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SPEZIAL

UNIversalis-Zeitung

Für Universität und Hochschulen in Freiburg

ArtMedia Verlag Freiburg Winter 2021 31. Ausgabe / 17. Jahrgang

Mehr als nur ein Kino

Nach anderthalbjähriger Coronapause öffnet der aka Filmclub wieder seine Tore – und steht vor einer

Herausforderung, die in der langen Geschichte des Vereins einmalig ist

W

er bis ins Jahr 2019 in

Freiburg studiert hat,

der kennt folgendes

Abendprogramm vermutlich

ganz genau: Snacks, Getränke

und Freunde einpacken, in

den Hörsaal der Biologie gehen

(oder früher in den großen Hörsaal

im KG II), Einsfünfzig bezahlen

und dann gemeinsam mit anderen

Studierenden einen Film auf großer

Leinwand schauen. Einen Film,

den man schon immer einmal sehen

wollte, den man unbedingt einmal

im Kino sehen möchte oder von

dem man sich überraschen lassen

will, weil man noch nie im Leben

etwas davon gehört hat.

Seit 1957 organisiert der akademische

Filmclub an der Uni Freiburg

e.V., kurz „der aka“, semesterweise

ein Kinoprogramm von

Studierenden für Studierende. Damit

zählt der Verein zu den traditionsreichsten

Institutionen der Freiburger

Studierendenkultur. Seine

Aufgabe sieht der Filmclub zweigeteilt:

Einerseits soll dem Publikum

ein anspruchsvolles Filmprogramm

präsentiert werden, das mit einem

rungen der Coronalage flexibel reagieren

zu können, plant der Verein

das Programm zunächst statt semesterweise

in Vierwochenrhythmen.

Zusätzlich wurde eine Fördermitgliedschaft

ins Leben gerufen, die

es Interessierten ermöglicht, den

aka finanziell und auch mit geringen

Beiträgen zu unterstützen.

Damit ist von Seiten des Filmclubs

eigentlich alles angerichtet. Wenn

jetzt noch die Zuschauer*innen so

treu und leidenschaftlich ins Kino

gehen, wie vor Corona, wird der

aka diese Krise überwinden und

es kann auch die nächsten 65 Jahre

heißen: Licht aus und Film ab!

Der aka spielt Dienstag bis Donnerstag

im Hörsaal der Biologie in

der Schänzlestraße (neben dem botanischen

Garten) unter Einhaltung

der Hygieneregeln. Programmbeginn

jeweils 20 Uhr, Eintritt 1,50€

auch für Nicht-Studierende. Wer

beim aka mitmachen will, kommt

einfach zu einer der Vollversammlungen

an jedem ersten Montag im

Monat. Vorkenntnisse sind nicht erforderlich.

Alle Infos zu Programm,

Verein und Fördermitgliedschaft

unter www.aka-filmclub.de

Johannes Litschel

Seit 2011 für Sie in der Region

Bietet Platz für bis zu 400 Zuschauer*innen: Der Kinohörsaal des aka Filmclub

© Svenja Alsmann

Aus Liebe. Für Menschen.

Aus dem Inhalt:

Kolja Reicherts Krypto-Kunst

3

Wir im Blick des Bären 4

Die letzten Orangen aus Jaffa

6

Die Herausforderungen des

Anthropozäns7

Im Gespräch: Heiner Tettenborn

über Afghanistan10

Der Umgang mit der NS-Justiz

vor und nach 194512

Das Massaker von Babyn Jar

13

Ohne Waffen gegen Hitler 15

geringen Eintrittspreis möglichst

jedem die Gelegenheit zur Teilhabe

gibt. Das Programm wird sorgfältig

und in langen Debatten kuratiert und

lenkt den Blick von amerikanischen

Blockbustern und dem sogenannten

Arthouse-Mainstream wie der französischen

Sommerkomödie oder

dem neuesten Reisefilm weg, und

stattdessen hin zu unbekannten,

anspruchsvollen und bisweilen vergessenen

Schätzen des internationalen

Kinos. Thematische Filmreihen

ergänzen sich mit Einzelfilmen, die

unabhängig von inhaltlichen Klammern

zeigens- und sehenswert sind.

Daneben steht der aka, wie der

Name schon sagt, in der Tradition

der Filmclubbewegung und versteht

sich auch nach innen als Kulturinstitution.

Basisdemokratisch

gestaltet und offen für alle Filminteressierten

ermöglicht der Verein

seinen Aktiven, sämtliche Facetten

eines Kinobetriebs mitzugestalten

– von der Programmplanung über

die Betreuung der Abspieltechnik

bis hin zu Finanzierung, Netzwerkund

Öffentlichkeitsarbeit. So wird

der aka weitgehend unabhängig von

der Universität und vor allem von

externen Geldgebern seit Generationen

von Studierenden ehrenamtlich

organisiert und weitergetragen.

Freilich machte Corona auch vor

dem Filmclub nicht halt. Drei Semester

lang ruhte der Spielbetrieb

gänzlich und auch das kurze Zeitfenster

im vergangenen Sommer,

als die Kinos unter strengen Auflagen

öffneten, war dem Filmclub

keine Hilfe. Die Hygieneregeln der

Universität sahen keine eigenen

und damit erst recht keine externen

Veranstaltungen vor, gleichzeitig

fiel ein Teil der Sommeröffnung in

die Semesterferien. Und noch etwas

unterscheidet den aka von herkömmlichen

Kinos: Während die

Auslagern

Aufbewahren

Abstellen

blau = C:100 | M:20 | Y:0 | Y: 0 | K: 0

Gelb = C:0 | M:10 | Y:100 | K:0

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Hilfspakete für Kinobetriebe weitgehend

erfolgreich ihre Zielgruppe

erreichten, fiel der aka durch sämtliche

Raster der Coronahilfe. Als

komplett ehrenamtlich geführter

Betrieb – so die Förderlogik – entstehen

dem Verein keine Fixkosten

im Personalbereich, womit die

entscheidende Hürde in den Hilfsanträgen

nicht genommen werden

konnte. Vernachlässigt wurde dabei

aber, dass der Verein durchaus laufende

Kosten hat, und zwar nicht zu

knapp: Verbandsmitgliedschaften,

Versicherungen, Zeitschriftenabos

und vor allem die Mietkosten für

das Vereinsbüro im Freiburger Sedanviertel

mussten auch während

der vergangenen Monate bezahlt

werden. Geldeingänge konnten lediglich

durch eine unkomplizierte

Spende vom Freiburger StuRa und

über zweckgebundene Mittel des

Stadtjubiläums verzeichnet werden.

Grethergelände, Mensagarten

und das Uniseum unterstützten den

aka zusätzlich ideell. Die Folge:

Das Vereinsvermögen, das für technische

Neuanschaffungen aufgebaut

wurde, ist durch Corona um rund

zwei Drittel geschmolzen und es ist

keine Übertreibung zu behaupten,

dass der aka ein weiteres Coronasemester

vermutlich nicht überlebt

hätte.

Diese Zeit ist nun vorbei: In den

ersten Wochen des Wintersemesters

wurden die Tore im Großen

Hörsaal der Biologie in Freiburg-

Herdern für das Publikum wieder

geöffnet. Formal wie inhaltlich ist

das Programm allerdings an die momentane

Situation angepasst. Denn

das Vorhaben, unbekannten oder

fordernden Filmen eine Plattform

zu geben, ist trotz des zweifelsohne

regen Zuspruchs der Freiburger

Studierendenschaft nicht immer

mit ökonomischem Erfolg verbunden.

Wie generell im Kulturbetrieb

wird auch hier mit zunehmender

Nischenlastigkeit die potenzielle

Zielgruppe kleiner. Hinzu kommt

eine Herausforderung, die einmalig

ist in der gut sechzigjährigen

Geschichte des Vereins: eine ganze

Kohorte hat ihr Studium zwar schon

zur Hälfte abgeschlossen, wegen

Corona aber bis dato noch nie etwas

von dem studentischen Verein

gehört, geschweige denn einen Film

im Hörsaal genossen. Publikum

wie neue Mitglieder müssen also,

zumindest in Teilen, überhaupt erst

auf das Angebot aufmerksam gemacht

werden.

Um dieses Dilemma zu lösen –

Verluste kompensieren, Interesse

beim Publikum (neu) wecken und

gleichzeitig dem Markenkern treu

bleiben – wird das Programm im

Wintersemester vor allen Dingen

aus erfolgsversprechenden Einzelfilmen

zusammengestellt, die aber

gleichzeitig einem cineastischen

Anspruch genügen und mehr sind,

als bloße Produkte einer Unterhal-

tungsindustrie. Der aktuelle, provokante

Berlinalegewinner beispielsweise,

Spielfilme mit politischem

Impetus oder auch Kooperationen

mit dem feministischen Freiburger

Indie-Pornolabel „feuer.zeug“ verbinden

spannende Filme mit dem

Ziel, das Kino als sozialen Raum zu

fördern, gemeinsames Filmeschauen

und gemeinsames Debattieren

zu ermöglichen. Um auf Verände-


2 UNIversalis-Zeitung Winter 2021

Ein neuer Ort der Bildung für Nachhaltige

Entwicklung

Der Lehr- und Lerngarten der Pädagogischen Hochschule Freiburg

A

m Institut für Biologie

der Pädagogischen Hochschule

Freiburg ist die

Bildung für eine nachhaltige

Entwicklung (BNE) seit vielen

Jahren ein zentraler Bestandteil in

der Lehre. In Seminaren zu verschiedenen

Ökosystemen (Wald, Wiese,

See, Stadt etc.) werden die fachwissenschaftlichen

Grundlagen einer

nachhaltigen Entwicklung und des

Klimawandels gelehrt. Aber auch in

fachdidaktischer Hinsicht erhalten

die Studierenden ein breitgefächertes

BNE-Angebot. Auf Grundlage

empirischer Forschungsergebnisse

wird vermittelt, welche Lehr- und

Lernverfahren besonders wirksam

sind, wie wichtige Teilkompetenzen

(z.B. das systemische Denken) gefördert

werden können, auf welche

nachhaltigkeitsrelevanten Schüler/-

innenvorstellungen man als Lehrperson

treffen wird und welchen Beitrag

außerschulische Lernorte zur BNE

leisten können.

Ein besonderer Ort der BNE, dem

eine hohe Wirksamkeit zugesprochen

wird und der an der Pädagogischen

Hochschule bisher leider

fehlte, ist der Lehr- und Lerngarten.

In ihm können vielfältigen nachhaltigkeitsrelevanten

Fragestellungen

ganz praktisch und unmittelbar

nachgegangen werden. Es kann die

Artenvielfalt erlebt, dokumentiert

und gefördert werden, indem man

verschiedene Bepflanzungen erprobt

und vergleicht. Der Gemüseanbau

kann praktiziert und verschiedene

Anbauweisen aus ökologischer, ökonomischer

und sozialer Perspektive

analysiert und auf ihre Nachhaltigkeit

hin diskutiert werden. Im Lehr- und

Lerngarten wird Gestaltungskompetenz

ausgebildet: Studierende planen

gemeinsam, motivieren sich gegenseitig,

werden aktiv und gestalten die

Zukunft. Diese Erfahrung sollen sie

später auch bei ihren Schülerinnen

und Schülern stiften. Denn um nachhaltig

zu handeln braucht es die Zuversicht,

dass man einen Unterschied

machen kann.

Im letzten Jahr konnte sich das Institut

für Biologie erfolgreich beim

Förderprogramm „Hochschulgärten

an den Pädagogischen Hochschulen

des Landes Baden-Württemberg“

des Ministeriums für Wissenschaft,

Forschung und Kunst bewerben.

Gemeinsam mit Studierenden wurde

im Wintersemester 2020/21mit der

Konzeption sowie Umsetzung des

Lehr- und Lerngartens begonnen.

Als geeignete Fläche wurde ein eingezäunter

Wiesenbereich zwischen

dem Kleinen Auditorium und den

Bahngleisen ausgemacht. Da die

Bodenqualität unzureichend war,

wurde vor allem in den Bereichen

der Ackerbeete eine enorme Menge

frische Erde eingebracht. In Kooperation

mit dem Institut für Technik

wurden die Hochbeete hergestellt

und anschließend im Hochschulgarten

aufgestellt und befüllt. Der Ausbau

des Lehr- und Lerngartens geht

fortwährend weiter: Gerade bekam

der Schuppen ein neues Dach und

als nächstes wird das Gewächshaus

aufgestellt und eine Bewässerungsanlage

installiert.

Im Laufe dieses Jahres konnte die

Der Hochschulgarten in voller Blüte

Bepflanzung angegangen werden. Es

wurden Bäume und Beerensträucher

gepflanzt, aber auch Bereiche mit

bienenfreundlichen Wiesenpflanzen

geschaffen. In den Beeten wurde Gemüseanbau

betrieben, mit Mischkulturen

und Fruchtfolgen experimentiert

sowie Bodenuntersuchungen

durchgeführt. Auch Kartoffeln und

verschiedene Kräuter wurden kultiviert.

App-Touren durch den Garten

Neben diesen sehr klassischen Tätigkeiten

haben die Studierenden aber

auch neue Wege der Hochschulgartenarbeit

beschritten, indem sie ihre

Arbeit und Erkenntnisse in App-Touren

dokumentiert haben. BNE und

digitale Medien werden zunehmend

als einander ergänzende Bildungskomponenten

verstanden. Der Einsatz

von Spielelementen wie Escape

Rooms, Quiz- und Rätsel elemente

innerhalb der App-Touren fördert

die Motivation sowie das emotionale

Erleben und unterstützt gerade

dadurch auch die Ziele der BNE.

Die Studierenden sollen diese Anwendungen

jedoch nicht nur nutzen,

sondern gemeinsam generieren, womit

die vier Kompetenzbereiche des

Foto: PH Freiburg

4K-Modells (Kreativität, Kollaboration,

Kommunikation und kritisches

Denken) gefördert werden. In einem

gemeinsamen Seminar mit dem Institut

für Geographie haben Studierende

Themen der Nachhaltigkeit erarbeitet

und diese in BNE-App-Touren im

Hochschulgarten erlebbar gemacht.

Nach der Erstellung, Erprobung und

Optimierung der BNE-App-Touren

wurden diese in die jeweiligen App-

Stores hochgeladen und stehen nun

der Öffentlichkeit zur Verfügung. Sie

können im Hochschulgarten durch

Seminargruppen, Schulklassen und

andere Besucherinnen und Besucher

genutzt werden. Im Sinne des Service

Learning werden wissenschaftliche

Inhalte einem breiten Interessentenund

Nutzerkreis zugänglich gemacht.

In einer Begleitforschung wurden die

Studierenden während der Seminare

über Fragebögen und Lerntagebücher

mehrfach befragt. Es wurden ihre

Einstellungen zu Umweltfragen sowie

zu digitalen Medien erhoben. Darüber

hinaus wurden sie zu ihrer Motivation

befragt, später als Lehrkraft

einen Schulgarten zu initiieren oder

zu betreiben und dort nachhaltigkeitsrelevante

Themen zu unterrichten. In

der Auswertung werden Studierende

verglichen, die mehr praktisch im

Hochschulgarten gearbeitet oder ihren

Schwerpunkt auf die Erstellung

digitaler Medien gelegt haben. Ziel

ist es, die Seminargestaltung in der

Lehramtsausbildung im Kontext von

BNE und Hochschulgarten zu optimieren

und Studierende als zukünftige

Akteurinnen und Akteure von

BNE möglichst effektiv zu fördern.

Dr. Christian Hörsch, Wissenschaftlicher

Mitarbeiter am Institut für

Biologie und Didaktik der Pädagogischen

Hochschule Freiburg

Jun.-Prof. Dr. Nadine Tramowsky,

Institut für Biologie und Didaktik,

Leiterin des Freiburger BioLab der

Pädagogischen Hochschule Freiburg

Dr. Anna Chatel, Wissenschaftliche

Mitarbeiterin am Institut für Geographie

und Didaktik der Pädagogischen

Hochschule Freiburg

Diana Jakobschy, Wissenschaftliche

Mitarbeiterin am Institut für Biologie

und Didaktik der Pädagogischen

Hochschule Freiburg

Spielend lernen!

Wege neuen Lernens am Zentrum für didaktische Computerspielforschung entdecken

C

omputerspiele, interaktive

Apps und virtuelle

Realität – das gehört

in den Unterricht! Mit

diesem Grundsatz erforschen die

Wissenschaftler*innen des Zentrums

für didaktische Computerspielforschung

(ZfdC) der Pädagogischen

Hochschule Freiburg die didaktischen

Potenziale digitaler Medien. Die

Projekte des Zentrums beleuchten

ein breites Spektrum bildungswissenschaftlicher

Themen rund um die

schulpraktischen und empirischen

Möglichkeiten des interaktiven Lernens,

der digital gestützten Lehr- und

Lernsettings und didaktischen Potenziale

unterschiedlicher Medienformen.

Im Rahmen des bundesweiten Maus-

Türöffnertags 2021 der Sendung mit

der Maus konnten neugierige Kinder

und Jugendliche sowie deren Eltern

im Oktober erstmals einen Einblick

in die Arbeit und die vielfältigen Projekte

des Zentrums gewinnen und

dabei eine Menge entdecken.Nach

einer Begrüßung und Einführung

durch die Zentrumsleitung, Prof. Dr.

Jan M. Boelmann und Dr. Lisa König,

konnten die Kinder an verschiedenen

Stationen Neues ausprobieren,

ihre Kompetenzen und Kreativität auf

die Probe stellen und so interaktiv die

vielfältigen Forschungsbereiche des

Zentrums kennenlernen.

Das Kernanliegen des Zentrums, Lernen

neu und umzugestalten,wurde für

die Besucher*innen am Türöffnertag

hautnah erlebbar. Bei ihrem Besuch

hatten sie vielfältige Möglichkeiten,

sich mit der lernförderlichen Rezeption

und Produktion verschiedener Medienformen

erkundend, fragend und

auch kreativ auseinanderzusetzen.Vor

einem Greenscreen unternahmen sie

Versuche eigener Fernsehauftritte und

animierten an der Trickfilm-Station,

mit Tablets und Playmobil-Figuren

ausgestattet, eigene Kurzfilme. Auf

der Augmented Reality-Couch erkundeten

die Nachwuchsforscher*innen

virtuell einen Bienenstock und konnten

per Merge Cube antike Skulpturen

unter die Lupe nehmen. Bei

Schüler*innen aller Altersgruppen erfreuten

sich die Tablet-Umgebungen

zur informatorischen Grundbildung

großer Beliebtheit, die einen spielerischen

Einstieg in die Welt des Programmierens

ermöglichen. Schließlich

konnten die Gäste auch erste

Erlebnisse in virtuellen Umgebungen

per VR- und Cardboard-Brille machen

und im Game Lab, das Herzstück des

2019 gegründeten Zentrums, mit

Computerspielen Kompetenzen und

Wissen erwerben.

Potenziale digitaler Medien

Doch warum braucht es die Arbeit

am Zentrum für didaktische Computerspielforschung

überhaupt? Die

systematische bildungswissenschaftliche

Erforschung digitaler Medien

ist hochaktuell: Hörbücher, Film und

Fernsehen ebenso wie digitale Spiele

und die zahllosen Möglichkeiten des

Internetsstellen heute mehr denn je einen

bedeutenden Teil der zunehmend

digitalisierten Gesellschaft dar, die die

Lebenswelt heutiger Schüler*innen

ist. Aus dem Alltag von Kindern und

Jugendlichen sind digitale Medien

vielfach kaum mehr wegzudenken.

Darüber hinaus sind verschiedenen

Medienformen gegenstandsspezifische

Besonderheiten inhärent, die

sich für das Lernen von Kindern und

Jugendlichen – auch in der Schule –

nutzen lassen.

Das Zentrum für didaktische Computerspielforschung

untersucht daher, als

europaweit einzigartige Einrichtung,

vorliegende lernförderlichen Potenziale

von interaktiven Medienformen

wie Apps, Computerspiele oder auch

Virtual und Augmented Reality-Anwendungen

und bringt diese in den

Unterricht verschiedener Fächer und

Schulformen. An der Pädagogischen

Hochschule fungiert das ZfdC als mediendidaktisches

Kompetenzzentrum,

das Bildungsangebote wie Workshops,

Fortbildungen und eigenständige Seminarangebote

anbietet. Während

der Semesterzeit werden in kurzen

Lunchtime-Lessons zentrale Themen

rund um den Einsatz interaktiver Medien

besprochen und diskutiert; in den

interdisziplinären Datenbanken finden

sich verschiedene Empfehlungen zu

Spielen und VR-AR-Angeboten für

die konkrete Anwendung in der Schule.

Viele davon werden zusätzlich in

der Reihe Computerspiele im Unterricht

auf dem zentrumseigenen Youtube-Kanal

vorgestellt und Chancen

und Herausforderungen für neue Lernwege

mit Expert*innen besprochen.

Dazu fungiert das Zentrum deutschlandweit

als zentrale Anlaufstelle für

Forschungsvorhaben im Bereich interaktiver

Medien und lädt mit seinem

Fellowship-Programm interessierte

Nachwuchswissenschaftler*innen und

Lehrkräfte zur aktiven Teilnahme ein.

Die Besucher*innen des Maus-Türöffnertags

konnten bereits einen Einblick

in die Arbeit des ZfdCs erhalten.

