau, die aus einer
Zwangsehe entkommen konnte, und
von unzähligen anderen spannenden
Lebensgeschichten. Braumüller
Verlag, 22 €.
18 / POLITIKA /
/ POLITIKA / 19
WIE VOM
ERDBODEN
VERSCHLUCKT
Seit Februar diesen Jahres befindet sich der Wiener Student Ahmed Samir
Santawy in seiner Heimat Ägypten in Untersuchungshaft. Ohne Aussicht
auf einen fairen Prozess. Santawy ist nur einer von tausenden friedvollen
Menschen, die zur Zielscheibe von repressiver Politik unter Präsident
Sisi wurden. BIBER sprach mit jenen Angehörigen und Freunden des
Masterstudenten, die unermüdlich für seine Freilassung kämpfen.
Text: Nada El-Azar
© Zoe Opratko
Souheila kam gegen Mittag
aus Gent in Alexandria an. Es
war der 1. Februar 2021. In
der ägyptischen Metropole
am Mittelmeer sollte sie ihren Verlobten
Ahmed nach Monaten der Fernbeziehung
endlich wieder in die Arme schließen. Sie
rief Ahmed an. Er hob nicht ab. Immer
wieder versuchte sie, ihn zu erreichen.
Keine Antwort. Also stieg Souheila alleine
in den Zug von Alexandria nach Kairo, wo
ein gemeinsamer Familienbesuch geplant
war. Angekommen in der Wohnung von
Ahmeds Eltern machte sich Sorge breit.
Ahmed war von einem vermeintlich
harmlosen Termin auf der Polizeistation
nicht zurückgekommen. Er hätte nur ein
paar Fragen beantworten sollen, doch
bis in den Abend hinein fehlte jedes
Lebenszeichen.
Sein Vater ging schlussendlich zur
Polizei und fragte nach ihm. Doch die
Beamten entgegneten ihm nur, dass
ihnen niemand mit dem Namen Ahmed
Samir Santawy bekannt sei. In dieser
Nacht kehrte Ahmed nicht heim, und
auch in den folgenden Tagen fehlte jede
Spur vom 29-Jährigen. Er war wie vom
Erdboden verschluckt. Erst nach fünf
Tagen gab es die Gewissheit: Ahmed war
tatsächlich verhaftet worden und befand
sich seither in Untersuchungshaft.
„Es war ein so merkwürdiges Gefühl“,
erinnert sich Souheila, „ich war zum
ersten Mal seit anderthalb Jahren wieder
in Ägypten und verbrachte die Zeit nicht
an Ahmeds Seite, sondern mit seiner
Familie, wartend. Wir warteten auf seine
Freilassung aus dem Gefängnis.“
INTERNATIONALE
AUFMERKSAMKEIT
Souheila erzählt mir dies bei einem
Zoom-Gespräch zwischen Wien und dem
belgischen Gent. Zu diesem Zeitpunkt
war Ahmed schon seit fast zwei Monaten
in Untersuchungshaft, ohne Anklage
oder Aussichten auf einen Prozess. Die
Belgierin mit türkischen Wurzeln kann
die Geschehnisse der letzten Wochen so
detailliert erzählen, als hätte sie einen
Kalender vor ihrem geistigen Auge. Ich
wurde auf den Fall
Ahmed zunächst
über Facebook
aufmerksam. Eine
Bekannte von mir
nahm an der Kundgebung
teil, die
Mitte Februar vor
der ägyptischen
Botschaft stattfand
und bei der
Demonstranten
Ahmeds Freilassung forderten. Im Text
zum Protestaufruf stand, ein Student, der
an der Wiener Central European University
(CEU) studiert und im Rahmen seiner
Masterarbeit zum Thema Abtreibungsrechte
in Ägypten geforscht hätte, wäre
überraschend in Kairo festgenommen
worden. In den österreichischen, wie
internationalen Medien wurde der Fall
sehr breit aufgegriffen. Ich wollte wissen:
Ahmed forschte zu
Abtreibungsrechten
in Ägypten.
Was für ein Mensch ist Ahmed? Und
warum wurde er verhaftet?
Souheilas Blick schweift in die Ferne,
wenn sie an ihre Zeit mit Ahmed in Wien
denkt. „Wir waren überall in der Stadt
spazieren, haben Museen besucht und
Ausstellungen gesehen. Unser Lieblingsort
war das Café Central in der
Herrengasse. Wir hatten es mit diversen
Shishabars versucht, jedoch fand Ahmed
keine von ihnen gut genug“, lacht Souheila.
Sie lernte Ahmed im Jahr 2009
an der Universität Kairo kennen. Sie
interessierten sich beide für arabische
Literatur, jedoch vergingen Jahre, bis aus
ihrer Freundschaft
im Jahr 2017
allmählich eine
Liebesbeziehung
wurde. Drei Mal
jährlich flog Souheila
nach Ägypten,
um mit Ahmed
sein zu können.
2019 begann er
an der CEU in
Wien Kultur- und
Sozialanthropologie im Master zu studieren.
Er interessierte sich besonders für
Menschenrechte, im Speziellen für die
reproduktiven Rechte von Frauen und für
LGBTQ-Rechte. Traurig und doch unbeirrt
wirkt Souheila vor ihrer Webcam. Sie
kann mir nicht beantworten, ob Ahmed
zu unvorsichtig auf Facebook gewesen
sein könnte. „Ahmed ist manchmal wie
ein kleines Kind. Er denkt niemals an ein
20 / POLITIKA /
/ POLITIKA / 21
Souheila und Ahmed während eines Spaziergangs im Wiener Stadtpark. Ihr
Lieblingsort war jedoch das Café Central in der Herrengasse.
Morgen, er lebt von einem Tag in den
nächsten“, beschreibt die Arabischlehrerin
ihren Freund. Der 31-Jährigen entkommt
stets ein kleines Lächeln, wenn
sie seinen Namen sagt.
„ER WAR EIN WENIG
ZU NAIV.“
Ähnlich spricht auch Ahmeds beste
Freundin Rawda über ihn, mit der ich
auch ein Gespräch
über Zoom führte.
„Es ist schwer,
Ahmed in Worte zu
fassen“, sagt sie.
Die 23-jährige Studentin
sitzt dabei
vor ihrem Laptop
in einem Zimmer
irgendwo in der irischen
Hauptstadt
Dublin und kommt
ins Grübeln. „Er ist ein sehr lebenslustiger
Mensch“, fährt sie fort, „er liebte
es, zu reisen und neue Leute kennenzulernen.
Deswegen ging er auch nach
Europa.“ Rawda lernte Ahmed beiden im
Jahr 2017 während des Studiums in Kairo
kennen und sie studierten später auch
gemeinsam an der Central European
Er war ehrlich gesagt
ein wenig naiv, dass er
nichts gelöscht hat.
University in Budapest, bevor er nach
Wien zog. Zuletzt hatten sie Ende Jänner
über Facebook Kontakt. Ahmed sagte ihr
damals, dass er seinen Heimatbesuch in
Ägypten noch etwas verlängern wolle.
Es gefiel ihm, zurück bei seiner Familie
zu sein, und er traf viele Freunde, die er
lange nicht mehr gesehen hatte. „Es war
ehrlich gesagt ein wenig naiv, dass er
nichts gelöscht hat, bevor er nach Kairo
ging. Aber das war
seine Persönlichkeit,
er hatte keine
Angst vor nichts.
Ich würde dieselben
Fehler nicht
machen“, gibt
Rawda enttäuscht
zu. Ahmed soll
auf Facebook sehr
aktiv gewesen
sein. „Er schrieb
über alles Mögliche und teilte seine
Meinung zu aktuellen Themen zu Frauenrechten
und #MeToo.“ Auch Rawda
interessiert sich, ähnlich wie Ahmed, für
Menschenrechte und forscht intensiv zu
Themen wie fairen Rechtsbeiständen für
Frauen. Sie ist auch gebürtige Ägypterin.
Über Stipendien hatte sie die Möglichkeit
bekommen, im Ausland zu studieren.
Der Arabische Frühling von 2011 hat ihre
Perspektiven und ihre Lebenseinstellung
nachhaltig geprägt. „Die Revolution
passierte, als ich 13 Jahre alt war. Wir
wuchsen mit dem Bild auf, alles verändern
zu können, dass sich das Land in
eine neue, bessere Richtung entwickeln
könnte. Weg von der Korruption, weg
von der Polizeigewalt. Scheinbar haben
wir aber alles verloren, wofür in der
Revolution gekämpft wurde. Menschen
werden willkürlich verhaftet und mit
absurden Anschuldigungen konfrontiert“,
sagt die 23-Jährige. Nach einer Reihe im
Jahr 2018 neu verabschiedeter Gesetze
werden in Ägypten Inhalte auf Social-
Media-Accounts verstärkt reguliert. Das
offizielle Ziel der neuen Regelungen
war, Fake-News besser unterbinden zu
können. Jedoch hat die Kontrolle ein
erschreckendes Ausmaß angenommen.
„Die Polizei hält Menschen auf der Straße
an und kontrolliert deren Handys. Alles,
was regimekritisch ist, kann gegen einen
verwendet werden. Tausende Webseiten
von NGOs und ähnlichen Institutionen
wurden blockiert“, so Rawda.
TAUSENDE POLITISCHE
GEFANGENE
Seit dem 6. Februar sitzt Ahmed im
Liman Tora Gefängnis, das sich einige
Stunden entfernt von Kairo am Nil befindet.
Es ist in Ägypten bekannt, dass viele
politische Gefangene in diesem Hochsicherheitsgefängnis
festgehalten werden.
Internationalen Menschenrechtsorganisationen
zufolge sollen zwischen 40.000
und 60.000 politische Gefangene in
Ägypten inhaftiert sein. Viele von ihnen
befinden sich in Untersuchungshaft,
wie Ahmed. Laut Angaben der Human
Rights Watch hat sich die Lage im Land
seit dem Amtsantritt von Präsident Abdel
Fattah as-Sisi drastisch verschlechtert.
Beamte der ägyptischen Staatssicherheit
sollen regelmäßig Menschenrechtsverletzungen
begehen – auch Folter und
außergerichtliche Exekutionen sollen
keine Seltenheit sein.
Nach 17 Tagen in Einzelhaft wurde
Ahmed von Behörden der ägyptischen
Staatssicherheit befragt. Er wurde in
drei Punkten beschuldigt: Mitgliedschaft
bei einer terroristischen Gruppierung,
Verbreitung von Falschmeldungen und
© bereitgestellt
© Zoe Opratko
Benützung eines Accounts im Internet
zur Verbreitung dieser Falschmeldungen.
Nach jener Befragung vom wurde ein
weiterer Punkt hinzugefügt: Finanzierung
einer terroristischen Gruppierung.
Ahmed soll über den letzten Punkt im
Befragungszimmer sogar laut gelacht
haben. „Ich bin mit einem Transitflug
über die Türkei nach Ägypten gekommen,
weil ich als Student keine 1000
Euro für einen Direktflug zahlen konnte.
Wie sollte ich denn dann eine Terrororganisation
finanzieren?“, soll er laut
seiner Familie gesagt haben. „Typisch
ägyptisch!“, kommentierte Souheila
dies. Auch wenn die Lage hoffnungslos
erschien, hatte Ahmed seinen Humor
nicht verloren.
Der CEU-Student soll insgesamt
fast einen Monat in Einzelhaft verbracht
haben und klagte über seine kalte
Gefängniszelle. Das bestätigen Berichte
von NGOs, sowie Rawda und Souheila.
Ahmed befand sich vom 6. Februar bis
zum 2. März in Einzelhaft. In dieser Zeit
blieben ihm sowohl Besuch als auch Geld
verwehrt, was auch nach ägyptischem
Recht gesetzeswidrig ist. In der Regel
sollten Inhaftierte nach elf Tagen in
U-Haft Zugang zu Besuch und Geldmitteln
bekommen. Seine beste Freundin
Rawda kauerte förmlich vor ihrem
Laptop, als sie versuchte, sich in Ahmeds
Lage in Einzelhaft zu versetzen. „Als ich
hörte, dass Ahmed verhaftet worden war,
dachte ich mir: Wie soll er denn in einer
Zelle bleiben? Er hält es für gewöhnlich
keine drei Tage an einem Ort aus. Das
würde ihn buchstäblich verrückt machen.
Ich kann mir nicht vorstellen, wie er den
ganzen Tag an diese Wände gestarrt
haben kann“, sagte sie bestürzt. Sie
sprach auch mit Ahmeds Bruder Abdelrahman.
„Für seine Familie ist das alles
ein Schock. Niemand hatte sich jemals
ausmalen können, dass Ahmed so etwas
zustoßen könnte. Er war kurz davor,
seinen Masterabschluss zu machen. Er
strebte eine akademische Karriere an,
wollte noch einen PhD machen. Das alles
ist auf einen Schlag weggerissen worden“,
sagte sie und wischte sich mit dem
Ärmel ihres Pullovers über das Gesicht.
Seit Ahmeds Inhaftierung kämpft Rawda
als Teil eines Kampagnenteams der CEU
für seine Freilassung.
Ahmeds Studienkollegin Gabriela sieht in seiner Inhaftierung einen Angriff auf
akademische Freiheit. Die Brasilianerin hielt eine Rede bei einer Protestaktion in Wien.
KEIN STATEMENT
VON ÄGYPTISCHER
BOTSCHAFT
Auf einer Amnesty-Kundgebung vor
der Kulturabteilung der ägyptischen
Botschaft in Wien lerne ich Ahmeds
Studienkollegin Gabriela kennen. Der
Protest war einer von vielen, die weltweit
am 10. April auch in den Städten Tunis,
Beirut, Gent, Sofia, Berlin und Belgrad
stattgefunden
haben, bei der
Menschen erneut
auf seine Freilassung
pochten. Die
Brasilianerin ist
ebenfalls Teil des
Kampagnenteams,
kennt Ahmed seit
Beginn des Masterstudiums
und
ist seine Nachbarin
im Studentenheim. „Er ist ein so hilfsbereiter,
gutmütiger Mensch“, so Gabriela.
