planet toys_Mai_2021
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38 STIMMEN AUS DEM HANDEL<br />
STIMMEN AUS DEM HANDEL<br />
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Besonders bitter<br />
ist, dass wir jetzt<br />
auf die Almosen<br />
des Wirtschaftsministers<br />
angewiesen<br />
sind.<br />
DIETER & AXEL SELMAIR<br />
Selmair Spielzeug<br />
GEHT DAS GUT?<br />
Zwischen Blues und Jetzt-erst-recht – eine Momentaufnahme im Spielzeughandel<br />
WIR BRAUCHEN EINEN PARADIGMEN-<br />
WECHSEL<br />
Dieter und Axel Selmair vom Regensburger<br />
Spielzeuggeschäft Selmair wollen nicht<br />
jammern, aber die Pandemie hat Spuren<br />
hinterlassen. In der tiefsten Wirtschaftskrise<br />
der Nachkriegszeit haben die beiden im<br />
September/Oktober das Geschäft komplett<br />
umgebaut – in der Hoffnung, dass es im Weihnachtsgeschäft<br />
richtig losgeht. Fehlanzeige.<br />
„Besonders bitter ist“, sagt Dieter Selmair,<br />
„dass wir jetzt auf die Almosen des Wirtschaftsministers<br />
angewiesen sind.“ Er selber<br />
habe sich 2020 kein Gehalt gezahlt. Kurzarbeit,<br />
Soforthilfen und Überbrückungshilfe<br />
III konnten zwar das Schlimmste verhindern,<br />
aber ungerecht behandelt und bevormundet<br />
fühlt man sich dennoch. „Mir ist klar, dass die<br />
Politik versucht, Kontakte zu reduzieren, aber<br />
mehr Gerechtigkeit und Toleranz hätte ich mir<br />
schon gewünscht“, sagt Selmair, „denn es gibt<br />
keine Beweise dafür, dass sich die Menschen<br />
beim Einkaufen im Spielwarengeschäft<br />
anstecken. Jetzt drängeln sie sich an der<br />
Supermarktkasse oder im Drogeriemarkt.“<br />
Die Zeit des Lockdowns haben sie intensiv<br />
genutzt, mit den Mitarbeitern eine Leitbilddiskussion<br />
zu führen, zwei Online-Shops<br />
aufzubauen und die Social-Media-Klaviatur zu<br />
spielen. „Online waren wir relativ erfolgreich,<br />
wenn man keine Renditeansprüche stellt“,<br />
sagt Dieter Selmair. „Amazon schafft in der<br />
Stunde vielleicht 100 Pakete, wir sechs oder<br />
sieben.“ Selmairs drehen jetzt Videos, um<br />
den Kunden Produkte oder das Geschäft<br />
vorzustellen, zu sehen auf Instagram und<br />
Youtube. „Nur zusperren und darauf hoffen,<br />
dass die Kunden wiederkommen, reicht nicht.<br />
Social Media sind heute unumgänglich.“<br />
Geholfen hat, dass die Kunden dem Geschäft<br />
treu bleiben. Es gab sogar eine Spende einer<br />
Kundin. Am meisten wurmt Selmair, dass der<br />
Staat die Bürger rigoros an die Hand nimmt,<br />
der doch ein Recht darauf habe, sich selber zu<br />
schützen. „Ich bin kein Corona-Leugner oder<br />
-Verharmloser“, sagt Dieter Selmair, „aber die<br />
Art und Weise, wie der Staat die Wirtschaft<br />
schon über ein Jahr einseitig belastet, ist<br />
geradezu lächerlich. Wir brauchen einen<br />
Paradigmenwechsel.“ Aufgeben wollen sie<br />
nicht, auch wenn der Start <strong>2021</strong> verhalten<br />
war. „Der Handel wird da eine Chance haben,<br />
wo er einen echten Mehrwert schafft,<br />
