Kunstbulletin November 2021
Unsere November Ausgabe 2021, mit Beiträgen zu Martina Morger, Gebana Swiss Collection, Claudia & Julia Müller, Christian Marclay, uvm.
Unsere November Ausgabe 2021, mit Beiträgen zu Martina Morger, Gebana Swiss Collection, Claudia & Julia Müller, Christian Marclay, uvm.
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Morger hat eine grosse Affinität zu ausgemusterten, aus der Zeit gefallenen Dingen.<br />
Schon in Paris sind ihr besonders jene Geschäfte ins Auge gestochen, «in deren<br />
Schaufenstern die Zeit stehen geblieben ist, die wie vergessen anmuten». Für ‹Prospects:<br />
Sugar Beach›, <strong>2021</strong>, hat sie hellblaues und gelbes Silikon in ein ausgedientes<br />
Behältnis für Reiseprospekte gegossen. Es bedeckt kaum mehr als den Boden<br />
der einzelnen Fächer und weckt mühelos die Erinnerung an ein Schlückchen Meer,<br />
ein Quadratzentimeterchen Sand oder ein Quäntchen Sonnenuntergang. Oder doch<br />
nur an Plastik, das Strand und Meer verschmutzt? Die zurückhaltende Schönheit der<br />
Arbeit ist ebenso doppeldeutig wie ihr Titel, ist doch Prospekt unter anderem die Bezeichnung<br />
für ein Druckerzeugnis, eine Aussicht oder einen Theaterhintergrund.<br />
Platz für Performances<br />
Auch im Kunstmuseum St. Gallen selbst ist Morger auf Ausrangiertes gestossen:<br />
Ein nicht mehr benutztes Geländer rückt sie neu ins Blickfeld. Der Handlauf führt<br />
schräg an der Wand entlang, wie die meisten Handläufe neben Treppen. Aber hier ist<br />
keine Treppe. Martina Morger lenkt mit dem funktionslos gewordenen Geländer die<br />
Aufmerksamkeit auf die Geschichte des Museums: «Was war vorher im Gebäude?<br />
Was hat sich getan?» Zugleich ist das Geländer verbleibender Teil der Performance<br />
‹So Long›, <strong>2021</strong>, die noch vor der eigentlichen Ausstellungseröffnung aufgeführt wurde<br />
und nun nur noch als Nennung im Saaltext existiert – als rätselhafter Auftritt des<br />
Schondagewesenen, für immer Verpassten. Ebenso abwesend und dauerhaft zugleich<br />
manifestiert sich die Performancekunst in ‹On Curating›, 2018. Mit Absperrungen<br />
des Museums ist ein leerer Platz frei gehalten für eine künftige Performance. Die<br />
Daseinsberechtigung der ephemeren Kunst ist Morger ein wichtiges Anliegen: «Performances<br />
finden zu bestimmten Zeiten an einem bestimmten Ort statt. Das verlangt<br />
Kapazität des Publikums.» Es muss sich einlassen und muss diese Möglichkeit<br />
aber zuerst einmal erhalten. Dafür sorgt der abgegrenzte und damit reservierte Platz.<br />
Ausserhalb der Performance, die meiste Zeit also, ist er als Raum im Raum zu sehen.<br />
Leistung als Zuwendung<br />
‹Cleaning Her›, <strong>2021</strong>, wiederum weist Parallelen auf zu ‹Lèche Vitrines›: Die Künstlerin<br />
bewegt sich für diese Performance zu verschiedenen Stationen im Aussenraum;<br />
die Handlung konzentriert sich vollständig zwischen Künstlerin und Objekt. In diesem<br />
Fall putzt sie sieben Werke im öffentlichen Raum. Säubern als Geste der Zuwendung,<br />
Pflege als Aufmerksamkeit und Wertschätzung, Dienstleistung mehr als<br />
Dienst denn als Leistung – Martina Morger schreibt die Kontexte neu und definiert<br />
einen grossen Auftrag: «Ein Vorschlag, wie wir unser Zusammenleben gestalten: Das<br />
sollte Kunst sein.»<br />
Die Zitate stammen aus einem Gespräch mit der Künstlerin am 10.9.<strong>2021</strong> im Kunstmuseum St. Gallen.<br />
Kristin Schmidt, Kunsthistorikerin, lebt in St. Gallen, post@kristinschmidt.de<br />
→ ‹Martina Morger – Lèche Vitrines›, Manor Kunstpreis St. Gallen <strong>2021</strong>, Kunstmuseum St. Gallen, bis 6.3.<br />
↗ www.kunstmuseumsg.ch<br />
FOKUS // MARTINA MORGER<br />
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