Auf Facebook waren die beiden auch
befreundet, aber Ahmeds Profil ist mittlerweile
deaktiviert. „An der Uni wissen
alle über Ahmed Bescheid, es gehen
viele Solidaritätsmails herum“, so die
28-Jährige. Die ägyptische Botschaft in
Niemand dachte,
dass Ahmed so etwas
zustoßen könnte.
Wien hat auf meine Anfrage kein Statement
zu Ahmeds Inhaftierung oder den
Demonstrationen abgegeben. Jedoch
ist die Botschaft, laut Aussage einer
Amnesty-Aktivistin, dazu verpflichtet, der
ägyptischen Regierung zu melden, wenn
international Proteste vor ihren Toren
geschehen.
Ahmed Samir Santawy ist nicht der
einzige internationale Student, der sich
in Gewahrsam
der ägyptischen
Behörden befindet.
Auch sein
Bekannter Patrick
George Zaki, ein
Kopte und Student
der Universität
Bologna, befindet
sich schon ähnlich
lange in Haft,
wegen ähnlicher
Anschuldigungen. Berichten zufolge soll
Patrick bei seiner Befragung gefoltert
worden sein. Sowohl Rawda als auch
Souheila bestätigen, dass auch Ahmed
nicht von physischer Gewalt durch die
Polizei verschont geblieben sein soll.
Beamte sollen ihm schon während seines
ersten Verhörs bei der Polizei ins Gesicht
22 / POLITIKA /
/ POLITIKA / 23
Seit dem 6. Februar 2021 sitzt Ahmed im Liman Tora Gefängnis.
Es ist bekannt dafür, dass viele politische Gefangene dort in Haft sind.
geschlagen und ihm in den Bauch
getreten haben. Als Ahmeds Mutter ihn
kurz vor Ende seiner Zeit in Einzelhaft für
20 Minuten besuchen durfte, passierte
dies nur unter strenger Aufsicht von
Gefängniswärtern. Frei sprechen konnte
Ahmed über die Umstände während
seiner Einzelhaft mit ihr also nicht. Seine
Lage soll sich jedoch seit seiner Überführung
in eine andere Gefängniszelle,
die er sich mit einem weiteren Häftling
teilt, laut Berichten der Angehörigen
gebessert haben. Mit dem Geld, das ihm
seine Familie schickt, kann er sich in
der Kantine des Gefängnisses adäquate
Mahlzeiten kaufen, und auch Kleidung
soll er erhalten haben. Für Souheila war
das eine kleine Erleichterung. „Er hatte
einen ganzen Monat nur jenes weiße
T-Shirt an, das er zum Termin auf der
Polizeistation trug“, sagt sie.
„DIE ANSCHULDIGUNGEN
SIND ABSURD.“
Für Michael Ignatieff, Direktor der Central
European University, ist die Inhaftierung
seines Studenten ein alarmierendes
Einschüchterungsmanöver. „Seit
Ahmeds Inhaftierung in Kairo haben
wir eng mit den österreichischen und
amerikanischen Behörden zusammengearbeitet“,
berichtet er, „und es ist sehr
wichtig, dass der Fall Ahmed Santawy
von österreichischen und amerikanischen
Botschaftern auf der höchsten
Ebene des ägyptischen Staates zur
Sprache gebracht wurde.“ Amerikanische
Behörden seien deshalb involviert,
weil die CEU in New York akkreditiert ist
und amerikanische Abschlüsse vergibt.
Eine der größten Schwierigkeiten sieht
der CEU-Direktor in der Tatsache, dass
Ahmed ein ägyptischer Staatsbürger ist,
und deshalb die ägyptische Regierung
seine Haft als nationale Angelegenheit
handhabt. Trotzdem sieht er es in seiner
Verantwortung, weiter Ahmeds Freilassung
voranzutreiben.
Dass
der 29-Jährige
beschuldigt wurde,
Mitglied einer
terroristischen
Organisation zu
sein, hält er für
absurd. Zwar
wurde nicht näher
ausgeführt, um
welche Terrororganisation
es sich handeln würde, jedoch
versichert Ignatieff, dass Ahmed keinerlei
Verbindungen zu irgendeiner islamischfundamentalistischen
Gruppe gepflegt
habe oder pflegen würde.
„Ich denke, dies ist eindeutig ein
Versuch, nicht nur diesen ägyptischen
„Niemand im Westen
soll über die Situation
in Ägypten Bescheid
wissen.“
Studenten, sondern alle ägyptischen
Studenten einzuschüchtern. Unsere
Universität heißt junge Menschen aus
120 Ländern willkommen, und viele von
ihnen kommen aus Staaten mit schwierigen
Regimen. Und ich bin sehr besorgt
darüber, dass dieser Fall nicht nur für
ägyptische Studenten, sondern auch
für ausländische Studenten in Ägypten
auf ganzer Linie eine abschreckende
Wirkung haben könnte. Sie werden keine
einzige Sache auf Facebook, Twitter und
anderen sozialen Medien veröffentlichen
wollen. Und dies ist in meinen Augen
eine Verletzung ihres persönlichen
Rechts auf Freiheit.“
„AHMED LIEBT ÄGYPTEN
ÜBER ALLES.“
Mit Ahmeds Partnerin Souheila sprach
der CEU-Direktor auch persönlich. In
ihren Augen tut die Universität aber
noch längst nicht genug, um Ahmed zu
helfen. „Ich wünschte, die Uni würde
mehr Druck auf die Regierung ausüben.
Ahmed lebt in Europa und sollte Rechte
haben. Die Verhandlungen sollten mit
einem viel strengeren Tonfall ablaufen,
aber intakte Beziehungen zu Ägypten
scheinen offenbar wichtiger“, so die
Arabischlehrerin. Auch sollte Österreichs
Bundesregierung ihrer Meinung nach
schärfer mit Ägypten verhandeln und
Sanktionen ankündigen.
Seit November 2020 hat Souheila
Ahmed nicht mehr persönlich gesehen.
Als sie in Kairo war, durften nur verwandte
Familienmitglieder Besuche im
Gefängnis abstatten.
Die beiden
sind lediglich
islamisch verlobt
und wollten eigentlich
bald heiraten.
Einen Brief, den
sie an Ahmed
verfasst hat, durfte
sein Vater bei
seinem letzten
Treffen nicht in den
Besuchsraum mitnehmen. Souheila fragt
sich bis heute, ob Ahmed jemals verhaftet
worden wäre, wäre er wie geplant im
Jänner nach Österreich zurückgekommen.
Ahmed liebt Ägypten über alles.
Das erzählten mir Rawda und Souheila
© KHALED DESOUKI / AFP / picturedesk.com
© Manfred Weis
unabhängig voneinander. Er war stets
der festen Überzeugung, dass er eines
Tages, wo auch immer es ihn hin
verschlagen haben könnte, für immer
nach Ägypten zurückkehren würde.
Doch was sind nun die Perspektiven
für den 29-jährigen Masterstudenten,
sollte er aus der Haft entlassen werden?
Für Rawda gibt es zwei Szenarien.
„Entweder darf Ahmed Ägypten
verlassen und dafür nie wieder zurückkehren.
Oder er bekommt ein Ausreiseverbot
und würde niemals richtig in
Freiheit leben und arbeiten können.
Beide Möglichkeiten sind schrecklich,
wenn man bedenkt, wie sehr Ahmed
an Ägypten hängt. Er würde das wahrscheinlich
nur schwer ertragen können“,
so die 28-Jährige. Sie kann nur
spekulieren, was genau an Ahmed in
den Augen der ägyptischen Regierung
so bedrohlich sein könnte. „Niemand
im Westen soll über die Situation in
Ägypten Bescheid wissen. Es ist ein
Land, in dem ein Großteil der Frauen
sich mit sexueller Gewalt konfrontiert
sieht. Menschen wie Ahmed, die zu
solchen Themen forschen, sind in Sisis
Regime eine Bedrohung.“ Rawda fügt
hinzu, dass man gesellschaftlichen
Aufruhr mit allen Mitteln zu unterbinden
versucht. Aber sie wird weiterhin
versuchen, möglichst viel Aufmerksamkeit
auf die Entlassung ihres
Freundes Ahmed zu richten. Weltweit
sollen Proteste stattfinden, bis etwas
passiert. Dafür wird sie kämpfen. ●
„DRUCK AUS DEM AUSLAND IST
AHMEDS EINZIGE HOFFNUNG.“
BIBER: Wie wird in Ägypten über den
Fall Ahmed Santawy berichtet?
KARIM EL-GAWHARY: Eigentlich null.
Die unabhängige Nachrichtenplattform
„MadaMasr“ hat über Ahmed Santawy
geschrieben, diese ist aber in Ägypten
blockiert. Sonst ist es in den Medien hier
zu Lande still um den Fall. Sehr viele
von ihnen sitzen dort ohne Anklage, wie
Ahmed. Die Anwälte können in diesen
Fällen wenig tun, weil es nie einen Prozess
gab.
Was ist die Rechtsgrundlage für Ahmeds
Inhaftierung?
Ahmed sitzt momentan in Untersuchungshaft.
Diese kann nach ägyptischem
Recht alle 15 Tage verlängert
werden, auf bis zu zwei Jahre. Nachdem
diese zwei Jahre abgelaufen sind,
passiert es nicht selten, dass ein Fall in
einen neuen Fall gesteckt wird – und
die Untersuchungshaft so fortgesetzt
werden kann. Die größte Chance, wieder
freizukommen, haben prominente Fälle.
So wie es beim Menschenrechtler Gasser
Abdel Razek und zwei weiteren Inhaftierten
gewesen ist, die nach internationalem
Druck freigelassen wurden. Ich
denke, dass Ahmeds einzige Hoffnung
Druck aus dem Ausland ist. Er hat Glück,
dass der Direktor seiner Uni gut vernetzt
ist.
Ahmed beschäftigte sich mit dem Thema
Abtreibung in Ägypten. Ist das der Grund
für seine Haft?
Ich bin mir nicht sicher, ob man die
Anschuldigungen tatsächlich auf Ahmeds
Forschungsarbeit beziehen kann. Dafür
sind sie zu vage formuliert. Wir wissen
oft überhaupt nicht, wo die roten
Linien sind. Es gibt Menschen, die mehr
kritische Dinge als Ahmed auf Facebook
Karim El-Gawhary ist Nahostkorrespondent
und leitet seit 2004 das ORF-Nahostbüro
in Kairo. Auch er berichtete über den Fall
Ahmed Santawy und weiß aus erster Hand,
wie es um politische Gefangene in Kairo steht.
posten und nicht verhaftet werden, so
wie jene, die weniger als er posten und
trotzdem verhaftet werden. Das lässt
sich nicht immer mit Logik erschließen.
Stimmt es, dass die Polizei willkürlich
Mobiltelefone kontrollieren kann?
Das ist eine Methode, die die Polizei seit
etwa zwei Jahren anwendet. Sie halten
Leute auf der Straße an und fordern sie
auf, ihr Handy zu entsperren. Tut man
das nicht, kann man ebenso mitgenommen
werden. Sie checken konsequent
deine Fotos und Social Media. Finden sie
etwas, kommt man mit.
Was haben arabische Autokratien seit
der Revolution von 2011 gelernt?
Sie lassen keinerlei politischen Spielraum
zu, in dem sich irgendetwas entwickeln
könnte, was ihnen zum Verhängnis wird.
Man darf sich nicht versammeln, nicht
organisieren. Gleichzeitig wächst die
Unzufriedenheit in der Bevölkerung – und
das nicht wegen der politischen Lage,
sondern vielmehr der sozialen Lage.
Den Leuten geht’s einfach schlecht.
Ein Drittel der Bevölkerung in Ägypten
lebt unter der Armutsgrenze von 1,30
Euro am Tag. Vielerorts auf der Welt hat
sich die Schere zwischen arm und reich
verkleinert. Nur in der arabischen Welt
nicht. Da ist in den letzten 10 Jahren
der Anteil an Menschen, der in extremer
Armut lebt, angewachsen. Viele
stehen in wirtschaftlicher und sozialer
Hinsicht mit dem Rücken zur Wand. Und
diesem Frust können sie keinen Raum
geben. Auf Dauer ist das natürlich eine
sehr gefährliche Sache. Man kann bis zu
einem gewissen Punkt mit Repressionen
Friedhofsruhe schaffen. Das ist aber
nicht nachhaltig.
24 / POLITIKA /
/ POLITIKA / 25
„Herr Hanke, wie steht es
um die Wiener Clubs?“
Der Wiener Stadtrat für Finanzen Peter Hanke möchte einen
Kultursommer auf die Bühne bringen, wartet mit kreativen Lösungen
zum „Aufsperren Wiens“ auf und erzählt im biber-Interview, warum es
das Ausbildungsstipendium im Pflegebereich braucht.
BIBER: Herr Finanzstadtrat, bevor wir
loslegen, eine dringende Frage aus der
Redaktion: Haben Sie einen Laptop?
PETER HANKE: Ja. Ich habe auch ein
iPad und ein Handy. Es gelingt mir
durchaus mit der modernen Technologie
mitzuhalten und ich verwende sie auch.
Da sind wir erleichtert. Wir blicken auf
ein Jahr Corona-Pandemie zurück:
Haben Sie sich im März 2020 das wirtschaftliche
Ausmaß der Krise so vorgestellt?
Nein. Es ist überraschend. Wir alle dachten,
dass nach dem ersten Lockdown
ein Stück des Weges gegangen ist, und
konnten uns nicht vorstellen, dass es
einen weiteren geben würde. Heute sind
wir sehr realistisch und wissen, welche
Auswirkungen die Krise hat – insbesondere
auf die Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer. Die Tragik ist die: Hunderttausende
Menschen sind arbeitslos
geworden, Hunderttausende sind in
Kurzarbeit und viele Zehntausende sind
in Quarantäne.
Bleiben wir bei den Zahlen: Wie viel
hat Corona denn die Stadt Wien bisher
gekostet?
Bis dato hat Corona rund 500 Millionen
Euro gekostet. Ich glaube, dass jeder
Euro, der jetzt in das Thema Arbeit investiert
wird, ein doppelter ist. Wien ist eine
Von Delna Antia-Tatić, Fotos: Zoe Opratko
junge Stadt, viele junge Familien sind
betroffen, die jetzt unsere Unterstützung
ganz besonders brauchen.