Sie wollen auch mehr wissen? Dann

besuchen Sie uns an der Hochschule

oder werfen Sie einen Blick auf unsere

Website: www.zfdc.de

Dr. Lisa König, Wissenschaftliche

Mitarbeiterin für Literatur- und Mediendidaktik

am Institut für Deutsche

Sprache und Literatur, stv. Direktorin

des Zentrums für didaktische Computerspielforschung

der Pädagogischen

Hochschule Freiburg

Jaron Müller, Doktorand im Forschungs-

und Nachwuchskolleg „Didaktik

des digitalen Unterrichts: Digital

gestützte Lehr-Lernsettings zur

kognitiven Aktivierung“ (Di.ge.LL)

der Pädagogischen Hochschule und

der Universität Freiburg

Foto: Pädagogische Hochschule Freiburg


Winter 2021 UNIversalis-Zeitung 3

Beglaubigte Fiktionen

Kolja Reicherts Krypto-Kunst. NFTs und digitales Eigentum

I

m März dieses Jahres

wurde im Auktionshaus

Christie‘s ein Kunstwerk

für rund 69 Millionen Dollar

vekauft. Daran ist soweit nichts

ungewöhnlich, ist der Kunstmarkt

doch dafür bekannt Preise hervorzubringen,

die jenseit der Vorstellungskraft

der meisten Menschen

liegen. Nun war es in diesem Fall

kein verschollener Picasso, noch

ein verchromter Ballonhund, der

in London den Besitzer wechselte,

sondern eine Collage des Digitalkünstlers

und Mediendesigners

Beeple. Das teuerste digitale Kunstwerk

aller Zeiten ist eine 319 Megabyte

große .jpeg-Datei mit dem

Titel „Everydays: The First 5000

Days“, bestehend aus 5000 Einzelbildern

mit schwankender künstlerischer

Qualität, die Mike Winkelmann,

wie Beeple mit bürgerlichem

Namen heißt, seit einigen Jahren

tagtäglich auf der kostenlosen Online-Plattform

tumblr veröffentlicht.

Millionen von Dollar für ein Ölgemälde

zu bezahlen ist schon nicht

ohne Weiteres nachvollziehbar, einen

solchen Betrag für etwas auszugeben,

das es genau genommen gar

nicht gibt, sprengt – gelinde gesagt

– unsere Vorstellungen davon, wie

kulturelle Bildung und Wertschöpfung

bisher funktioniert haben.

Beeples Collage ist, einige werden

es schon vermuten, ein NFT, ein

non fungible token. Kurz zur Erklärung:

Ein NFT bezeichnet technisch

gesehen nicht mehr als einen Registereintrag,

indem beispielsweise

steht, wem etwas gehört. Dieser

Eintrag wird in einer Blockchain,

einer riesigen kollektiven Datenbank,

gespeichert und ist damit

unfälschbar, da diesen grob gesagt

jede*r einsehen, aber niemand ändern

kann. Mit einer solchen digitalen

Echtheitssignatur versehen,

kann nun eine prinzipiell unendlich

kopierbare Datei zweifelsfrei

als Original ausgewiesen werden.

Unterscheiden tut sich das Original

der Beeplschen Collage von seinen

tausendfachen Kopien durch nichts

– außer eben dadurch, das es nur

einmal existiert und dass mit dem

Abschluss des Kaufvertrags festgelegt

ist, wem es gehört.

Originalitätskult

Verhießen die Anfangszeit des Internets

und das Aufkommen der

Postmoderne theoretisch wie praktisch

die Verabschiedung von Eigentum

und Urheberschaft, spielen

Kolja Reichert, Krypto-Kunst. NFTs

und digitales Eigentum, Reihe Digitale

Bildkulturen, Verlag Klaus Wagenbach,

ISBN 978-3-8031-3711-1

diese beiden Kategorien im digitalen

Raum nun wieder eine zentrale

Rolle. Und nicht nur dort, sondern

durchaus auch in der echten

Welt, denn es geht um ziemlich viel

Geld. Mit der Blockchain wurde

eine völlig neuartige Rahmentechnologie

geschaffen, mit der nahezu

jedes erdenkliche digitale Gut kapitalisiert

werden kann – von der

mittlerweile schon zehn Jahre alte,

pixelige Nyan-Cat (600.000 US-

Dollar) bishin zu einer Kopie von

Twitter-Erfinder Jack Dorseys erstem

Tweet (2,9 Mio. US-Dollar).

Das NFT beglaubigt die für das

Funktionieren dieses Prinzips notwendige

Fiktion des Eigentums, so

der Kunstkritiker und Programmkurator

der Bundeskunsthalle, Kolja

Reichert in seinem kürzlich erschienenen

Buch Krypto-Kunst. Reichert

zeichnet in seiner knapp 70 Seiten

umfassenden Studie, die in der

Reihe „Digitale Bildkulturen“ des

Wagenbach Verlags erscheint, hellsichtig

die bisherige Geschichte der

NFTs in all ihrer Ambivalenz nach

und landet damit eine Diagnose, die

näher an der Gegenwart kaum sein

könnte. Denn natürlich ist Krypto-

Kunst auch irgendwie Corona-

Kunst. Während den Wochen und

Monaten des harten Lockdowns

hatten sehr viele Menschen plötzlich

sehr viel Zeit und insbesondere

in den USA zirkulierte durch die

unbürokratische Ausschüttung der

Corona-Hilfen auf einen Schlag viel

Geld. Ein nicht unwesentlicher Teil

davon wurde in Kryptowährungen

und -kunst investiert, wie die Kursentwicklungen

von Bitcoin, Ethereum

und co. aus dem Frühling belegen.

Den Hype um NFTs als flüchtiges

Nebenprodukt der Pandemie

abzutun, wäre allerdings verfrüht.

Denn der digitale Handel mit Kunst

scheint, zumindest für den Moment,

das Gatekeeping des Kunstmarkts

und seinen Institutitionen

außer Kraft zu setzen – es liegt auf

der Hand, dass die Hemmschwelle,

ein Kunstwerk am Bildschirm zu

kaufen undgleich niedriger ist als

der Besuch einer Galerie, mit all

ihren ungeschriebenen Verhaltens-,

Dress- und Sprachcodes.

Kunst als Ware

Ob nun mit dem Aufkommen von

Krypto-Kunst die große Demokratisierung

des Kunstmarkts eingeleitet

wird, darüber lässt sich

streiten. Einerseits bieten NFTs

allen halbwegs technikaffinen

Kolja Reichert

Foto: Albrecht Pischel

Eine Auswahl von CryptoPunks

Hobbykünstler*innen die Möglichkeit,

ihre Arbeiten in ein Verhältnis

zu einem Wert zu setzen und zum

Verkauf anzubieten. Trotzdem werden

die höchsten Gewinne weiterhin

von etablierten Institutitionen

(Beeples Collage wurde im Traditionsauktionshaus

Christie‘s versteigert)

und von Menschen mit

entsprechendem sozialen Status,

siehe Jack Dorsey, eingefahren.

Dahingehend bleibt also alles beim

Alten und im Anschluss daran wird

oft argumentiert, NFTs seien ohnehin

mehr unternehmerische als ästhetische

Innovation. Natürlich sind

Krypto-Kunstwerke in einem nicht

unwesentlichen Maß Spekulationsobjekte,

mit denen durch Handel

und Wetten viel Geld verdient wird

– verglichen jedoch mit den Preisen,

die für „traditionelle“ Kunst erzielt

werden, erscheint der Vorwurf eher

mau. Dass Kunstwerke wie Waren

gehandelt werden, ist kein neues

Phänomen, nur ist es jetzt noch

einfacher sie zu ewerben oder, frei

nach Wolfgang Ullrich: Nie gab es

so viel Kunst wie heute und nie zuvor

war sie so käuflich. Kolja Reichert

sieht überhaupt im NFT als

Prinzip keine wirkliche Neuerung,

handelt es sich doch basal gesagt

nicht mehr als um eine Buchhaltungstechnologie,

deren Funktionieren

sich auf die soziale Fiktion

des Eigentums gründet. Trotzdem

oder gerade deswegen werden

NFTs immense Werte zugeschrieben,

wodurch eine neue Sorte Ware

entstanden ist, so Reichert, die mittlerweile

eine beachtliche kulturelle

Strahlkraft entwickelt hat. Und an

dieser Stelle stellt der Kunstkritiker

die richtigen Fragen: Bringen NFTs

eine spezifische Ästhetik hervor, die

verantwortlich für ihre auratische

Wirkung ist? Oder stecken hinter

dem Boom womöglich tiefgreifendere

kulturelle Veränderungen?

Vielseitig

ist einfach.

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Foto: Larva Labs

Krypto-Ästhetik

Im Diskurs über Krypto-Kunst wird

der Begriff NFT oftmals verwendet,

als handele es sich dabei bereits um

eine feststehende Gattungsbezeichnung,

wie etwa „Renaissance“ oder

„Abstrakter Expressionismus“. Voraussetzung

dafür wäre, dass NFTs

durch gewisse ästhetische und formale

Merkmale auffallen, mit denen

sie sich in die Tradition eines

bestimmten Genres einschreiben

bzw. dieses durch wiederkehrendes

Auftreten begründen.

Es lässt sich nicht abstreiten, dass

einige prominente NFTs eine gewisse

inhaltliche Nähe zueinander

aufweisen. Das liegt aber vor allem

daran, dass sie sich an Elementen

nostalgischer Computer- oder Internetästhetik

bedienen, wie etwa

8-Bit Grafiken, Airbrushs, trashigen

Fantasymotiven oder retrofuturistischen

3D-Animationen. Für einen

verbindlichen Kanon genügt das

selbstverständlich noch nicht und

hier identifiziert Reichert ein grundlegendes

Problem. Die Gleichheit

der Distributionsform suggeriert

eine qualitative Gleichheit der

Werke – als hätte nun jede*r eine

Galerie. Dies sei weniger ein demokratischer

Fortschritt im Kampf

gegen die Institutitionen als ein Triumph

der Hobbykunst, konstatiert

der Kunstkritiker nicht ohne Polemik.

Und ein Stück weit müssen wir

ihm zustimmen, denn ein wichtiges

Argument für die Qualität eines

Kunstwerks ist ja sein Wissen um

die formalen und ästhetischen Konventionen

einer Gattung, deren es

sich – in welcher Weise auch immer

– bedient und damit in einen Dialog

mit allen bisherigen und noch

kommenden Werken tritt. Ein gelungenes

Kunstwerk handelt auch,

aber eben nicht nur von sich selbst.

Als ein gelunges Beispiel von

Krypto-Kunst nennt Kolja Reichert

die 2017 erschienenen CryptoPunks

des US-amerikanischen Software-

Studios Larva Labs (siehe Abbildung),

eine der ersten NFTs überhaupt.

Inspiriert von der Londoner

Punkszene der 1970er-Jahre, der

Cyberpunk-Bewegung und der Ästhetik

des französischen Elektroduos

Daft Punk, schufen die beiden

Entwickler John Watkinson und

Matt Hall insgesamt 10.000 digitale

„Sammelkarten“, aus wenigen

Pixeln bestehend und von einem

Blockchain-basierten Algorithmus

kreiert. Ihre Serialität und Willkür

erzeugen den Eindruck, die Blockchain

selbst sei hier als Autorin am

Werk, was die CryptoPunks in die

Nähe des Genres der generativen

Kunst rückt. Sie relativieren und

stellen, ähnlich wie Memes, die

Besonderheit des Einzelnen infrage

und stehen damit stellvertretend für

die Kultur gegenwärtiger Internetcommunities,

in denen das Konzept

individueller Autorschaft zugunsten

des kollektiven Hallraums aufgegeben

wurde. Die CryptoPunks beziehen

sich, wie die meisten Krypto-

Kunstwerke, weniger auf die Kunstals

auf ihre eigene Geschichte, der

noch jungen Geschichte der Videospiele,

des Internets und des digitalen

Bilds.

Übergreifend scheint die Krypto-

Kunst ihren ästhetischem Orientierungssinn

jedoch noch nicht

gefunden zu haben, diagnostiziert

Reichert zum Schluss seiner Analyse.

So zeigt sich auch an Beeples

Collage, wie in den meisten NFTs,

eher eine Drauflos-Mentalität als

ein ausgefeiltes Verfahren – konzeptuell

und ästhetisch erweist sich

Krypto-Kunst noch so volatil wie

der Markt, auf dem sie gehandelt

wird. Nichts lässt sich hier begründen

oder vorhersagen, so Reichert.

Und das macht die ganze Sache so

spannend.

Danny Schmidt


4 UNIversalis-Zeitung Winter 2021

Wir im Blick des Bären

Eine Erkundung des Menschen als Tier

W

ie nahe kommen wir

der Natur? Zwei philosophische

wie erzählende

Werke formulieren

diese Frage neu: Wie nahe

kommen wir der Natur, die wir

sind? Zwischen Bärenangriffen

und aggressiven Seelöwen sind

zwei Autoren gezwungen, ihr

Selbst und ihren Körper neu zu

entdecken und damit den Platz,

den der Mensch als Tier in der

Natur einnimmt.

„Es ist eine Geburt, da es ganz offensichtlich

kein Tod ist.“ Der Bär

ist verschwunden. Die Anthropologin

bleibt blutend und mit zerrissenem

Gesicht zurück. In der

Wildnis Sibiriens ist Nastassja

Martin gezwungen, ihre Stellung

zur Natur neu zu denken und damit

ihre Stellung als Mensch. 2019

veröffentlicht sie ein Buch mit dem

Titel „Croire aux fauves“ (dt. Titel:

„An das Wilde glauben“) und

tut das, was man der Überlebenden

eines Bärenangriffs vielleicht am

wenigsten zutraut – die Rückkehr

zur Natur. Die Attacke bedeutet für

Nastassja Martin nicht das Ende,

sondern einen Anfang, eine Geburt.

Der Mensch selbst ist in die Natur

geboren, biologisch gesehen ein

Tier. Dennoch vergleicht er sich

nur ungerne mit Tieren, haarigen,

schleimigen primitiven Wesensformen,

die zwischen Fraß und

Kopulation alle Teile der Welt bevölkern,

unter uns denkenden Wesen

sind – in uns denkenden Wesen

sind. „We are not pure mind-stuff,

but are tangible bodies of thickness

and weight, and so have a great deal

in common with the palpable things

that we encounter.“ Die Feststellung,

dass der Mensch einen Körper

hat, mag banal sein, führt ihn

gleichzeitig aber zu Formen der

Erkenntnis, die ihn dem Tier nahebringen.

Darauf kann man eine Philosophie

gründen, wie der amerikanische

Anthropologe David Abrams

bereits mit dem Titel eines seiner

Bücher beweist: „Becoming Animal.

An Earthly Cosmology.“ 2010

erschienen hat das Buch, anders als

Nastassja Martins Geschichte keine

Übersetzung ins Deutsche erhalten.

Dabei gilt Abrams schon seit seinem

ersten Buch „The Spell of the

Sensous“ von 1996 (dt. Titel: „Im

Bann der sinnlichen Natur“) als Impulsgeber

engagierter Disziplinen

wie der Ökopsychologie. Abrams

zweifelt an einer objektifizierenden

Ökologie, die den Menschen als

Subjekt über die Natur erhebt. Wesentliche

Inspiration erhält er durch

die Denksysteme und Philosophien

außereuropäischer Kulturen. In sei-

Bären wie Menschen oder gibt es etwas dazwischen? William Beard: „Dancing Bears“

nem Buch beschreibt er seine Lehrzeit

bei einem Magier in den Bergen

Nepals. Der kalte, felsige Ort liegt

weitab des warmen Kaminfeuers,

vor dem der französische Philosoph

Réne Descartes seinen berühmten

Sinnspruch „Ich denke, also bin

ich“ getan haben soll, der den denkenden

Menschen einer Objektwelt

gegenüberstellte.

Auch in Nastassja Martins Buch

führt die Bewegung aus der westlichen

Kultur, die vor allem als

Desinfektionszone der Krankenhäuser

Frankreichs und Russlands

erscheint, zurück in die sibirische

Kälte und damit unter das Volk der

Ewenen. Hier kennt Martin Menschen,

die ihr eine ganz neue Deutung

der Begegnung mit dem Bären

nahelegen: „Du bist das Geschenk,

das die Bären uns gemacht haben,

in dem sie dich am Leben gelassen

haben.“

Offenes Fleisch, offene Grenzen

Wie kann man ein Trauma, eine

Leerstelle positiv deuten? Wie wird

der Bär, der einem Teile des Gesichts

zerreißt und der damit nur

aufhört, weil man ihm eine Hacke

in die Seite schlägt, zu „meinem

Bären“? Die sonderbare Verbindung,

die Nastassja Martin in ihrem

Buch entgegen aller Erwartung tut,

überbrückt nicht nur die Trennung

zwischen Mensch und Tier, sondern

auch zwischen Leid und Geschenk.

Das Gesicht der Anthropologin

wird nicht bloß zur verunstalteten

Stelle einer misslungenen Kommunikation

zwischen vermeintlich

verschiedenen Spezies. „Mein Körper

nach dem Bären, nach seinen

Krallen, mein Körper im Blut und

ohne den Tod, mein Körper voller

Leben, voller Fäden und Hände,

mein Körper in Gestalt einer offenen

Welt, in der sich vielfältige

Wesen begegnen, mein Körper, der

sich mit ihnen, ohne sie wiederherstellt;

mein Körper ist eine Revolution.“

Geburt, Revolution, Begegnungsraum.

Der positive Umgang

Nastassja Martins mit dem Angriff

des Bären braucht die Idee eines offenen

Körpers, eines Subjekts, das

sich nicht von seiner Umgebung

Foto: New York Historical Society

trennt, sondern sich ihr öffnet, zu

Begegnungen einlädt.

Offen ist der Körper des Menschen

ganz tierisch zunächst über seine

Sinne. Die Vereinigung mit der Natur

beginnt mit unserer Wahrnehmung.

Mit diesem Ansatz arbeitet

sich auch David Abrams voran,

nicht nur in seinem Buch „The

Spell of the Sensous“, das sich der

Wahrnehmung und Sprache einer

„More-than-Human World“ verschreibt.

Elemente unserer unmittelbaren

Wahrnehmung bestimmen

auch die Betrachtung in „Becoming

Animal“: Schatten, Räume,

Holz, Stein, Tiefe. Namen der verschiedenen

Kapitel. Erst nachdem

Abrams die Wahrnehmungen des

Menschen grundsätzlich betrachtet

hat, beginnt er die Verknüpfung

mit Elementen eines vermeintlich

menschlichen Selbstbewusstseins:

Geist, Stimmung, Sprache, aber

auch Sphären, die über den animistischen

Zugang Abrams Natur und

menschliches Denken miteinander

verbinden. Wobei bereits in dieser

Zusammenfassung ein erster Fehler

liegt. Denn so exakt trennt Abrams

Wahrnehmung und Denken, Sprache

und Welt, Mensch und Welt

nicht voneinander.

Zu Beginn seines Buchs beschreibt

Abrams die Bedeutung des Schattens,

den ein Berg wirft. Wer in den

Schatten tritt, wird Teil des Lebens

dieses Berges. Schatten sind nicht

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Körpergewordener Mensch. Egon Schiele: „Männlicher Akt, Selbstportrait“

Foto: Grafische Sammlung der Albertina


Winter 2021 UNIversalis-Zeitung 5

bloß flache zweidimensionale Flächen,

sondern Räume, die viel über

die Qualitäten der Objekte verraten,

die diese werfen. Oder sollten wir

„Subjekte“ sagen? Was David Abrams

in seinem Buch immer wieder

tut, ist die Handlungsmacht nicht

bloß in den Blick des Menschen zu

legen, der betrachtet. Wer sind wir

überhaupt im Schatten des Berges?

Wer sind wir gegenüber den Klauen

eines Bären? Wem das alles

kontraintuitiv, oder harscher gesagt

esoterisch vorkommt, der berührt

vermutlich den grundsätzlichen

Bruch, den ein Denken bedeutet,

das Menschtiersein als Verschwimmen

der Grenzen eines klaren Innen

und Außen bedeutet. Das zerrissene

Gesicht der Anthropologin ist nicht

mehr bloß Studienobjekt neugieriger

Ärzt*innen und Survivalfans,

sondern ein eigener Kosmos der

Begegnung geworden, der keine

klaren Subjekte und Objekte kennt.

Wer ist die Person Nastassja Martins

noch neben ihrem revolutionären

Körper?

Sprachtanz für die Seelöwen

„Animismus“, jener Glaube an eine

Belebung aller Wesen und Objekte,

bedeutet für Nastassja Martin, „in

einer Welt zu leben, in der alle einander

beobachten, zuhören, sich

erinnern, geben und nehmen“. David

Abram geht in seiner Kosmologie

noch weiter und definiert jenes

„alle“ nicht bloß als Sammlung

verschiedener Subjekte, sondern

als allumfassende Sphäre, die einen

eigenen Geist besitzt. Bewusstsein,

dieses disziplinübergreifend unbegriffene

Wort, wird nicht erst durch

das Subjekt in die Welt gesetzt,

sondern wartet dort bereits. Was der

Mensch nach Abrams tut, ist eine

Verbindung zu diesem Bewusstsein

herzustellen und dies eben nicht auf

eine Weise, die das eigene Bewusstsein

gegen etwas anderes stellt, sondern

über den Körper, der ganz tierisch

intuitiv vom allumfassenden

Bewusstsein bereits weiß.

