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4 UNIversalis-Zeitung Winter 2021

Wir im Blick des Bären

Eine Erkundung des Menschen als Tier

W

ie nahe kommen wir

der Natur? Zwei philosophische

wie erzählende

Werke formulieren

diese Frage neu: Wie nahe

kommen wir der Natur, die wir

sind? Zwischen Bärenangriffen

und aggressiven Seelöwen sind

zwei Autoren gezwungen, ihr

Selbst und ihren Körper neu zu

entdecken und damit den Platz,

den der Mensch als Tier in der

Natur einnimmt.

„Es ist eine Geburt, da es ganz offensichtlich

kein Tod ist.“ Der Bär

ist verschwunden. Die Anthropologin

bleibt blutend und mit zerrissenem

Gesicht zurück. In der

Wildnis Sibiriens ist Nastassja

Martin gezwungen, ihre Stellung

zur Natur neu zu denken und damit

ihre Stellung als Mensch. 2019

veröffentlicht sie ein Buch mit dem

Titel „Croire aux fauves“ (dt. Titel:

„An das Wilde glauben“) und

tut das, was man der Überlebenden

eines Bärenangriffs vielleicht am

wenigsten zutraut – die Rückkehr

zur Natur. Die Attacke bedeutet für

Nastassja Martin nicht das Ende,

sondern einen Anfang, eine Geburt.

Der Mensch selbst ist in die Natur

geboren, biologisch gesehen ein

Tier. Dennoch vergleicht er sich

nur ungerne mit Tieren, haarigen,

schleimigen primitiven Wesensformen,

die zwischen Fraß und

Kopulation alle Teile der Welt bevölkern,

unter uns denkenden Wesen

sind – in uns denkenden Wesen

sind. „We are not pure mind-stuff,

but are tangible bodies of thickness

and weight, and so have a great deal

in common with the palpable things

that we encounter.“ Die Feststellung,

dass der Mensch einen Körper

hat, mag banal sein, führt ihn

gleichzeitig aber zu Formen der

Erkenntnis, die ihn dem Tier nahebringen.

Darauf kann man eine Philosophie

gründen, wie der amerikanische

Anthropologe David Abrams

bereits mit dem Titel eines seiner

Bücher beweist: „Becoming Animal.

An Earthly Cosmology.“ 2010

erschienen hat das Buch, anders als

Nastassja Martins Geschichte keine

Übersetzung ins Deutsche erhalten.

Dabei gilt Abrams schon seit seinem

ersten Buch „The Spell of the

Sensous“ von 1996 (dt. Titel: „Im

Bann der sinnlichen Natur“) als Impulsgeber

engagierter Disziplinen

wie der Ökopsychologie. Abrams

zweifelt an einer objektifizierenden

Ökologie, die den Menschen als

Subjekt über die Natur erhebt. Wesentliche

Inspiration erhält er durch

die Denksysteme und Philosophien

außereuropäischer Kulturen. In sei-

Bären wie Menschen oder gibt es etwas dazwischen? William Beard: „Dancing Bears“

nem Buch beschreibt er seine Lehrzeit

bei einem Magier in den Bergen

Nepals. Der kalte, felsige Ort liegt

weitab des warmen Kaminfeuers,

vor dem der französische Philosoph

Réne Descartes seinen berühmten

Sinnspruch „Ich denke, also bin

ich“ getan haben soll, der den denkenden

Menschen einer Objektwelt

gegenüberstellte.

Auch in Nastassja Martins Buch

führt die Bewegung aus der westlichen

Kultur, die vor allem als

Desinfektionszone der Krankenhäuser

Frankreichs und Russlands

erscheint, zurück in die sibirische

Kälte und damit unter das Volk der

Ewenen. Hier kennt Martin Menschen,

die ihr eine ganz neue Deutung

der Begegnung mit dem Bären

nahelegen: „Du bist das Geschenk,

das die Bären uns gemacht haben,

in dem sie dich am Leben gelassen

haben.“

Offenes Fleisch, offene Grenzen

Wie kann man ein Trauma, eine

Leerstelle positiv deuten? Wie wird

der Bär, der einem Teile des Gesichts

zerreißt und der damit nur

aufhört, weil man ihm eine Hacke

in die Seite schlägt, zu „meinem

Bären“? Die sonderbare Verbindung,

die Nastassja Martin in ihrem

Buch entgegen aller Erwartung tut,

überbrückt nicht nur die Trennung

zwischen Mensch und Tier, sondern

auch zwischen Leid und Geschenk.

Das Gesicht der Anthropologin

wird nicht bloß zur verunstalteten

Stelle einer misslungenen Kommunikation

zwischen vermeintlich

verschiedenen Spezies. „Mein Körper

nach dem Bären, nach seinen

Krallen, mein Körper im Blut und

ohne den Tod, mein Körper voller

Leben, voller Fäden und Hände,

mein Körper in Gestalt einer offenen

Welt, in der sich vielfältige

Wesen begegnen, mein Körper, der

sich mit ihnen, ohne sie wiederherstellt;

mein Körper ist eine Revolution.“

Geburt, Revolution, Begegnungsraum.

Der positive Umgang

Nastassja Martins mit dem Angriff

des Bären braucht die Idee eines offenen

Körpers, eines Subjekts, das

sich nicht von seiner Umgebung

Foto: New York Historical Society

trennt, sondern sich ihr öffnet, zu

Begegnungen einlädt.

Offen ist der Körper des Menschen

ganz tierisch zunächst über seine

Sinne. Die Vereinigung mit der Natur

beginnt mit unserer Wahrnehmung.

Mit diesem Ansatz arbeitet

sich auch David Abrams voran,

nicht nur in seinem Buch „The

Spell of the Sensous“, das sich der

Wahrnehmung und Sprache einer

„More-than-Human World“ verschreibt.

Elemente unserer unmittelbaren

Wahrnehmung bestimmen

auch die Betrachtung in „Becoming

Animal“: Schatten, Räume,

Holz, Stein, Tiefe. Namen der verschiedenen

Kapitel. Erst nachdem

Abrams die Wahrnehmungen des

Menschen grundsätzlich betrachtet

hat, beginnt er die Verknüpfung

mit Elementen eines vermeintlich

menschlichen Selbstbewusstseins:

Geist, Stimmung, Sprache, aber

auch Sphären, die über den animistischen

Zugang Abrams Natur und

menschliches Denken miteinander

verbinden. Wobei bereits in dieser

Zusammenfassung ein erster Fehler

liegt. Denn so exakt trennt Abrams

Wahrnehmung und Denken, Sprache

und Welt, Mensch und Welt

nicht voneinander.

Zu Beginn seines Buchs beschreibt

Abrams die Bedeutung des Schattens,

den ein Berg wirft. Wer in den

Schatten tritt, wird Teil des Lebens

dieses Berges. Schatten sind nicht

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Körpergewordener Mensch. Egon Schiele: „Männlicher Akt, Selbstportrait“

Foto: Grafische Sammlung der Albertina

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