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Winter 2021 UNIversalis-Zeitung 11

Tettenborn reist seit 2003 regelmäßig nach Afghanistan und lebte dort auch für eine kurze Zeit

ist Afghanistan von Nahrungsmittelimporten

und Transferzahlungen

abhängig. Klar ist es nicht einfach

eine Wirtschaft aufzubauen, aber

ich frage mich, ob das je Priorität

hatte. Die Transferzahlungen haben

auch zu einer Schieflage bei den

Gehältern und beim Preisniveau

in der Region geführt. Der Aufbau

eines wirtschaftlich konkurrenzfähigen

Unternehmens war unter

diesen Umständen fast unmöglich.

In Pakistan oder auch Iran hat man

günstiger bei gleichzeitig höherer

Produktivität wirtschaften können.

UNIversalis: Aber in das Bildungswesen

wurde investiert, viele sind

zur Schule gegangen.

Tettenborn: Die schulische Förderung

hat lange nicht alle erreicht.

Und ein guter Freund, Khazan Gul,

über dessen Leben wir ein Buch

geschrieben haben, kritisiert, dass

die Qualität der Schulen viel niedriger

ist, als sie sein könnte, weil

ausländische Hilfsorganisationen

und Armeen die guten Lehrer von

den Schulen und Hochschulen abgeworben

haben, um sie als Koch

oder Fahrer einzustellen. Einfach

weil es angenehmer ist, mit einem

gebildeten Menschen zu tun zu

haben, der auch noch Eenglisch

spricht. Die Lehrer haben so mehr

verdient und waren dann weg von

den Schulen. Das war von erheblichem

Nachteil für die Bildungsqualität.

Das gleiche gilt für die

Lehrerinnen der Mädchenschulen.

Viele wurden ebenfalls abgeworben

und arbeiteten denn bei NGOs

und bei der Regierung, wo es durch

Programme viel Geld gab.

UNIversalis: Die Situation für die

Menschen war also auch unter der

Präsenz der Amerikaner und seiner

Verbündeten alles andere als rosig.

Tettenborn: Deshalb darf man

auch den Stab nicht über jenen Afghanen

brechen, die sich für 300 €

im Monat den Taliban, den Regierungstruppen

oder der afghanischen

Nationalpolizei angeschlossen hatten.

Das sind dann zwar nominell

Kämpfer, sie haben aber überhaupt

kein Interesse daran zu kämpfen,

sondern müssen einfach irgendwie

Geld für ihre Familie, für ihre Kinder

verdienen.

UNIversalis: Wie kann es in Zukunft

weitergehen? Die Taliban

sind doch sicherlich nicht die Richtigen

für den Aufbau eines funktionierenden

Staates. Braucht es dafür

nicht Experten?

Tettenborn: Die Taliban sind sicher

nicht die Richtigen, aber sie

sind im Moment die Einzigen, die

für Ruhe und Sicherheit sorgen

können. Und das auf eine Weise, die

uns überhaupt nicht gefällt. Aber

was wäre aktuell die Alternative?

Will man wieder Krieg führen und

sie erneut vertreiben? Wer ist Experte

für Afghanistan? Die Taliban

sind alles Afghanen, kennen sich

mit ihrer Kultur und militärischen

Auseinandersetzungen unter den

Bedingungen in Afghanistan sehr

gut aus. Im Moment sind das dort

die Experten. Natürlich sind sie

keine Experten für Welthandel und

viele andere Dinge. Eine provokante

Frage: Wäre es nicht ein viel

menschlicherer Ansatz, man bittet

sie darum, bestimmte Dinge nicht

zu tun und arbeitet dann mit ihnen

im Interesse der afghanischen Bevölkerung

zusammen? Wäre das

nicht menschlicher, als einfach nur

zu sagen, das Problem sind die Taliban?

Bis vor kurzem waren wir,

der Westen, mit all unseren Experten

dort das Problem. Wir haben

es nicht geschafft, eine funktionierende

Wirtschaft aufzubauen,

wir haben es nicht geschafft, für

genügend Nahrung zu sorgen und

wir haben es nicht geschafft, für

Sicherheit zu sorgen.

UNIversalis: Das bedeutet, sich

dort erneut einzumischen, wäre Ihrer

Meinung nach nicht sinnvoll?

Tettenborn: Warum sollte es nun

anders laufen? Die letzten 20 Jahre

waren vor allem ein Riesengeschäft.

Die Kriegsindustrie hat Milliarden

verdient.

UNIversalis: Es gibt also eigentlich

keine Alternative dazu, ein

paar, nicht allzu hohe Bedingungen

zu stellen und den Taliban nach

deren Zusage Unterstützung und

finanzielle Hilfen zukommen zu

lassen?

Tettenborn: Ich halte das für den

richtigen Ansatz. Es ist nur die Frage,

ob dabei nicht falsch gespielt

wird. Man kann die Bedingungen

ja immer so stellen, dass die Gegenseite

ihr Gesicht verliert, wenn

sie diese akzeptiert. Ich fürchte, die

Bedingungen werden so gestellt,

dass das Ergebnis der Verhandlungen

am Ende nicht im Interesse

der afghanischen Bevölkerung ist.

