Kunstbulletin November 2021
Unsere November Ausgabe 2021, mit Beiträgen zu Martina Morger, Gebana Swiss Collection, Claudia & Julia Müller, Christian Marclay, uvm.
Unsere November Ausgabe 2021, mit Beiträgen zu Martina Morger, Gebana Swiss Collection, Claudia & Julia Müller, Christian Marclay, uvm.
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Menschen. In Stein gemeisselt — Stelen aus der Jungsteinzeit<br />
Zugegeben, mit der etwa 30’000 Jahre alten Venus von Willendorf<br />
kommen die vierzig im Landesmuseum gezeigten Stelen<br />
nicht mit. Aber sie sind teilweise älter als die ägyptischen Pyramiden<br />
und einiges älter als die griechischen Kouroi. Es handelt<br />
sich um die frühesten Denkmäler Europas.<br />
Zürich — Vor 6000 Jahren begannen Menschen Stelen, grosse bearbeitete Steine,<br />
aufzustellen. Das geschah nicht aus «heiterem Himmel». Die mit der neolithischen<br />
Revolution einhergehenden gravierenden Veränderungen waren die Ursache. Eine<br />
neue Gesellschaft mit neuen Hierarchien, neuen Machtverhältnissen und auch –<br />
über die Stelen – neuen Kommunikationsmodellen entstand. Ähnlich einschneidend<br />
wie die Erfindung des Buchdrucks oder die heutige Digitalisierung müsse man sich<br />
das vorstellen, sagt das Kuratorenteam. Mit den Stelen wurde eine Ideologie, ein<br />
«sinngebender Horizont» vermittelt. Die Menschen begannen, sesshaft zu werden,<br />
sie betrieben Ackerbau, Viehzucht und Vorratshaltung, das Rad und der Pflug wurden<br />
erfunden. Das Leben war hierarchischer als vorher strukturiert und diejenigen, welche<br />
die Macht innehatten, waren bestrebt, diese zu sichern und deutlich zu verkünden.<br />
Mächtige Verstorbene wurden in Stein gehauen, sie lebten weiter in überdimensionierten<br />
Ahnengestalten, und vor ihrer versteinerten Präsenz fanden festliche und<br />
rituelle Versammlungen statt. Auf ihren Bäuchen aus Muschelkalk, Sandstein oder<br />
Schiefer wurde wie auf einer Art menschlicher Litfasssäule verkündet, wer jemand<br />
ist und wer das Terrain beherrscht. Eine Person wird mit einem «Stab zum Regieren»<br />
oder mit den neuen prestigeträchtigen Pflügen und Wagen vorgestellt, oder sie ist<br />
eingekleidet in die mit den neu erfundenen Webstühlen gewebten Stoffe.<br />
Allerdings ging das Sesshaftwerden mit letztlich mehr Nach- als Vorteilen einher,<br />
schreibt Yuval Noah Harari, der die landwirtschaftliche Revolution «den grössten Betrug<br />
der Geschichte» nennt. Unter anderem deshalb, weil die Gewalt zunahm, denn<br />
es gab nun etwas zu verteidigen beziehungsweise zu erkämpfen. Zunehmend war<br />
man in der Lage, vor allem aus Kupfer nicht nur Werkzeuge und Schmuck, sondern<br />
auch Waffen herzustellen, und diese sind auf vielen Stelen dargestellt. Sie dienten<br />
nicht nur dem Kampf, sondern wurden auch als Statussymbole genutzt. Die einst<br />
wohl knallig bemalten Stelen weisen je nach Region spezifische Eigenarten auf. Ab<br />
etwa 2200 v. Ch., mit Beginn der Bronzezeit, war die Ära der anthropomorphen Stelen<br />
vorbei, nun wird die Macht der Sonne und der Gestirne verkündet. Erst in der<br />
Eisenzeit gibt es wieder grossformatige Menschendarstellungen. Das «Gipfeltreffen<br />
der Jungsteinzeit» ist unbedingt sehenswert! Kuratiert von Luca Tori und Jacqueline<br />
Perifanakis. Mit Katalog. Brita Polzer<br />
→ ‹Menschen. In Stein gemeisselt›, Landesmuseum, bis 16.1. ↗ www.landesmuseum.ch<br />
104 <strong>Kunstbulletin</strong> 11/<strong>2021</strong>