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FOMO 47 Vorschau

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moneyeditorial<br />

EDITORIAL<br />

Ökonomischer Wahnsinn<br />

FRANK MERTGEN<br />

STELLV. CHEFREDAKTEUR<br />

FOCUS-MONEY<br />

Es gibt Kurswechsel, die verschlagen einem den Atem. Zum Beispiel<br />

bei der Abteilung Konjunktur und Strategie der Hamburger<br />

Privatbank M.M. Warburg & CO. Die Experten schreiben:<br />

„Nach dem Rücktritt von Weidmann: Warum die deutsche Schuldenbremse<br />

spätestens jetzt keinen Sinn mehr ergibt.“ Hatte ich da richtig<br />

gelesen? Der Text geht dann so los: „Ja, Sie haben die Überschrift<br />

richtig gelesen. Wir schlagen tatsächlich vor, die rigide deutsche<br />

Sparpolitik und letztlich die grundgesetzlich verankerte Schuldenbremse<br />

in der jetzigen Form aufzugeben. Das schlagen wir vor,<br />

obwohl wir seit Jahrzehnten (!) eher klassische ordnungspolitisch<br />

geprägte Thesen vertreten, die mit einer ausufernden Staatsverschuldung<br />

ganz sicher nicht kompatibel sind.“ Gerade weil sich FOCUS-<br />

MONEY ebenfalls seit Jahrzehnten gegen ausufernde Staatsschulden<br />

wehrt, blieb mir der Atem weg.<br />

Jetzt könnte man das abtun als einen zweiseitigen Artikel für<br />

Bankkunden und Fachleute, der sonst niemand interessiert. Aber<br />

der Zeitpunkt ist kritisch: Die Regierungsbildung steht an und damit<br />

die Frage der deutschen Schuldenbremse (und europäischer<br />

Schuldenlimits). Bei den derzeit vier Wirtschaftsweisen ist die Einschätzung<br />