Ein Beispiel dafür gibt David Abrams

mit einer skurrilen Begebenheit.

Auf einer seiner diversen Expeditionen

in die Natur sah er sich

zwar keinem Bären gegenüber, dafür

aber einer Horde von Seelöwen,

die sich entschlossen hatten, seinem

Boot zu folgen. Ohne Chance, den

schnellen Raubtieren durch sein

Paddeln zu entkommen, berief sich

Abrams intuitiv auf eine körperliche

Reaktion. Er begann zu tanzen.

Ein tanzender Mensch in einem

Kajak – und tatsächlich: eine Horde

Seelöwen, die innehaltend seinen

Bewegungen mit ihren Blicken

folgten. Jeder Versuch Abrams, die

Tanzbewegungen zu unterbrechen

und davonzufahren, blieb jedoch

ohne Erfolg. Still hielten die Tiere

nur, wenn sie den Mann in seinen

intuitiven Bewegungen betrachten

konnten. Mit nur einer Hand, die

andere weiterhin in ausgreifenden

Tanzbewegungen, konnte sich Abrams

erst langsam und dann immer

schneller, dann auch mit der anderen

Hand, aus der Situation manövrieren.

Erstaunt blickt der Anthropologe

auf seine riskante wie

wunderbare Begegnung zurück und

überlegt, wo die Kommunikation

des Tiers beginnt. Dass er keine genaue

Trennlinie zu ziehen vermag,

stößt ihn bald auf die Erkenntnis,

dass das körperlich agierende Tier

jede Bewegung, jeden Tanz, jeden

Klang als Stimme, Nachricht erkennen

kann und so die ganze Natur

als bedeutungsgebendes Ganzes

wahrnimmt. Erstaunt ruft es aus der

Prosa David Abrams: „Everything

speaks!“

In die Körperlichkeit gezwungen, zu

einer Dauergeste der Verletzlichkeit

sich selbst gegenüber und der Welt,

sieht sich Nastassja Martin nach

dem Kampf mit dem Bären. Angesichts

ihres neugeformten Kopfes

resümiert sie: „Ich sehe mir nicht

mehr ähnlich und bin dabei meinem

animischen Wesen noch nie so nah

gewesen; es hat sich meinem Körper

aufgeprägt, seine Textur zeugt

zugleich von einem Übergang und

einer Rückkehr.“ Mit David Abrams

könnte man vor allem von einer

Rückkehr sprechen, die Rückkehr

des Menschen zum tierischen

Selbst. Aber aus Perspektive einer

menschlich gedachten Welt, der wir

nicht entkommen können, bleibt es

doch immer auch ein Übergang, das

animische Wesen ein ständiges Gegenüber

und kein bleibendes neues

Selbst. Die Kontaktaufnahme mit

unserer tierischen Welt erfolgt in

stets neuen Begegnungen, auch solchen,

die gefährlich sind.

Ungeschriebene Mythen

Häufig ist die Einkehr in die Natur

mit Regression verbunden. Etabliert

ist etwa die Vorstellung, in eine

Art Geburtsschoß zurückzukehren.

Auch Nastassja Martin bleibt

nach dem Angriff des Bären mit

einer Sehnsucht nach dem „Bauch

des Waldes“. Für sie bedeutet es

Vergessen. Ein Vergessen, das urbiblische

Tradition hat, schließlich

ist es das Wissen des Menschen um

sich selbst, das ihn aus dem Paradies

verstoßen hat, dem archaischen

Ort der Natur im westlichen Denken.

Eine Trennung, die Nastassja

Martin im Mythos wieder aufgehoben

sieht. „Eine Zeit, in der ich

und der Bär, meine Hände in seinem

Fell und seine Zähne auf meiner

Haut, eine gegenseitige Initiation

darstellen; eine Verhandlung über

die Welt, in der wir leben werden.“

Die Sprache der Verhandlung bleibt

Körperarbeit, Körperlichkeit mit archaischem

Symbolgehalt.

Warum aber dann nicht einfach die

Mythen und ihre Weisheit, warum

der durchlebte Schmutz, das Blut,

der Schmerz für dieses Wissen? In

solchen Fragen bleibt auch David

Abrams gefangen, als er eines Tages

in eine wohlsortierte Buchhandlung

tritt, die alle Schulen der Weisheit

enthält und ihn dennoch im Zweifel

lässt. Denn: Wie können wir im

unwissenden Elend verbleiben, wo

doch alles von Meister*innen aller

Schulen gesagt und in unserer

globalisierten Welt schriftlich verfügbar

ist? Die Antwort kommt

simpel wie schallend: Weil es niedergeschrieben

ist. Und weil uns

das geschriebene Wort vom Wissen

der Körper fernhält, ebenso wie von

den äußerlichen Gegebenheiten, die

der Bedeutung zugrunde liegen.

Die körperliche Intelligenz anderer

Tiere fehlt dem Menschen dort, wo

er sich mit seiner eigenen Zeichensprache

nur selbst spiegelt, statt sich

den Elementen, den Impulsen, der

sprechenden Natur in Himmel und

Erde zu öffnen.

Nastassja Martin kehrt in den Bauch

des sibirischen Waldes zurück und

entflieht dem Deutungsraum der

Ärzt*innen, aber auch der ständigen

Selbstbespiegelung. „Wie ist es

dazu gekommen, dass die anderen

Wesen nur noch dazu da sind, unsere

eigenen Gemütslagen widerzuspiegeln?“

Die Selbstbespiegelung

hat den Grund in einer Leerstelle:

„Weil das, was im Körper des anderen

begründet liegt, für dich immer

unzugänglich bleiben wird.“

Martin kann ihre Rückkehr in den

Wald nicht zur Verhandlung mit

dem Bären machen, aber zumindest

zu einem Weg zur Selbstheilung,

Selbstverhandlung. Das Anerkennen

der eigenen Beschränktheit

legt nicht nur Demut, sondern auch

Handlungspotential frei, Potential,

das dem Menschen doch bleibt.

Wege in die Natur

„Wenn ich davonkomme, wird es

ein anderes Leben sein.“ Kurz nach

ihrem Überlebenskampf mit dem

Bären denkt Nastassja Martin an

die Zukunft. Eine Fähigkeit, die

dem Menschen eigen ist und die

immer neue Selbstkonzeptionen ermöglicht,

aber auch fordert. Handlungen,

Begegnungen sollen nicht

folgenlos sein, sondern Weiteres

bedingen. Tatsächlich ändert der

Zusammenstoß mit dem Bären das

Denken der Anthropologin, lässt sie

ihren Körper neu vermessen und

beim Vermessen scheitern. Der Weg

ihres Denkens wird zum tatsächlich

gegangenen Weg in die Natur. Die

Geburt als etwas Körperliches. Hier

könnte David Abrams ansetzen, der

eine Kommunikation mit der Natur

als umfassender und sinnstiftender

wertet als die zwischen zwei Buchdeckeln.

Nastassja Martins Geschichte

bleibt auf knapp 140 Seiten

beschränkt und lässt ihre weiteren,

tatsächlich gegangenen Wege unbeschrieben.

Das Buch „An das Wilde

glauben“ bleibt wie das Gesicht

seiner Autorin offen begehbares

Terrain, Ort eines ständigen Übergangs,

der wohl menschliches Leben

heißt.

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6 UNIversalis-Zeitung Winter 2021

Die letzten Orangen aus Jaffa

Nadine Sayegh erzählt die eigene Familiengeschichte vor dem Hintergrund palästinensischer Fluchterfahrungen

M

it ihrem Hybrid aus Sachbuch

und Roman „Orangen

aus Jaffa. Eine wahre

Geschichte über das Ende

der goldenen Ära Paläestinmas“

erzählt Nadine Sayegh von der Vertreibung

ihrer Familie im Vorfeld

der Staatsgründung Israels. Ein

weiterer Beitrag in der schwierigen

Debatte um die sogenannte Nakba

und eine vertane Chance um eine

differenzierte literarische Betrachtung

komplexer Verhältnisse.

Marcel Reich-Ranicki beschwerte

sich einmal im „Literarischen

Quartett“ darüber, dass manche

Autor*innen Kinder zu Erzählfiguren

ihrer Werke küren. Ein bisschen zu

einfach würden es sich diese damit

machen. Tatsächlich lassen sich auch

schwierige Themen über die Kinderperspektive

wunderbar unverfänglich

angehen. Unverfänglich, weil Kinder

gemeinhin als unschuldiger in ihren

Betrachtungen gesehen werden und

damit freier in ihren Urteilen agieren

können. Ihr naiver Blick strahlt über

die Verwerfungen der Geschichte und

bietet unverhofft spielerische Annäherungen

an schwierige Verhältnisse.

Der junge Palästinenser Nicolas Sayegh

ist ein solcher Spieler in schwierigen

Verhältnissen. Nicolas Sayegh

ist auch der Vater der Autorin Nadine

Sayegh, die in ihrem real fundierten

Roman ihre eigene Familiengeschichte

erzählt. Als Kind in den 1940ern erlebte

Nicolas Sayegh die „Nakba“, ein

Ereignis, das viele Pälestinenser*innen

als Vertreibung aus ihrer Heimat beschreiben.

Aufgewachsen ist Nicolas

Sayegh in Jaffa, das heute als das

israelische Tel Aviv oder Tel-Aviv-

Jaffa bezeichnet wird.

„Im Jaffa Ende der Vierzigerjahre gehörten

die Menschen zu den reichsten

in ganz Palästina. Riesige Schiffe standen

da und wurden mit Tonnen von

Orangen, Zitronen und Mandarinen

beladen. Ich kann mich noch genau

an den Geruch erinnern, der dort allgegenwärtig

war.“ Nicolas Sayegh

lernt Jaffa als duftendes Tor zur Welt

kennen, auch über seine kosmopolitisch

geprägte Familie. Der Sohn soll

wie der Vater ein großer Industrieller

werden, mit jenem angemessenen

Stil, den seine wohlhabende Familie

in Orientierung an französische oder

britische Gepflogenheiten entwickelte.

Nicht zuletzt trägt Nicolas selbst einen

Namen, der vor allem in europäischen

Kulturkreisen Verwendung findet.

Gleichzeitig ist der junge Palästinenser

den Verhältnissen nicht enthoben,

prügelt sich mit einem anderen Jungen,

schleicht sich heimlich ins Kino,

genießt mit seinen Freunden das wilde

und entdeckungsreiche Leben einer

Kindheit in Jaffa. Von seinem Vater

bekommt Nicolas viele Anekdoten zu

hören, nicht selten mit moralischem

Unterton, denn wichtig bleibt für den

Kosmopoliten, seinem Sohn einen respektvollen

Umgang fürs Leben mitzugeben.

Eine beinah neue Geschichtsschreibung

Respekt will auch Nadine Sayegh

ihrem Vater und seinem schweren

Schicksal zukommen lassen. Zwischen

die Kapitel der Erzählung um

Nicolas setzt die Autorin über Dokumente

und Berichte eine „Historie im

Hintergrund“, die belegen soll, dass

die „Nakba“, die schließlich auch den

jungen Nicolas einholen wird, einen

„eindeutigen Fall einer ethnischen

Säuberung“ darstellt. Der naiven Perspektive

des jungen Palästinensers

steht damit eine sachlich vermittelnde

Interpretation der Ereignisse zwischen

1947 und 1949, also im Vorfeld

der Gründung des Staates Israel gegenüber.

Die Verwendung des Begriffs der

„ethnischen Säuberung“ gilt als umstritten.

Entsprechend zeigt sich das

Buch bemüht, Belege für diese These

zu liefern. Originell ist es darin nicht.

Am Ende des Buchs verweist Nadine

Sayegh auf das Sachbuch „Die

ethnische Säuberung Palästinas“ des

israelischen Historikers Ilan Pappe

von 2006, das ihren Ausführungen

als maßgebliche Quelle dient. Pappe

wird gemeinhin zur Gruppe der Neuen

israelischen Historiker gezählt, die

auf Basis von israelischen Archivfunden

um die Jahrtausendwende eine

neue, kritische Geschichtsschreibung

des Staates Israel etablierten. Auch

wenn innerhalb der Gruppe verschiedene

Zugänge bestehen, sind diese

doch geeint in ihrer Abkehr von der

offiziellen israelischen Geschichtsschreibung.

Statt von einer freiwilligen

Migration wird aus Perspektive

der Neuen israelischen Historiker,

vergleichbar mit dem Narrativ der

„Nakba“, von einer Vertreibung der

palästinensischen Bevölkerung gesprochen.

Die Verantwortung für den

bis heute andauernden Nahostkonflikt

wird damit auch Israel zugewiesen.

Zunächst mag überraschen, dass sich

ein Buch aus palästinensischer Perspektive

auf das Werk eines israelischen

und nicht etwa auf das eines

palästinensischen Forschers bezieht.

Tatsächlich gibt es eine vergleichbare

kritische Archivarbeit auf arabischer

Seite nicht, dort ist eine „Oral History“

vorherrschend. Auch kollektive

Erinnerungen sind entscheidend für

die Erfahrung einer „Nakba“. Nadine

Sayeghs Buch wagt den Spagat aus

wissenschaftlicher Auseinandersetzung

und familiärer Oral History. Für

eine wissenschaftliche Reflexion ist

der junge Nicolas Sayegh in jedem

Fall noch nicht bereit. Für Abenteuer

im sonnenstrahlenden Jaffa dafür

umso mehr.

Palästinensische Flüchtlinge aus Galiläa, 1948

Eine beinah idyllische Kindheit

Obwohl „Orangen aus Jaffa“ keine

200 Seiten Text enthält und davon

nur etwa die Hälfte den Abenteuern

des „palästinensischen Tom Sawyer“

(Pressetext) gewidmet ist, überrascht

es doch, dass Nicolas Sayegh mit den

Konflikten im Kontext einer „Nakba“

nur wenig Berührung hat. Den

Berichten zu einem bei den UN-Teilungsverhandlungen

ignorierten Palästina,

zu einem Überfall des Dorfs

Khisas durch zionistische Paramilitärs

1947 und generell der „systematischen

und vollständigen Vertreibung der Palästinenser

aus ihrer Heimat“ stehen

die harmlosen Abenteuer eines Kindes

gegenüber. Wenn auch elegant

geschrieben und mit interessanten

Hintergründen zur Geschichte Jaffas

garniert, bleibt das launische Kindheitsabenteuer

doch seltsam unmotiviert

neben den detaillierten Untersuchungen

zu Gewaltverbrechen und

Vertragsbrüchen stehen.

Ein zweiter Blick lässt aber ahnen:

Die Freundlichkeit und Konturlosigkeit

der Erzählung hat Methode.

Die schöne Welt des jungen Nicolas

stellt das sorgfältig rein gehaltene

Gegenüber zu den kommenden Ereignissen

einer „Nakba“ dar. Bereits

der Untertitel des Buchs spricht von

einer „goldenen Ära Palästinas“. Vollkommen

entpolitisiert spielen sich die

Konflikte in Nicolas‘ Welt in Gestalt

von Prügeleien mit Klassenkameraden

oder einem unerlaubten Kinobesuch

ab. Nicolas ist so unschuldig, dass in

seinen Augen selbst die Beschreibung

des Holocaust zu einer beiläufigen comichaften

Betrachtung verkommt: „In

Europa waren schreckliche Dinge passiert.

Irgendetwas mit den Juden und

einem verrückten Mann mit einem

viereckigen Schnauzbart, der die rechte

Hand schräg nach oben ausstreckte.“

Auch die tatsächliche Vertreibung

der Familie Sayegh ganz am Ende der

Erzählung bleibt weitgehend konturlos.

Waffenlärm und Berichte von

einer meist ungreifbaren Bedrohung

machen erst den Nachbar*innen und

schließlich der Familie selbst Angst,

sodass diese schließlich flieht. Direkten

Kontakt mit den Repräsentant*innen

einer israelischen Siedlungspolitik

hat die Familie nicht. Erst als Nadine

Sayegh mit ihrem Vater viele Jahre

später in ihre Heimat zurückkehrt,

erleben beide kaltschnäuzige Grenzbeamte

und ein Jaffa mit heruntergekommenen

Häusern, ein konsequent

negatives Gegenbild zum Kindheitsidyll:

„Wie ein anderes Jaffa, jenes in

einer Parallelwelt.“ Erst angesichts

dessen kritisiert der nun 81-Jährige

Nicolas Sayegh explizit: „Wir waren

verwurzelt wie Bäume. Man hat uns

ausgerissen.“ Sein junges Ego 69

Jahre früher äußert dagegen nur: „Mit

Politik hatten wir nicht viel am Hut.

Unser Metier war die Orange. Alles

richtete sich danach aus. Wir konnten

unser Glück schälen.“

Natürlich bleibt das dem jungen Nicolas

nicht vorzuwerfen, schließlich

ist er ein unbedarftes Kind, das für

die politischen Konflikte seiner Zeit

keine Verantwortung trägt. Die Wahl

dieser Perspektive hingegen bleibt

weniger unbedarft, sondern entbehrt

nicht eines gewissen rhetorischen

Geschicks. Ein Kind seine geliebte

sonnenhelle Heimat verlieren zu

sehen angesichts einer ungreifbaren

Bedrohung schafft ein Gut-Böse-Verhältnis

mit klarer Identifikation. Die

Vertreibung aus dem Paradies Jaffa

könnte in dieser Fassung auch Märchenstoff

sein, eine Kindergeschichte.

Der komplexen Realität des Israel-

Palästina-Konflikts steht sie denkbar

fern. Oder etwa nicht? Möglicherweise

war Nicolas Sayeghs Kindheit

wirklich so idyllisch, möglicherweise

kam der Konflikt wirklich so unsichtbar

und plötzlich über seine Familie,

möglicherweise beruht der Eindruck

eines „Gut-Böse-Schemas“ auf realen

Begebenheiten oder bildet gar einen

falschen Kurzschluss.

Auch in diesem Fall bleibt es in literarischen

wie historischen Belangen

unbefriedigend, dass Nadine Sayegh

für ihre fundamentale Kritik an der

israelischen Geschichtsschreibung

Foto: Public Domain

selbst eine so schwache Geschichtsschreibung

ins Feld führt. Ihre palästinensische

Oral History bietet die

Romantisierung einer vergangenen

Zeit, keine Neuverhandlung des komplexen

Verhältnisses zweier Konfliktparteien.

Mit Muriel Asseburgs Sachbuch

„Palästina und die Palästinenser.

Eine Geschichte von der Nakba bis

zur Gegenwart“ ist dieses Jahr eine

Darstellung erschienen, die verschiedene

Persönlichkeiten der palästinensischen

Geschichte portraitieren soll.

Das ist schon einmal erfreulich und

dürfte zumindest vor einer weiteren

Kinderperspektive bewahren, die es

allen Lesenden doch wieder nur einfach

machen will.

Nadine Sayegh, „Orangen aus Jaffa.

Eine wahre Geschichte über das

Ende der goldenen Ära Palästinas“,

edition a 2021. Fabian Lutz

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Das Studierendenwerk Freiburg in den Räumen der Basler Straße

Foto: Christoph Düpper


Winter 2021 UNIversalis-Zeitung 7

Die Geisteswissenschaften und die

Herausforderungen des Anthropozäns

Zwei junge Veröffentlichungen entdecken im modernen Denken Ressourcen für die gegenwärtigen

Aufgaben der Menschheit

S

eit seiner Einführung zu

Beginn des 21. Jahrhunderts

durch die Wissenschaftler

Paul Crutzen

und Eugene F. Stormer und der

Übernahme als offizielle Bezeichnung

eines 1950 beginnenden neuen

geologischen Zeitalters, das das

Holozän abgelöst und in dem der

Mensch zum geologischen Faktor

geworden ist, hat der Begriff Anthropozän

eine steile, wenn auch

nicht unumstrittene Karriere gemacht.

Mit Blick auf die gerade beendete

und mehr von Enttäuschung

als Durchbruchsstimmung charakterisierte

UN-Klimakonferenz in

Glasgow spielt er eine heute mehr

denn je bedeutende Rolle in der

Auseinandersetzung mit der Frage,

wie die Menschheit in den nächsten

Jahrzehnten mit den selbstverursachten

globalen Problemen fertig

werden kann und will: Klimawandel,

Entwaldungen, Artensterben

und natürlich die zunehmende

Gefahr von Pandemien. Von den

Klimaaktivist*innen wird richtigerweise

gefordert, dass die internationale

Politik angesichts der ökologischen

Krise endlich auf die Wissenschaft

hören soll, wobei damit

die Naturwissenschaften gemeint

sind, die bereits vor Jahrzehnten mit

ihren Klimamodellen die Folgen

unseres Lebensstils vorausgesehen

und davor gewarnt hatten. Wenn

uns tatsächlich nur Physik und

Chemie erklären können, welche

Prozesse in der Atmosphäre von unserem

Tun in Gang gesetzt werden

und wie sie das Leben auf der Erde

bedrohen, sind zur Überwindung

dieser Krise auch die Geistes- und

Kulturwissenschaften gefragt, denn

die Umstellung unseres Lebensstils

und eine ernsthafte Verantwortungsübernahme

gegenüber unserem

Planeten werden nicht ohne ein kritisches

Hinterfragen des geschichtlich

gewordenen abendländischen

Mensch-Natur-Verhältnisses gelingen,

das unserer Zivilisation zugrunde

liegt.