Trotz dieser halben Milliarde Euro
zusätzlicher Ausgaben hört ein jeder von
individuellen Pleiten und von Hilfen, die
nicht ankommen. Frustriert Sie das?
Persönlich gehen mir diese menschlichen
Schicksale besonders ans Herz.
Es ist auch schmerzhaft zu sehen, wie
viele Einpersonenunternehmen (EPUs)
und Kleinunternehmen mit dieser Krise
in eine Schräglage gekommen sind. Im
beruflichen und politischen Bereich ist
aber jetzt auch die Zeit, um mit kreativen
Lösungen in der Wirtschaft neue Projekte
voranzutreiben.
Sehen Sie es als Ihre Aufgabe die
Wiener*innen vor einem wirtschaftlichen
Ruin zu „retten“ – oder inwieweit ist das
in einer Pandemie individuelles Schicksal?
Nein, es kann nie individuelles Schicksal
sein. Wir alle haben uns als Ziel gesetzt,
niemanden in Wien zurückzulassen.
Wenn wir diese Ansage ernsthaft leben,
haben wir den Schulterschluss mit jenen
Gruppen zu finden, die jetzt in der Krise
besonders betroffen sind: Das sind
die EPUs, die kleinen Gesellschaften,
das sind die Branchen vom Handel,
Tourismus und Kongressbereich – und
das ist der gesamte Kulturbereich, der
zum Erliegen gekommen ist. Das sind
tausende Einzelschicksale. Da müssen
wir versuchen, jetzt Lösungen zu finden
– und das tun wir.
Wie sehen solche Lösungen aus?
Wir haben in den letzten 12 Monaten
vier Corona-Hilfspakete geschnürt – und
ich befürchte, das hat noch kein Ende,
sondern glaube, dass weitere Unterstützungen
notwendig sein werden. Wir
versuchen, zusätzlich den Kultursommer
wieder auszurufen, wir werden über
sechs Millionen Euro in die Hand nehmen,
um Künstlerinnen und Künstlern
kleinräumig die Möglichkeit des Auftritts
in den Grätzeln zu geben, damit sie auf
kleinen Bühnen und coronatauglich ihr
Programm gestalten können. Wir haben
die Vienna-Experience-Card eingeführt,
die Wien einmal von einer anderen Seite
erlebbar macht: ein Museumsbesuch
zu Nachtstunden etwa. Und darüber
hinaus planen wir die Gastro-Inseln. Das
„Aufsperren Wiens“ liegt in diesen Tagen
zwar noch in der Ferne, aber wir wollen
am Tag eins gerüstet sein und den
Schanigarten im Großen in allen Wiener
Bezirken aufsperren.
Wie ich gehört habe, muss man sich
dafür bewerben – oder ist Platz für alle
Betriebe?
Nein, es ist nicht Platz für alle. Es ist
Platz für eine Auswahl jener Betriebe, die
keinen Schanigarten haben. Wir setzen
die Aktion jedoch Monat für Monat an,
sodass wir mit einem Wechsel möglichst
viele Gastronomen berücksichtigen
können. In allen 23 Bezirken planen wir
zwei Standorte und zusammen mit dem
Schanigarten-Hotspot, dem Stadtpark,
werden insgesamt 300 Gastronomen
aufsperren können.
Wird bei der Auswahl auch die Vielfalt
der Lokale berücksichtigt – wie etwa die
Lokale der Märzstraße?
Nein, das werden wir so nicht schaffen
können. Nachdem es zwei Standorte pro
Bezirk geben soll, ist natürlich hier die
Buntheit des Bezirks schon gefragt. Die
Auswahl wird per Los unter notarieller
Beglaubigung stattfinden. Daher können
wir nicht sagen, ob sich alle wiederfinden
– aber es soll eine bunte Mischung sein.
Bleiben wir beim Vergnügen. Was unsere
Leserschaft natürlich besonders interessiert:
Wie steht es um die Clubs? Wann
kann man in Wien wieder feiern – und
gibt es dann überhaupt noch Clubs, oder
sind die dann alle schon „tot“?
Das hoffe ich nicht. Wir haben bereits
eine Club-Förderung auf Landesebene
generiert. Momentan sehen wir jedoch
keine baldige Öffnung. Es ist für diese
Branche sehr schwierig geworden
und daher überlegen wir auch, in den
nächsten Monaten hier eine weitere
Unterstützung zu geben. Denn ich weiß,
dass es – trotz Kurzarbeit und Unterstützungsleistungen
von Bund und Land
– eine unglaublich schwere Zeit für jeden
Clubbesitzer ist. Aber auch für alle Angestellten.
Trotz allem: Das Lebensgefühl
wird sich nicht ändern. Es wird hoffentlich
rasch wieder die Zeit kommen, wo
wir die Clubatmosphäre in Wien genießen
können.
Nun soll man Krisen bekanntlich für
Investitionen nützen – und auch darüber
wollen wir heute reden. Konkret über das
Ausbildungsstipendium von 400€, das
die Stadt Wien vergibt. Worum geht es
dabei genau?
Wir sehen, wie sich Branchen verändern
und dass wir gerade im Pflege- und
Gesundheitsbereich viele Tausende neue
WER IST ER?
Name: Peter Hanke
Alter: 57
Funktion: Amtsführender Stadtrat für Finanzen, Wirtschaft,
Arbeit, Internationales und Wiener Stadtwerke
Besonderes: Glaubt an einen positiven Effekt der Frauenquote
bei staatlichen Unternehmen
26 / POLITIKA /
/ POLITIKA / 27
ansprechen. Uns ist es wichtig, Fachkräfte
der Zukunft zu entwickeln, aber
auch Verantwortung zu übernehmen,
sodass es keine Corona-Generation gibt.
Wenn wir im Bereich der Arbeitslosigkeit
das Mengenverhältnis anschauen, sind
es natürlich junge Leute, die zwischen
19-24 Jahren besonders betroffen sind.
Entgeltliche Einschaltung
Foto: BMF/Adobe Stock
"Eine Frauenquote macht Sinn", so Peter Hanke beim Gespräch im Rathaus.
Stellen besetzen müssen. Auch in der
Elementarpädagogik herrscht Handlungsbedarf.
Deshalb gibt es jetzt das
Ausbildungsstipendium. Das ermöglicht,
aus einer Branche bzw. einem bestehenden
Arbeitsverhältnis, bei dem man
nicht glaubt, dass dies die große Zukunft
ist, in eine neue Branche, den Gesundheits-
und Pflegebereich, zu wechseln.
Dort brauchen wir bis 2030 über 9000
Stellen und wir wollen den Interessenten
mit dem Ausbildungsstipendium
den Umstieg leichter machen. Denn
das Arbeitslosenentgelt – das sind rund
815 Euro – ist zu wenig, wenn man eine
qualifizierte, längerfristige Ausbildung
von ein bis zwei Jahren in Angriff nimmt.
Deshalb gibt es jetzt diese 400€ pro
Person, pro Monat, die es einem ermöglichen
sollten, den Umstieg in einen
neuen Job mit einer sicheren Zukunft zu
gewähren.
Bekomme ich das Stipendium von 400€
nur, wenn ich arbeitslos gemeldet bin?
Sagen wir, ich bin eine Kellnerin in Kurzarbeit
und möchte umsatteln, bekomme
ich die 400€ dann auch?
Wenn die Kellnerin eine Pflegeassistenz
anstrebt, dann muss sie die Ausbildungszeit
von einem Jahr vollständig in die
Ausbildung investieren, das bedeutet,
sie wird keinen anderen Job ausüben
können. Damit bekommt sie vom AMS
automatisch 815 Euro, bekommt dann
noch 400 Euro Stipendium dazu und mit
1200 Euro netto kann man sich dieses
Überbrückungsjahr leisten. Denn das
ist mein Anliegen: Dass sich ein Familienvater,
eine alleinerziehende Mutter
diese Veränderung leisten kann und die
Chance auf einen Job mit Karrieremöglichkeit
erhält.
Die Krise betrifft auch stark jene, die zum
ersten Mal einen Fuß in die Arbeitswelt
setzen. Stichwort Lehre. Wie viele junge
Wiener*innen suchen derzeit einen Lehrstellenplatz?
Es sind mehr als 3000 und wir können
einer Vielzahl einen guten Ausbildungsplatz
in unseren eigenen Strukturen
ermöglichen. Wir haben hier aufgestockt.
Wir nehmen jetzt bei den Wiener
Stadtwerken 150 neue Lehrlinge auf und
wollen insbesondere auch junge Frauen
Mädchen werden seit Jahren besonders
dazu aufgerufen, sich für Jobs in
techniknahen Berufsfeldern zu interessieren.
Was halten Sie denn von einer
Frauenquote, zumindest in den großen
staatsnahen Betrieben? Und wo stehen
wir derzeit bei 15.000 Mitarbeiter*innen
bei den Stadtwerken?
Bei den Stadtwerken liegt der Anteil an
Frauen bei rund 20 Prozent. Ich glaube,
dass eine Frauenquote Sinn macht – weil
wir einfach die Durchmischung zu erhöhen
haben. Aber eines ist auch klar: Gut
qualifizierte Frauen werden immer ihren
Weg finden und sie werden ihre Chance
am Arbeitsmarkt haben. Dennoch glaube
ich auch, dass staatliche Systeme aufgerufen
sind, hier noch mal nachzubessern
und in ihren eigenen Unternehmen den
Frauenanteil erhöhen sollten.
Letzte Frage: Sie werden medial gern als
„Sir“ beschrieben. Woher kommt diese
Bezeichnung? Sind Sie ein besonderer
Gentleman, Teetrinker – gefällt Ihnen das
Image?
Mir gefällt der Respekt anderen Menschen
gegenüber und ich versuche
kultiviert, mit Vernunft und Weitblick
aufzutreten. Ich bin nicht der klassische
Politiker, ich habe Jahrzehnte in der Wirtschaft
gearbeitet, habe mich dort sehr
wohl gefühlt und mache diesen Job nun
mit Überzeugung. Vieles, das ich da an
Erfahrungen gesammelt habe, kann ich
jetzt auch umsetzen. Ich versuche, meinen
Tonfall den Themen der Sachlichkeit
anzupassen, und bin daher vielleicht
nicht so in marktschreierischen Gazetten
zu lesen wie andere. Am Ende ist es
meine Art, Politik zu machen, zu der ich
stehe und mit der ich glaube, meinen
Beitrag in dieser Stadtregierung leisten
zu können.
bmf.gv.at/corona
Ausfallsbonus
Erhöhte Hilfe erstmals
seit 16. April beantragbar
• Statt 30 %, werden für März und April jeweils insgesamt bis
zu 45 % des Umsatzes ersetzt, max. 80.000 Euro pro Monat
• Kann bereits ab 40 % Umsatzausfall über FinanzOnline
beantragt werden
28 / POLITIKA /
Alle Informationen auf bmf.gv.at/corona oder unter 050 233 770
„Nicht mehr lernen,
Mama!“
Wickeltisch statt WG-Party: Der Alltag als
alleinerziehende Studentin ist kein Kinderspiel.
Von Sandra Schmidhofer, Fotos: Zoe Opratko
Nicht mehr lernen, Mama“, ruft meine Tochter.
Tränen laufen über ihr Gesicht. Omas Beruhigungsversuche
helfen nicht mehr. Es ist der
fünfte Tag in Folge, an dem ich von morgens bis
abends an meinem Laptop sitze, denn in wenigen Tagen ist
Abgabetermin. Mit meinem Kind, das noch keine zwei Jahre
alt ist, habe ich seit Tagen nur in meinen Schreibpausen
gespielt. So läuft es jedes Mal, wenn ich eine Seminararbeit
abgeben oder für Prüfungen lernen muss.
Ich war gerade im dritten Semester meines Bachelorstudiums
in Kultur- und Sozialanthropologie, als ich schwanger
wurde. Damals war ich 21 Jahre alt und von Beginn an
alleinerziehend. Und damit war ich nicht alleine: 7,5 % aller
österreichischen Student:innen haben Kinder. Das ergibt die
Studierenden-Sozialerhebung 2019. Das sind in etwa 22.400
Personen. Alleinerziehend sind etwa 2.800
Studierende, darunter fast nur Frauen.
Auch bei meinen alleinerziehenden
Freundinnen Corinna und Katharina, 30 und
24 Jahre alt, hat sich während des Studiums
Nachwuchs angekündigt. Katharina hat
genauso wie ich Kultur- und Sozialanthropologie
studiert, Corinna Spanisch und Französisch
auf Lehramt. Unser Alltag auf der Uni
hat sich mit der Geburt schlagartig geändert.
„Bis kurz vor dem Entbindungstermin
habe ich Seminararbeiten geschrieben, eine
davon musste ich in den Wochen nach der
Geburt fertigstellen“, erzählt Katharina. Das
30 / RAMBAZAMBA /
„
Ohne Kinder hätte
ich mein Studium
2019 abgeschlossen.
Jetzt haben
wir 2021 und ich
bin immer noch
nicht fertig.
“
war auch bei mir so. Ausruhen im Wochenbett? Ja, mit Baby
im Arm und Laptop am Schoß. Denn Deadline ist Deadline,
auch wenn man gerade ein Baby bekommen hat.
KEINE KLASSISCHE KARENZZEIT
Kurze Zeit später saß ich schon wieder im Hörsaal. Meine
Tochter war zwei Monate alt und blieb während der wenigen
Lehrveranstaltungen, die mir noch gefehlt haben, meistens
mit Oma zuhause. 2019 schloss ich mein Studium ab. Aber
der Weg war kein leichter - wie bei Corinna. Sie hat ebenfalls
zwei Monate nach der Geburt ihrer Drillinge wieder angefangen,
für Prüfungen zu lernen. Katharina hingegen blieb ein
Jahr zuhause. Ein schlechtes Gewissen hatten wir alle. Egal
ob zwei oder zehn Monate: Die Zeit mit dem Baby war zu
kurz.
„Warum sind wir nicht länger zuhause
geblieben?“, frage ich beide. „Ich habe
jetzt einen Menschen mehr, für den ich
sorgen muss. Da wollte ich schnell fertig
werden, um finanziell besser aufgestellt
zu sein. Ich hatte auch das Gefühl, dass
die Gesellschaft von mir erwartet, mein
Studium möglichst bald zu beenden. Es
gibt schließlich viele Vorurteile gegenüber
jungen Müttern ohne Job und ohne abgeschlossene
Ausbildung“, erzählt Katharina.