richtig gute Informationen, eine richtig gute<br />
Sortimentsauswahl und eine richtig gute Präsentation<br />
plus ein bisserl Emotionen bietet.“<br />
Die Pandemie wird dennoch eine Schneise<br />
der Verwüstung hinterlassen. „Ich gehe davon<br />
aus, dass wir nach der Pandemie bei 15 % bis<br />
20 % der Läden in Regensburg nicht mehr die<br />
alten Betreiber oder Leerstand sehen werden.<br />
Ich fürchte, es wird auch unsere Branche<br />
erwischen.“ Selmair will nicht dazugehören.<br />
Der Mietvertrag wurde gerade um zehn Jahre<br />
verlängert.<br />
DIE POLITIK TREIBT ZUM ONLINE-KAUF<br />
Geht die Welt unter, glaubte Bismarck, gehe sie<br />
in Mecklenburg-Vorpommern 100 Jahre später<br />
unter. Das Leben läuft nach dem Motto ab: „Wat<br />
soll ick mich hüt upregen über dat, wat morgen<br />
gar nicht kümmt.“ Aber manchmal können<br />
selbst die Stillen nicht anders, als sarkastisch<br />
zu reagieren. „Ich weiß nicht“, sagt Jörg Busse,<br />
Inhaber des Rostocker Fachgeschäftes color<br />
and more, „ob ich einen Schnapsladen brauche,<br />
aber dafür keine Schreibwaren mehr, damit ich<br />
öffnen darf.“ Busses 300 m 2 großes Geschäft<br />
liegt im Einkaufszentrum Rostocker Hof. Während<br />
dort der „Schnapsladen“ die Leute anlockt,<br />
muss Busse mitansehen, dass „die Kunden<br />
alles, was sie bei uns nicht kaufen dürfen, beim<br />
Rossmann nebenan kaufen dürfen.“<br />
Der Rostocker zog alle Register, um den<br />
Lockdown zu überstehen: Kurzarbeit, staatliche<br />
Unterstützung, Telefonverkauf, Whats-<br />
App-Beratung, Online-Bestellungen, Click &<br />
Collect etc. Das Nervenkostüm ist inzwischen<br />
von dieser Art des Business strapaziert, nicht<br />
der Kunden wegen, „denn die meinen es ja<br />
gut, aber ich renne vom Radiergummi zum<br />
Papier und dann zum nächsten Regal. Das ist<br />
Ich bin überzeugt,<br />
dass die<br />
Pandemie die<br />
ganze Handelslandschaft<br />
verändern<br />
wird.<br />
CARSTEN LAAG<br />
MATSCHKE Modellbahnen<br />
mühselig, aufwendig, stressig, ineffektiv und<br />
unwirtschaftlich.“ Jörg Busse will zurück zu<br />
dem, wofür color and more steht: persönliche,<br />
kompetente Beratung. Online ist nicht die<br />
Kernkompetenz des Geschäftes. Busse kritisiert<br />
denn auch, dass die Politik mit ihren Maßnahmen<br />
die Kunden geradezu ins Netz und zu<br />
Amazon treibt. Wie viele seiner Kollegen füllt<br />
er sich extrem ungerecht behandelt. „Ich sehe<br />
einfach nicht ein“, sagt er, „dass Kunden beim<br />
Edeka das Schreibgerät von Stabilo oder den<br />
Lamy Füller kaufen können, obwohl wir selbst<br />
in normalen Zeiten eine weitaus geringere<br />
Kundenfrequenz haben als ein Lebensmittelhändler<br />
oder eine Drogerie.“<br />
Aufgeben will Busse nicht. Er sieht nach<br />
wie vor gute Chancen für sein Geschäft. „Ein<br />
Sortiment in der Tiefe, wie wir es führen, “, sagt<br />
er, „hat kein anderer und die Hauptlieferanten<br />
werden uns unterstützen, wenn es wieder losgeht.“<br />
Dass der stationäre Einzelhandel Federn<br />