Einen solchen Beitrag zu leisten

versuchen zwei jüngst erschienene

Bücher, die beide ihren Fokus auf

das moderne Selbst- und Naturverständnis

legen. Es ist eine verbreitete

Annahme, dass sich in der Moderne

eine Trennung zwischen Natur

und Kultur etabliert hat, die sich

für die erstere als verhängnisvoll erwiesen

hat, wurde sie ja zum bloßen

materiellen Fundus im Dienste der

menschlichen Interessen degradiert.

Eine solche verkürzende Naturauffassung

ist zwar schon lange in

Frage gestellt worden (man denke

nur an Autoren wie Heidegger und

Adorno), sie ist aber hartnäckig und

noch heutzutage leitend für unsere

Welterfahrung. Dementsprechend

gilt es nach wie vor, ihr entgegenzuwirken,

indem ihre geschichtlichen

Voraussetzungen untersucht und

ihr alternative Konzepte der Natur

und der Stellung des Menschen in

ihr entgegengestellt werden, die

von der Philosophie, der Literatur,

der Rechtswissenschaft erarbeitet

werden. Die Pointe der neuen Veröffentlichungen

liegt darin, dass sie

in derselben Moderne konzeptuelle

Ressourcen für den Aufbau eines respektvollen

Umgangs mit der Natur

auffindbar machen.

Anthropozän – Klimawandel –

Biodiversität

Der von Stascha Rohmer und Georg

Toepfer herausgegebene Sammelband

„Anthropozän – Klimawandel

– Biodiversität. Transdisziplinäre

Perspektiven auf das gewandelte

Verhältnis von Mensch und Natur“

(Verlag Karl Alber, 2021) verfolgt

genau dieses Ziel. Er geht auf eine

internationale Tagung zurück, in

der Wissenschaftler*innen unterschiedlicher

fachlicher Provenienz

zusammengekommen sind, um auf

dem Gebiet der Geisteswissenschaften

Ansätze zu erproben, die der

gegenwärtigen Krise in sowohl diagnostischer

als auch therapeutischer

Hinsicht gerecht werden. In Bezug

auf den ersten Aspekt waren insbesondere

die Philosophen dazu aufgerufen,

zu einer Klärung der Implikationen

von allgegenwärtigen aber

in der alltäglichen Verwendung oft

unzureichend reflektierten Begriffen

beizutragen, wie das gerade beim

„Anthropozän“ der Fall ist.

Wie Eva Raimann in ihrem Aufsatz

zeigt, wird das interpretatorische

Potential dieses Ausdrucks erst

dann völlig ausgeschöpft, wenn er

konsequent zur Durchbrechung der

tradierten Dichotomie Natur-Kultur

eingesetzt wird, wenn auch eine

solche Opposition in der Begriffsentstehung

zum Teil mitspielte. Es

geht nämlich nicht darum, wie der

Begriff nahelegen könnte, die Natur

als eine vom menschlichen Handeln

bis vor Kurzem wesentlich unangetastete

Sphäre zu betrachten, in die

der Mensch seit Beginn der Industrialisierung

gewaltig als Antagonist

eindringen würde. Es geht um ein

Verständnis der radikalen Eingebundenheit

des Menschen in die

natürlichen Prozesse, welche unter

der von der bedrohten Natur ausgehenden

Bedrohung für den Menschen

als eine Spezies unter anderen

womöglich zum ersten Mal konkret

erfahrbar wird.

Eine Verflüssigung der Grenzen

zwischen Natur und Kultur mit

Blick auf die jeweiligen Zeitskalen

steht im Zentrum des Beitrags

von Eva Horn, die ausführt, wie der

Übergang vom Holozän ins Anthropozän

die Notwendigkeit, aber auch

die Schwierigkeit mit sich bringt,

Menschengeschichte und Erdgeschichte

zusammenzuführen. Dabei

rücken die Dimensionen der Gegenwart,

Vergangenheit und Zukunft in

ein anderes, unheimlicheres Licht.

Auch der Begriff der Biodiversität

wird von Georg Toepfer einer

gründlichen historischen Rekonstruktion

unterzogen, wobei der Autor

gerade auch auf die problematischen

Züge dieses in der zweiten

Dekade des 21. Jahrhunderts hoch

im Kurs stehenden Schlagworts

aufmerksam macht. Der Schutz der

Biodiversität und der Kampf gegen

den Klimawandel bilden das Thema

folgender, rechtswissenschaftlicher

Beiträge. Zum einen wird

die Dringlichkeit dieser Aufgaben

anhand einer Rekognition der bereits

katastrophalen Lage in den

lateinamerikanischen Ländern, vor

allem Brasilien – die Umweltpolitik

des amtierenden Präsidenten

Bolsonaro wird dabei von Felipe

Calderon-Valencia scharf kritisiert

– und Kolumbien, veranschaulicht.

Zum anderen stellt Lateinamerika

den Schauplatz der interessantesten

Anstrengungen dar, den Wert

der Natur jenseits eines anthropozentrischen

Standpunktes auch in

verfassungsrechtlicher Hinsicht zur

Geltung zu bringen. Dabei kann ein

im sogenannten nuevo constitucionalismo

entwickelter biozentrischer

Ansatz, der die Natur als Trägerin

von Rechten ansieht, durchaus an

die Weltanschauung indigener Völker

mit dem für sie zentralen und

der abendländischen Opposition

zwischen Natur und Kultur fremden

Prinzip der Mutter Erde anknüpfen.

Diese in unserem Denken verankerte,

fatale Teilung lässt sich jedoch

gleichsam nicht nur durch den

Rekurs auf außerhalb unserer Zivilisation

entwickelte Vorstellungen,

sondern auch von Innen sprengen.

Wie Stascha Rohmer in dem abschließenden

Beitrag des Bandes

zeigt, sind auch in der philosophischen

Tradition von der Antike bis

in dieselbe Moderne Ansätze zu

finden, den Eigenwert der Natur

angemessen zu fassen, sie stehen

allerdings in einem Spannungsverhältnis

zu einem von Descartes mit

seiner Unterscheidung von rex cogitans

und rex extensa eingeführten

materiellen Reduktionismus der

Natur auf ihre mechanischen Eigenschaften,

der eine Verbannung

von teleologischen Prinzipien aus

der Naturerklärung und damit einhergehend

die Verkennung der

Selbstzweckmäßigkeit der Natur

implizierte. In diesem Sinne gilt

Descartes als Begründer des modernen

Wirklichkeitsverständnisses, in

dessen Koordinaten die Natur „nur

als Rohstoff für die wissenschaftliche

Produktion dient“ und ihren

Eigenwert einbüßt. Zwar habe es

nach Descartes an Brechungen dieser

Gesamteinstellungen nicht gefehlt:

in seiner ästhetischen Theorie

hat Kant die Idee von immanenten

Zwecken der natürlichen Organismen

gerettet, obwohl nur in heuristischer

Hinsicht, während Hegel

noch einen Schritt weiter in Richtung

einer Anerkennung des Eigenwerts

der Natur gegangen ist, indem

er neben der teleologischen Struktur

der Organismen ihre gegenseitige

Bezogenheit thematisiert, und damit

zumindest im Ansatz ein Naturganzes

denkbar gemacht hat, in

dem auch der Mensch ein Bestandteil

ist. Diese Keime eines anderen

Umgangs mit der Natur sind in der

Moderne nicht wirklich zum Tragen

gekommen, die Trennung zwischen

Mensch und Natur ist auch bei Kant

und Hegel leitend und ist in der Folgezeit

dominant geblieben. Jedoch

ist es ein gemeinsames Anliegen der

Autoren des Sammelbandes, nicht

nur zu den modernen Denkern auf

Distanz zu gehen, sondern die in

ihren Entwürfen enthaltenen fruchtbaren

Impulse weiterzuentwickeln,

um die Stelle des Menschen in der

Natur und seine Verantwortung ihr

gegenüber neu zu definieren. Wichtige

moderne Referenzpunkte sind

Helmut Plessner (in dem Beitrag

von Joachim Fischer) und Alfred

North Whitehead mit seiner Prozessphilosophie,

die die cartesischen

Dichotomien ablehnt und eine alle

Lebewesen einbeziehende „Solidarität

des Universums“ zu denken

erlaubt.

Kant, Herder, Goethe und die Gegenwart

des Klimas

Die Idee, dass alles mit allem zusammenhängt,

und dass zwischen

Natur und Kultur nicht eine Trennung

als vielmehr fluide Übergänge

bestehen, findet sich im Zentrum

der ökologischen Theorien der

Gegenwart. In ihrem Buch „Übergängliche

Natur. Kant, Herder,

Goethe und die Gegenwart des

Klimas“ (August Akademie, 2021)

meint Hanna Hamel, in den im Titel

aufgeführten Autoren „alternative

Denk- und Darstellungsweisen

von Natur und Kultur“ auffinden

zu können, „die deren Verhältnis

nicht als simple Opposition, sondern

von vornherein in Verflechtung

[...] entwickeln“. Um solche auf

Anhieb nicht immer ersichtlichen

Züge des modernen Denkens ans

Licht zu bringen, setzt sie die historischen

Positionen mit aktuellen

Theorien jenseits rekonstruierbarer

Genealogien in Verbindung. Indem

Hamel vergangene und gegenwärtige

Überlegungen zum Klima abwechselnd

diskutiert – Kant/Latour,

Herder /Morton und Goethe/Lynch

– verdeutlicht sie, wie stark das Interesse

der Autoren des 18. Jahrhunderts

an einer „Dynamisierung des

Natur-Kultur-Verhältnisses, an der

Darstellung ihrer durchdringenden

und wechselseitigen Einflussnahme

und an der Auflösung starrer Grenzziehungen

und Dichotomien“ schon

war, und lässt auf dieser Weise ein

viel bewegteres Bild der modernen

Naturentwürfe entstehen, als es

üblicherweise angenommen wird.

Durch eine penetrante Lektüre der

anthropologischen Schriften Kants

zeigt die Autorin, dass der Mensch

darin nicht auf Distanz zur Natur,

sondern als dezidiert natürlich und

historisch lokalisiert verstanden

wird. So konzipiert entspricht ein

solcher Mensch überraschend sogar

den Aufforderungen Bruno Latours

zum Aufbau eines menschlichen

und nicht-menschlichen Wesens

versammelnden „Parlaments der

Dinge“, in dem auch letztere adäquat

vertreten werden sollen. Bei

Herder wird die Vernetzung zwischen

Mensch und Natur ästhetisch

gefasst, wobei sich interessante Parallelen

zu Timothy Mortons ökologischen

Überlegungen ergeben.

Besondere Aufmerksamkeit widmet

Hamel Goethes Annäherungsversuchen

an Naturphänomene wie

die Witterung, die über ein Zusammenspiel

wissenschaftlicher und

ästhetischer Ansätze erfolgen. Auf

diese Weise bricht Goethe mit dem

zu seiner Zeit herrschenden wissenschaftlichen

Weltbild und verweist

indirekt auf die Möglichkeit eines

nicht auf Dominanz ausgerichteten

Umgangs mit der Natur. In diesem

Sinne hätte nach Hamel derselbe

Bruno Latour Recht mit seiner

Feststellung, dass „wir […] nie modern

gewesen [sind]“, und zwar in

größerem Maße, als von ihm selbst

vermutet: es stimmt nämlich, dass

die moderne Gesellschaft und das

moderne Denken nie strikt nach

der von Descartes eingeführten

Trennung funktioniert haben. Das

ist freilich nicht zu bedauern, im

Gegenteil: man kann sich darüber

freuen, gegenüber den Herausforderungen

des Anthropozäns Verbündete

solchen Rangs wie Kant,

Herder und Goethe neben sich zu

wissen.

Stascha Rohmer (Herausgeber),

Georg Toepfer (Herausgeber), „Anthropozän

– Klimawandel – Biodiversität.Transdisziplinäre

Perspektiven

auf das gewandelte Verhältnis

von Mensch und Natur“, Verlag

Karl Alber, 2021 (ZfL)

Hanna Hamel, „Übergängliche Natur.

Kant, Herder, Goethe und die

Gegenwart des Klimas“, August

Akademie 2021 (ZfL).

Luca Marras

– IHR FACHGESCHÄFT IN FREIBURG FÜR


8 UNIversalis-Zeitung Winter 2021

Der Auszug aus dem Kapitalismus

Perspektiven auf neue Wirtschaftskonzepte und die Suche nach dem Sinn

Vom ökologischen Zugriff des Menschen

Foto: Alena Koval

D

rei Unternehmer zeigen

sich kritisch gegenüber

dem bestehenden Wirtschaftssystem

und geben

Beispiele für ein neues Denken.

Eine Akademie für Wirtschaftsbionik

denkt derweil über eine

Änderung des Währungssystems

nach. Hinter beiden Vorstößen

steckt die Suche nach Sinn in unserer

Wirtschaft. Ein Streifzug

zwischen Duftkerzen, Grundeinkommen

und den Kreisläufen der

Natur.

Der Baumeister kehrt in seine

Klause ein und betet. Um ihn herum

Wald, nur zu einer Seite blickt

er hinab aufs Land. „Die Zivilisation

mit ihren Lichtern, die in

der Nacht da unten leuchten, und

mit ihren Straßen, auf denen sich

leuchtende Punkte bewegen.“ Seinen

neuen Zufluchtsort sieht Robert

Rogner nicht als Endstation, eher

als Ort, an dem er Orientierung

und Inspiration schöpfen kann, um

dann zurückzukehren, in die Zivilisation

da unten. Denn das Leben

des Baumeisters soll nicht kontemplativ

bleiben, sondern vom

Spirituellen inspiriert zum guten

Handeln führen. „Das Handeln aus

dem Bewusstsein für unseren Kern

heraus ist letztendlich das, was

uns in all unserer Individualität zu

einem guten Ganzen verbindet, das

uns Kraft gibt und uns gemeinsam

weiterbringt.“

Robert Rogner ist einer der drei

Unternehmer hinter dem Buch

„Eine Neue Wirtschaft. Zurück

zum Sinn“. Zusammen mit Johannes

Gutmann, Gründer des Bio-

Unternehmens Sonnentor und Josef

Zotter, Leiter des weltbekannten

Unternehmens Zotter Schokolade,

tritt der renommierte Baumeister

für eine Neukonzeption der Wirtschaft

ein. Ganzheitlicher soll sie

werden, mehr an dem Menschen

und seinen Bedürfnissen ausgerichtet.

Gewünscht ist ein Modell jenseits

neoliberaler Eigendynamiken

und Selbstoptimierung. Keine unbedingt

überraschende Perspektive,

auch nicht aus der Position des

wohlmeinenden Unternehmers.

Denn der ist in den letzten Jahren

zu verdächtiger Popularität gelangt.

Allzu gängig ist es für Firmen mittlerweile

„Fair Trade“ oder „Bio“,

„nachhaltig“ oder „klimaneutral“

als Label auf ihre Produkte zu

kleben. Sonderlich kritisch mutet

die Verwendung solcher Begriffe

heute nicht mehr an. Der Politik

entwachsen sind sie zu vermarktbaren

Lifestyle-Slogans geworden.

Unternehmer*innen, die auf Besinnung

plädieren, stehen also unter

Rechtfertigungsnot, wollen sie

sich nicht neben ökologisch und

menschenfreundlich gewordene

Unternehmen wie Coca Cola, Google

oder H&M stellen.

Hilfreich ist da zumindest, dass alle

drei Unternehmer nicht erst seit den

weltweiten Klimaprotesten grüne

Flagge zeigen. In den persönlichen

Berichten, die ihren Thesen beiliegen,

stellen alle ihr langjähriges

Engagement für eine nachhaltige

Unternehmenskultur heraus. Zotter

ist bereits seit 2004 Vertragspartner

von Fair Trade, Sonnentor vertreibt

seine Produkte aus biologischem

Anbau bereits seit Ende der 80er-

Jahre. In seinem persönlichen Bericht

schreibt Johannes Gutmann,

wie die Arbeit auf seinem Bauernhof

Anfang der 90er-Jahre an den

Kreisläufen der Natur orientiert

war. „Der Mensch nimmt nicht,

sondern die Natur gibt, das wurde

eine unserer zentralen Botschaften.“

Der Auszug Buddhas aus dem

Neoliberalismus

Robert Rogners Karriere stand zunächst

unter anderen Vorzeichen

als denen eines naturnahen Wirtschaftens.

Dank der erfolgreichen

Revitalisierung eines denkmalgeschützten

Gebäudes im damaligen

Ostblock war der Baumeister in

Österreich anerkannt. Bei der Suche

nach neuen Anlegern für sein

Unternehmen stieß er auf einen

Mann, der vom Wirtschaftssystem

gebeutelt, „zum Spielball der

Mächte gemacht, denen er sich aus

Leichtsinn und Größenwahn ausgeliefert

hatte“. Hier setzt die innere

Wandlung Robert Rogners an, die

ein wenig an den Auszug Buddhas

aus dem heimischen Palast erinnert.

Der verwöhnte Prinz stößt auf die

Bedingungen der Wirklichkeit und

muss sich fragen: „Wozu das alles?

Was sollte ich tun? Was war der

Sinn meines Lebens?“ So Rogners

Worte. In der Selbstbefragung wurde

für ihn klar: Wie der gebeutelte

Mann möchte er nicht enden. Weder

sich selbst noch seiner Umgebung

würde er damit helfen.

„Zurück zum Sinn“ fordert der Untertitel

des Buchs. Und impliziert:

Der aktuell bestehenden Wirtschaftsordnung

fehlt es an Sinn.

Dass Sinn zunächst etwas ist, das

vom Individuum gegeben wird,

verstehen die Autoren. Deshalb

richten sie sich nach dem Individuum,

konkret nach den Lesenden

des Buchs, vor denen das Bild einer

defizitären Wirtschaftswelt aufgefaltet

liegt. Man möge dem Vorbild

des sich selbst befragenden Robert

Rogner folgen, da man liest: „Niemand

fragt mehr: Was möchte ich

eigentlich wirklich machen? Was

erfüllt mich? Brauche ich das überhaupt?“

Die Wirtschaft hingegen

flüstere uns ein: „Befolge meine

Regeln, dann wird alles gut. Ideen

sind ein Luxus, den du dir nicht leisten

kannst, wenn du Erfolg haben

willst.“

Die gewinn optimierte Wirtschaft

als entfremdetes, verführerisches

Gegenüber. Ein Negativbild, das

längst über die Popkultur verankert

und konturlos geworden, sicherlich

aber nicht unzutreffend ist. Fasst

man den geflüsterten Begriff „Erfolg“

dabei etwas weiter als „Entlohnung“

wird recht schnell deutlich,

warum. Schnell sind dann empfindliche

Fragen berührt, die auch

nicht bekennende Kapitalist*innen

zur Unterstützung des bestehenden

Wirtschaftssystems bringen.

Im aktuellen Wahlkampf durften

Grüne, aber auch Linke die Skepsis

von Unternehmer*innen wie

Bürger*innen spüren, die in Steuersätzen

für Reiche eine Herabwürdigung

der Leistungen einzelner

sehen, eine Motivationsbremse

für junge Innovative, wie es Wirtschaftsliberale

vielleicht formulieren

würden. Und weiter: Arbeitsplätze

sind in Gefahr, wenn der Erfolg

ausbleibt, Lebensgrundlagen.


Winter 2021 UNIversalis-Zeitung 9

den Raum hinein „horchte“: „Mir

wurde klar, dass Menschen, Unternehmen

und Orte so etwas wie einen

inneren Kern haben, und dass,

je näher wir diesem Kern kommen,

sich alles immer dynamischer und

immer richtiger fügt.“ Rogners

Sinn des Lebens sei, das wurde ihm

darüber klar, sich mit Beziehungen

zu beschäftigten, zu sich, anderen

Menschen, aber auch zu Orten, der

Natur.

Wer nach konkreten Initiativen

fragt, um der „Monsterwirtschaft“,

wie sie Rogner nennt, entgegenzutreten,

bekommt sie nachgereicht.

Robert Rogner gründete eine „Gesellschaft

für Beziehungsethik“,

die Menschen und Unternehmen

bei ihrer Selbstfindung begleitet.

Am Ende steht die Aufklärung, die

der Baumeister auf seinem Hügel

für die Gesellschaft da unten bereithält.

In jedem Fall eine, die zu

mehr Gleichheit in der Gesellschaft

führen soll: „Schuster, Tischler

oder Verkäuferinnen sehen sich auf

Augenhöhe mit Politikern und Firmenbossen,

weil sie erkennen, dass

ihre Arbeit ebenso wertvoll ist. […]

In einer Wirtschaft, in der jeder

seinem Sinn folgt und seine Schaffenskraft

in den Dienst der Gesellschaft

stellt, entsteht automatisch

ein demokratisches Miteinander.“

Exkurs zum Schluss: Eine Neue

Wirtschaft

Gleichbehandlung aller, Entlohnung

auf Augenhöhe. Seltener werden

die Probleme eines neoliberalen

Wirtschaftssystems wie unserem

deutlicher als bei dieser Problematik,

die in der Corona-Krise noch

deutlich verschärft wurde. Angesichts

der schlechten wirtschaftlichen

und damit sozialen Lage

erreichen auch Botschaften mit

visionären Ideen ein größeres Publikum.