Jaja, ATV‘s „Teenager werden Mütter“ lässt
grüßen. „Gleichzeitig wird aber erwartet“,
fährt Katharina fort, „dass man so lange
„
Da sich Lehrveranstaltungszeiten
jedes Semester
ändern, muss alle
paar Monate neu
organisiert werden.
“
Sandra, 25, Autorin, Mutter
und alleinerziehende
Studierende.
/ RAMBAZAMBA / 31
Die Doppelbelastung fordert manchmal ihren Schlafzoll.
wie möglich mit dem Kind zuhause bleibt.“ Die schnelle
Rückkehr zur Uni hatte für uns trotzdem was Bereicherndes.
Durch das Studieren konnten wir einen Teil unseres „alten“
Lebens behalten. Leichter wurde es deswegen nicht, ganz im
Gegenteil.
In einer Facebookgruppe studierender Eltern der Universität
Wien tauschen sich Jungmütter darüber aus, wie
Studieren mit Baby in der Praxis am besten funktioniert.
Einige Mütter erzählen, dass sie ihr Baby im Tragetuch mit
in die Vorlesung bringen. Bei anderen
warten Kind und Betreuungsperson vor dem
Hörsaal. Als ich das lese, fühle ich mich
erleichtert. Corinna, Katharina und ich sind
nicht alleine!
„KOMMST DU MIT AUF
EIN BIER?“
Student:in sein ist mehr als nur Studieren.
Jedenfalls vor der Pandemie. „WG-Leben,
auf Partys gehen, sich selbst finden. Sich
vielleicht politisch oder sozial engagieren,
eine Weltreise machen. Das alles gehört
für mich zum Unileben dazu. Bei mir ist das
weggefallen“, so Katharina. Wenn mich
Studienkolleg:innen fragten „Kommst du
„
In Wien gibt es
knapp 25 Eltern-
Kind-Cafés,
aber die größte
Hochschule
Österreichs
scheitert an einer
Umsetzung?
“
mit auf ein Bier?“, musste ich meistens ablehnen. Nicht, weil
ich keine Lust gehabt hätte. Nicht, weil ich nicht gerne mit
Unikolleg:innen Freundschaften schließen wollte. Sondern
weil ich nachhause zu meinem Baby wollte.
Im Uni-Alltag aus Vorlesungen und Seminaren beschäftigt
uns Alleinerziehende allerdings diese Frage am meisten:
Wer passt auf die Kinder auf? Regelmäßige Betreuung gibt
es in Kindergärten, Schulen und Horten. Doch wohin mit den
Kleinen, wenn Seminare am späten Nachmittag, Übungen
am Abend und Blockveranstaltungen am Wochenende
stattfinden? Corinna und ich haben Familie und Freundinnen
in der Nähe, die gerne aufpassen. Das ist ein Riesenvorteil.
Doch der gute Wille alleine reicht nicht aus. Die Frage, ob
Oma oder die Freundin auf mein Kind aufpassen können,
hängt auch von deren Berufstätigkeit, Gesundheit und
Belastbarkeit ab. Da sich Lehrveranstaltungszeiten jedes
Semester ändern, muss alle paar Monate neu organisiert
werden. Da kann es auch passieren, dass mal keiner Zeit
hat. Und was dann? „Mich hat man schon gefragt, warum
ich mir keine Nanny nehme. Wie soll ich mir das bitte leisten
können?“, fragt Corinna ein wenig belustigt, den Vorschlag
findet sie absurd. Laut Studierenden-Sozialerhebung
können 61 % der alleinerziehenden Studierenden keine:n
Babysitter:in finanzieren. Für Studierende mit Kindern ist es
so fast unmöglich, das Studium ohne Verzögerungen abzuschließen.
Wer keine Betreuung findet, kann nicht zur Lehrveranstaltung
und nicht für die Prüfung lernen. Chronischer
Schlafmangel, weil das Baby nachts ständig aufwacht, macht
weniger leistungsfähig. Und wenn das Kleinkind im Winter
alle zwei Wochen krank ist, kommt man auch nicht wirklich
voran. Corinna kann davon ein Lied singen: „Ohne Kinder
hätte ich mein Studium 2019 abgeschlossen. Jetzt haben wir
2021 und ich bin immer noch nicht fertig.“ Warum sind wir
eigentlich so abhängig von unserem privaten Umfeld? Wo ist
die Unterstützung durch die Universität?
BREMEN ZEIGT, WIE‘S GEHT
Dass es nicht so sein muss, zeigt ein Blick zu unseren
nördlichen Nachbarn. Katharina studiert nicht mehr in Wien,
sondern an der Universität Bremen in Deutschland. „Hier
gibt es vier Unikindergärten. Pädagogik-Studierende bieten
kostenlose, flexible Kinderbetreuung an
und bekommen dafür ECTS-Punkte. Es gibt
Betreuungsräume für Kinder, einen großen
Spielplatz in der Mensa, Kinder essen
gratis.“ Wow! Was für mich wie ein Märchen
klingt, ist für meine Freundin Realität.
Von Angeboten wie diesen kann man in
Wien nur träumen. Uni-Kindergärten haben
zu wenig Plätze, außerdem sind sie fast
doppelt so teuer wie städtische Kindergärten.
Was vor allem fehlt: Eine Möglichkeit,
Kinder spontan und für kurze Zeit betreuen
zu lassen, ohne dabei pleite zu gehen.
Wenn ich bei Ikea ein neues Sofa kaufe,
geht das. Dort gibt es nämlich einen Kinderbereich.
Wenn ich am späten Nachmittag
STUDIEREN
MUSS MAN SICH
LEISTEN KÖNNEN
Viele Studierende gehen nebenbei arbeiten.
Für Alleinerziehende ist das schwierig. Die
Studierenden-Sozialerhebung zeigt, dass
Student:innen mit Kindern im Schnitt 71
Wochenstunden für Studium und Kinderbetreuung
aufwenden. Für sozialbedürftige
Studierende gibt es die Möglichkeit, Studienbeihilfe
zu beantragen. Ob ein:e Student:in
als sozialbedürftig gilt, hängt vor allem vom
Gehalt der Eltern ab. Für das Selbsterhalterstipendium
muss man mindestens vier
Jahre gearbeitet haben. Wer die Kriterien
nicht erfüllt, von der eigenen Familie aber
finanziell nicht unterstützt wird, muss im
schlimmsten Fall das Studium schmeißen.
Bei Louise, einer ehemaligen BOKU-Studentin,
war das so: „Mir haben nur noch
ein paar Prüfungen gefehlt. Ich fand keine
Arbeit, die mit Studium und Kinderbetreuung
vereinbar gewesen wäre. Auf Studienbeihilfe
hatte ich auch keinen Anspruch, Mindestsicherung
bekommt man keine, wenn man
studiert. Ich habe mein Studium dann nicht
abgeschlossen, weil ich es mir nicht leisten
konnte.“
32 / RAMBAZAMBA /
/ RAMBAZAMBA / 33
zum Bachelor-Seminar muss, geht das nicht - denn
Platz für Kinder gibt es an den Universitäten nicht.
Ich habe bei den zuständigen Stellen der Uni Wien
nachgefragt, warum das so ist. Die Antworten sind
ernüchternd: Eine flexible Kinderbetreuung scheitere
an einer schwierigen Gesetzeslage, sagt mir Karoline
Iber, eine Mitarbeiterin des Rektorats der Universität
Wien. Einen Lernraum für Studierende mit Kindern
gibt es aus Versicherungsgründen nicht. Wirklich
nachvollziehen kann ich das nicht. In Wien gibt es
knapp 25 Eltern-Kind-Cafés, aber die größte Hochschule
Österreichs schafft die Umsetzung eines notwendigen
Angebots aus „versicherungstechnischen
Gründen“ nicht? Auch die anderen Hochschulen in
Wien haben diesbezüglich wenig zu bieten. Studierenden
mit Kindern unter die Arme zu greifen, scheint
auf der Prioritätenliste nicht weit oben zu stehen.
SO KANN ES NICHT WEITERGEHEN
„Ich würde so gerne nach dem Diplomstudium weiter
studieren“, erzählt Corinna, „aber ich schaffe das
nicht mehr. Die körperliche und mentale Belastung ist
zu hoch.“ Ich habe mir schon nach meinem Bachelor-
Abschluss gedacht: „Noch zwei Jahre für den Master
packe ich nicht.“ Mehr Unterstützung würde vieles
erleichtern. Das, was Universitäten bisher bieten–
(teure) Unikindergärten, Betreuung während der
Ferien, Still- und Wickelräume, Infobroschüren, Vernetzungsgruppen
für Studierende mit Kind(ern) – ist
toll, es reicht aber nicht aus. Ausreden ziehen nicht
mehr. Woran es uns fehlt, wird schließlich seit Jahren
erhoben. Da muss mehr gehen! ●
NACHGEFRAGT
IM BÜRO VON
BILDUNGSMINISTER
HEINZ FASSMANN:
Was macht das Bildungsministerium, um
vor allem alleinerziehenden Müttern das
Studieren zu erleichtern?
Es gibt bereits seit mehreren Jahren
Maßnahmen, die die besondere Situation
von Studierenden mit Kindern
berücksichtigen.Erhöhte Altersgrenze
für Studierende mit Kind(ern) (35
statt 30 Jahre); Berücksichtigung von
Schwangerschaft und Kindererziehung
als Gründe für die Verlängerung der
Anspruchsdauer und diverser anderer
studienförderungsrechtlicher Fristen.
Studierende mit Kind(ern) erhalten unabhängig
von ihrem Alter und Wohnsitz die
Höchststudienbeihilfe. Zusätzlich erhalten
sie für jedes Kind einen Zuschlag
von 112 Euro monatlich. Studierende
mit Kind(ern), die sich in der Studienabschlussphase
befinden, erhalten einen
Zuschuss zu den Kinderbetreuungskosten.
Für die Bemessung des Anspruchs auf
Studienbeihilfe wird das Gehalt der Eltern
herangezogen. Gibt es hier Sonderregelungen
für Studierende mit Kindern? Die
Lebenserhaltungskosten von Studierenden
mit und ohne Kinder unterscheiden
sich ja stark.
Das Studienförderungsgesetz enthält
Sonderregelungen für die Beurteilung
der sozialen Förderungswürdigkeit von
Studierenden mit Kind(ern): Bei diesen
dürfen die Eltern etwas mehr verdienen.
Somit ist nicht nur die Studienbeihilfe
von Studierenden mit Kind(ern) höher,
Auf ein Bier spontan nach der Vorlesung? Nicht, wenn die
Tochter vom Kindergarten abgeholt werden muss.
sie haben auch bei etwas höherem
Einkommen der Eltern eher noch eine
Chance auf Studienbeihilfe.
Warum gibt es keinen generellen
Anspruch auf Studienbeihilfe für Alleinerziehende?
Die soziale Förderungswürdigkeit ist in
erster Linie vom Einkommen der Eltern
der Studierenden abhängig. Die Unterhaltspflicht
der Eltern gegenüber studierenden
Kindern endet nicht, wenn diese
selbst ein Kind haben. Eine generelle
Förderung aller Studierenden mit Kindern
(oder auch nur aller Alleinerziehenden)
unabhängig von der wirtschaftlichen
Leistungsfähigkeit der unterhaltspflichtigen
Eltern würde den Prinzipien des
österreichischen Studienförderungsrechts
widersprechen.
© Marko Mestrovic, HUAWEI Technologies, Popori Acoustics, Twitter/SpaceX
MEINUNG
Der Staat kann
nicht mit Daten
umgehen
Eigentlich wäre es sehr einfach gewesen,
eine umfassende Impfkampagne
zu organsieren. Der Staat hat alle
Daten, die es dafür braucht: Sozialversicherungsnummern
enthalten
Geburstage und Krankenakten. Es sind
zwei Excelsheets, die man miteinander
vergleichen muss, plus die Menge an
Impfdosen die man zur Verfügung hat
- das ergibt einen vorraussichtlichen
Impfzeitpunkt. Klar, ich mache es mir
hier zu einfach – der Daten- und Patientenschutz.
muss beachtet werden.
Trotzdem ist ein gewisser Frust bei der
Bevölkerung zu verstehen. Man kann
nur hoffen, dass mit dem neuen Impfstoff
von Johnson&Johnson nun endlich
was weitergeht. Beruhigend ist, dass
Astrazeneca nach wie vor sicher ist. Die
Wahrscheinlichkeit, schwere Nebenwirkungen
zu erleiden ist viel geringer,
als bei einer „natürlichen“ Corona-
Erkrankung auf die Intensivstation zu
müssen. Lassen wir uns nicht von einer
Medienhysterie verrückt machen – alle
zugelassenen Impfstoffe sind wirksam
und gut verträglich. Ein Restrisiko bleibt
immer – bei allem. Das nennt man
umgangssprachlich einfach „leben“.
bezeczky@dasbiber.at
TECHNIK & MOBIL
Alt+F4 und der Tag gehört dir.
Von Adam Bezeczky
Edel-Lautsprecher
aus Ungarn
Hauchdünn, soundstark
und ganz ungewöhnlich:
das sind die
Merkmale des Popori
Acoustics WR1 Lautsprechers.
Basierend
auf dem elektrostatischen
Prinzip werden
Töne über Schwingung
einer Membran erzeugt.
Egal wie laut oder leise,
die Töne spielen glaskar
ohne Verzerrungen.
Einziges Manko des
Lautsprechers ist der
Preis: ab umgerechnet
35.000 Euro zu haben...
Russland und China
wollen Mondbasis
Die beiden östlichen Supermächte machen
im Weltraum gemeinsame Sache. Zusammen
möchten sie auf dem Mond eine Basis erricheten.
Bisher haben nur Menschen aus den USA
den Mond betreten, nun sollen Kosmo- und Taikonauten
(so nennt man RaumfahrerInnen aus
diesen Ländern) auf dem Erdtrabanten landen,
leben und forschen. Passend dazu auf Apple+
die Serie "For all mankind".