lassen wird, das glaubt er allerdings. „Ich weiß<br />
von einigen Geschäften in Rostock, dass sie<br />
nicht mehr öffnen werden. Darunter leidet<br />
auch die Innenstadt.“ Dafür hat ihm der Vermieter<br />
unlängst zu verstehen gegeben, dass<br />
der Mietindex gestiegen ist. Verkehrte Welt.<br />
SORGE VOR DEM „GRAND OPENING“<br />
Carsten Laag, Inhaber des traditionsreichen<br />
Wuppertaler Fachgeschäfts für Modelleisenbahn,<br />
Plastikmodellbau und Modellbau,<br />
MATSCHKE Modellbahnen, schwant nichts<br />
Gutes. „Ich bin überzeugt“, sagt der Wuppertaler,<br />
„dass die Pandemie die ganze Handelslandschaft<br />
verändern wird, weil es danach schwierig<br />
wird, die Kunden, die jetzt online bestellen,<br />
zurückzugewinnen.“ Filialisten specken ab,<br />
konzentrieren sich verstärkt auf den Online-<br />
Handel, inhabergeführte Geschäfte geben<br />
auf. „In Wuppertal, einer Stadt mit 350.000<br />
Einwohnern, gibt es kein einziges Spielwarengeschäft<br />
mehr, nur Müller, den ich nicht als<br />
Spielwarengeschäft bezeichne. Im Umland,<br />
Solingen, Remscheid, dasselbe Bild.“ Laag sieht<br />
es mit einem lachenden und einem weinenden<br />
Auge. „Vielleicht hat es auch etwas Gutes und<br />
es handelt sich um eine natürliche Auslese,<br />
wenn unsere Innenstädte nicht mehr von<br />
diesen ganzen Pommes- und Würstchenbuden<br />
oder Restaurantketten verunstaltet werden.“<br />
Ich weiß nicht,<br />
ob ich einen<br />
Schnapsladen<br />
brauche, aber<br />
dafür keine<br />
Schreibwaren<br />
mehr.<br />
JÖRG BUSSE<br />
color and more<br />
MATSCHKE geht es gut. Der Drang nach<br />
Beschäftigung hat der guten alten Modelleisenbahn<br />
geholfen. Stammkunden vertrauen dem<br />
Geschäft fast blindlings. „Der große Vorteil, den<br />
wir haben“, sagt Carsten Laag, „ist, dass wir<br />
schon lange am Markt sind.“ Selbst staatliche<br />
Hilfe nahm das Geschäft nicht in Anspruch. Die<br />
Kunden bestellen telefonisch, online, entweder<br />
auf der eigenen Website, auf dem idee+spiel-<br />
Marktplatz oder auf Ebay. Letzteres wurmt Laag,<br />
er spielt dennoch mit. Die Gebühren, die der<br />
Marktplatz nimmt – nämlich bis zu 13 % – „sind<br />
ganz schön happig bei den Margen in unserer<br />
Branche.“ Für Laag steht jedoch fest, dass der,<br />
der nicht online präsent ist, nicht existiert. Trotz<br />
der relativ entspannten Situation „kann ich<br />
nicht sagen, dass es der Modellbahnbranche<br />
prinzipiell gut geht. Einige Kollegen nutzen<br />
die Zeit auch für sich.“ Nur die Rückkehr zum<br />
gewohnten Alltag bereitet Laag Sorgen. Was ist,<br />
wenn die Reisebüros, die Restaurants öffnen,<br />
sich das Fernweh einstellt und das alte Leben<br />
zurückkehrt? „Ich befürchte, dass es dann zu<br />
einem Einbruch kommt, aber er wird uns nicht<br />
nachhaltig schädigen, weil wir gut dastehen.“<br />
Vielleicht bleiben die (Wieder-)Einsteiger, die<br />
während der Pandemie Blut geleckt haben, ja<br />
Märklin & Co. treu. Prognosen waren schon<br />
immer schwierig.