Ein solches wünscht sich

nicht nur, sondern braucht die zwar

international vernetzte, aber doch

eher kleine Gradido-Akademie für

Wirtschaftsbionik. In nichts Geringerem

als einer internationalen

Neukonzeption des Geldsystems

sieht die Akademie die Lösung globaler

Krisen. Bleibt ihr Ansatz auch

deutlich konzeptorientierter als die

mehr philosophisch grundierte Perspektive

Gutmanns, Rogners und

Zotters bleibt doch auch hier die

metaphysische Idee einer Orientierung

an den Kreisläufen der Natur.

„Kern und Basis für das Gradido-

Modell ist der natürliche Kreislauf

von Werden und Vergehen.“ So die

Botschaft aus einem Newsletter der

Akademie.

Stetig ist das neue Geldprinzip, das

sich als Abkehr vom Schuldprinzip

sieht, tatsächlich. Initial dafür

ist die Einführung des „Gradido“

(GDD) als neue Währungseinheit.

Im Rahmen des so versprochenen

„dreifachen Wohls“ erhält jeder

Mensch monatlich 1000 Gradido

als „Aktives Grundeinkommen“.

Dafür solle sich jeder Mensch so

für die Gesellschaft einbringen, wie

er es seinen Neigungen nach gern

möchte. Sinnsuche als Systemfaktor.

Apropos System: Die Gemeinschaft

erhält ebenfalls monatliche

1000 Gradido, wodurch Steuern

überflüssig werden sollen. Und zuletzt:

Weitere 1000 Gradido sollen

monatlich für einen Umweltfonds

geschöpft und dem Schutz und der

Sanierung der Natur gewidmet werden.

„Künftige Naturkatastrophen

werden dadurch abgemildert und

nicht mehr zwangsläufig zu wirt-

schaftlichen Katastrophen führen.“

Das neue Geldsystem der Gradido-

Akademie könnte als Fallbeispiel

im Anhang des Buchs „Eine Neue

Wirtschaft“ stehen. Denn eine neue,

neuartige Wirtschaft skizziert es

definitiv. Dabei rückt die Ermöglichung

der Sinnsuche und Sinnfindung

in den Kompetenzbereich

einer Wirtschaft, die Freiräume

schafft. Der Gedanke ist deutlich:

Erst durch die richtige finanzielle

Umgebung können Mensch, Gesellschaft

und Natur Raum zur Entfaltung

finden. Und darum geht es

doch letztlich, oder nicht? Wo auch

immer man ansetzen mag, ob beim

Individuum oder dem Geldsystem,

das Verlangen nach Bedeutung,

Ganzheitlichkeit, metaphysischer

Begründung wächst und dürfte einen

Indikator dafür geben, dass uns

unsere käufliche Welt ganz schön

schal geworden ist.

Johannes Gutmann, Robert Rogner,

Josef Zotter, „Eine Neue Wirtschaft.

Zurück zum Sinn“, edition a 2020.

Website der Gradido-Akademie:

www.gradido.net

Fabian Lutz

Zurück in der Natur - Die Gradido-Gründer Margret Baier und Bernd Hückstädt

Foto: Gradido

Wenn das Großunternehmen nicht

wirtschaftet, hat auch der kleine

Mann nichts mehr zum Leben.

Thatchers Invisible Hand füttert die

Ärmeren nicht mehr, lässt sie auf

den Straßen verhungern. Bedeutet

eine „Neue Wirtschaft“ da nicht

pure Rücksichtslosigkeit?

Die Einkehr des Individuums

Orientiert am Wohlbefinden des

Individuums setzt auch das Plädoyer

der „Neuen Wirtschaft“ an:

„Wirtschaft ist von den Menschen

für die Menschen gemacht. Sie

soll unseren Bedarf an Dienstleistungen

und Gütern decken. Sie

soll dafür sorgen, dass niemand

hungern oder frieren muss.“ Dann

aber beschreiten die Autoren andere

Wege, beziehungsweise lassen

diese beschreiten. Denn mit dem

Blick auf die Bedürfnisse des Individuums

fängt auch die Arbeit

des Individuums an. Wir sitzen mit

Robert Rogner vor einem desolaten

Wirtschaftssystem und müssen

nicht dieses, sondern uns selbst fragen:

„Was ist der Sinn meines Lebens?

Was empfinde ich als meinen

inneren Auftrag? Wie kann ich ihn

erfüllen?“ Und damit beginnt eine

größere Bewegung.

Denn die Visionäre einer neuen

Wirtschaft glauben an die Vorbildlichkeit

ihrer Methode. Wer seine

Sinnsuche mit anderen teilt, im

Netzwerk handelt, stiftet andere zu

ähnlichemVerhalten an. Das Beispiel

der drei Unternehmerfiguren

illustriert dies. Am Anfang all ihrer

Bemühungen steht das Individuum

mit seinen Visionen und am Ende

ein Unternehmen, das diese verkörpert.

Im Falle Robert Rogners begann

das Netzwerken mit Mönchen, die

regelmäßig ein Bad in Bad Blumau

nahmen, dem Thermalbad, dem der

Baumeister vorstand. Sonderlich

erfolgreich war Rogner mit dem

Bad nicht, wurde von den Mönchen

aber darauf hingewiesen, dass

das Wasser wertvoll sei. Ermutigt

folgte er den Ratschlägen der

Mönche und ließ Kerzen aufstellen,

das Licht dimmen und Weihrauch

im Bad verteilen. Gleichzeitig gestaltete

Rogner das Bad grundsätzlich

um, ließ die Gäste nicht mehr

anhand von Hinweisschildern,

sondern selbst auf Erkundungstouren

gehen. Das Bad als meditativer

Ort des Abenteuers. Nicht nur über

die Mönche kam Rogner zu dieser

Vision, sondern auch, indem er in

SPEZIAL

UNIversalis-Zeitung

Für Universität und Hochschulen in Freiburg

Junge Akademie für

Nachhaltigkeitsforschung

IMPRESSUM

Herausgeber:

Art Media Verlagsgesellschaft mbH

Auerstr. 2 • 79108 Freiburg

Telefon: 07 61 / 72 072

e-mail: redaktion@kulturjoker.de

Redaktionsleitung

(V.i.S.d.P):

Christel Jockers

Autoren dieser Ausgabe:

Dr. Cornelia Frenkel

Fabian Lutz

Luca Marras

Danny Schmidt

u.a.

Satz/Gestaltung:

Art Media Verlagsgesellschaft mbH

Druck:

Rheinpfalz Verlag und Druckerei

GmbH & Co. KG, Ludwigshafen

Der Nachdruck von Texten und den vom

Verlag gestalteten Anzeigen nur mit ausdrücklicher

Genehmigung des Verlags.

Als erste ihrer Art in Deutschland startet die Young Academy for Sustainability

Research an der Universität in Freiburg

Angesiedelt am Institute for Advanced

Studies und gefördert durch die

Eva Mayr-Stihl Stiftung startete im

Oktober die Young Academy for

Sustainability Research an der Universität

Freiburg als erste ihrer Art

in Deutschland. Die Young Academy

soll eine Plattform für den interdisziplinären

Austausch und die

wissenschaftliche Zusammenarbeit

von 16 ausgewählten Forschenden

zum Thema Nachhaltigkeit werden.

Neben der Förderung des wissenschaftlichen

Diskurses hat die Akademie

das Ziel, Initiativen an den

Schnittstellen von Wissenschaft und

Gesellschaft zu unterstützen und

das Forschungsfeld der Nachhaltigkeit,

als eines der wohl wichtigsten

unserer Zeit, zu bereichern.

Die Arbeit der international besetzten

Akademie ist zunächst auf zwei

Jahr angesetzt. In diesem Zeitraum

werden sich Forschende der Albert-

Ludwigs-Universität, aber auch

von internationalen Universitäten

regelmäßig austauschen sowie in

Freiburg treffen, um gemeinsame

Forschungsvorhaben, Projekte

und Publikationen im Bereich der

Nachhaltigkeitsforschung voranzutreiben,

wissenschaftliche Konferenzen

und Workshops zu organisieren

und den Kontakt zu weiteren

Instituten der Universität sowie zu

außeruniversitären Forschungseinrichtungen,

Organisationen und öffentlichen

Institutionen aus dem Bereich

der Nachhaltigkeit zu suchen.


10 UNIversalis-Zeitung Winter 2021

„Das war vor allem ein riesen Geschäft –

Die Kriegsindustrie hat Milliarden gemacht“

Im Gespräch: Heiner Tettenborn, Rechtsanwalt, Afghanistankenner und Referent beim 18. Mundologia-

Festival

Auf seinen Reisen durch Afghanistan lernte Heiner Tettenborn Land und Leute kennen

Foto: Tettenborn

I

n Afghanistan sind die

Taliban nach dem Abzug

der internationalen

Truppen wieder an der

Macht. Während zahllose Menschen

eine neue Schreckensherrschaft

fürchten, begrüßen andere

die Rückkehr in der Hoffnung auf

mehr Stabilität und Sicherheit.

Die Afghanistan-Kenner Monika

Koch und Heiner Tettenborn haben

das Land seit 2003 mehrfach

bereist und zeitweise dort auch

gelebt. Ihre Live-Reportage „Afghanistan

- Einblicke in ein zerrissenes

Land“ präsentieren sie

am 6. Februar 2022 im Rahmen

des 18. Mundologia-Festivals im

Konzerthaus Freiburg. Im Interview,

das von Janine Böhm

geführt wurde, berichtet Heiner

Tettenborn von der aktuellen

Lage im Land und erläutert die

Hintergründe.

UNIversalis: Guten Tag Herr

Tettenborn, zu Beginn eine Frage,

die sich vermutlich einige gestellt

haben: Im September dieses Jahres

gingen 300 vollverschleierte Afghaninnen

auf die Straße und demonstrierten

mit Transparenten ihre Unterstützung

für das Taliban-Regime.

Gibt es tatsächlich Frauen, die sich

über die Rückkehr der Islamisten

gefreut haben?

Tettenborn: Ich kann mir das sehr

gut vorstellen. Das Land war in

einer absoluten Sackgasse, kam

nicht zur Ruhe, der Krieg dauerte

an. In den Jahren 2018 bis 2020

sind bei Kampfhandlungen über

100.000 Menschen gestorben. Die

Lage war sehr unübersichtlich, im

Schnitt sind jährlich 30.000 Menschen

umgekommen, die meisten

waren Kämpfer, aber es gab auch

viele Zivilisten unter den Opfern.

Wobei man sich klarmachen muss,

dass die meisten Männer aus Not

für Geld gekämpft haben: Zurück

bleiben Waisenkinder und eine Familie

ohne Einkommen.

Universalis: Das heißt, die Frauen

unterstützen die Taliban nicht aus

religiösen Gründen, sondern weil

sie sich von ihnen mehr Sicherheit

und Ruhe erhoffen?

Tettenborn: Genau, zumindest

auch deswegen. Die Sicherheitslage

war in den letzten 15 Jahren desolat.

Freunde im Land haben mir berichtet,

dass es in Teilen von Afghanistan

nach der Machtübernahme

der Taliban sehr viel besser geworden

ist. Es ist wichtig zu erkennen,

dass wir hier eine zutiefst gespaltene

Gesellschaft haben. Die Aussagen

der Menschen sind diametral:

Je nachdem wen man fragt und

wessen Schicksal gerade betroffen

ist. Wir im Westen hatten meist keinen

Kontakt zu Leuten, die die Taliban

unterstützt haben und die unter

den Angriffen der nationalen Armee

oder der ausländischen Truppen

gelitten haben. Deren Berichte

sind weniger präsent, aber sie haben

auch viel Leid erfahren. Wenn

schon die Afghanen sich nicht einig

werden, was in ihrem Land richtig

und falsch ist, wie will man das von

außen beurteilen? Für mich ist das

zumindest sehr schwierig.

UNIversalis: Wünscht sich die

Mehrheit der Afghanen eine strikte

wörtliche Auslegung des Koran

und die strenge Orientierung an der

Scharia?

Tettenborn: Ich glaube, das

wünscht sich so nur eine Minderheit

der Bevölkerung. Die Leute sind

aus unserer Sicht extrem religiös.

Auf dem Land und in vielen Milieus

auch innerhalb der Städte ist die Religion

das zentrale Element für den

Zusammenhalt der Gesellschaft.

Die Menschen beten mindestens 5

mal am Tag ganz konsequent, da

schert niemand aus. Dennoch sind

sie im Alltag nicht so strikt, wie die

Taliban. Man muss einfach sehen,

dass das Land wirklich krasse Probleme

hat, unter denen die Taliban

nicht das größte darstellen.

UNIversalis: Wo sehen Sie gerade

das größte Problem?

Tettenborn: Das größte Problem

haben viele hier nicht im Bewusstsein:

Trotz unserer Präsenz dort

sind 50 Prozent der Kinder und 30

Prozent der Erwachsenen mit Nahrungsmitteln

unterversorgt, Hunger

ist allgegenwärtig. Das muss man

sich klar machen. Die Leute wollen

einfach überleben. Solange Krieg,

Kämpfe, Unsicherheit, Kriminalität

und die staatliche Korruption andauern,

sehen sie keine Gerechtigkeit

und kommen zu dem Schluss,

dass letztendlich nur der Islam Gerechtigkeit

bringen kann. Die Menschen

sagen sich, die Taliban sind

viel weniger korrupt und viel geradliniger,

was ihre Politik angeht.

Dann schlucken wir halt die Kröte:,

sie sind ein bisschen extrem, aber

sie können wenigstens für Ruhe

sorgen. Das ist aus meiner Sicht

einer der Hauptgründe, warum die

Taliban in Teilen der Bevölkerung

Rückhalt haben. Es hat nicht in erster

Linie etwas mit Religion zu tun,

sondern damit, dass die Staatsform

und Regierung der letzten 20 Jahre

so schlecht bewertet wird. Das beim

Vormarsch der Taliban niemand den

Staat verteidigt hat, ist für mich eine

Art „demokratische Abstimmung“ –

mit den Füßen sozusagen.

UNIversalis: Die Menschen haben

sich also nicht klar für die Taliban

aber sehr deutlich gegen die bisherige

Regierung entschieden.

Tettenborn: Ja, das trifft es sehr

gut.

UNIversalis: Sie sind Jurist, können

Sie uns was zur Scharia sagen?

Ist das eine Art Gesetzesbuch, das

alle Lebensbereiche umfasst?

Tettenborn: Im Prinzip schon. In

Afghanistan gilt vielleicht nach

außen hin die Scharia, aber bei

der größten und stärksten Bevölkerungsgruppe,

den Paschtunen,

sind die Stammesgesetze von noch

größerer Bedeutung. Es handelt

sich dabei um einen Rechtscodex,

Paschtunwali genannt, der älter

als der Islam ist. Das ist gelebtes

Recht, da gibt es kein einheitliches

Buch. Islamisches Recht und das

Paschtunwali überlagern sich. Man

kann dort nicht einfach kommen,

beide wegwischen und ein anderes

Rechtssystem einführen. Man muss

auf dem aufbauen, was die Leute

als Recht empfinden. Es gibt darin

durchaus auch positive Elemente

wie basisdemokratische Entscheidungen

auf Gemeindeebene. Offiziell

beteiligen sich an solchen

Prozessen zwar nur die männlichen

Familienoberhäupter, aber im Vorfeld

zuhause hat die ganze Familie

und gerade auch die älteren Frauen

ein Mitspracherecht. Die älteren

Frauen haben über ihre Männer

oft beträchtlichen Einfluss und entscheiden

mit, wie sich die Familie

zu einzelnen Fragen verhält. Die

Rolle der Frau in der afghanischen

Gesellschaft lässt sich nicht innerhalb

einer Generation völlig verändern.

UNIversalis: Aber es gibt doch diese

Bilder aus den 1960er Jahren,

auf denen man afghanische Frauen

sieht, die in Miniröcken durch Kabul

spazieren.

Tettenborn: Wir haben verschiedene

afghanische Freunde dazu befragt

und die alle meinten, das sei

nur eine sehr kleine Gruppe aus der

gebildeten Mittel- und Oberschicht

der großen Städte gewesen, die

keinerlei Einfluss auf die restliche

Bevölkerung hatte. Das ist ein gutes

Beispiel dafür, was dem Land in

den letzten 100 Jahren wirklich zu

schaffen macht, nämlich die Gleichzeitigkeit

höchst unterschiedlicher

kultureller Entwicklungen. Auf der

einen Seite gibt es die in traditionellen

Kulturmustern verankerte

Landbevölkerung und auf der anderen

eine städtische Schicht, modern,

gebildet und über Auslandskontakte

und Auslandaufenthalte

mit der westlichen Kultur vertraut.

Sie können sich mit Europäern,

Amerikanern und Russen viel besser

austauschen und reden als mit

ihren Verwandten und Landsleuten

zehn Kilometer außerhalb der

Stadt. Diese kulturelle Spaltung

ist ein gefährlicher Nährboden für

politische Auseinandersetzungen.

Aus machtpolitischem Interesse

haben die Großmächte beide Seiten

gegeneinander ausgespielt und

für sich die Schwierigkeiten in der

Bevölkerung ausgenutzt. Das war

zumindest mein Eindruck.

UNIversalis: Für viele junge Menschen,

die in den letzten Jahren zur

Schule gegangen sind, studiert haben,

Zukunftspläne hatten, ist die

Rückkehr der Taliban ein besonders

harter Schnitt.

Tettenborn: Ja, fürchterlich. Einer

meiner besten afghanischen

Freunde, den wir bei unserem ersten

Aufenthalt 2003/2004 kennengelernt

hatten, er war damals 17, jetzt

ist er Mitte Dreißig, hat ebenso wie

seine Geschwister und Freunde sein

ganzes Leben auf der westlichen

Präsenz aufgebaut. Gleichzeitig

gibt es viele Millionen Afghanen,

die trotz der Präsenz des Westens

ganz traditionell gelebt haben. Die

stehen sich nun mit sehr unterschiedlichen

Lebensauffassungen

gegenüber. Die einen sagen, wenn

ihr nicht so engstirnig und rückständig

wärt, und die Ausländer

und uns nicht bekämpfen würdet,

könnten wir ein tolles Land aufbauen.

Und die anderen sagen, wenn

ihr Verräter nicht mit den Ausländern

gemeinsame Sache gemacht

hättet, dann würden unsere Verwandten,

die bombardiert wurden,

noch leben. Das ist jetzt zu stark

vereinfacht, aber auf beiden Seiten

gab es viele Tote, und das macht

das miteinander Reden sehr schwer.

Hinzu kommt die wirtschaftliche

Lage. Afghanistan steht mit dem

Rücken zur Wand. Man hat ein

Kartenhaus ohne wirtschaftliche

Tragfähigkeit aufgebaut, die Hälfte

des Bruttosozialprodukts sind

ausländische Transferleistungen.

Auch das Verhältnis von Export

und Import ist besorgniserregend.

Es wird viel mehr importiert als

exportiert. Das ist uns schon 2004

aufgefallen. Volle Lastwagen fuhren

von Pakistan und Indien nach

Kabul und leere Lastwagen fuhren

zurück. Das kann auf Dauer nicht

gut gehen. Man hat ein Land in einer

fürchterlichen Abhängigkeit erschaffen,

fast alles ist von Transferzahlungen

abhängig und das wird

nun als Druckmittel gegen die Taliban

benutzt. Darunter leiden wird

vor allem die Bevölkerung.

UNIversalis: Warum konnte die afghanische

Wirtschaft nicht besser

aufgebaut werden?

Tettenborn: Afghanische Freunde

von uns bezweifeln, dass wirtschaftliche

Unabhängigkeit je gewünscht

war. Obwohl die Fläche

da ist, obwohl das Wasser da ist,


Winter 2021 UNIversalis-Zeitung 11

Tettenborn reist seit 2003 regelmäßig nach Afghanistan und lebte dort auch für eine kurze Zeit

ist Afghanistan von Nahrungsmittelimporten

und Transferzahlungen

abhängig. Klar ist es nicht einfach

eine Wirtschaft aufzubauen, aber

ich frage mich, ob das je Priorität

hatte. Die Transferzahlungen haben

auch zu einer Schieflage bei den

Gehältern und beim Preisniveau

in der Region geführt. Der Aufbau

eines wirtschaftlich konkurrenzfähigen

Unternehmens war unter

diesen Umständen fast unmöglich.

In Pakistan oder auch Iran hat man

günstiger bei gleichzeitig höherer

Produktivität wirtschaften können.

UNIversalis: Aber in das Bildungswesen

wurde investiert, viele sind

zur Schule gegangen.

Tettenborn: Die schulische Förderung

hat lange nicht alle erreicht.

Und ein guter Freund, Khazan Gul,

über dessen Leben wir ein Buch

geschrieben haben, kritisiert, dass

die Qualität der Schulen viel niedriger

ist, als sie sein könnte, weil

ausländische Hilfsorganisationen

und Armeen die guten Lehrer von

den Schulen und Hochschulen abgeworben

haben, um sie als Koch

oder Fahrer einzustellen. Einfach

weil es angenehmer ist, mit einem

gebildeten Menschen zu tun zu

haben, der auch noch Eenglisch

spricht. Die Lehrer haben so mehr

verdient und waren dann weg von

den Schulen. Das war von erheblichem

Nachteil für die Bildungsqualität.

