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BIBER 04_21 OLA 4-8

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DER TÜRKISCHE ALBTRAUM:

Wenn die Tochter auszieht

Mit 19 zog Autorin Naz Kücüktekin von Zuhause aus. Was in

Österreich für viele so normal ist, war für sie lange nur ein unrealistischer

Traum, den sie sich hart erkämpfen musste. Und das,

obwohl ihre Eltern zu der “liberaleren Sorte Türken” gehören.

Von Naz Kücüktekin, Illustrationen: Linda Steiner

© Andrea Zapanta Scharf

Irgendwann in der Oberstufe sollten wir in der Schule auf

die Tafel schreiben, was wir uns von unserem späteren

Leben wünschen. Die anderen schrieben Sachen wie

eine glückliche Familie, eine erfolgreiche Karriere oder

ein großes Haus hin. Ich schrieb Unabhängigkeit hin. Ich kann

mich daran erinnern, als wäre es gestern gewesen. Auch daran,

dass ich mich danach fragte, ob ich diese Unabhängigkeit

wohl je erreichen würde. Als Kind ist es normal, dass Eltern

für dich Entscheidungen treffen. Irgendwann sollte dann aber

doch der Zeitpunkt kommen, wo ein erwachsener Mensch

selbst bestimmen kann, wie er oder sie lebt. Nun ja, in meiner

Familie wäre dieser Zeitpunkt aber nie gekommen.

„DANN BIST DU FÜR UNS GESTORBEN“

Meine Eltern kommen aus einer kleinen Küstenstadt am

Schwarzmeer. Für türkische Verhältnisse ist das wahrscheinlich

eine der Regionen, die halbwegs liberal ist. Eine Region,

wo man im Sommer im Bikini am Strand liegt und abends Raki

zu seinem Fisch trinkt. Meine Eltern und Familie passen da

ganz gut hin. Ich würde sie weder als besonders konservativ

noch als sehr religiös bezeichnen. Ich durfte auf jede Klassenfahrt

mitfahren, anziehen, was ich wollte, fortgehen, Alkohol

trinken – alles kein Problem. Als ich meinen Eltern erzählte,

dass ich mich als Atheistin sehe, war die Antwort nur: OK,

aber erzähl es bitte nicht deiner Oma. Doch wenn es darum

ging, dass ich bei Freunden schlafe, einen Freund habe oder

ein Tampon benutze – da stießen meine Eltern aber doch sehr

schnell an ihre Grenzen. In eine eigene Wohnung ziehen zu

wollen, gehörte da auch dazu.

Das Elternhaus zu verlassen, vor allem als Frau, ist in der

türkischen Kultur auch heutzutage Großteils noch ein Tabu.

Die einzigen legitimen Umstände sind, wenn man heiratet oder

fürs Studium oder Arbeit an einen anderen Ort ziehen muss.

Dass man in derselben Stadt wie seine Eltern lebt, aber eine

eigene Wohnung hat, wirft schnell mal die Frage auf: „Warum

brauchst du eine eigene Wohnung?“ Wobei der eigentliche

Subtext dieser Frage ist: „Warum brauchst du eine eigene

Wohnung? Du hast doch bestimmt etwas Unsittliches vor!“

Studieren, bis 30 zu Hause zu leben und dann zu heiraten,

wären auch meine auferlegten Aussichten gewesen.

Genau solche Ansichten machten neben der Tatsache,

dass ich mir ein Zimmer mit meinem Bruder teilte und mich

mit meinen Eltern nicht besonders gut verstand, meinen

Wunsch nach den eigenen vier Wänden aber nur noch größer.

Anfangs lächelten meine Eltern diesen Wunsch noch ab.

„Jaja, mach nur“, sagten sie dann oft, überzeugt davon, dass

ich es sowieso nicht schaffen werde. Zugegeben, es ist auch

wirklich schwer, auszuziehen, wenn man null Unterstützung

hat – weder finanziell noch sonst irgendwie. Ich suchte mir

im ersten Jahr meines Studiums also einen Job und legte

über Monate hinweg jeden Cent beiseite. Später lernte ich

meine jetzige Mitbewohnerin kennen, und wir beschlossen,

uns gemeinsam eine Wohnung zu suchen. Als wir dann auch

begannen, zu Besichtigungen zu gehen, kippte die Stimmung

meiner Eltern sehr schnell. „Wenn du ausziehst, ist es aus,

dann bist du für uns gestorben“, drohte mir mein Vater. Meine

Mutter sagte dann oft einfach gar nichts mehr. Insgeheim

wusste ich immer, dass sie das eher sagen, um mich davon

abzuhalten. Aber selbst wenn, wäre es mir egal gewesen.

Im Sommer 2015 zog ich mit 19 Jahren aus. In eine winzige

Wohnung. Und konnte kaum glücklicher sein.

“WAS, DAS MÄDCHEN IST AUSGEZOGEN?

ALLEINE?“

Meine Entscheidung ist in meiner Familie heute noch umstritten.

Meine Eltern machten ihre Drohung, wie erwartet, nicht

wahr und halfen mir sogar bei meinem Auszug. Dennoch wurde

mir immer wieder vorgeworfen, ich hätte meine Familie „im

Stich gelassen“ und mich von ihnen abgewandt. Sie werden

wahrscheinlich nie verstehen, dass ich mich lediglich für mich

entschieden habe. Nicht gegen sie.

Von meinem Bruder erfuhr ich Jahre später, dass sie

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