Vielleicht darf man auch gar keine

Bedingungen stellen, wenn es darum

geht, Menschen vor dem Verhungern

zu retten.

UNIversalis: Es fällt uns sehr

schwer mit Machthabern zusammen

zu arbeiten, die drakonische

Strafen aussprechen und Frauen

ein selbstbestimmtes Leben verwehren.

Tettenborn: Keine Frage, es gibt

Menschenrechtsverletzungen. Aber

man darf nicht vergessen, dass wir

bereits mit anderen Ländern sehr

eng zusammenarbeiten, darunter

Saudi- Arabien, wo Menschen ausgepeitscht

und öffentlich hingerichtet

werden, aus Gründen, die nach

unserer Auffassung nichtig oder

politisch motiviert sind.

UNIversalis: Würden Ihre afghanischen

Freunde, die aktuell sehr

unter den Taliban leiden und sich

zum Teil verstecken müssen, das

Land verlassen, wenn sie könnten?

Tettenborn: Ja, würden sie gerne,

aber sie sitzen fest. Es gibt ein

paar Flüge, aber um einen Platz

an Bord zu bekommen, braucht

man die Bewilligung eines aufnehmenden

Landes und die Erlaubnis

der Taliban. Das sind zwei immens

hohe Hürden. Auf normalem Weg

kommt man im Moment fast nicht

raus. Die ganzen Flüchtlingsströme

werden natürlich weitergehen,

viele haben Angst vor den Taliban,

noch mehr aber haben sie Angst

vor Hunger, andere fliehen, weil

sie keine positive Perspektive für

ihr Leben sehen.

Ich fände es gut, wenn man in Anbetracht

des drohenden Winters für

Afghanistan spendet, gleichzeitig

ist es gerade sehr schwierig, den

Menschen Geld zukommen zu

lassen. Man weiß nicht wie man

es machen soll. Als Afghane im

Ausland, kann man seiner Familie

aktuell nicht einfach Geld überweisen.

Auf der Ebene der Banken

und des Geldtransfers ist gerade

alles blockiert. Das ist ein großes

Problem und ich frage mich, wer

Interesse daran hat, das Problem

zu lösen und wer nicht. Haben die

Taliban Interesse an der Blockade,

oder sind es vielmehr die USA und

ihre Verbündeten, die zeigen wollen,

dass es die Taliban auch nicht

besser hinkriegen?

UNIversalis: Was wäre Ihrer Ansicht

nach jetzt sinnvoll?

Tettenborn: Es ist seit langem

eine sehr unübersichtliche Lage

und leider sind seit über 40 Jahren

die Afghaninnen und Afghanen

die Leidtragenden. Wenn man den

Menschen helfen will, müsste man

meiner Ansicht nach die Taliban

und ihre Art zu regieren erst einmal

hinnehmen und statt die geschaffene

Abhängigkeit auszunutzen

oder zu instrumentalisieren, Verantwortung

übernehmen und die Menschen

unterstützen. Ich denke einfach

an die Leute, die da irgendwie

existieren müssen. Die Preise für

Nahrungsmittel haben in den letzten

Wochen um bis zu einem Drittel

angezogen. Die Not ist immens,

die Leute verkaufen alles was sie

haben, manche selbst ihre Kinder.

Irgendjemand bietet Geld für eine

11-Jährige auf dem Heiratsmarkt.

Normalerweise würden die Menschen

so etwas nie machen, aber

die nackte Not zwingt sie dazu.

Nicht alles was in Afghanistan

schlecht läuft, ist unsere Schuld.

Aber der Westen hatte sich auf die

Fahnen geschrieben dieses Land

aufzubauen und den Menschen ein

besseres Leben zu ermöglichen

und da ist es schon traurig zu sehen,

was tatsächlich erreicht wurde

und in welchem Zustand sich

das Land heute befindet. Jetzt mit

dem Finger auf die Menschen zu

Foto: Tettenborn

zeigen, ist sicher nicht angebracht.

Ich finde es auch seltsam zu denken,

wir wüssten es besser als die

Afghanen. Man stelle sich mal

vor, jemand käme von außen aus

einem weit entfernten Land zu uns,

spricht kaum unsere Sprache aber

behauptet: Ich habe lange studiert,

ich weiß besser als ihr, was für euch

gut ist.

UNIversalis: War die Mission des

Westens in Afghanistan wegen der

großen kulturellen Differenzen von

vornherein zum Scheitern verurteilt?

Tettenborn: Viele Leute waren zu

Beginn über den Einmarsch der

Amerikaner und ihrer Verbündeten

erfreut und die ersten Jahre sehr offen

für Neues. Durch das hohe Ausmaß

an Korruption und die fehlende

Bereitschaft ausländischer Armeen,

vieler NGOs und anderer Akteure,

auf afghanische Belange Rücksicht

zu nehmen, kippte jedoch die Stimmung.