Das gleiche gilt für die

Lehrerinnen der Mädchenschulen.

Viele wurden ebenfalls abgeworben

und arbeiteten denn bei NGOs

und bei der Regierung, wo es durch

Programme viel Geld gab.

UNIversalis: Die Situation für die

Menschen war also auch unter der

Präsenz der Amerikaner und seiner

Verbündeten alles andere als rosig.

Tettenborn: Deshalb darf man

auch den Stab nicht über jenen Afghanen

brechen, die sich für 300 €

im Monat den Taliban, den Regierungstruppen

oder der afghanischen

Nationalpolizei angeschlossen hatten.

Das sind dann zwar nominell

Kämpfer, sie haben aber überhaupt

kein Interesse daran zu kämpfen,

sondern müssen einfach irgendwie

Geld für ihre Familie, für ihre Kinder

verdienen.

UNIversalis: Wie kann es in Zukunft

weitergehen? Die Taliban

sind doch sicherlich nicht die Richtigen

für den Aufbau eines funktionierenden

Staates. Braucht es dafür

nicht Experten?

Tettenborn: Die Taliban sind sicher

nicht die Richtigen, aber sie

sind im Moment die Einzigen, die

für Ruhe und Sicherheit sorgen

können. Und das auf eine Weise, die

uns überhaupt nicht gefällt. Aber

was wäre aktuell die Alternative?

Will man wieder Krieg führen und

sie erneut vertreiben? Wer ist Experte

für Afghanistan? Die Taliban

sind alles Afghanen, kennen sich

mit ihrer Kultur und militärischen

Auseinandersetzungen unter den

Bedingungen in Afghanistan sehr

gut aus. Im Moment sind das dort

die Experten. Natürlich sind sie

keine Experten für Welthandel und

viele andere Dinge. Eine provokante

Frage: Wäre es nicht ein viel

menschlicherer Ansatz, man bittet

sie darum, bestimmte Dinge nicht

zu tun und arbeitet dann mit ihnen

im Interesse der afghanischen Bevölkerung

zusammen? Wäre das

nicht menschlicher, als einfach nur

zu sagen, das Problem sind die Taliban?

Bis vor kurzem waren wir,

der Westen, mit all unseren Experten

dort das Problem. Wir haben

es nicht geschafft, eine funktionierende

Wirtschaft aufzubauen,

wir haben es nicht geschafft, für

genügend Nahrung zu sorgen und

wir haben es nicht geschafft, für

Sicherheit zu sorgen.

UNIversalis: Das bedeutet, sich

dort erneut einzumischen, wäre Ihrer

Meinung nach nicht sinnvoll?

Tettenborn: Warum sollte es nun

anders laufen? Die letzten 20 Jahre

waren vor allem ein Riesengeschäft.

Die Kriegsindustrie hat Milliarden

verdient.

UNIversalis: Es gibt also eigentlich

keine Alternative dazu, ein

paar, nicht allzu hohe Bedingungen

zu stellen und den Taliban nach

deren Zusage Unterstützung und

finanzielle Hilfen zukommen zu

lassen?

Tettenborn: Ich halte das für den

richtigen Ansatz. Es ist nur die Frage,

ob dabei nicht falsch gespielt

wird. Man kann die Bedingungen

ja immer so stellen, dass die Gegenseite

ihr Gesicht verliert, wenn

sie diese akzeptiert. Ich fürchte, die

Bedingungen werden so gestellt,

dass das Ergebnis der Verhandlungen

am Ende nicht im Interesse

der afghanischen Bevölkerung ist.

Vielleicht darf man auch gar keine

Bedingungen stellen, wenn es darum

geht, Menschen vor dem Verhungern

zu retten.

UNIversalis: Es fällt uns sehr

schwer mit Machthabern zusammen

zu arbeiten, die drakonische

Strafen aussprechen und Frauen

ein selbstbestimmtes Leben verwehren.

Tettenborn: Keine Frage, es gibt

Menschenrechtsverletzungen. Aber

man darf nicht vergessen, dass wir

bereits mit anderen Ländern sehr

eng zusammenarbeiten, darunter

Saudi- Arabien, wo Menschen ausgepeitscht

und öffentlich hingerichtet

werden, aus Gründen, die nach

unserer Auffassung nichtig oder

politisch motiviert sind.

UNIversalis: Würden Ihre afghanischen

Freunde, die aktuell sehr

unter den Taliban leiden und sich

zum Teil verstecken müssen, das

Land verlassen, wenn sie könnten?

Tettenborn: Ja, würden sie gerne,

aber sie sitzen fest. Es gibt ein

paar Flüge, aber um einen Platz

an Bord zu bekommen, braucht

man die Bewilligung eines aufnehmenden

Landes und die Erlaubnis

der Taliban. Das sind zwei immens

hohe Hürden. Auf normalem Weg

kommt man im Moment fast nicht

raus. Die ganzen Flüchtlingsströme

werden natürlich weitergehen,

viele haben Angst vor den Taliban,

noch mehr aber haben sie Angst

vor Hunger, andere fliehen, weil

sie keine positive Perspektive für

ihr Leben sehen.

Ich fände es gut, wenn man in Anbetracht

des drohenden Winters für

Afghanistan spendet, gleichzeitig

ist es gerade sehr schwierig, den

Menschen Geld zukommen zu

lassen. Man weiß nicht wie man

es machen soll. Als Afghane im

Ausland, kann man seiner Familie

aktuell nicht einfach Geld überweisen.

Auf der Ebene der Banken

und des Geldtransfers ist gerade

alles blockiert. Das ist ein großes

Problem und ich frage mich, wer

Interesse daran hat, das Problem

zu lösen und wer nicht. Haben die

Taliban Interesse an der Blockade,

oder sind es vielmehr die USA und

ihre Verbündeten, die zeigen wollen,

dass es die Taliban auch nicht

besser hinkriegen?

UNIversalis: Was wäre Ihrer Ansicht

nach jetzt sinnvoll?

Tettenborn: Es ist seit langem

eine sehr unübersichtliche Lage

und leider sind seit über 40 Jahren

die Afghaninnen und Afghanen

die Leidtragenden. Wenn man den

Menschen helfen will, müsste man

meiner Ansicht nach die Taliban

und ihre Art zu regieren erst einmal

hinnehmen und statt die geschaffene

Abhängigkeit auszunutzen

oder zu instrumentalisieren, Verantwortung

übernehmen und die Menschen

unterstützen. Ich denke einfach

an die Leute, die da irgendwie

existieren müssen. Die Preise für

Nahrungsmittel haben in den letzten

Wochen um bis zu einem Drittel

angezogen. Die Not ist immens,

die Leute verkaufen alles was sie

haben, manche selbst ihre Kinder.

Irgendjemand bietet Geld für eine

11-Jährige auf dem Heiratsmarkt.

Normalerweise würden die Menschen

so etwas nie machen, aber

die nackte Not zwingt sie dazu.

Nicht alles was in Afghanistan

schlecht läuft, ist unsere Schuld.

Aber der Westen hatte sich auf die

Fahnen geschrieben dieses Land

aufzubauen und den Menschen ein

besseres Leben zu ermöglichen

und da ist es schon traurig zu sehen,

was tatsächlich erreicht wurde

und in welchem Zustand sich

das Land heute befindet. Jetzt mit

dem Finger auf die Menschen zu

Foto: Tettenborn

zeigen, ist sicher nicht angebracht.

Ich finde es auch seltsam zu denken,

wir wüssten es besser als die

Afghanen. Man stelle sich mal

vor, jemand käme von außen aus

einem weit entfernten Land zu uns,

spricht kaum unsere Sprache aber

behauptet: Ich habe lange studiert,

ich weiß besser als ihr, was für euch

gut ist.

UNIversalis: War die Mission des

Westens in Afghanistan wegen der

großen kulturellen Differenzen von

vornherein zum Scheitern verurteilt?

Tettenborn: Viele Leute waren zu

Beginn über den Einmarsch der

Amerikaner und ihrer Verbündeten

erfreut und die ersten Jahre sehr offen

für Neues. Durch das hohe Ausmaß

an Korruption und die fehlende

Bereitschaft ausländischer Armeen,

vieler NGOs und anderer Akteure,

auf afghanische Belange Rücksicht

zu nehmen, kippte jedoch die Stimmung.

Oft wurden Afghanen bei

wichtigen Entscheidungen nicht

einbezogen. Es wurden Gebiete

Häuser und Menschen bombardiert,

obwohl sich die afghanische

Regierung dagegen ausgesprochen

hatte. Mit welchem Recht, fragten

sich die Menschen. Was soll das für

eine Regierung sein, wenn sie im

eigenen Land nicht mitbestimmen

kann und bei wichtigen Entscheidungen

nicht gefragt wird? Darüber

hatte sich der frühere Präsident

Hamid Karzai mehrfach öffentlich

beschwert. Immer dann, wenn sich

die Afghanen eigentlich ziemlich

einig waren, Widerstandsgruppen,

Taliban, Warlords und Regierung,

und gesagt haben, so geht das hier

nicht, wurden sie komplett übergangen

und man hat einfach weiter

gemacht.

UNIversalis: Der Westen ist also

extrem arrogant aufgetreten?

Tettenborn: Die Frage ist vor

allem, wie verträgt sich das mit

der Demokratie? Wenn 95 Prozent

der Afghanen sagen: „Das wollen

wir nicht.“ Und die Amerikaner

und westlichen Ausländer antworten:

„Das ist uns egal. Wir bringen

euch gerade die Demokratie.“ Der

Widerspruch ist doch mit den Händen

zu greifen. Das fällt jedem auf,

da muss man nicht studiert haben

zumindest wenn man in dem Land

lebt, das betroffen ist.

UNIversalis: Sie werden gemeinsam

mit Monika Koch auf dem 18.

Mundologia-Festival am 6. Februar

2022 im Konzerthaus Ihren

Vortrag „Afghanistan - Einblicke in

ein zerrissenes Land“ zeigen. Was

erwartet die Zuschauer?

Tettenborn: Wir werden die jüngere

Geschichte Afghanistans beleuchten,

um die bisherigen Geschehnisse

besser einordnen zu

können. Vieles was jetzt passiert

ist, hängt mit der Geschichte der

Heiner Tettenborn und Monika Koch werden am 6. Februar 2022 den

Vortrag „Afghanistan - Einblicke in ein zerrissenes Land“ auf dem 18.

Mundologia-Festival halten

Foto: Privat

letzten 40 Jahre zusammen. Auch

aktuelle Stimmen aus Afghanistan

werden zu Wort kommen, wir versuchen

Interviews einzubauen.

Außerdem werden wir von persönlichen

Begegnungen berichten, von

Gesprächen und Diskussionen, die

uns geholfen haben, die Kultur besser

zu verstehen. Sehr unterstützt

hat uns dabei Khazan Gul, ein Afghane,

der in Deutschland studiert

hat und uns auf Deutsch sehr viel

erklären konnte. Durch ihn und

seine Familie, aber auch durch andere

Freunde haben wir viel dazugelernt,

beispielsweise was afghanische

Gastfreundschaft bedeutet,

und wie die Familienstrukturen

funktionieren. Die überwältigende

Gastfreundschaft der Menschen haben

wir übrigens bei Gegnern und

Anhängern der Taliban gleichermaßen

erlebt. Das ist etwas, was einen

sehr einnimmt für die Leute.

Wir erzählen von unseren Erfahrungen

in der Zeit, als wir dort

gelebt haben und von unseren

Eindrücken auf Reisen durch das

Land. Es sind natürlich subjektive

Wahrnehmungen und Erkenntnisse,

ich denke sie geben dennoch gute

Einblicke in die Gesellschaft und

helfen dabei, Verständnis für die

Entscheidungen und Reaktionen

der Afghanen zu entwickeln. Viele

Afghanen, egal welcher politischen

Richtung sie angehören, treffen

aus unserer Sicht sehr harte und

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manchmal auch unmenschlich erscheinende

Entscheidungen. Aber

wenn man sich klar macht, wie die

politischen und gesellschaftlichen

Rahmenbedingungen sind, merkt

man, dass sie sich fast immer bemühen,

trotz extrem schwieriger

Umstände, für ihre Familie, für

ihre Kinder, auch für die Mädchen,

immer das Bestmögliche zu erreichen.

So wie wir wünschen sich

auch afghanische Eltern für ihre

Kinder eine glückliche Zukunft und

sind bei ihrem Handeln von Liebe

geleitet. Ihre Lebensbedingungen

sind jedoch extrem schwierig, sodass

bei jeder Entscheidung überlegt

werden muss, wie überlebt die

Familie als Ganzes. Das bringt für

den Einzelnen zum Teil unglaubliche

Härten.

Wir hoffen mit unseren persönlichen

Erlebnissen nicht nur einen

verstandesmäßigen, sondern auch

einen emotionalen Zugang zu den

Menschen zu eröffnen. Letztendlich

haben sie doch sehr ähnliche

Wünsche und Bedürfnisse wie

wir, nur äußert sich das durch die

Umstände in einer anderen Weise.

Wir jedenfalls fühlen uns den Menschen

dort sehr nahe.

UNIversalis: Herr Tettenborn, vielen

Dank für das Gespräch.

Unikat von Stephan Rambaud, Meilleur Ouvrier de France


12 UNIversalis-Zeitung Winter 2021

Der Umgang mit der NS-Justiz vor und

nach 1945

Im Gespräch: Dr. Thomas Kummle, früherer Amtsgerichtspräsident und Initiator der Ausstellung im

Freiburger Amtsgericht

S

eit einigen Monaten

kann man im Flur des

Amtsgerichts Freiburg

einen neuen Aspekt der

NS-Zeitin Freiburg kennenlernen,

dreizehn Ausstellungstafeln

befassen sich dort mit der damaligen

Justiz. Initiiert vom früheren

Amtsgerichtspräsident Dr.

Thomas Kummle, der das Projekt

in Kooperation mit dem Historiker

Dr. Michael Hensle und

dem Staatsanwalt Dr. Dominik

Stahl leitet, zeigt die Ausstellung

das Wirken der NS-Justiz in Freiburg

auf. Erstmals wird so eine

wichtige Tatsache der Stadtgeschichte

analysiert, dass nämlich

der Volksgerichtshof in Freiburg

Sitzungen abhielt; daran werden

auch Zusammenhänge mit

NS-Verbrechen im annektierten

Elsass-Lothringen und im besetzten

Frankreich sichtbar. Drei spezielle

NS-Gerichte haben in Freiburg

getagt: Das Sondergericht,

das Reichskriegsgericht und der

Volksgerichtshof, was für Baden

und Württemberg als durchaus

ungewöhnlich gelten darf.

Die Ausstellung, deren Tafeln

neben Texten auch Abbildungen

von Originaldokumenten und Fotos

enthalten, gliedert sich in drei

Bereiche. Fünf Tafeln thematisieren

das Sondergericht Freiburg.

Drei Tafeln widmen sich

der Rechtssprechung des Reichskriegsgerichts

und zeigen, dass in

Freiburg Verfahren gegen hierher

verschleppte Mitglieder der französischen

Widerstandsorganisation

„Réseau Alliance“ verhandelt

wurden. Des Weiteren befassen

sich Texte mit dem Volksgerichtshof,

zu dessen Opfern etwa Regimegegner

zählten, auch aus dem

Elsass. Abschließend wird „Der

Umgang mit der NS-Justiz nach

1945“ angesprochen. Unsere Mitarbeiterin

Cornelia Frenkel hat

Thomas Kummle zu dieser Ausstellung

befragt.

UNIversalis: Herr Kummle, wie kam

es zu Ihrem Forschungsprojekt?Wie

sind Sie darauf gestoßen, dass das

Reichskriegsgericht und der Volksgerichtshof,

die ihren Sitz in Berlin

hatten, auch in Freiburg Unrecht

gesprochen haben?

Thomas Kummle: Aufgrund eines

Hinweises des französischen Vereins

„Souvenir Français“ wurde

bekannt, dass das Reichskriegsgericht

im Justizgebäude am Holz-

Land- und Amtsgericht, Ecke Wall- und Kaiserstraße um 1930

markt Militärgerichtsverfahren

durchführte. Bei meinen Recherchen

stieß ich auf die überraschende

Tatsache, dass auch der berüchtigte

Volksgerichtshof im heutigen Gebäude

des Amtsgerichts Freiburg

Sitzungen abhielt.

UNIversalis: Das Reichskriegsgericht

in Freiburg hat insbesondere

Verfahren gegen Mitglieder der

französischen Widerstandsorganisation

„Réseau Alliance“ durchgeführt.

Ist die Zahl der Gerichtsverfahren

und deren Ausgang bekannt?

Thomas Kummle: Das Reichskriegsgericht

verhandelte 27 Verfahren

gegen 67 Mitglieder der

„Réseau Alliance“in Freiburg – es

gab bis zu fünf Angeklagte in einem

Verfahren. 58 Angeklagte wurden

zum Tode verurteilt, neun zu langjährigen

Freiheitsstrafen. Freisprüche

gab es nicht. Die Verurteilungen

erfolgten jeweils wegen Spionage.

Die „Réseau Alliance“ betätigte

sich hauptsächlich als Nachrichtendienst,

indem sie Regierungskreise

und Kommandanturen abhörte sowie

deutsche Verteidigungslinien

Denkansätze für einen nachhaltigen

Ausweg aus der Krise

„Eine Umorientierung zu

mehr Lebensqualität statt

quantitativem Wachstum

ist möglich!“

Michael von Brück

Interkulturelles

Ökologisches Manifest

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auskundschaftete – sie leistete auch

Fluchthilfe.

UNIversalis: Vor das Reichskriegsgericht

in Freiburg waren zahlreiche

Angeklagte aufgrund des

sogenannten Nacht- und Nebel-Erlasses

verschleppt worden. Gab es

weitere Verfahren gegen Mitglieder

der „Réseau Alliance“?

Thomas Kummle: Das spurlose

Verschwindenlassen von Menschen

war im Nacht- und Nebel-Erlass geregelt.

Es war ein Mittel zur Terrorisierung,

das auch gegen den französischen

Widerstand eingesetzt

wurde. In den Listen der Freiburger

Verfahren des Reichskriegsgerichts

sind weitere 47 Widerstandskämpfer

erwähnt. Sie wurden ohne Gerichtsverhandlung

entweder in Konzentrationslager

verschleppt oder

direkt ermordet.

UNIversalis: Beim Thema Volksgerichtshof

denkt man vor allem an

seinen Präsidenten Roland Freisler;

kannte er die Verhandlungen

in Freiburg oder wer hat ihn vertreten?

Thomas Kummle: Roland Freisler

wurde im Jahr 1942 Präsident des

Volksgerichtshofs und Vorsitzender

des 1. Senats. Dieser Senat verhandelte

im Jahr 1944 Strafverfahren in

Freiburg. Die Fälle lagen daher im

Zuständigkeitsbereich von Freisler,

er leitete jedoch nicht die Hauptverhandlungen

in Freiburg. Sein

Vertreter war Landgerichtsdirektor

Martin Stier. Der Senat wurde durch

den zweiten Berufsrichter Dr. Erich

Schlemann sowie durch drei Volksrichter

komplettiert. Volksrichter

waren regimetreue Laienrichter

und gehörten der NSDAP und deren

Gliederungen an.

UNIversalis: Gab es im NS-Justizsystem,

das zum Instrument der

organisierten Willkür wurde, noch

unabhängige Richter?

Thomas Kummle: Die in der Ausstellung

„NS-Justiz in Freiburg“

dokumentierten Verfahren der NS-

Ausnahmegerichte betreffen die

Kriegszeit. Das Sondergericht Freiburg

verhandelte sein erstes Strafverfahren

am 13. Oktober 1939, das

Reichskriegsgericht war ab Dezember

1943 und der Volksgerichtshof

ab Mai 1944 in Freiburg. Die Nationalsozialisten

hatten bereits im

Jahr 1933 mit dem Gesetz zur Wiederherstellung

des Berufsbeamtentums

nach ihrem Sprachgebrauch

mit einer „personellen Säuberung“

von jüdischen Beamten und Richtern

begonnen. In der Folgezeit

nahm das Reichsjustizministerium

fortlaufend stärkeren Einfluss auf

die Rechtsprechung. Maßnahmen

zur Lenkung der Justiz waren beispielsweise

neu geschaffene Berichtspflichten

oder Vor- und Nachschauen,

bei denen der Richter oder

Staatsanwalt Fälle vor und nach der

Sitzung mit seinem Behördenleiter

besprechen und ggf. rechtfertigen

musste. Im Jahr 1942 wurden sogenannte

Richterbriefe eingeführt.

Sie gaben Rechtsauffassungen des

Ministeriums wieder und wurden

gegen Empfangsbekenntnis dem

Justizjuristen ausgehändigt. Bei

dem vielschichtigen und massiv

ausgeübten äußeren Druck kann

für die Kriegszeit sicher nicht von

einer Unabhängigkeit des Richters

gesprochen werden.

UNIversalis: Zahlreiche Widerstandskämpferinnen

und Widerstandskämpfer

aus Frankreich

und dem Elsass wurden in den badischen

Städten wie Kehl, Rastatt,

Offenburg, Freiburg, Bühl, Gaggenau

und Pforzheim hingerichtet.

Wurden diese Verbrechen nach

1945 ausreichend geahndet?