GUTER SOUND
MUSS NICHT
TEUER SEIN
Der chinesische Mobilfunkriese
Huawei hat
mit den neuen Huawei
FreeBuds 4i neue in-Ear
Kopfhörer vorgestellt, die
dem Rivalen aus Cupertino
das Fürchten lehren sollen.
Mit aktiver Geräuschunterdrückung
sollen sie 7.5
Stunden mit einer Ladung
auskommen und mit dem
neuen Bluetooth Funkstandard
5.2 funktioniert auch
die Soundübertragung gut.
Neben diesen Features
springt auch der Preis ins
Auge: für unter 100 Euro
gibt’s eigentlich nichts zu
meckern. Erhältlich in den
Farben weiß, schwarz und
rot.
34 / RAMBAZAMBA /
/ TECHNIK / 35
BEZAHLTE ANZEIGE
BEZAHLTE ANZEIGE
Eure Hausverwaltung
verlangt Bußgeld wegen
vermeintlicher Verstöße
gegen Corona-Maßnahmen?
Auf der Suche
nach leistbaren
vier Wänden?
SCHON GEWUSST?
Über 60 Prozent der WienerInnen
leben in einer Gemeindewohnung
oder geförderten Wohnung.
Jetzt die MieterHilfe fragen!
Die Wohnberatung Wien hilft!
Seit Beginn der Coronakrise steigt der Bedarf nach
rechtlicher Unterstützung rund ums Thema Wohnen.
Egal ob bei Ansuchen nach Mietreduktion, bei
Räumungsaufschüben oder Vertragsverlängerungen
– unter der Webseite mieterhilfe.at finden WienerInnen
rechtlich einwandfreie Musterbriefe, die kostenlos
zum Download zur Verfügung stehen.
MIETERHILFE –
KOSTENLOS & KOMPETENT
Fragen zu Wohn- und Mietrecht, Wohnungsgemeinnützigkeitsrecht
sowie Wohnungseigentumsrecht?
Die ExpertInnen der MieterHilfe
stehen telefonisch unter 01/4000 8000 von
Mo-Fr in der Zeit von 9-16 Uhr zur Verfügung.
Die MieterHilfe ist eine kostenlose Serviceeinrichtung
der Stadt Wien und stellt online ein hilfreiches
Glossar zu Fachbegriffen sowie Mustermietverträge
und Fallbeispiele zur Verfügung. Und auch offline
können WienerInnen das Team der MieterHilfe für
Beratungen kostenlos telefonisch und per E-Mail
befragen.
Gerade in Pandemiezeiten wächst bei vielen
Menschen der Wunsch nach den eigenen vier
Wänden. Die Wohnberatung Wien steht mit
einem großen Beratungsangebot zur Seite. Egal
ob geförderte Miet- und Genossenschaftswohnungen,
geförderte Eigentumswohnungen,
gefördert sanierte Wohnungen, wiedervermietete
Wohnungen oder Gemeindewohnungen –
für jeden ist etwas dabei.
Online unter wohnberatung-wien.at möglich:
→ Anmeldung für das Wiener Wohn-Ticket
→ Hochladen aller Unterlagen
→ Online-Suche nach der eigenen Gemeindewohnung
oder geförderten Wohnung
→ Individuelle Präferenzen und Angebote unter
dem Suchprofil speichern
Jetzt online:
Mietzinsrechner, Downloads wie Mustermietverträge
und Stundungsaufschub und mietrechtliches
Glossar mit vielen Beispielen unter:
www.mieterhilfe.at
© Jenny Fetz, © Ludwig Schedl
Noch Fragen?
Die MitarbeiterInnen der Wohnberatung Wien
stehen für persönliche Beratung telefonisch
Mo–Fr in der Zeit von 7–20 Uhr unter
01/24 111 zur Verfügung.
DER TÜRKISCHE ALBTRAUM:
Wenn die Tochter auszieht
Mit 19 zog Autorin Naz Kücüktekin von Zuhause aus. Was in
Österreich für viele so normal ist, war für sie lange nur ein unrealistischer
Traum, den sie sich hart erkämpfen musste. Und das,
obwohl ihre Eltern zu der “liberaleren Sorte Türken” gehören.
Von Naz Kücüktekin, Illustrationen: Linda Steiner
© Andrea Zapanta Scharf
Irgendwann in der Oberstufe sollten wir in der Schule auf
die Tafel schreiben, was wir uns von unserem späteren
Leben wünschen. Die anderen schrieben Sachen wie
eine glückliche Familie, eine erfolgreiche Karriere oder
ein großes Haus hin. Ich schrieb Unabhängigkeit hin. Ich kann
mich daran erinnern, als wäre es gestern gewesen. Auch daran,
dass ich mich danach fragte, ob ich diese Unabhängigkeit
wohl je erreichen würde. Als Kind ist es normal, dass Eltern
für dich Entscheidungen treffen. Irgendwann sollte dann aber
doch der Zeitpunkt kommen, wo ein erwachsener Mensch
selbst bestimmen kann, wie er oder sie lebt. Nun ja, in meiner
Familie wäre dieser Zeitpunkt aber nie gekommen.
„DANN BIST DU FÜR UNS GESTORBEN“
Meine Eltern kommen aus einer kleinen Küstenstadt am
Schwarzmeer. Für türkische Verhältnisse ist das wahrscheinlich
eine der Regionen, die halbwegs liberal ist. Eine Region,
wo man im Sommer im Bikini am Strand liegt und abends Raki
zu seinem Fisch trinkt. Meine Eltern und Familie passen da
ganz gut hin. Ich würde sie weder als besonders konservativ
noch als sehr religiös bezeichnen. Ich durfte auf jede Klassenfahrt
mitfahren, anziehen, was ich wollte, fortgehen, Alkohol
trinken – alles kein Problem. Als ich meinen Eltern erzählte,
dass ich mich als Atheistin sehe, war die Antwort nur: OK,
aber erzähl es bitte nicht deiner Oma. Doch wenn es darum
ging, dass ich bei Freunden schlafe, einen Freund habe oder
ein Tampon benutze – da stießen meine Eltern aber doch sehr
schnell an ihre Grenzen. In eine eigene Wohnung ziehen zu
wollen, gehörte da auch dazu.
Das Elternhaus zu verlassen, vor allem als Frau, ist in der
türkischen Kultur auch heutzutage Großteils noch ein Tabu.
Die einzigen legitimen Umstände sind, wenn man heiratet oder
fürs Studium oder Arbeit an einen anderen Ort ziehen muss.
Dass man in derselben Stadt wie seine Eltern lebt, aber eine
eigene Wohnung hat, wirft schnell mal die Frage auf: „Warum
brauchst du eine eigene Wohnung?“ Wobei der eigentliche
Subtext dieser Frage ist: „Warum brauchst du eine eigene
Wohnung? Du hast doch bestimmt etwas Unsittliches vor!“
Studieren, bis 30 zu Hause zu leben und dann zu heiraten,
wären auch meine auferlegten Aussichten gewesen.
Genau solche Ansichten machten neben der Tatsache,
dass ich mir ein Zimmer mit meinem Bruder teilte und mich
mit meinen Eltern nicht besonders gut verstand, meinen
Wunsch nach den eigenen vier Wänden aber nur noch größer.
Anfangs lächelten meine Eltern diesen Wunsch noch ab.
„Jaja, mach nur“, sagten sie dann oft, überzeugt davon, dass
ich es sowieso nicht schaffen werde. Zugegeben, es ist auch
wirklich schwer, auszuziehen, wenn man null Unterstützung
hat – weder finanziell noch sonst irgendwie. Ich suchte mir
im ersten Jahr meines Studiums also einen Job und legte
über Monate hinweg jeden Cent beiseite. Später lernte ich
meine jetzige Mitbewohnerin kennen, und wir beschlossen,
uns gemeinsam eine Wohnung zu suchen. Als wir dann auch
begannen, zu Besichtigungen zu gehen, kippte die Stimmung
meiner Eltern sehr schnell. „Wenn du ausziehst, ist es aus,
dann bist du für uns gestorben“, drohte mir mein Vater. Meine
Mutter sagte dann oft einfach gar nichts mehr. Insgeheim
wusste ich immer, dass sie das eher sagen, um mich davon
abzuhalten. Aber selbst wenn, wäre es mir egal gewesen.
Im Sommer 2015 zog ich mit 19 Jahren aus. In eine winzige
Wohnung. Und konnte kaum glücklicher sein.
“WAS, DAS MÄDCHEN IST AUSGEZOGEN?
ALLEINE?“
Meine Entscheidung ist in meiner Familie heute noch umstritten.
Meine Eltern machten ihre Drohung, wie erwartet, nicht
wahr und halfen mir sogar bei meinem Auszug. Dennoch wurde
mir immer wieder vorgeworfen, ich hätte meine Familie „im
Stich gelassen“ und mich von ihnen abgewandt. Sie werden
wahrscheinlich nie verstehen, dass ich mich lediglich für mich
entschieden habe. Nicht gegen sie.
Von meinem Bruder erfuhr ich Jahre später, dass sie
38 / RAMBAZAMBA /
/ RAMBAZAMBA / 39
davon ausgingen, ich würde
es alleine eh nicht schaffen
und wieder zurückkommen.
Irgendwann akzeptierten sie
es aber wohl, oder zumindest
die Tatsache, dass sie
nichts daran ändern konnten.
Dass ich nicht mit ihnen
wohne, ist mittlerweile kein
Thema mehr und unser
Verhältnis nicht großartig
anders als zuvor – eher
oberflächlich. Für mehr sind
wir, glaube ich, einfach zu verschieden. Auszug hin oder her.
Eine andere Tante erzählte mir, dass es ihrer Schwester,
also meiner anderen Tante, auch oft unangenehm sei, wenn
Bekannte oder andere Verwandte nach mir fragen und sie
dann das Thema wechselt. „Was, das Mädchen ist ausgezogen.
Alleine?“
Andere in meiner Familie aber bewunderten mich für meine
„Stärke“. Manche beneiden mich sogar. Die Frau meines
Onkels erzählte mir kurz nach meinem Auszug, dass sie auch
am liebsten schon Anfang 20 ihr Elternhaus verlassen hätte.
Ihre Worte dazu hallen bis heute noch in meinen Ohren: „Bei
uns bist du einfach nie ein Individuum. Entweder du heiratest
und wirst die Frau von jemanden, oder du bleibst halt die
Tochter oder die Schwester. Nicht mal einen eigenen Haushalt
kriegt man.“ Ich glaube, treffender hätte man es nicht formulieren
können.
Wenn ich zurückblicke,
habe ich auch das Gefühl,
dass mein Leben erst so
richtig mit meinem Auszug
vor sechs Jahren losging.
Ich war niemanden mehr
Rechenschaft schuldig, wie
lange ich wegbleibe, wo ich
hingehe. Ich musste nicht
mehr aufpassen, was ich
erzähle. Ich lernte meinen
Freund kennen und konnte
meine Beziehung so führen,
wie ich es wollte. Für all diese Freiheiten musste ich aber viel
auf mich nehmen, mein Leben komplett selbst auf die Reihe
kriegen. Während die meisten meiner studierenden Freundinnen
und Freunde monatlich Geld von Papa und Mama aufs
Konto überwiesen bekamen, arbeitete ich teilweise in drei
Jobs gleichzeitig, um meine Miete bezahlen zu können. Den
Anker „Eltern“ hatte ich ab dem Zeitpunkt meines Umzugs
nicht mehr.
Meine Entscheidung auszuziehen habe ich trotzdem keinen
einzigen Moment bereut oder je zurückgeblickt. Vor allem,
weil ich auch weiß, dass ich viel Glück habe. Ich weiß, dass
es viele Frauen gibt, die nicht einfach so ausziehen können,
die von ihren Familien verfolgt werden würden. Ich weiß, dass
Selbstbestimmung für viele Frauen, auch in Österreich, nur ein
Traum bleibt. ●
Folge biber auf
für noch mehr
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© Zoe Opratko, Neutrogena, Selfmade, BPA / Action Press / picturedesk.com
MEINUNG
Botox und
Untergrund
Ich werde in einem Jahr 30. Das
bedeutet in Ostblock-Jahren
gerechnet circa 60. Zumindest was
Schönheits-OPs angeht. Während
hierzulande auf ungeschminkte
Natürlichkeit gepocht wird, nimmt
die Anzahl meiner polnischen
Freundinnen, die noch „all natural“
sind, stetig ab: Es scheint, als hätte
Hyaluronsäure die Heirat vor 30 in
Polen abgelöst: Ob Lippen, Augenpartie
oder Stirn – gefühlt jede hat
schon etwas „nachgeholfen“. Und
wisst ihr was? Ich bin ur neidisch.
Es ist kein Geheimnis, dass ich
zwei große Träume im Leben habe:
Irgendeinen shady Unterwelt-
Skandal aufdecken, für den ich
bereit bin, mein Leben zu riskieren.
Und: Endlich meine Augenringe
liften lassen. Aber das eine geht
nicht ohne das andere. Deshalb
bitte, spielt mir Quellen, Dokumente,
Telefonnummern aus zwielichtigen
Milieus zu. Dann werde
ich berühmt und habe das Geld,
mein Gesicht standesgemäß zu
präsentieren. Macht Sinn, oder?
Am besten halt noch, bevor ich 30
werde. Ihr wisst ja, der Ostblock
verzeiht nicht.
tulej@dasbiber.at
LIFE & STYLE
Mache mir die Welt,
wie sie mir gefällt
Von Aleksandra Tulej
GOOD TO GLOW
Es steht „Glow“ und „Boost“
drauf. Die zwei Worte haben
auf mich dieselbe Wirkung
wie „Döner“ und „mit Scharf“:
Ich bin gleich interessiert.
Wie an dem neuen revitalisierenden
Glow-Boost-Serum
von Neutrogena. Es aktiviert
den natürlichen Hauterneuerungsprozess
und liefert eine
strahlende Haut. Es riecht gut
und man spürt es kaum auf der
Haut. Übrigens ist die ganze
neue Glow Boost-Serie von
Neutrogena ziemlich cool: Peeling,
Gesichtscreme und LSF 30
Fluid – meine Haut ist nach dem
Winter immer voll ausgetrocknet,
da kommt das sehr gelegen.
Watch me glow. Oder so.
