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DER TÜRKISCHE ALBTRAUM:
Wenn die Tochter auszieht
Mit 19 zog Autorin Naz Kücüktekin von Zuhause aus. Was in
Österreich für viele so normal ist, war für sie lange nur ein unrealistischer
Traum, den sie sich hart erkämpfen musste. Und das,
obwohl ihre Eltern zu der “liberaleren Sorte Türken” gehören.
Von Naz Kücüktekin, Illustrationen: Linda Steiner
© Andrea Zapanta Scharf
Irgendwann in der Oberstufe sollten wir in der Schule auf
die Tafel schreiben, was wir uns von unserem späteren
Leben wünschen. Die anderen schrieben Sachen wie
eine glückliche Familie, eine erfolgreiche Karriere oder
ein großes Haus hin. Ich schrieb Unabhängigkeit hin. Ich kann
mich daran erinnern, als wäre es gestern gewesen. Auch daran,
dass ich mich danach fragte, ob ich diese Unabhängigkeit
wohl je erreichen würde. Als Kind ist es normal, dass Eltern
für dich Entscheidungen treffen. Irgendwann sollte dann aber
doch der Zeitpunkt kommen, wo ein erwachsener Mensch
selbst bestimmen kann, wie er oder sie lebt. Nun ja, in meiner
Familie wäre dieser Zeitpunkt aber nie gekommen.
„DANN BIST DU FÜR UNS GESTORBEN“
Meine Eltern kommen aus einer kleinen Küstenstadt am
Schwarzmeer. Für türkische Verhältnisse ist das wahrscheinlich
eine der Regionen, die halbwegs liberal ist. Eine Region,
wo man im Sommer im Bikini am Strand liegt und abends Raki
zu seinem Fisch trinkt. Meine Eltern und Familie passen da
ganz gut hin. Ich würde sie weder als besonders konservativ
noch als sehr religiös bezeichnen. Ich durfte auf jede Klassenfahrt
mitfahren, anziehen, was ich wollte, fortgehen, Alkohol
trinken – alles kein Problem. Als ich meinen Eltern erzählte,
dass ich mich als Atheistin sehe, war die Antwort nur: OK,
aber erzähl es bitte nicht deiner Oma. Doch wenn es darum
ging, dass ich bei Freunden schlafe, einen Freund habe oder
ein Tampon benutze – da stießen meine Eltern aber doch sehr
schnell an ihre Grenzen. In eine eigene Wohnung ziehen zu
wollen, gehörte da auch dazu.
Das Elternhaus zu verlassen, vor allem als Frau, ist in der
türkischen Kultur auch heutzutage Großteils noch ein Tabu.
Die einzigen legitimen Umstände sind, wenn man heiratet oder
fürs Studium oder Arbeit an einen anderen Ort ziehen muss.
Dass man in derselben Stadt wie seine Eltern lebt, aber eine
eigene Wohnung hat, wirft schnell mal die Frage auf: „Warum
brauchst du eine eigene Wohnung?“ Wobei der eigentliche
Subtext dieser Frage ist: „Warum brauchst du eine eigene
Wohnung? Du hast doch bestimmt etwas Unsittliches vor!“
Studieren, bis 30 zu Hause zu leben und dann zu heiraten,
wären auch meine auferlegten Aussichten gewesen.
Genau solche Ansichten machten neben der Tatsache,
dass ich mir ein Zimmer mit meinem Bruder teilte und mich
mit meinen Eltern nicht besonders gut verstand, meinen
Wunsch nach den eigenen vier Wänden aber nur noch größer.
Anfangs lächelten meine Eltern diesen Wunsch noch ab.
„Jaja, mach nur“, sagten sie dann oft, überzeugt davon, dass
ich es sowieso nicht schaffen werde. Zugegeben, es ist auch
wirklich schwer, auszuziehen, wenn man null Unterstützung
hat – weder finanziell noch sonst irgendwie. Ich suchte mir
im ersten Jahr meines Studiums also einen Job und legte
über Monate hinweg jeden Cent beiseite. Später lernte ich
meine jetzige Mitbewohnerin kennen, und wir beschlossen,
uns gemeinsam eine Wohnung zu suchen. Als wir dann auch
begannen, zu Besichtigungen zu gehen, kippte die Stimmung
meiner Eltern sehr schnell. „Wenn du ausziehst, ist es aus,
dann bist du für uns gestorben“, drohte mir mein Vater. Meine
Mutter sagte dann oft einfach gar nichts mehr. Insgeheim
wusste ich immer, dass sie das eher sagen, um mich davon
abzuhalten. Aber selbst wenn, wäre es mir egal gewesen.
Im Sommer 2015 zog ich mit 19 Jahren aus. In eine winzige
Wohnung. Und konnte kaum glücklicher sein.
“WAS, DAS MÄDCHEN IST AUSGEZOGEN?
ALLEINE?“
Meine Entscheidung ist in meiner Familie heute noch umstritten.
Meine Eltern machten ihre Drohung, wie erwartet, nicht
wahr und halfen mir sogar bei meinem Auszug. Dennoch wurde
mir immer wieder vorgeworfen, ich hätte meine Familie „im
Stich gelassen“ und mich von ihnen abgewandt. Sie werden
wahrscheinlich nie verstehen, dass ich mich lediglich für mich
entschieden habe. Nicht gegen sie.
Von meinem Bruder erfuhr ich Jahre später, dass sie
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