Thomas Kummle: Als die vorrückenden

Truppen der Alliierten am

23. November 1944 Straßburg erreichten,

wurden 70 Mitglieder der

„Réseau Alliance“, die in Gefängnissen

der erwähnten Städte inhaftiert

waren, ermordet. Dies geschah

in der sogenannten Schwarzwälder

Blutwoche vom 23. bis 30. November

1944. Julius Gehrum, Leiter der

für die Verfolgung der Widerstandskämpfer

zuständigen Gestapo-

Sektion in Straßburg, nahm selbst

an den Massakern teil. In Freiburg

wurden drei Widerstandskämpfer,

die wie alle anderen nicht verurteilt

© Stadtarchiv Freiburg

waren, vor der Justizvollzugsanstalt

Freiburg erschossen. Eine Gedenktafel

an der Außenmauer des

Gefängnisses erinnert an die drei

Franzosen Edouard Kauffmann,

Emile Pradelle und Jean-Marie Lordey.

Am 17. Mai 1947 wurde Julius

Gehrum von einem französischen

Militärgericht zum Tode verurteilt

und am 10. November 1947 in

Straßburg hingerichtet. Dem Leiter

der Gestapo in Straßburg, Helmut

Schlierbach, konnte von der

bundesdeutschen Justiz eine nahe

liegende Verantwortung für die 70

Morde nicht nachgewiesen werden.

Er wurde wegen anderer Delikte

durch ein britisches Militärgericht

zu 10 Jahren Zuchthaus verurteilt.

Ein französisches Militärgericht

verurteilte ihn 1954 in Abwesenheit

zum Tode, er wurde als deutscher

Staatsangehöriger aber nicht an

Frankreich ausgeliefert.

UNIversalis: Die letzte Tafel der

Ausstellung „NS-Justiz in Freiburg“

thematisiert, wie es nach

1945 weiterging. Warum scheiterten

Aufarbeitungsversuche seit

der Nachkriegszeit häufig, welche

Mechanismen waren ausschlaggebend?

Thomas Kummle: Bei der Aufarbeitung

nach dem Zweiten Weltkrieg

gilt es zu unterscheiden

zwischen der Rehabilitierung von

NS-Justizopfern einerseits und der

Strafverfolgung von NS-Straftätern

andererseits. Im französisch besetzten

Teil von Baden wurden ab

November 1945 Verurteilungen

wegen politischer Straftaten auf

Anordnung der Militärregierung

durch sogenannte Straftilgungskommissionen

gelöscht. Am 14.

Januar 1947 trat ergänzend die Badische

NS-Urteile-Aufhebungsverordnung

in Kraft. Sie ermöglichte

auf Antrag eine Aufhebung von

Verurteilungen, die auf nationalsozialistischem

Gedankengut beruhten.

Nach langem Ringen verabschiedete

der Bundesgesetzgeber

im Jahr 1998 das NS-Aufhebungsgesetz,

das weiterreichend war und

unter anderem pauschal alle Urteile

des Volksgerichtshofs aufhob. In

den Jahren 2002 und 2009 wurden

durch Gesetzesänderungen auch

NS-Urteile gegen Homosexuelle,

Deserteure und „Kriegsverräter“

pauschal aufgehoben.

Die Verfolgung von NS-Straftätern

lag nach Ende des Krieges zunächst

in den Händen der vier Hauptsiegermächte.

Sie übten die oberste

Regierungsgewalt und damit auch

die Justizhoheit aus. Nach dem

gemeinsam geführten Nürnberger

Hauptkriegsverbrecherprozess vor

dem Internationalen Militärgerichtshof

führten die US-Amerikaner

alleine zwölf sogenannte Nürnberger

Nachfolgeprozesse durch.

Der dritte dieser Prozesse, der sogenannte

Juristenprozess, richtete

sich in der Zeit vom 14. Februar

bis zum 4. Dezember 1947 gegen

16 Juristen, darunter drei ehemalige

Richter des Volksgerichtshofs

und drei ehemalige Reichsanwälte

des Volksgerichtshofs. Sechs Angeklagte

wurden zu langjährigen, vier

zu lebenslänglichen Freiheitsstrafen

verurteilt. Vier Angeklagte wurden

freigesprochen, ein Angeklagter ist

wegen Krankheit aus dem Verfahren

ausgeschieden, ein anderer beging

Selbstmord.

Die juristische Ahndung von NS-

Justizverbrechen in der Bundesrepublik

Deutschland kann nur als

gescheitert qualifiziert werden.

Letztlich wurde kein NS-Justizjurist

rechtskräftig verurteilt, der Todesstrafen

beantragt oder gefällt hatte.

Die in Baden-Württemberg im Juli

1960 eingesetzte „Kommission zur

Überprüfung von Vorwürfen gegen

Richter und Staatsanwälte wegen

ihrer früheren Tätigkeit bei Sondergerichten“

riet nach der Sichtung

von Todesurteilen in der Regel von

strafrechtlichen Schritten ab. Dies

beruhte insbesondere auf der damaligen

Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs,

die praktisch zu einem

Ausschluss der Strafbarkeit wegen

Rechtsbeugung für ehemalige NS-

Richter führte. Diese Rechtssprechung

war auch Folge einer sehr

hohen personellen Kontinuität im

Justizbereich: Der Anteil der ehemaligen

NSDAP-Mitglieder war in

den fünfziger und sechziger Jahren

an manchen Gerichten höher als im

Jahr 1939. Das sog. „131er-Gesetz“

- beruhend auf Artikel 131 Grundgesetz

- machte nämlich im Jahr

1951 die politisch motivierte Entlassung

vieler Beamten und Richter

wieder rückgängig und gewährte

diesen einen Rechtsanspruch auf

Wiedereinstellung. Zur Lösung dieser

untragbaren Situation schuf der

Gesetzgeber im Jahr 1961 durch §

116 des Deutschen Richtergesetzes

die Möglichkeit, dass Richter, die

während des Krieges in der Strafrechtspflege

mitgewirkt hatten, auf

Antrag in den Ruhestand versetzt

werden konnten. Die Zahl der Anträge

blieb mit 149 allerdings niedrig.

UNIversalis: In der frühen Bundesrepublik

war anscheinend sogar

Mainstream, die Urteile der „Nürnberger

Prozesse“ abzulehnen?

Thomas Kummle: Die deutsche

Bevölkerung stand den Alliierten

Gerichten in Nürnberg, Lüneburg

oder Rastatt, wie Umfragen der

US-Militärregierung zwischen Oktober

1945 und August 1946 zeigen,

anfangs nicht ablehnend gegenüber

– zumal die Verfahren hauptverantwortliche

Nationalsozialisten

betrafen. Wie schon bei anderen

Kriegsverbrecherprozessen stand


Winter 2021 UNIversalis-Zeitung 13

Dr. Thomas Kummle

© privat

aber der allgemeine Vorwurf der

„Siegerjustiz“ im Raum. Allerdings

bleibt bei diesem Einwand die Frage

unbeantwortet, wer sonst die

Prozesse hätte führen sollen. Den

weiteren politischen Säuberungen

stand die deutsche Bevölkerung

skeptisch bis ablehnend gegenüber.

Angesichts der allgemeinen Notlage

und der veränderten politischen

Rahmenbedingungen sah man keine

Notwendigkeit für Entnazifizierungen

mehr. Bereits ab 1946/47

setzte eine „Schlussstrichmentalität“

ein. Auf politischer Ebene fand

dies in Amnestierungen in den Jahren

1949 und 1954 seinen Niederschlag,

die auch Auswirkungen auf

die Verfolgung und Aburteilung von

NS-Verbrechen hatten.

UNIversalis: Sehr geehrter Herr

Kummle, wir bedanken uns für Ihre

Auskünfte.

Die Ausstellung „NS-Justiz in Freiburg“

kann während der Öffnungszeiten

des Amtsgerichts am Holzmarkt

im 1. Obergeschoß besichtigt

werden. Mo-Do 8-16, Fr 8– 12 Uhr

Literaturhinweise

• Michael P. Hensle.Die Todesurteile

des Sondergerichts Freiburg.

1996

• Christine Oehler. Die Rechtsprechung

des Sondergerichts Mannheim

1933 – 1945. 1997

•Walter Wagner. Der Volksgerichtshof

im nationalsozialistischen Staat.

Erw. Neuausgabe 2011

• Lothar Gruchmann. Justiz im

Dritten Reich 1933 – 1940. 3. Aufl.

2001

• Marie-Madeleine Fourcade,

L‘arche de Noé – Réseau“Alliance“

1940 – 1945. 1998

• Brigitte und Gerhard Brändle.

Hinrichtungen im Hardtwald 1944.

NS-Mordserie begann in Karlsruhe:

ww.karlsruhe.de/b1/stadtgeschichte/blick_geschichte/blick100/

reseau-alliance.de

• Auguste Gerhards. Tribunal de

guerre du IIIe Reich. 2014

Blick in die Ausstellung im Amtsgericht Freiburg

© T. Kummle

1941 Kiew. Vor 80 Jahren:

das Massaker von Babyn Jar

Zu Ort, Tat und Erinnerung – Sonderausgabe der Zeitschrift „Osteuropa“

B

estialischer geht es nicht.

Vor 80 Jahren hat das

Massaker von Babyn Jar

stattgefunden, es gilt als

Symbol für den sogenannten „Holocaust

durch Kugeln“. Im Jahr 1941,

am 29. und 30. September, ermordeten

deutsche Truppen – SS, Wehrmacht

und Polizeibataillone – am

Stadtrand von Kiew, in der Schlucht

von Babyn Jar, innerhalb von zwei

Tagen 33.771 Menschen, in den

Monaten danach ging das Morden

weiter. Diese Verbrechen waren bereits

vor der Wannsee-Konferenz ein

Auftakt zur Vernichtung der europäischen

Juden. Diesem grauenhaften

Geschehen widmet die Monatszeitschrift

Osteuropa ihr aktuelles Heft.

Im Editorial legen die Herausgeber

Manfred Sapper und Volker Weichsel

dar, dass das Blutbad von Babyn

Jar über Jahrzehnte von mehreren

Seiten verschleiert wurde; dementsprechend

schwierig gestaltet sich

heute die Erinnerungsarbeit.Der

Historiker Bert Hoppe rekonstruiert

minutiös die Ereignisse: die Wehrmacht

marschiert in die Sowjetunion

ein, besetzt u.a. Kiew, die Rote Armee

zieht sich zurück, während der

sowjetische Geheimdienst Anschläge

auf deutsche Besatzungsstellen

verübt: „In den zeitgenössischen

deutschen Dokumenten wurde das

Massaker durchweg als militärische

Reaktion auf die Bombenanschläge

dargestellt. Doch handelte es sich

dabei um einen Vorwand, um den

ohnehin geplanten Massenmord zu

legitimieren: Auffällig war schon

allein, dass nur Juden erschossen

werden sollten. Zwischen (SS-

Standartenführer Paul) Blobel und

(Generalfeldmarschall Walter von)

Reichenau bestand hinsichtlich des

Judenmords große Einigkeit. Schon

einen Monat vorher hatte von Reichenau

persönlich die Tötung von

90 jüdischen Kindern in der südlich

von Kiew gelegenen Stadt Bila

Cerkva angeordnet“, deren Eltern

waren zuvor erschossen worden.

Während der deutschen Besetzung

der Ukraine wurden fast 100.000

Menschen ermordet, mehrheitlich

Juden, doch auch Regimegegner

und Roma. In der Sowjetunion ging

das Verbrechen rasch unter: „Nach

der Befreiung Kiews Anfang 1943

durch die Rote Armee nahm eine sowjetische

Kommission die Untersuchung

der Gräueltaten auf. Ihren Bericht

sandte sie nach Moskau. Dort

wurde er allerdings umgeschrieben.

Die Opfer wurden als ‚sowjetische

Bürger‘ bezeichnet. Dass vor allem

Juden ermordet worden waren, wurde

verschleiert. Das „Schwarzbuch“

über den Genozid an den sowjetischen

Juden, das Wassili Grossman

und Ilja Ehrenburg zwischen

1943 und 1947 zusammengestellt

hatten und das mit einer Schilderung

der Ereignisse von Babyn Jar

einsetzt, durfte in der Sowjetunion

nicht erscheinen.“

So subsumierte man die jüdischen

NS-Opfer unter die Gesamtverluste

des sowjetischen Staates. Im

Deutschland der Nachkriegszeit,

im Land der Täter, wurden die Verbrechen

von Einsatzgruppen und

Polizeibataillonen insgesamt weitgehend

beschwiegen, darunter auch

die brutalen Exekutionen in Litauen

(s. dazu: W. Wette. Karl Jäger.

Mörder der litauischen Juden). Es

dauerte bis 1967, ehe Mitglieder

des Sonderkommandos 4a für die

Tötung von circa 60.000 Menschen

in der Ukraine zur Verantwortung

gezogen wurden, doch das Verfahren,

der„Callsen-Prozess, der wie

der Frankfurter Auschwitz-Prozess

maßgeblich vom Hessischen Generalstaatsanwalt

Fritz Bauer vorangetrieben

wurde, fand kein Interesse.

Die Zuschauerbänke im Landgericht

Darmstadt blieben meist leer. Die

Zeugenaussage von Dina Proničeva,

einer der wenigen Überlebenden des

Massakers, erregte keine öffentliche

Aufmerksamkeit.“ Die Aussage

dieser Zeugin, entstanden im April

1968, wird in Osteuropa erstmals

publiziert.

Auch was nach dem Massaker geschah,

ist an Grausamkeit kaum zu

übertreffen, wie Erhard Roy Wiehn

mit dem Band „Jüdische Schicksale

in Kiew 1941–1943“ aufgezeigt hat:

Im Frühjahr 1942 wurde nämlich am

Stadtrand von Kiew das Konzentrationslager

Syrez eingerichtet, in dem

die Nazis Hunderte von Gefangenen

auf sadistische Weise inhaftieren.

SS-Standartenführer Paul Blobel

gab 1948 in Nürnberg zu Protokoll,

dass er vom Reichssicherheitshauptamt

(RSHA) 1942 mit der Aufgabe

betraut wurde, die Spuren der von

den deutschen Einsatzgruppen verübten

Exekutionen zu beseitigen.

Die Häftlinge des Lagers Syrez wurden

nun eingesetzt, die Leichen derer

auszugraben, die Ende September

1941 in Babyn Jar erschossen

worden waren; diese mussten sie auf

Wertgegenstände untersuchen und

verbrennen. Danach fürchteten diese

Häftlingssklaven als lästige Zeugen

beseitigt zu werden, weshalb

sie Ende September 1943 aus dem

Lager ausbrachen. Meist wurden sie

auf der Flucht erschossen, nur vierzehn

überlebten. Das Morden in den

osteuropäischen Ländern, in Polen,

Weißrussland und der Ukraine, gehört

zu den grausamsten Gewalttaten

der NS-Diktatur und seine verschiedenen

Aspekte werden immer

wieder erschüttern und die Gemüter

erhitzen. Die Massenerschießungen

durch die Nazis in Osteuropa, die

mit dem Überfall auf die Sowjetunion

begannen, an denen Tausende

Soldaten und SS-Einsatzgruppen

beteiligt waren, kommen im Geschichtsbewusstsein

der Deutschen

zu wenig vor, ein Versäumnis, wie

Bundespräsident Frank-Walter

Steinmeier kürzlich in einer Rede in

Kiew eingestanden hat.

• Babyn Jar. Der Ort, die Tat und

die Erinnerung.Osteuropa.Manfred

Sapper/Volker Weichsel (Hg.).Berlin

1-2/2021

Cornelia Frenkel


14 UNIversalis-Zeitung Winter 2021

Fatale Kontinuitäten – „documenta. Politik

und Kunst” und die „Gottbegnadeten“

D

ie personelle Kontinuität

in allen gesellschaftlichen

Bereichen nach

1945 ist zwar ebenso

bekannt wie die Barrieren gegen

unbequeme Wahrheiten in dieser

Hinsicht; trotzdem kann erstaunen,

warum manche geschichtlichen

Vorgänge in der Bundesrepublik

noch kaum belichtet wurden,

so etwa die Zusammenhänge,

die das Deutsche Historische

Museum in Berlin (DHM) nun

durch zwei Ausstellungen aufdeckt,

mit „documenta. Politik

und Kunst” sowie „Die Liste der

Gottbegnadeten“.

„Documenta. Politik und Kunst“

geht erstmals der Frage nach, wie

mit Kunst in der Nachkriegszeit

Politik gemacht wurde. Klar ist,

dass die Moderne Kunst den Initiatoren

der documenta zur dezidierten

Abgrenzung von der NS-Vergangenheit

diente; zwar verhalfen

sie damit einem Teil des vormals

Verfemten zu Anerkennung, aber

Werke emigrierter oder ermordeter

Künstlerinnen und Künstler waren

in Kassel kaum vertreten; denn ihre

Kunst hätte an ihre Vertreibung

erinnert, vermerkt die Kunsthistorikerin

Julia Friedrich. Stattdessen

aber wurde etwa Emil Nolde zum

Vertreter der „inneren Emigration”

verklärt, obwohl er Anhänger der

Nazis war. Nicht nur diesbezüglich

lässt sich Kontinuität feststellen.

Hinzu kommt, dass fast die Hälfte

derjenigen, die an der Organisation

der ersten documenta mitwirkten,

Mitglied von NSDAP, SA oder SS

gewesen waren. Markantester Fall

ist dabei der Kunsthistoriker Werner

Haftmann, als Berater und Kurator

eine Schlüsselfigur der documenta

1-4; wie der Historiker Carlo Gentile

zeigt, war er in Kriegsverbrechen

involviert und wurde 1946

von italienischen Behörden gesucht.

Auch der an der documenta

1 mitwirkende Kunsthistoriker Kurt

Martin hatte im „Dritten Reich“

Karriere gemacht; 1934 war er von

Doppelausstellung im Deutschen Historischen Museum Berlin

NS-Gauleiter Robert Wagner zum

Chef der Karlsruher Kunsthalle

ernannt worden und betätigte sich

seit 1941 als Generaldirektor der

Oberrheinischen Museen - auch im

annektierten Elsass. Im Gegensatz

dazu steht allerdings Arnold Bode

(1900-1977), Initiator und wichtigster

Organisator der documenta,

er hatte Unterdrückung durch die

Nazis erlebt; seit 1930 als Dozent

am Städtischen Werklehrer-Seminar

in Berlin und Mitglied der Berliner

Secession, war er am 1. Mai 1933

wegen seiner Lehrmethoden und

politischen Überzeugung aus dem

Amt entfernt worden.

Dass nach 1945 eine offene Auseinandersetzung

mit der NS-Vergangenheit

unterblieb, hat viele Ursachen,

eine davon ist der rasch einsetzende

Kalte Krieg; die entsprechende

Blockbildung brachte mit

sich, dass sich das Deutschland der

Westbindung, während es in höchsten

Tönen der „Moderne“ huldigte,

gleichzeitig vom sozialistischen

Kunstbegriff des „Ostblocks“ distanzierte.

Auf dieser Basis wurde

dem documenta-Publikum seit

1955 eine Epoche präsentiert, die

in Deutschland zwischen 1933 und

1945 als „entartet“ gegolten hatte,

aber es wurde kaum bemerkt, dass

verfolgte und emigrierte Künstlerinnen

und Künstler ausgegrenzt

blieben, etwa Otto Freundlich,

Rudolf Levy, Felix Nussbaum und

Ludwig Meidner; aber auch weitere

Verfemte, die teils politisch und gegenständlich

orientiert waren und

innovative ästhetische Verfahren

entwickelten, wie etwa John Heartfield,

George Grosz, Hannah Höch,

Raoul Hausmann, Georg Scholz

oder Conrad Felixmüller, blieben

bis in die 1960er Jahre weitgehend

marginalisiert, da sie nicht in die

Behauptung passten, die Kunst sei

über alle Zeitgebundenheit erhaben.

Die Abstraktion galt seit der

documenta 2 (1959) als Gipfel des

Zeitgenössischen und Inbegriff

des Universellen. Nachdem die

NS-konforme Kunst nun erklärtermaßen

verpönt war, aber auch die

kritischen Tendenzen der Weimarer

Republik an den Rand gedrängt

blieben, wurde des Weiteren die

figürlich-realistische Kunst aus dem

„Osten“ und der DDR abgelehnt.

Derartige Fronten entspannten sich

erst in den 1970er Jahren, als Maler

wie Werner Tübke und Willi Sitte

auf der documenta ausstellen durften.

Die Schau im DHM Berlin verweist

mit Werken von Rudolf Levy, der

als Jude wie viele andere verfolgt

war, auf die erinnerungspolitische

Leerstelle der frühen documenta-

Jahre, Levy bildet aber nur die

Spitze des Eisbergs, zu den oben

bereits genannten Künstlern gesellen

sich viele Weitere, die ins Exil

gedrängt wurden; dies haben u.a.

Thomas B. Schuman mit seiner

Recherche „Deutsche Künstler im

Exil 1933-1945“ (Edition Memoria

2016), aber auch Gerhard Schneider

(„Verfemt – Vergessen – Wiederentdeckt“)

aufgezeigt. Die documenta

pflegte also ein Narrativ vom kulturellen

Neuanfang, ließ aber verschiedene

Opfer von Krieg, Verfolgung

und Massenmord außer Acht,

indes sie sich mit dem Bekenntnis

zur universellen Moderne auf mirakulöse

Weise unangreifbar machte.

