Kunstbulletin November 2021
Unsere November Ausgabe 2021, mit Beiträgen zu Martina Morger, Gebana Swiss Collection, Claudia & Julia Müller, Christian Marclay, uvm.
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Monica Ursina Jägers Video ‹Rete mirabile (counter-current)›<br />
lädt uns ein, über die Komplexität und Schönheit natürlicher<br />
Systeme und unsere Rolle darin nachzudenken. Ich tue dies mit<br />
einem Blick auf das Klimasystem, gespickt mit Informationen<br />
aus dem aktuellen Bericht des Weltklimarats IPCC und anderen<br />
Erkenntnissen aus diesem Bereich. Raphael Portmann<br />
‹Rete mirabile (counter-current)› eröffnet uns ein eigenes Universum. Wir sehen ein<br />
komplexes System, das sich laufend verändert, aber dennoch von einer erstaunlichen<br />
Konstanz und Stabilität durch Strömung und Gegenströmung geprägt ist. Ohne<br />
dieses konstante Strömungsmuster wäre das Universum, das uns Monica Ursina<br />
Jäger zeigt, ein komplett anderes.<br />
Auch unser Klimasystem ist geprägt von Veränderung und Stabilität. In den letzten<br />
10’000 Jahren hat es eine nie vorher dagewesene Beständigkeit aufgewiesen.<br />
Diese begünstigte das Enstehen vieler einzigartiger Ökosysteme der heutigen Erde,<br />
beispielsweise tropische Regenwälder, Savannen und Korallenriffe. Aber auch der<br />
Mensch verdankt die Entstehung der heutigen Zivilisation diesem in der Erdgeschichte<br />
aussergewöhnlich stabilen Klima auf angenehmem Niveau. Nur weil der Meeresspiegel<br />
stabil blieb, konnten Küstenstädte entstehen. Weil Regenzeiten verlässlich<br />
wiederkehrten und die Temperaturverhältnisse mehrheitlich konstant blieben, war<br />
Landwirtschaft im grossen Stil möglich. Diese Epoche auffallender klimatischer Stabilität,<br />
in welcher die menschliche Zivilisation, wie wir sie kennen, entstand, wird Holozän<br />
genannt. Wärend des ganzen Holozäns schwankte die durchschnittliche Erdoberflächentemperatur<br />
im Bereich um plus, minus 0,5 °C relativ zum Durchschnitt<br />
der Periode 1850–1900, und die atmosphärische CO 2 -Konzentration blieb ziemlich<br />
konstant im Bereich von 260–280 ppm (parts per million).<br />
Auf direktem Weg aus der Klimakomfortzone<br />
Die menschlichen Emissionen haben dazu geführt, dass die CO 2 -Konzentration in<br />
den letzten etwas mehr als 100 Jahren auf 410 ppm (so hoch wie seit mind. 2 Mio.<br />
Jahren nicht mehr) und die Temperatur um 1,2 Grad angestiegen ist (0,2 Grad davon<br />
im letzten Jahrzehnt). Wir sind also dabei, die klimatisch konstante und für die<br />
menschliche Zivilisation sehr angenehme Ära des Holozäns zu verlassen. Oder in den<br />
Worten des Klimawissenschaftlers Mojib Latif: «Wir verlassen als Menschheit gerade<br />
den Wohlfühlbereich.» 1 Als Resultat davon erfahren wir immer intensivere und häufigere<br />
Hitzewellen, Trockenperioden und Starkniederschläge. Polareis und Gletscher<br />
schmelzen, und der Meeresspiegel steigt. Diese raschen klimatischen Veränderungen<br />
bringen bereits jetzt nie dagewesene Herausforderungen für die menschliche Zivilisation<br />
und werden ohne konsequenten Klimaschutz in Zukunft noch viel grösser. Sie<br />
bedrohen unsere Infrastruktur, Küstenregionen und ganze Inselstaaten, unsere Wasserressourcen,<br />
die landwirtschaftliche Ernte, das Funktionieren diverser natürlicher<br />
38 <strong>Kunstbulletin</strong> 11/<strong>2021</strong>