MACHS EINFACH SELBST
An alle, die durch die gefühlt tausend Lockdowns
zu DIY-Talenten wurden: Geht euch nach einem
Jahr die Inspiration aus? Im SELFMADE Store in
Wien im Gewerbepark Stadlau könnt ihr euch alles
holen, was euer DIY-Herz begehrt. Neben Nähmaschinen.
einer großen Auswahl an Stoffen, Wolle,
Garnen und weiteren Nähmaterialien findet ihr
auch Schnittmuster sowie weitere DIY-Utensilien.
Do it yourself!
Nostalgie
GOLD ODER
GAR NICHT
Vergesst bitte alle diese
schirchen braunen Louis
Vuitton-Taschen, die die Wiener
Schickeria um ca. 2006
herum am Graben herumgetragen
hat. Just go Gold.
Wie Paris Hilton mit ihrer
Miroir Alma Limited Edition
Louis Vuitton Tasche anno
2006. Fun Fact: In der 2020
erschienenen Doku „This is
Paris“ erzählt sie, dass ihre
damalige Assistentin Kim
Kardashian (der Name könnte
euch bekannt vorkommen)
sie damals gezwungen hat,
diese Tasche zu tragen –
aber es war nichts drin. Paris
hat die Metallic-Tasche einfach
leer getragen. Fazit: Ich
will das Teil bitte. Ich habe
ur viel Zeug, das ich reintun
kann, ich schwöre.
40 / RAMBAZAMBA /
/ LIFESTYLE / 41
Ceci n’est pas
un Kopftuch.
„Das hier ist kein Kopftuch“ – Das von
dem belgischen Maler René Magritte
inspirierte Projekt der Wiener Künstlerin
Asma Aiad ist eine Antwort auf die
ewige Kopftuch-Debatte.
Text: Aleksandra Tulej, Fotos: Asma Aiad
Welches Bild entsteht in unseren Köpfen, wenn wir eine
Hijabi sehen, die über ihrem Kopftuch eine blonde Perücke
trägt? Oder ein Nudelsieb auf dem Kopf? Oder ein Tuch à
la Marylin Monroe? Wieso stören die einen Bilder mehr und
die anderen weniger? Diese Fragen stellte sich die Wiener
Künstlerin Asma Aiad – inspiriert von René Magrittes
berühmtem Werk „Ceci n’est pas une pipe“ fotografierte sie
eine Bilderserie mit dem Namen „Ceci n’est pas un voile“ –
(dt. „das hier ist kein Kopftuch“).
„Ich will dem Zuseher selbst überlassen, ob er auf dem
Foto ein Kopftuch sieht oder nicht. Das was man wahrnimmt,
und welche Assoziation dabei entsteht, macht den
Unterschied.“, so die Künstlerin. Mit ihrem Projekt will
Asma die ewige Diskussion rund um das Kopftuch aufarbeiten.
Das Projekt wurde letztes Jahr als eine Installation
an der Akademie der Bildenden Künste in Wien ausgestellt,
erlangte vor kurzem aber vor allem aufgrund der Kopftuch-
Debatte in Frankreich wieder an Aktualität. „Und wieder ist
das Kopftuch Thema, und wieder wird fremdbestimmt. Und
wieder gibt es irgendwelche Gesetze, die muslimischen
Frauen vorschreiben sollen was sie tragen oder nicht tragen
sollen. Wenn es um das Kopftuch und das Bestimmen über
den Körper von Musliminnen geht, dann sind sich plötzlich
viele einig: Pseudo FeministInnen, Rechte, Islamisten, Linke
– plötzlich hat jeder eine Meinung dazu, was muslimische
Frauen tragen oder nicht tragen sollen. Aber wisst ihr was?
Nur wir bestimmen über unseren Körper!“ In Asmas Fotoserie
tragen sie unter anderem ein Nudelsieb auf dem Kopf
– was sagt ihr jetzt? Ist das jetzt ein Kopftuch? Est-ce-que
c’est un Kopftuch?
Mehr von Asmas Arbeit findet ihr auf instagram: asmaaiad
42 / RAMBAZAMBA /
/ RAMBAZAMBA / 43
Während der Uni-Zeit in einer WG mit der besten Freundin wohnen. Anziehen, was
man möchte. Rausgehen, mit wem man will. Was für die meisten Frauen Anfang
Zwanzig selbstverständlich ist, musste sich unsere tschetschenischstämmige Autorin,
die anonym bleiben möchte, erst hart erkämpfen.
WIE ICH MEINE
EIGENE HELDIN
WURDE
Dieser Artikel ist im Zuge des Projekts „Du bestimmst.Punkt.“
entstanden. Das Projekt findet im Rahmen des Aufrufs
„Maßnahmen gegen Gewalt und zur Stärkung von Frauen und
Mädchen im Kontext von Integration“ statt. Dieses Projekt wird
durch den Österreichischen Integrationsfonds finanziert. Die
redaktionelle Verantwortung liegt allein bei biber.
© Zoe Opratko
A
ls keines Mädchen war es für
mich selbstverständlich, dieselben
Freiheiten wie meine
jüngeren Brüder zu genießen.
Als wir älter wurden, bemerkte ich, dass
wir an einen Scheidepunkt kamen. Ich
wurde getadelt, weil ich kein Interesse an
Kochen oder Hausarbeit hatte. Dieselbe
Diskussion kam bei meinen Brüdern gar
nicht erst zustande. Typisch für eine
tschetschenische Familie. Meine Eltern
waren soweit fair, dass sie sie zumindest
beauftragten, ihre eigenen Zimmer in
Ordnung zu halten. Allgemeine Hausarbeit
kam für sie aber gar nicht infrage.
Geschirr spülen, Staubsaugen, Saubermachen
– das waren alles im Vorhinein
uns Mädchen zugeschriebene Aufgaben.
Das ging so weit, dass meine Mutter mich
einmal zu Ramadan mitten in der Nacht
weckte, um ihr beim Kochen zu helfen.
Obwohl ich am nächsten Tag Schule
hatte. Damals traute ich mich nicht das
zu hinterfragen – ich war sehr schüchtern
gegenüber meinen Eltern, insbesondere
meinem sehr strengen Vater. Wie das
eben in der patriarchalen tschetschenischen
Community so ist. Ich tat das, was
von mir erwartet wurde. Und das war so
einiges. Außer der Sache mit der Hausarbeit
kamen für mich noch gefühlt hundert
andere Regeln dazu. Heute bin ich 21
Jahre alt und blicke darauf zurück:
AUF KRIEGSFUSS MIT
EINEM STÜCK STOFF
Ab meinem 11. Geburtstag ging es dann
rasant voran - ich durfte keine Hosen
mehr tragen, ich traute mich nicht mehr,
mit meinen männlichen Spielkameraden
aus der Schulzeit zu spielen und
ich musste mir immer öfter Ausreden
einfallen lassen, wenn ich zu meinen
Freundinnen wollte. Mit 13 zwang mich
mein Vater schließlich dazu, das Kopftuch
aufzusetzen. Natürlich traute ich
mich nicht, etwas dagegen zu sagen,
aber in dieser Zeit veränderte sich etwas
in mir. Mir wurde bewusst, dass ich ein
eigenständiger Mensch war und dass
niemand ohne meine Zustimmung so
tief in meine Persönlichkeit eingreifen
durfte - nicht einmal meine Eltern. Ein
Gedanke, der für viele Kinder in ausländischen
Familien schwer zu fassen ist, da
hier meist das Zusammenhaltsgefühl viel
tiefer empfunden wird.
Ich war zwar gläubig und praktizierend,
aber ironischerweise wurde das
Kopftuch für mich zu einer Art Feindbild.
Ich weinte, ich sträubte mich, ich hasste
es, ich schrie innerlich – ich stand auf
dem Kriegsfuß mit einem Stück Stoff. In
den nächsten Jahren begann ein Krieg
für mich, primär gegen das Kopftuch
gerichtet, in Wahrheit jedoch gegen
alles, wofür es in meinen Augen damals
stand: die patriarchalen Strukturen
unserer Community und die systematische
Benachteiligung unserer Frauen. In
meinem Kopf war die Angst vor meinem
Vater, vor unserer Community und der
Respekt vor unseren Richtlinien tief
verankert. Ich konnte mir nicht vorstellen,
was passieren würde, wenn ich mal
NICHT tat, was von mir verlangt wurde
und mich offen dagegen wehren würde.
Irgendwann aber wagte ich den Sprung
ins kalte Wasser und stellte mich gegen
die Regeln meiner Eltern. Zuerst nur bei
Kleinigkeiten, dann schon bei größeren
Dingen, die mich betrafen und mit denen
ich nicht einverstanden war.
„DAD, ICH ZIEHE
JETZT AUS“
Mein Vater reagierte wütend, entsetzt
und aggressiv, aber das war auch schon
das Schlimmste. Mir wurde plötzlich klar,
dass diese Angst, die ich zuvor empfunden
hatte, nur in meinem Kopf existiert
hatte und dass ICH diejenige war, die
sich selbst diese Grenzen gesetzt hatte
und nicht die anderen. Von dem Moment
an als ich erkannte, dass jede Veränderung
in meinen eigenen Händen lag und
ich diese Schranke in meinem Kopf überwunden
hatte, wurde alles möglich für
mich. Mittlerweile trage ich seit Jahren
kein Kopftuch mehr, verfolge Hobbys, die
mich interessieren, gehe aus, mit wem
ich möchte, und bald ziehe ich sogar
mit meiner besten Freundin in eine WG.
Das hätte ich mir vor fünf Jahren nie
erträumen können. Es hat sehr mich viel
Überwindung und Herzrasen gekostet,
mich vor meinen Vater zu stellen und
ihm zu sagen „Dad, ich ziehe jetzt aus.“
Es hat gedauert, aber ich konnte meine
Eltern überzeugen. Zuerst meine Mutter,
und dann meinen Vater. Mit Argumenten,
dass ich es dann näher zur Uni hätte
und mehr Ruhe zum Lernen. Und vielen
Gesprächen. Ich kam irgendwann durch.
Mein jüngerer Bruder ist der Einzige, der
sich noch dagegen sträubt, dass ich ausziehe.
Weil er dann keine Kontrolle mehr
hat. Aber ich brauche niemanden, der
mich kontrolliert. Meine Eltern wissen,
dass ich gescheit und reif bin und keinen
Blödsinn machen werde. Sie wissen,
dass sie mir vertrauen können. Und ich
weiß auch, dass ich ihnen vertrauen
kann.
TRADITIONEN SIND
NUR REGELN TOTER
MENSCHEN
Ich weiß, wie schwer es ist, ehrlich
und offen gegenüber seinen tschetschenischen
Eltern zu sein, glaubt mir.
Bei all den Tabus und Verboten. Meine
Eltern waren nicht immer perfekt – ich
bestimmt auch nicht - und es war auch
schwer für sie, zu akzeptieren, dass ich
nicht ihren Normen entspreche. Aber
letzten Endes haben sie es getan und
sie lieben mich mittlerweile für meine
Starrköpfigkeit und Entschlossenheit.
Ich hatte mir als junges Mädchen immer
einen Helden gewünscht, jemand der in
mein Leben kommen würde und schnipsen
würde und dafür sorgen, dass sich
all meine Probleme wie von Zauberhand
auflösen würden. Heute kann ich sagen,
dass ich meine eigene Heldin geworden
bin.
Allen anderen, denen es so geht
wie mir, kann ich nur raten: Traut euch.
Redet mit euren Eltern. Vertraut ihnen,
dann werden sie euch auch vertrauen.
Es ist okay, wenn man nicht mit allen Traditionen
der Community einverstanden
ist. Das bedeutet nicht gleich, dass man
seine Identität aufgibt. Aber manche
Traditionen sind im Grunde einfach nur
Regeln von toten Menschen. Und die
können und werden nicht unser Leben
bestimmen. Und vor allem: Am Ende des
Tages weiß ich, dass meine Eltern mich
mehr lieben, als ihre Kultur. ●
Zur Autorin: Die Autorin, die anonym
bleiben möchte, ist 21 Jahre alt und in
Tschetschenien geboren. Sie wird ab
nächstem Jahr studieren – ein großer
Schritt Richtung Selbstbestimmung,
die sie sich in ihrem Umfeld erkämpfen
musste und nun jüngere Frauen ermutigen
will, es ihr gleich zu tun.
44 / EMPOWERMENT-SPECIAL /
/ EMPOWERMENT-SPECIAL / 45
KARRIERE & KOHLE
Para gut, alles gut
Von Anna Jandrisevits
FOMO („FEAR OF MISSING OUT“) WAR GESTERN!
Was ist dein Erfolgserlebnis?
„Ich bin 2016 aus Syrien nach Österreich gekommen. Ich sprach
damals kein Deutsch – von der VHS bekam ich die Möglichkeit einen
Basisbildungskurs zu besuchen.“ Nach einem erfolgreichen Kursabschluss
hat sich Mohammed als Lehrling bei der VHS beworben. Nun
ist er selbst ein Teil der VHS! Egal ob du neue Talente entdecken oder
einen zweiten Bildungsweg einschlagen willst, die VHS hilft dir über
dich selbst hinauszuwachsen. Mit über tausend Kursen kannst du dich
ständig weiterentwickeln und neue Perspektiven entdecken. Bereit für
ein neues Erfolgserlebnis? Schau vorbei auf vhs.at.
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MEINUNG
Jung und ignoriert
Ich weiß nicht, ob die Regierung uns ghostet
oder einfach vor jeder Pressekonferenz zu
dem Schluss kommt, dass es zu Studierenden
eh nichts zu sagen gibt. Frei nach dem Motto:
Ach, die Jungen, die kommen schon zurecht!
Dem ist aber leider nicht so. Seit mehr als
einem Jahr herrscht für junge Erwachsene
Stillstand. Statt mit uns zu reden, wird in der
Politik über unsere Köpfe hinweg bestimmt,
meist ohne Fortschritt. Studierende stehen
vor finanziellen Problemen und Existenzängsten,
wie soll man in der größten Wirtschaftskrise
seit dem 2. Weltkrieg einen Job finden?
Die Situation ist psychisch enorm belastend,
immer mehr leiden neben der Einsamkeit
unter depressiven Verstimmungen, fühlen sich
hoffnungslos oder erschöpft. Trotzdem werden
Studierende im öffentlichen Diskurs vergessen.