Oft wurden Afghanen bei

wichtigen Entscheidungen nicht

einbezogen. Es wurden Gebiete

Häuser und Menschen bombardiert,

obwohl sich die afghanische

Regierung dagegen ausgesprochen

hatte. Mit welchem Recht, fragten

sich die Menschen. Was soll das für

eine Regierung sein, wenn sie im

eigenen Land nicht mitbestimmen

kann und bei wichtigen Entscheidungen

nicht gefragt wird? Darüber

hatte sich der frühere Präsident

Hamid Karzai mehrfach öffentlich

beschwert. Immer dann, wenn sich

die Afghanen eigentlich ziemlich

einig waren, Widerstandsgruppen,

Taliban, Warlords und Regierung,

und gesagt haben, so geht das hier

nicht, wurden sie komplett übergangen

und man hat einfach weiter

gemacht.

UNIversalis: Der Westen ist also

extrem arrogant aufgetreten?

Tettenborn: Die Frage ist vor

allem, wie verträgt sich das mit

der Demokratie? Wenn 95 Prozent

der Afghanen sagen: „Das wollen

wir nicht.“ Und die Amerikaner

und westlichen Ausländer antworten:

„Das ist uns egal. Wir bringen

euch gerade die Demokratie.“ Der

Widerspruch ist doch mit den Händen

zu greifen. Das fällt jedem auf,

da muss man nicht studiert haben

zumindest wenn man in dem Land

lebt, das betroffen ist.

UNIversalis: Sie werden gemeinsam

mit Monika Koch auf dem 18.

Mundologia-Festival am 6. Februar

2022 im Konzerthaus Ihren

Vortrag „Afghanistan - Einblicke in

ein zerrissenes Land“ zeigen. Was

erwartet die Zuschauer?

Tettenborn: Wir werden die jüngere

Geschichte Afghanistans beleuchten,

um die bisherigen Geschehnisse

besser einordnen zu

können. Vieles was jetzt passiert

ist, hängt mit der Geschichte der

Heiner Tettenborn und Monika Koch werden am 6. Februar 2022 den

Vortrag „Afghanistan - Einblicke in ein zerrissenes Land“ auf dem 18.

Mundologia-Festival halten

Foto: Privat

letzten 40 Jahre zusammen. Auch

aktuelle Stimmen aus Afghanistan

werden zu Wort kommen, wir versuchen

Interviews einzubauen.

Außerdem werden wir von persönlichen

Begegnungen berichten, von

Gesprächen und Diskussionen, die

uns geholfen haben, die Kultur besser

zu verstehen. Sehr unterstützt

hat uns dabei Khazan Gul, ein Afghane,

der in Deutschland studiert

hat und uns auf Deutsch sehr viel

erklären konnte. Durch ihn und

seine Familie, aber auch durch andere

Freunde haben wir viel dazugelernt,

beispielsweise was afghanische

Gastfreundschaft bedeutet,

und wie die Familienstrukturen

funktionieren. Die überwältigende

Gastfreundschaft der Menschen haben

wir übrigens bei Gegnern und

Anhängern der Taliban gleichermaßen

erlebt. Das ist etwas, was einen

sehr einnimmt für die Leute.

Wir erzählen von unseren Erfahrungen

in der Zeit, als wir dort

gelebt haben und von unseren

Eindrücken auf Reisen durch das

Land. Es sind natürlich subjektive

Wahrnehmungen und Erkenntnisse,

ich denke sie geben dennoch gute

Einblicke in die Gesellschaft und

helfen dabei, Verständnis für die

Entscheidungen und Reaktionen

der Afghanen zu entwickeln. Viele

Afghanen, egal welcher politischen

Richtung sie angehören, treffen

aus unserer Sicht sehr harte und

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manchmal auch unmenschlich erscheinende

Entscheidungen. Aber

wenn man sich klar macht, wie die

politischen und gesellschaftlichen

Rahmenbedingungen sind, merkt

man, dass sie sich fast immer bemühen,

trotz extrem schwieriger

Umstände, für ihre Familie, für

ihre Kinder, auch für die Mädchen,

immer das Bestmögliche zu erreichen.

So wie wir wünschen sich

auch afghanische Eltern für ihre

Kinder eine glückliche Zukunft und

sind bei ihrem Handeln von Liebe

geleitet. Ihre Lebensbedingungen

sind jedoch extrem schwierig, sodass

bei jeder Entscheidung überlegt

werden muss, wie überlebt die

Familie als Ganzes. Das bringt für

den Einzelnen zum Teil unglaubliche

Härten.

Wir hoffen mit unseren persönlichen

Erlebnissen nicht nur einen

verstandesmäßigen, sondern auch

einen emotionalen Zugang zu den

Menschen zu eröffnen. Letztendlich

haben sie doch sehr ähnliche

Wünsche und Bedürfnisse wie

wir, nur äußert sich das durch die

Umstände in einer anderen Weise.

Wir jedenfalls fühlen uns den Menschen

dort sehr nahe.

UNIversalis: Herr Tettenborn, vielen

Dank für das Gespräch.

Unikat von Stephan Rambaud, Meilleur Ouvrier de France

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