Werner Haftmann hatte sich sogar

zu der Meinung verstiegen, „nicht

ein einziger der deutschen modernen

Maler“ sei Jude gewesen. Die

„antisemitische Vernichtungspolitik“

fand „in der Einladungspraxis“

zur documenta quasi ihre Fortführung,

so Raphael Gross, Direktor

des DHM.

Der „Mythos documenta“ war, betont

Hortensia Völckers, „von der

ersten bis zur zehnten Ausgabe immer

auch von geopolitischen Interessen

in der deutschen Nachkriegsgeschichte

geprägt.“ Seit Gründung

der internationalen Großausstellung

erhoben die Macherinnen und Macher

zwar den Anspruch, aktuelle

künstlerische Trends zu vermitteln,

blieben dabei aber von kultur- und

gesellschaftspolitischen Entwicklungen

der Bundesrepublik abhängig.

Dies änderte sich erst in den

1960er Jahren. 1977 wurden erstmals

Werke von DDR-Künstlern

gezeigt und die NS-Kunst thematisiert.

Selbstverständlich veränderte

dann der Fall der Mauer den Blick

auf das Großereignis, das stets auch

Plattform für politische Aktivitäten

war, etwa für Beuys, aber auch für

die aufklärende „Besucherschule“

von Bazon Brock, und z.B. für die

feministische Künstlerinnengruppe

Guerrilla Girls aus New York, die

1987 (d8) provokant fragte: „Warum

ist die documenta 1987 zu

95% weiß und zu 83% männlich?“

Für die d9 (1991) hat sich dann die

Künstlerin Annemarie Burckhardt

ein ironisches Objekt ausgedacht,

das „documenta-Kissen“.

© Gueriila Girls

Als internationales Ereignis mit

Festivalcharakter steigerte sich die

documenta von anfänglich 130.000

Besuchern auf mehr als eine halbe

Million. Die Schau im DHM veranschaulicht

mit Werken, Filmen, Dokumenten,

Oral-History-Interviews

und anderen Originalzeugnissen

über zwei Etagen die Verbindung

der documenta zu politisch-sozialen

Kontexten und kann mit berühmten

Exponaten aufwarten, u.a. von

Joseph Beuys, den Guerrilla Girls,

Hans Haacke, Séraphine Louis,

Wolfgang Mattheuer, Jackson Pollock,

Emy Roeder, Klaus Staeck,

Andy Warhol oder Fritz Winter. Ein

gelehrter Katalog schlüsselt zudem

die komplexen Zusammenhänge

der Ausstellung auf.

• „documenta. Politik und Kunst“.

Deutsches Historisches Museum

Berlin. Bis 9. Januar 2022. www.

dhm.de

Die Liste der „Gottbegnadeten“

Künstler des Nationalsozialismus

in der Bundesrepublik

Parallel zu „documenta. Politik

und Kunst“ setzt sich das Deutsche

Historische Museum mit einem

weiteren relevanten Aspekt der

Bildenden Kunst des 20. Jahrhunderts

auseinander, nämlich mit dem

Wirken der Künstler, die im August

1944 im Auftrag von Hitler und

Goebbels auf der sogenannten „Liste

der Gottbegnadeten“ erscheinen.

378 Künstlerinnen und Künstler,

darunter 114 Bildhauer und Maler,

werden hier als „unabkömmlich“

klassifiziert und damit von Frontund

Arbeitseinsatz verschont, etwa

Arno Breker, Hermann Kaspar,

Willy Meller, Paul Mathias Padua,

Richard Scheibe und Adolf Wamper.

Die Nachkriegskarrieren dieser

Akteure, die in den antisemitischen

und modernefeindlichen NS-Kunstbetrieb

verstrickt waren und in sein

Konzept passten, zeigen, dass diese

nach 1945 in der BRD sehr präsent

blieben, sie „erhielten Aufträge

von Staat, Wirtschaft und Kirche,

lehrten an Kunstakademien und waren

in Ausstellungen vertreten. Ihre

Gestaltungen von Standbildern,

Reliefs und Gobelins auf Plätzen,

an Fassaden und in Foyers prägen

bis heute das Gesicht vieler Innenstädte.

Dabei konnten sie auch von

dem antimodernistischen Klima der

ersten Nachkriegsjahrzehnte profitieren“,

so der Kurator Wolfgang

Brauneis.

Die Ausstellung zeigt – auch mittels

Karten – präzise auf, wie stark

die NS-belasteten Künstler im öffentlichen

Raum sowie in Einrichtungen

des politischen und kulturellen

Lebens salonfähig blieben.

Ihre Bildthemen, Netzwerke und

Biographien belegen, dass sie versuchten,

den Erwartungshaltungen

öffentlicher Auftraggeber und dem

neuen Kunstgeschmack gerecht zu

werden. Auf zwei Etagen zeigen

rund 300 Skulpturen, Gemälde,

Zeichnungen, Fotografien, Filmund

Tondokumente, Plakate, Originalpublikationen

sowie Presseberichte,

wie ehemals „gottbegnadete”

Maler und Bildhauer bis in die

1970er Jahre in der Bundesrepublik,

in Österreich sowie vereinzelt in der

DDR arbeiteten. Zwar konnten sie

auf der documenta nicht vertreten

sein, weil ihre Werke dem Selbstverständnis

der jungen BRD nicht

entsprachen, aber sie wirkten weiter.

So provozierte kaum kritische

Stimmen, dass z.B. das „Ehrenmal

für die Opfer des 20. Juli 1944“

(1953) im Berliner Bendlerblock

von Richard Scheibe realisiert wurde

oder Willy Mellers Skulptur „Die

Trauernde“ (1962) sich vor dem ersten

NS‐Dokumentationszentrum in

Oberhausen platzieren konnte. Besonders

frappiert hat Kurator Wolfgang

Brauneis, dass gerade er hier

eine Plastik errichten durfte, „denn

Meller war einer der erfolgreichsten

Bildhauer im Nationalsozialismus

gewesen. Er wurde unter anderem

mit der Bauplastik für NS-Ordensburgen

oder dem KdF-Seebad Prora

beauftragt (…).“ Viele weitere

Beispiele wären zu nennen; etwa

wurde im Kongresssaal des Deutschen

Museums in München ein

monumentales Wandmosaik von

Hermann Kaspar, Chefausstatter

der Reichskanzlei, 1935 begonnen

und 1955 vollendet. Viele der ehemals

Regimetreuen erhielten nach

kurzer Pause ihre Professuren an

den Akademien in Düsseldorf und

München wieder.

Die Gedächtnislücken in der deutschen

Kulturgeschichte und die

NS-Tradierung weit über die Nachkriegszeit

hinaus, weisen auf die

Selbstgerechtigkeit, mit der hierzulande

oft ein gelungener Bruch

behauptet wird. Die Erinnerungskultur

steht unbedingt vor der

Notwendigkeit, sich verstärkt auf

die Spur fataler Kontinuitäten zu

begeben und den Kanon zu hinterfragen.

Eine multimediale Präsentation

dokumentiert zum Abschluss

der Ausstellung fotografisch rund

dreihundert Arbeiten von Künstlern

der „Gottbegnadeten‐Liste“ in

Deutschland und Österreich, die in

der NS-Zeit und danach entstanden

sind. Eine interaktive Karte (www.

dhm.de/ gottbegnadete /karte), die

sich als work in progress versteht,

und eine Publikation (Die Liste der

„Gottbegnadeten“. Künstler des

Nationalsozialismus in der Bundesrepublik.

Prestel Verlag 2021) bie-


Winter 2021 UNIversalis-Zeitung 15

ten weitere Information. Im DHM

lassen sich längst fällige Kapitel

zur Kunst im 20. Jahrhundert entdecken.

Hut ab vor den Forschern.

• „Die Liste der ‚Gottbegnadeten‘.

Künstler des Nationalsozialismus

in der Bundesrepublik.“ Deutsches

Historisches Museum Berlin. www.

dhm.de. Bis 5. Dezember 2021

Cornelia Frenkel

Bundespräsident Theodor Heuss auf der ersten documenta 1955

documenta archiv Foto: Erich Müller

„Ohne Waffen gegen Hitler“

Studien zum zivilen Widerstand in Europa während der NS-Zeit

V

iel zu selten wurde den

zahlreichen unscheinbaren

Helden der NS-

Zeit, die sich dem System

auf subtile und unspektakuläre

Weise widersetzten, ein Denkmal

gesetzt; doch der Historiker Jacques

Semelin hat dies mit seiner Studie

„Ohne Waffen gegen Hitler“ unternommen.Um

bei der „Monstrosität“

der NS-Barbarei nicht stehen zu

bleiben, wollte er Verhaltensweisen

erforschen, die sich in einer Diktatur

als Abweichung zeigen und von

Frauen und Männern ungeschützt

geleistet wurden.Wie lässt sich die

Einstellung derjenigen konturieren,

die sich während des Nationalsozialismus

eine humane Orientierung

bewahren konnten? Einfache Antworten

sind nicht möglich.

So rekonstruiert Jacques Semelin in

seiner Studie „Ohne Waffen gegen

Hitler“ verschiedene Formen zivilen

Widerstands gegen das NS-Regime,

wie sie in Frankreich, Dänemark,

Skandinavien, den Benelux-Staaten

und Deutschland stattgefunden haben.

Unbewaffneter Widerstand ist

erfinderisch, erfolgt durch Taktiken

der Verweigerung, verzögertes Arbeiten,

Sabotage, heimliches Informieren,

Sympathiebekundungen,

ironische Aktionen, Ausstellen

falscher Papiere, Geldgeschenke

oder Fluchthilfe. Durchaus trugen

manche der widerständigen Personenfür

den Fall einer eventuell

notwendigen Selbstverteidigung

eine Waffe bei sich. Einige ihrer

Handlungsweisen lassen sich unter

dem Begriff Zivilcourage fassen;

Arno Lustiger spricht bevorzugt von

„Rettungswiderstand“, der Historiker

Fritz Stern hat die stille, meist

heimliche Form des Widerstands

als „aktiven Anstand“ charakterisiert.

Viele oppositionelle Aktionen

schienen zunächst aussichtslos, doch

behinderten sie das mörderische Räderwerk

der Nationalsozialisten und

gelangen häufig.

Jacques Semelin geht nicht nur Formen

des Boykotts und der Hilfeleistung

nach, sondern zeigt auch, was

Menschen dabei im tagtäglichen

Kampf bewegte. Als zentrales Beispiel

kann der französische Ort

Chambon-sur-Lignon dienen, ein

mehrheitlich hugenottisches Dorf

im Departement Haute-Loire, in

dem zwischen 1940 und 1944 mindestens

fünftausend Juden vor dem

Zugriff der Nazis gerettet wurden;

man versteckte sie in Privathäusern,

öffentlichen Gebäuden und umliegenden

Wäldern, stellte „gefälschte“

Papiere aus oder schleuste sie über

die Schweizer Grenze. Rückten Patrouillen

der deutschen Besatzer an,

so wurden die Verfolgten durch ein

Lied gewarnt. Bedeutenden Rettungswiderstand

gab es für Emigranten

aus ganz Europa zudem

in Dieulefit, einem südost-französischen

Städtchen im bäuerlichen

Umland.Viele nonkonformistisch

denkende Menschen waren notwendig,

um solche „Heldentaten“ zu

vollbringen, zahlreich waren Frauen

beteiligt, politisch überzeugte Personen,

auch der katholische Klerus.

Viele wurden von der bewaffneten

Macht perfide ermordet, man denke

stellvertretend an Marianne Cohn

und ihr Netzwerk.

Eine bemerkenswerte Solidaritätsbewegung

während der Shoáh war

die Rettung der Juden in Dänemark:

95 Prozent der jüdischen Gemeinde

wurden von der Deportation verschont.

Das Land war weitgehend

frei von Antisemitismus und verfügte

über starken sozialen Zusammenhalt.

Die dänische Regierung

vertrat gegenüber den Nazis einen

festen politischen Grundsatz, sie ergriff

Partei für die Juden, um einen

Grundpfeiler der Verfassung zu verteidigen,

die rechtliche Gleichstellung

aller Bürger. Es war ein Lehrstück

darüber, „welch ungeheure

Macht in gewaltloser Aktion und im

Widerstand gegen einen an Gewaltmitteln

vielfach überlegenen Gegner

liegt“, so Hannah Arendt in ihrem

Essay „Eichmann in Jerusalem“.

Dänemark wurde zum Beweis, dass

ein kleines, unbewaffnetes Volk die

Möglichkeit hatte, die Logik des

Holocaust zu durchbrechen. Freilich

ist zu beachten, dass die Nazis

gegenüber den Dänen eher vorsichtig

agierten, weil sie diese quasi als

ihre „arischen“ Verwandten betrachteten.

Auch lebten in Dänemark nur

rund 8.000 jüdische Staatsbürger, in

Frankreich waren es über 300.000;

fast die Hälfte von diesen war erst

seit 1933 eingewandert, besaß

keine Staatsbürgerschaft und war

insofern viel schwieriger zu schützen.

Nichtsdestotrotz überlebten

Dreiviertel von ihnen die Vernichtungspläne

der Nazis, vor allem die

Mehrzahl der Kinder und Jugendlichen.

Serge Klarsfeld und Arno

Lustiger haben dies immer betont

und für diejenigen, die im Oktober

1940 aus Südwestdeutschland nach

Frankreich abgeschoben und verschleppt

wurden, ist dies mittlerweile

von den Historikern Brigitte und

Gerhard Brändle genau recherchiert

und in der atemberaubenden Dokumentation

„Gerettete und ihre RetterInnen.

Jüdische Kinder im Lager

Gurs: Fluchthilfe tut not – eine notwendige

Erinnerung“ festgehalten.

Viel schwieriger war es, in Polen

Rettungswiderstand zu leisten, doch

gab es ihn sehr wohl. Die Historikerin

Christiane Goos zeigt in ihrer

Studie „Ich habe mich geschämt,

dass ich zu denen gehöre …“ (Verlag

v. Hase & Koehler 2020), wie

sogar Wehrmachtsangehörige in

Polen 1939-1945 Befehle verweigerten

und Leben retteten; meisthinter

der Front, wo der Kriegseinsatz

organisiert wurde und sich die

Konzentrationslager befanden. Sie

stellten Zivilcourage und Humanität

über Befehls- und Gehorsamspflicht,

wirkten auf diese Weise der

NS-Vernichtungspolitik entgegen,

leisteten Fluchthilfe oder erklärten

ihre Arbeiter als unverzichtbar, um

deren Deportation zu verhindern;

manchmal waren sie Retter und Erfüllungsgehilfen

gleichzeitig, mitunter

stellten sie sich direkt gegen

Vernichtungskommandos, etwa in

der polnischen Stadt Przemysl.

Bis zum Kriegsende wurde der

Rettungswiderstand zur letzten

Möglichkeit für Verfolgte; denn der

Holocaust stand am Ende einer Entwicklung

antisemitischer Kräfte, die

anwuchsen, als das internationale

Umfeld gleichgültig blieb, etwa seit

der Konferenz von Evian von 1938,

deren Resultat war, dass kein Land

der Welt mehr Verfolgte aufnehmen

wollte, diese in ganz Europa in der

Falle saßen und von den Nazis gejagt

wurden. Auch die Alliierten,

obwohl informiert, entwickelten

keine Strategie gegen die Vernichtungsmaschinerie,

mitten im Weltkrieg

war Auschwitz für sie kein

Hauptthema. Die selbstlosen Helfer,

die ihren Einsatz oft mit dem Leben

bezahlten, später teils als „Gerechte

unter den Völkern“ gewürdigt,

sind das kostbarste ethische Kapital

der europäischen Gesellschaften,

weil sie die Würde ihrer Mitbürger

während einer barbarischen Ära

bewahrt haben. Zumeist waren es

einfache Menschen, die nie wie

Oskar Schindler oder Raoul Wallenberg

bekannt wurden, an Ruhm

gar nicht dachten, jedoch über einen

humanen Kompass verfügten.

Mehr als 27.000 „Gerechte unter

den Völkern“ zählt die Gedenkstätte

Yad Vashem, was nur die Spitze des

Eisbergs ist.Wie Arno Lustiger und

Jacques Semelin deutlich machen,

dürfen als Rettungswiderstand nicht

nur die Aktionen derer gelten, die als

„Gerechte“ geehrt wurden, sondern

auch die vielen unbekannten Hilfeleistungen,

die von Bäckerinnen und

Hausfrauen, Bauern, Diplomaten,

Geistlichen, Polizisten, Soldaten,

Beamtinnen und Beamten der Zivilverwaltung

erbracht wurden; ob erfolgreich

oder missglückt, sie konnten

den Gang der Geschichte nicht

aufhalten, ihm aber in die Speichen

greifen – wofür ihnen unsere Anerkennung

zusteht. Sie zu verschweigen,

könnte fatale Folgen zeitigen.

• Brigitte und Gerhard Brändle.

Jüdische Kinder im Lager Gurs.

Gerettete und ihre RetterInnen. Israelitischen

Religionsgemeinschaft

Baden, Download: www.irg-baden.

de

• Bernard Delpal. Dieulefit. Rettungswiderstand

eines Dorfes in der

Provence während der Nazi-Besatzung.

Aus dem Frz. von Ursula Bös.

Brandes & Apsel. Ffm 2021

• Gérard Bollon. Le Chambon-sur-

Lignon d’hier et d’aujourd’hui. Ed.

Dalmazon 1999

• Jacques Semelin. Ohne Waffen gegen

Hitler. Eine Studie zum zivilen

Widerstand in Europa. Aus dem Frz.

von Ralf Vandamme. Wallstein Verlag,

Göttingen 2021

Cornelia Frenkel

Auf der Suche nach den Tätern

Grafic Novel „Beate und Serge Klarsfeld. DIE NAZIJÄGER“

B

ilderzählungen sind ein

gutes Medium, um die

jüngere Generation für

ein Sachthema anzusprechen,

das versucht die Graphic

Novel „Beate & Serge Klarsfeld.

DIE NAZIJÄGER“. Schon der Titel

deutet an, dass dieses außergewöhnliche

Duo Spannungsreiches

vollbracht hat, woraus eine Geschichte

entsteht, die auf Thrillerkitsch

getrost verzichten kann,

denn sie führten einen gefährlichen

Kampf gegen größte Widerstände:

da sie nie akzeptiert haben, dass

Verbrechen verharmlost werden

und NS-Täter einfach davonkommen,

begannen sie diese aufzuspüren.

Der Autor Pascal Bresson

und der Zeichner Sylvain Dorange

zeigen dies mit Text und Bild auf,

nicht ohne Humor. Ihre Erzählung

bezieht sporadisch Privates ein, er-

gibt aber insbesondere einen Rückblick

auf die Zeit nach dem Zweiten

Weltkrieg, in der Beate und Serge

Klarsfeld zu den politischen Personen

gehörten, die es sich nicht

leicht machten.

Die Wege von Serge Klarsfeld

(*1935), der als Kind knapp den

deutschen Besatzern entkam, während

sein Vater deportiert wurde,

und Beate A. Künzel (*1939 Berlin)

kreuzten sich 1960 in Paris. Aus

ihrer Liebe wurde bald eine Familie,

in der die Auseinandersetzung

mit NS-Verbrechen ins Zentrum

rückte. Zunächst kritisierte Beate

etwa in der Zeitschrift „Combat“,

dass Georg Kiesinger, der seine

Nazivergangenheit kaschierte, zum

Bundeskanzler gewählt wird. Daraufhin

wurde sie beim deutschfranzösischen

Jugendwerk (OFAJ)

entlassen. Um ihren Protest gegen

die NS-Verstrickung der jungen

Bundesrepublik öffentlich zu machen,

unternahm sie 1968 die berühmte

Ohrfeige, die nicht nur ein

enormes Medienecho hervorrief.

Unbeirrt führte das Ehepaar Klarsfeld

seinen strapaziösen Kampf fort,

erstellte Prozessakten und machte

Täter ausfindig, die im Nahen Osten,

in Südamerika und in der BRD

straffrei lebten, darunter die Herren

Hagen, Heinrichsohn, Lischka und

Brunner, und erreichten z.B., dass

der ehemalige Gestapo-Chef von

Lyon, Klaus Barbie, der in Bolivien

lebte, vor Gericht gestellt wurde.

Morddrohungen, bürokratische

Hindernisse und Gefängnisstrafen

vermochten sie nicht einzuschüchtern.

Sie zogen Kriminelle zur Verantwortung,

traten für die Rechte

der Geschädigten ein, entrissen die

Opfer der Shoah dem Vergessen und

erarbeiteten historische Standardwerke

wie „Vichy – Auschwitz“.

In den letzten Jahren söhnten sie

sich mit Deutschland aus, erhielten

2015 das Bundesverdienstkreuz für

ihr Lebenswerk und wurden zu UN-

ESCO-Sonderbotschaftern ernannt.

All dies macht die Graphic Novel

anschaulich und regt zu kritischem

Denken an.

Pascal Bresson & Sylvain Dorange.

BEATE & SERGE KLARSFELD.

DIE NAZIJÄGER. Aus dem Frz.

von Christiane Bartelsen. 208 S.,

farbig. Carlsen Verlag 2021

Cornelia Frenkel


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