Wer weiß, wie lange diese Krise noch
andauern wird? Mehr Lernzonen, verstärkte
psychologische Betreuung und Möglichkeiten
zum Online-Austausch wären ein guter (später)
Anfang. Noch immer ist Distance Learning
vielerorts nur digitaler Frontalunterricht
mit hohem Lernaufwand. Das Ersatzangebot
reicht für den Studienfortschritt nicht aus.
Und dass Studierende weiterhin teils hohe
Studiengebühren zahlen müssen, obwohl sie
ihre Hochschule seit November nicht mehr
betreten haben, ist sinnlos. Das soll keine Kritik
an den Corona-Maßnahmen sein. Eher eine
Kritik an dem Krisenmanagement, das junge
Erwachsene völlig außer Acht lässt.
jandrisevits@dasbiber.at
46 / KARRIERE /
Online-Event Schnelle Hilfe
DIE LANGE
NACHT DER
UNTERNEHMEN
Bereits zum siebten Mal
findet am 5. Mai die
Lange Nacht der Unternehmen
statt. Dieses Mal
können Studierende und
Absolvent*innen online
den Weg ins Berufsleben
wagen, aufgrund
der Pandemie findet das
Event in digitaler Form
statt. Unternehmen öffnen
online ihre Türen und
geben Einblick in ihre
Büros, Produktionsstandorte
und Filialen. So kann
man mögliche, zukünftige
Arbeitgeber*innen durch
Live-Part Site-Visits und
1-1-Chats schon kennenlernen.
Nach dem Karrieretalk
geht es direkt zum
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Weitere Infos:
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PROBLEME
Schulpsychologie:
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Schüler*innen, Lehrkräfte und Erziehungsberechtigte.
Montag–Freitag 9–21 Uhr; Samstag
9–17 Uhr.
Tel.: 0800 21 13 20
Chatberatung
Telefonseelsorge:
Sofortchat als Ergänzung zum Notruf
(142), der vor allem jungen Menschen
dient.
Täglich 17-22 Uhr.
www.onlineberatung-telefonseelsorge.at
Hotline für
Essstörungen:
Kostenlose Beratungsstelle für Angehörige
und Betroffene mit Essstörungen.
Montag–Donnerstag 12–17 Uhr. Tel.:
0800 20 11 20.
E-Mail: hilfe@essstoerungshotline.at
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Wie junge Frauen aus den Communitys
ihre Selbstbestimmung erkämpfen
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ZWISCHEN APPLAUS
UND AUSBEUTUNG:
Sie pflegen Österreichs „Alte“
und haben selbst Angst davor,
alt zu werden. Wer sind die
osteuropäischen Betreuerinnen,
die in Tausenden als 24-Stunden-
Pflegerinnen herkommen? Wieso
ist ihr Lohn immer noch viel
zu niedrig und warum tut sich
trotz der Systemrelevanz der
Arbeiterinnen so wenig?
Von Sven Beck, Fotos: Zoe Opratko
DIE VERZWEIFLUNG DER
24H-PFLEGERINNEN
48 / GESELLSCHAFT /
Katarína ist wütend. Tag und
Nacht arbeitet sie durch,
schmeißt den Haushalt,
pflegt Patienten und leistet
lebenswichtige medizinische Hilfe, im
ersten Lockdown monatelang ohne Pause.
Trotzdem kommt ihr Gehalt nicht über
drei Euro die Stunde. Sie hat Angst vor
dem Alter: nicht genug Pension, Angst
vor Unfällen, keine ausreichende Sozialversicherung
– Angst vor der Zukunft.
Statt sie aufzunehmen und sozial gebührend
abzusichern, diskriminiert die österreichische
Politik Frauen wie Katarína
systematisch. Vor genau einem Jahr kam
die Corona-Krise und mit ihr Applaus und
Schokolade. Aber um Anspruch auf die
staatliche Unterstützung von einmaligen
500€ zu erhalten, mussten die
PflegerInnen ein österreichisches Konto
vorweisen. Viele 24h-PflegerInnen haben
jedoch keines, weil die wenigsten von
ihnen ÖsterreicherInnen sind. Sie waren
deshalb auf die Familien ihrer Kunden
angewiesen, um einen Antrag zu stellen.
Katarína ist 50 Jahre alt, kommt aus
der Slowakei, ihren Nachnamen sollen
wir nicht nennen. Sie ist eine von 65.000
Betreuerinnen, vereinzelt auch Betreuern,
die Österreichs „Alte“ ununterbrochen
in den eigenen vier Wänden
pflegen. „24-Stunden-Betreuung“ heißt
das Prinzip, das erst 2007 legalisiert
wurde und sich seitdem als die Zukunft
der Pflege etabliert hat. Die Zahl der
Pflegebedürftigen in Österreich dürfte bis
2050 auf 650.000 Personen steigen. Wie
Katarína reisen die nötigen Fachkräfte
aus osteuropäischen Ländern an: Rumänien,
Bulgarien, Ungarn. Einige siedeln
irgendwann über, die allermeisten jedoch
verbringen zumindest die Hälfte ihres
Lebens arbeitsbedingt in der „zweiten
Heimat Österreich“. Nur sind sie keine
Österreicher. Das macht Ausbeutung
möglich und das 24h-System zur günstigen
Alternative zum Pflegeheim. Im
ersten Lockdown zeigte sich, wie wichtig
diese Frauen für das Land sind. Sie
wurden auf vom Staat per Sonderzügen
hertransportiert.
SELBSTSTÄNDIGKEIT
KOMMT VOR
UNGERECHTIGKEIT
„Den Job macht keine Österreicherin,
weil man vom Verdienst kaum seinen
Lebensunterhalt decken kann.“ Bettina
Haberl von der Agentur help-24 bestätigt
diese Tatsache. „Die Betreuerinnen
„
Unser Gehalt kommt
nicht über drei Euro
die Stunde.
“
lösen einen Gewerbeschein“, erklärt sie.
„Dadurch sind sie selbstständig und nicht
mehr an Überstunden oder Feiertage
gebunden. Unsere Aufgabe als Agentur
ist die Vermittlung zwischen ihnen und
den Familien, bei denen sie arbeiten
und während dieser Zeit auch wohnen.
Ihr Honorar bekommen sie vom Kunden.
Das kann ca. 70 Euro am Tag sein,
abzüglich der Sozialversicherung. Regularien
gibt es keine: Sie sind schließlich
ihre eigenen Unternehmen.“ Von fairen
Arbeitsverhältnissen hat Katarína aber
nie etwas gehört. „Ich glaube, die sind
alle gleich. Beweggrund ist immer das
Geld“, schüttelt die Betreuerin ihren
Kopf. „Nur mein Lohn ist im Jahr 2000
stecken geblieben", kritisiert Katarina.
Sie selbst zahlt 500 Euro jährlich an ihre
Agentur für die Vermittlung, mehr als das
Doppelte von dem, was help-24 verlangt.
„Das Problem ist, dass es sehr viele
Agenturen gibt“, meint Bettina Haberl.
„Auch solche, die nur auf Profit aus sind
und nicht auf das Wohl der Betreuungskräfte.“
Und wer pflegt Katarína irgendwann?
„Das ist eine gute Frage“, lacht
sie bitter. „Eine noch bessere Frage ist,
was ich mache, wenn ich einen Unfall
habe oder plötzlich krank werde.“ Selbstständig
etwas für den Notfall zur Seite zu
legen, ist unter den jetzigen Umständen
utopisch.
/ GESELLSCHAFT / 49
„Betreuungskräfte sind keine Sklaven“, beklagt Katarina.
VON MACHT UND
ÜBERGRIFFEN
Doch Geld ist nicht das einzige Problem.
Wenn eine Pflegekraft sich nicht auf
ihre Vermittler verlassen kann, wenn
es Probleme mit Kunden gibt, kann es
zu menschenunwürdigen Situationen
kommen. „Für manche sind wir wirklich
das Mädchen für alles“, berichtet Katarína,
„sie denken, sie haben uns für den
ganzen Tag bezahlt, dann müssen wir
auch den ganzen Tag arbeiten. Wie eine
billige Dienerin.“ Auch Haberl erzählt von
Übergriffen und Frauen, die, aus Angst
vor Jobverlust, gar nicht erst laut werden.
„Da gibt es wirklich Leute, die ihre
Pflegerinnen im Keller schlafen lassen.“,
sagt sie ernst: „Oder im selben Raum wie
die Kunden. Betreuungskräfte sind keine
Sklaven und dürfen auch niemals so
behandelt werden.“ Bei Demenzerkrankten
ist auch sexuelle Belästigung keine
Seltenheit. Dann müsste eigentlich ein
männlicher Pfleger her. Die gibt es aber
kaum und sie werden oft nicht gewollt.
Peter Kovacs ist eine dieser Seltenheiten.
Statistiken gibt es keine, aber
von den 150 Menschen, die aktiv in
seiner Agentur sind, ist er der einzige
Mann. Viele vermitteln ohnehin gleich
ausschließlich weibliches Personal. Der
46-jährige Slowake hat im Zivildienst mit
der Pflege angefangen und seitdem nicht
mehr aufgehört, sich um alte Menschen
zu kümmern - um Freunde, um Verwandte
und seit 2007 in Österreich auch legal
um ihm zugeteilte Pflegebedürftige. Er
liebt den Beruf. Am Telefon schwärmt
er von Dankbarkeit und Freude, die er
auslösen könne. Dann wird seine Stimme
ernst und traurig: „Nur leider, wenn sich
jetzt nichts ändert, muss ich mir bald
was anderes suchen.“ Er findet keine
gut bezahlte Stelle, habe es schwer als
männlicher Betreuer. Er rechnet lange
und mehrfach durch, dass er von seinem
verdienten Geld, wenn er Miete und
Steuern bezahlt, letzten Endes einfach
nicht leben kann. Gerade ist er in der
Slowakei, in seinem Haus nahe Kosice.
Sich in Österreich anzusiedeln, ist finanziell
keine Option. Trotzdem ist es seine
„zweite Heimat“ meint er. Auf die Frage,
ob er von so etwas Ähnlichem wie einer
Gewerkschaft gehört habe, meint er, es
gebe eine Interessensgemeinschaft, aber
er habe keine Hoffnung, dass diese wirklich
etwas erreichen könne. Wie auch?
Peter ist müde. Er weiß, dass sich etwas
ändern muss, er weiß aber nicht wie. Als
Einzelner sieht er sich ohne Stimme. In
einem Verbund ist er nicht organisiert.
So wartet er, ohne zu wissen, worauf.
VIELE HABEN ANGST
„Ein Ende der Scheinselbstständigkeit!“,
forderten Plakate der Weltfrauentags-
Demonstration am 8. März. Nur dadurch
sei ein „Ende der Ausbeutung!“, ebenso
ein Slogan der DemonstrantInnen,
möglich. Die „Interessensgemeinschaft
24“ oder „IG-24“, die sich politisch nicht
nur auf Demos, sondern auch durch
Lobbyarbeit für die 24h-Betreuung
einsetzt, formulierte die Veränderung
dieser Verhältnisse bei ihrer Gründung
als zentrales Anliegen. Der Zusammenschluss
entstand aus Facebook-Gruppen,
in denen Pflegerinnen sich austauschten,
Feedback zu bestimmten Agenturen
gaben, Erfahrungen und Schwierigkeiten
austauschten. Anna Leder, die seit einem
Jahr für die „IG“ politisch unterwegs ist,
räumt allerdings ein, dass Türkis-Grün
und Gesundheitsminister Anschober ein
echtes Angestelltenverhältnis aus Kostengründen
gar nicht zur Debatte stellen.
Streiks sind so gesetzlich unmöglich
und selbst wenn, fehle es an Solidarität:
„Ich glaube, viele haben Angst!“, sagt
Katarína. „Es ist ja schon nochmal was
anderes, ob man auf Facebook etwas
kritisiert, oder wirklich etwas tut. Der Job
ist immer unsicher.“
Hoffnung besteht darin, dass die
Probleme in der 24h-Pflege wirklich als
österreichische Probleme thematisiert
werden, auch wenn die BetreuerInnen
keine Staatsbürgerschaft haben. Das
Argument „Aber die leben doch gar nicht
hier“ zählt nicht. Für Katarína ist Wien
zweite Heimat. Sie hat, als ihre Kinder
groß wurden, mit einer Freundin eine
Wohnung angemietet und ist hergezogen.
Von der „IG-24“ erwartet sie jetzt
Veränderung. Und schöpft Hoffnung:
„Es tut gut zu wissen, dass wir jemanden
im Rücken haben.“ ●
Robert Herbe
KOLUMNE
DER BAZAR IM SCHUHGESCHÄFT
Ich möchte euch eine Geschichte über den
Unterschied beim Einkaufen zwischen
Araber*innen und Österreicher*innen
erzählen.
Einmal, als ich ganz neu in Österreich
war, brachte Lisa, meine Asylheimbetreuerin,
einen Freund und mich zu einem
Kaufhaus, um Schuhe zu kaufen. Meine
einzigen Schuhe hatten schon längst den
Geist aufgegeben. Es waren dieselben
Turnschuhe, mit denen ich den Weg von
Syrien nach Österreich zurückgelegt hatte.
Lisa setzte uns bei einem Schuhgeschäft
ab und ging ihre eigenen Einkäufe erledigen.
Es dauerte nicht lange, bis ich mich
für ein Paar entschieden hatte, das für alle
Zwecke geeignet schien. Ich bin beim Einkaufen
generell schnell und unkompliziert. „Achtzig Euro
ist etwas teuer, Bruder, oder?”, fragte Ahmad. „Du hast
keine Ahnung, über welche Feilschkünste ein Damaszener
verfügt!”, antwortete ich und rieb mir die Hände voller
Vorfreude auf das Wortgefecht und ging zur Kassa.