zur Schuldenbremse geteilt. Die Inflation zieht weltweit<br />

auf einer immer breiteren Basis an, auch in Deutschland und in<br />

Euro-Land. Und ja, die Bundesbank braucht nach dem Rücktritt von<br />

Jens Weidmann einen neuen Chef, der Posten ist Teil der Verhandlungsmasse<br />

bei den Ampel-Koalitionsgesprächen geworden.<br />

Was aber hat nun die Warburg-Strategen zu ihrer völligen Kehrtwende<br />

veranlasst? Weidmann sei der letzte prominente und mutige<br />

Verfechter einer politisch unabhängigen Notenbank gewesen. „Aber<br />

das ist nun Geschichte, und vor uns liegt jetzt eine Zeit, in der die<br />

Geldpolitik der Europäischen Zentralbank (EZB) erkennbar nicht<br />

mehr in der Tradition einer unabhängigen Bundesbank steht, sondern<br />

in der Tradition südeuropäischer Notenbanken, die von ihren<br />

Staaten eher wie angeschlossene Abteilungen des Finanzministeriums<br />

behandelt wurden (. . .).“ Nach Weidmanns Rücktritt habe es eine<br />

Kaskade von EZB-Statements gegeben mit der Botschaft: Der Leitzins<br />

bleibt für unbestimmte Zeit bei null Prozent, Anleihenkäufe<br />

werden verringert, aber noch lange nicht aufgegeben. Kein Wunder,<br />

dass der Euro-Kurs sinkt – was die Inflation weiter anheizt.<br />

Völlig berechtigt ist der zusätzliche Hinweis der Analysten, dass<br />

die EU-Kommission zugleich debattiert, die berühmten Maastricht-<br />

Kriterien zu ändern und eine Verschuldung von 100 (bisher 60) Prozent<br />

der Wirtschaftsleistung (BIP) zuzulassen. Und ausgerechnet<br />

Ökonomen des Euro-Krisenfonds ESM haben in einem Arbeitspapier<br />

bereits vorgeschlagen, den Grenzwert für die Staatsverschuldung<br />

von 60 auf 100 Prozent des BIP zu erhöhen. Notabene: Chef des ESM<br />

ist der Deutsche Klaus Regling. Ist die Staatsverschuldung aber erst<br />

einmal bei 100 Prozent, lässt sie sich bei plausiblen Annahmen zum<br />

möglichen Wachstum eigentlich nur gut stabil halten, „wenn man<br />

quasi auf ewig Zinsen von nahe null Prozent unterstellt“, so Warburg.<br />

Zugleich, ebenso treffend beschrieben, entwickle sich die EZB zur<br />

Transfer- und Haftungsunion. Beweis, wie an dieser Stelle schon oft<br />

erwähnt: der sogenannte Corona-Hilfsfonds mit einem Volumen von<br />

750 Milliarden Euro, finanziert über gemeinsame Anleihen, dessen<br />

Verteilung mit Corona nichts zu tun hat und dessen erste Gelder fließen,<br />

wenn Corona hoffentlich endlich halbwegs ökonomisch abgehakt<br />

werden kann.<br />

Jetzt der entscheidende Punkt im Warburg-Plädoyer, die nationale<br />

Schuldengrenze (im Grundgesetz verankert!) aufzuheben: Spart<br />

Deutschland weiterhin, zementiert es bei endgültig aufgeweichten<br />

Maastricht-Kriterien die Schulden-Lücke zwischen der Bundesrepublik<br />

und den meisten Euro-Staaten. Denn wie nach Finanz- und<br />

Euro-Krise würde der deutsche Schuldenstand wieder Richtung<br />

60 Prozent des BIP sinken, für die Großschuldner wäre selbst die Annäherung<br />

an 100 Prozent „fast utopisch, da der Wert im Schnitt<br />

schon jetzt bei 110 Prozent liegt (ohne Deutschland)“.<br />

Die Dimension wird klar, wenn man die BIP-Prozente in absolute<br />

Beträge übersetzt. Wäre Deutschland bereit, seine Schulden auf das<br />

Niveau der anderen Staaten zu hieven, könnte es schuldenfinanziert<br />

zusätzliche 1600 Milliarden Euro ausgeben – das sind grob vier Jahreshaushalte<br />

des Bundes. Damit „gäbe es auf Jahrzehnte hinweg keine<br />

ernsthaften Restriktionen mehr für die deutsche Politik. Ohne größere<br />

Probleme könnten die Bildungsausgaben dramatisch erhöht<br />

und die Steuern dramatisch gesenkt werden. Die Infrastruktur könnte<br />

von Grund auf erneuert und Investitionen für den Klimawandel<br />

mutig angegangen werden.“<br />

Ein Haken an der Sache: Deutschlands niedrige Schulden und das<br />

geschilderte theoretische Ausgabenpotenzial sind der Stabilitätsanker<br />

der Euro-Zone und der EU. Der wird kleiner, wenn Deutschland<br />

so wird wie die Mittelmeer-Staaten. „Seine eigene Bonität aber dafür<br />

aufzusparen, in einer Währungs- und Haftungsunion Rechnungen<br />

für andere zahlen zu können, grenzt an ökonomischen Wahnsinn“,<br />

so Warburg. „Kein Land der Welt wäre so altruistisch, sich selbst fast<br />

totzusparen, um eine Bonität aufrechtzuerhalten, von der primär die<br />

anderen profitieren. Selbst Deutschland kann nicht so verrückt sein,<br />

darin einen Sinn zu sehen, zumal der Druck aus anderen Ländern<br />

ohnehin unerträglich groß werden wird, die deutsche Schuldenbremse<br />

aufzugeben (. . .).“ Sinn machen würde das nur, so die Experten,<br />

wenn Deutschland planen würde, Euro und EU zu verlassen.<br />

Das plant aber fast niemand und deshalb, so die Hamburger Banker,<br />

müsse man halt nach den neuen Regeln spielen.<br />

Immerhin fragen sie sich noch, wohin das führen könne – wenn<br />

eine solche Politik in 20 oder 30 Jahren vor die Wand fährt. Dann sei<br />

es „zumindest besser, mit einer guten Infrastruktur und gut ausgebildeten<br />

Fachkräften einen Neuanfang zu starten als mit einem Land,<br />

das sich bis zu dem Zeitpunkt totgespart hat und dann trotzdem bei<br />

null anfangen muss. So gesehen, gibt es gar keine ernsthafte Alternative<br />

mehr zum Geldausgeben.“<br />

Sind Sie wieder bei Atem? Seit 2008 schreibe ich von epochalen<br />

Experimenten, an denen wir teilnehmen. Die Experimente werden<br />

immer größer und immer gefährlicher. Wirklich Wahnsinn.<br />

Ihr<br />

FOCUS-MONEY <strong>47</strong>/2021<br />

Foto: S. Ugurlu/FOCUS-MONEY Composing: FOCUS-MONEY<br />

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