DAS DUELL UM DEN PREIS
Die freundliche und zuvorkommende Kassierin, etwa
Mitte Vierzig, mit kurzem, blondem Haar, scannte die
Schuhe ein, packte sie in einen Papiersack und meinte:
„Achtzig Euro!” Hier beginnt normalerweise in Syrien das
Duell um den Preis und das ist für den Araber wichtiger
als das Gekaufte selbst. Der Araber liebt das Feilschen,
weil er damit mehrere Künste zugleich übt: Rhetorik,
Schauspiel, Überzeugungskraft, soziale Kompetenz und
Eloquenz. Es ist eine lebendige Angelegenheit, bei der
man Körpersprache, Mimik, Gestik, Tonalität und Empathie
gleichzeitig einsetzt. „Und für uns? Wir sind das erste
Mal in Ihrem Geschäft und hoffentlich werden wir hier
Stammkunden. Kommen Sie uns nicht ein wenig entgegen?
Ich zahle zwanzig Euro”, erwiderte ich und dachte an
die Worte meines Vaters, der meinte, ich sollte zu Beginn
des Feilschens ein Viertel anbieten und damit einen Anker
setzen. Somit hätte der Verkäufer seinen Einkaufspreis
turjman@dasbiber.at
Jad Turjman
ist Comedian, Buch-Autor
und Flüchtling aus Syrien.
In seiner Kolumne schreibt
er über sein Leben in
Österreich.
bereits in der Tasche und was er darüber hinaus
verhandeln würde, wäre sein Gewinn.
„Entschuldigung?”, fragte mich die Kassierin
mit großen Augen und verständnislos.
„Schauen Sie einmal, Sie sehen so nett
und zuvorkommend aus und werden uns
sicher nicht zurückgewiesen und enttäuscht
gehen lassen. Und ich möchte auch nicht bei
meinem ersten Einkauf knausrig und stur
sein, ich gebe Ihnen vierzig Euro. Somit
haben Sie die Hälfte”, entschied ich mich,
begann, das Geld zusammenzufalten, und
legte es vor sie auf die Ablage. „Entschuldigung,
was verstehen Sie nicht, es kostet
achtzig Euro, das steht auf dem Etikett,
hier ist doch kein Basar!”, wurde sie etwas
ungehalten.
„BEI UNS IN ÖSTERREICH FEILSCHT MAN NICHT“
„Etikett, Etikett, was ist das für eine lieblose Begegnung.
Was ist der Unterschied zu einem Basar? Es ist wohl einer,
aber mit einem Dach“, sagte ich zu mir. Da erinnerte ich
mich an die Worte meiner Mutter: Wenn der Verkäufer
hartnäckig und eigensinnig bleibt, verwende die Jokerkarte,
tu so, als würdest du gehen, aber geh langsamen
Schrittes, er wird dich sicher zurückrufen und dir einen
besseren Preis machen. Ich nahm mein Geld, zwinkerte
Ahmad zu, bedankte mich und ging langsam hinaus. Meine
Schritte wurden immer langsamer, aber von der Kassierin
kam keine Reaktion. Beim Ausgang widerstand ich
meiner Entscheidung, nicht zurückzublicken, und schaute
doch zu ihr. Kopfschüttelnd packte sie die Schuhe wieder
aus und wunderte sich sicherlich über die zwei Gestörten.
Lisa lachte sich kaputt über uns. „Du warst doch oft
im Supermarkt und hast erlebt, dass man bei uns nicht
um den Preis feilscht”, meinte sie. “Ja, bei uns im Supermarkt
und im Restaurant auch nicht, aber im Handel ist
es unerlässlich”, war ich enttäuscht von dieser Erfahrung.
Letztendlich ging Lisa noch einmal allein in das Schuhgeschäft
und holte die Schuhe ab. Mein dämlicher Stolz
erlaubte mir nicht mitzugehen.
50 / GESELLSCHAFT /
/ MIT SCHARF / 51
MEINUNG
Liebes Tagebuch…
Nachdem alle Filme und Serien von
der Watchlist geschaut sind, das
ganze Bananenbrot gebacken und
die täglichen 10.000 Schritte an der
frischen Luft gegangen sind, kann es
ziemlich öde im Lockdown werden.
Mein neuestes Hobby ist es nun, in
meinen alten Tagebüchern zu lesen.
Seit ich einen Stift halten konnte,
schrieb ich meine Gedanken auf – was
in einer Gemeindebauwohnung mit
vier Geschwistern und strengen Eltern
eigentlich nicht empfehlenswert war.
Und trotzdem bin ich beeindruckt
davon, wie viel ich damals geschrieben
habe, an manches konnte ich
mich nur mithilfe der Tagebücher
erinnern. Ziemlich verrückte Sache:
Ich kann heute eine Zeitreise unternehmen
und mich in mein jugendliches
Ich zurückversetzen. Und ich
frage mich, was ich davon gehalten
hätte, wenn man mir damals erzählt
hätte, dass ich eines Tages beruflich
schreiben würde. Mein jugendliches
Ich wäre wahrscheinlich auf der Stelle
in Tränen ausgebrochen, wie sich
unschwer an der verwaschenen Tinte
erkennen lässt, die in viele Seiten
eingetrocknet ist. Memories.
el-azar@dasbiber.at
KULTURA NEWS
Klappe zu und Vorhang
auf!
Von Nada El-Azar
Kurzfilmfestival
VIENNA SHORTS
2021
Das 18. internationale Kurzfilmfestival
Vienna Shorts wird in diesem
Jahr als hybrides Festival geführt.
Auf der neuen Streaming-Plattform
„This is Short“ kann erstmals von 1.
April bis 30. Juni das vollständige
Programm von insgesamt vier Kurzfilmfestivals
mithilfe eines digitalen
Passes gesehen werden. Das sind
über 300 Kurzfilme und viele Extras!
Die Vienna Shorts sind online von
27. Mai bis 1. Juni verfügbar.
Mehr Informationen gibt es unter:
www.thisisshort.filmchief.com/hub
Podcast-Tipp
REMBRANDT,
HABIBI
Begleitend zur Ausstellung „Rembrandts Orient“, die bis
14. Februar im Kunstmuseum Basel gezeigt wurde, hat
Journalistin Amina Aziz fünf Podcastfolgen
produziert, die das Werk des alten
Meisters unter die postkoloniale Lupe
nimmt. Über Orientalismus in der Kunst
und vieles mehr wird mit verschiedenen
AkteurInnen aus Wissenschaft, Kunst
und Politik diskutiert.
Verfügbar auf Spotify oder iTunes
Buch-Tipp
„PATHOS“
Die 1985 geborene Journalistin
Solmaz Khorsand spürt
in ihrem Essay „Pathos“ den
verschiedensten Ausprägungen
von Ergriffenheit, Klage
und Empörung in unserer
Gesellschaft nach.
Erschienen bei Kremayr &
Scheriau; Wien, 128 Seiten,
€18,-
© Christoph Liebentritt, Vienna Shorts, Kremayr & Scheriau, instagram.com/kunstmuseumbasel, © Annemone Taake
3 FRAGEN AN…
BRIGITTA KANYARO
Brigitta Kanyaro (*1991 in Várpalota, Ungarn)
ist eine rumänische Schauspielerin, Autorin und
Regisseurin, die 2001 nach Österreich kam. Für
ihre Hauptrolle in der ORF-Serie „Letzter Wille“
ist sie für einen ROMY nominiert.
Du bist in diesem Jahr für einen ROMY-Publikumspreis in
der Kategorie „Beste Nachwuchsschauspielerin“ nominiert.
Wie fühlst du dich?
Mein Herz ist voll. Das Publikumsvoting ist ja ein kleiner
Wahlkampf und ich habe noch nie so viel Unterstützung
von so vielen Seiten gespürt. Meine rumänische Familie
ist involviert und bekommt faktisch zum ersten Mal nach
8 Jahren etwas von meinem Arbeitsleben hier mit, alte
Schullehrer voten, sowie Nachbarn und Bekannte. Ich
schwebe in Dankbarkeit, Demut und Stolz.
Welche Rolle spielen die rumänische Kultur und besonders
Transsilvanien in deinen Projekten?
Ich bin eine Transit-Seele der Diaspora. Ich wandle
umher und suche ein Zuhause. So wie bei vielen
Migrierten meiner Generation ist und bleibt Identität
mein Kernthema. Wir haben alle unsere Mittel und
Wege, damit umzugehen, und ich mache Filme darüber.
Tatsächlich suche ich es mir gar nicht wirklich aus - es
beschäftigt mich und ich muss es verarbeiten, sonst
werde ich noch eine einsame Verrückte. (lacht)
Was hast du im Lockdown kreativ für dich entdecken
können?
Lustigerweise war es mein produktivstes Jahr bislang!
Der Lockdown hat für mich den Druck herausgenommen.
Weil ich das Gefühl hatte, dass irgendwie nichts
passiert und eh keiner arbeitet, konnte ich ohne Stress
nicht auf Deadlines, sondern eher auf Spaß hinarbeiten.
Ich habe den Kurzfilm „STILLE POST“ fertiggestellt,
welcher bald die Festivalreise antreten wird und zwei
Spielfilmideen ausgearbeitet, die ich heuer direkt für die
Finanzierung einreichen konnte. Aus dem Schauspiel
kommend hat es
etwas gedauert,
mich als Autorin
und Regisseurin
ernst zu nehmen,
zumal 2020 spielerisch
fast nichts
lief. Als Nicht-
Muttersprachlerin
und Schulabbrecherin
hielt ich
es ohnehin für
unrealistisch fürs
Schreiben bezahlt
zu werden - aber
Spaß hat es mir
immer schon
gemacht.
Patricia Piccinini, The Bond, 2016. Courtesy of the artist
PATRICIA
PICCININI
Embracing the Future
bis 03.10.2021
52 / KULTURA /
fm4.orf.at
#radiofm4
„Die Leiden des jungen Todor“
Von Todor Ovtcharov
Leiden beeindrucken Leute
Es gibt unterschiedliche Wege, um andere
Menschen zu beeindrucken. Einige setzen
auf ihre muskulösen Körper, andere auf ihren
Intellekt und dritte auf ihr Vermögen. Es gibt aber
auch einen vierten Weg, um aus der Menge herauszustechen:
Man erzählt über seine schwierige Kindheit
und Leiden beim Aufwachsen, wie schwer sie es
in der Vergangenheit hatten – und schon erwarten sie
Aufmerksamkeit. Man kommt sich vor wie in einem
Monty-Python-Sketch.
Tobi aus Frankfurt erzählte einmal einer Gruppe
von jungen Mädchen, wie schwer seine Kindheit in
Frankfurt am Main war. Drogensüchtige hatten ihn am
Bahnhof mit einem Messer bedroht und wollten sein
Taschengeld. Frankfurt am Main sei nicht so sicher
wie Wien. Nur die Starken schaffen es dort. Tobi
schaut die Mädchen mit Hoffnung in den Augen an,
sucht nach ihrem mitfühlenden und bewundernden
Urteil - schließlich steht er lebend und gesund vor
uns und das kann doch nur heißen, dass er stärker
als jeder Gangster ist.
Jose aus Lima greift ins Gespräch ein und erzählt
uns, wie er eines Tages auf dem Schulweg von einer
Bande Gleichaltriger angegriffen wurde. Sie hätten
ihn nackt ausgezogen und ihm seine Kleider gestohlen.
Alles hätten sie ihm genommen – die Klamotten,
die Schuhe, selbst die seit drei Tagen nicht
gewaschenen Socken. Danach habe er stundenlang
versteckt in einer Baustelle auf den Einbruch der
Dunkelheit gewartet – wie sonst hätte er nackt nach
Hause kommen sollen? Einer fragt ihn, warum er seine
Freunde nicht angerufen hatte, begreift aber sehr
schnell die Absurdität seiner Frage. Wo sollte das
Handy versteckt sein, wenn er doch ganz nackt war?
Ali aus Aleppo erzählt, wie er sich auf der
türkisch-griechischen Grenze stundenlang unter
einem Lkw verborgen gehalten hatte, in der Hoffnung,
dass ihn die Grenzbeamten nicht finden und
blau verprügeln. Er erzählt mit allen Einzelheiten, was
mit denen passiert war, die gefangen worden sind.
Diese Erzählung ist so blumig, dass wir mittlerweile
vergessen, dass er unter einem Lkw gelegen ist, und
sind einfach froh, dass er nicht gefangen worden war.
In dieser Situation muss ich mich einmischen, um
auch als ein harter Typ zu gelten. Ich erzähle, dass
es in der Plattenbausiedlung, wo ich aufgewachsen
bin, keinen einzigen Baum gegeben hatte und meine
Familie sich entschied, den ersten einzupflanzen. Wir
kauften also einen Baum, gingen auf die Wiese vor
unserem Bau und setzten ihn in ein Loch, das mein
Vater gegraben hatte. Ich bin sehr zufrieden schlafen
gegangen.
Am nächsten Tag war der Baum weg. Wir kauften
einen neuen Baum und pflanzten ihn wieder ein.
Dieses Mal mit drei Metallstäben dazu, um den Baum
besonders vor Diebstahl zu schützen. Am nächsten
Tag war der Baum wieder weg und die Stäbe auch.
Wir pflanzten zum dritten Mal einen Baum und auch
ihn ereilte das gleiche Schicksal wie die vorigen zwei.
Danach entschied mein Vater, dass wir umziehen
sollten. Wenn wir es weiter versucht hätten und
irgendwann Erfolg gehabt hätten, würde heute Mitten
im Plattenbaudschungel ein kleiner Wald stehen.
Ali aus Aleppo, Jose aus Lima und Tobi aus Frankfurt
vergessen ihre fürchterlichen Geschichten und
schlagen mir vor, mit mir dorthin zu fahren, um neue
Bäume einzupflanzen. Hoffentlich ist es nicht schon
zu spät. ●
54 / MIT SCHARF /
JOBS MIT AUSSICHTEN
„Lehre nach der Matura.
Starte in deine Handelskarriere!“
„Ergattere einen der
15 Ausbildungsplätze“
• Perspektiven nach deiner Ausbildung: Marktleitung einer Filiale
• Duale 2-jährige Ausbildung mit Lehrabschluss (Ausbildungsbeginn: September)
• 4-wöchiges Praktikum im Ausland inkl. Sprachkurs
• Attraktives Einstiegsgehalt von 1.740 EUR brutto
• Reise nach New York (bei guten Leistungen)
• Bewerbungszeitraum: Dezember bis Juni
• Fragen jederzeit an spar.akademie@spar.at
Bewirb dich jetzt unter
www.spar.at/karriere
JOBS MIT
ÖSTERREICH DRIN.
Stand: 04/2021