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Winter 2021 UNIversalis-Zeitung 7
Die Geisteswissenschaften und die
Herausforderungen des Anthropozäns
Zwei junge Veröffentlichungen entdecken im modernen Denken Ressourcen für die gegenwärtigen
Aufgaben der Menschheit
S
eit seiner Einführung zu
Beginn des 21. Jahrhunderts
durch die Wissenschaftler
Paul Crutzen
und Eugene F. Stormer und der
Übernahme als offizielle Bezeichnung
eines 1950 beginnenden neuen
geologischen Zeitalters, das das
Holozän abgelöst und in dem der
Mensch zum geologischen Faktor
geworden ist, hat der Begriff Anthropozän
eine steile, wenn auch
nicht unumstrittene Karriere gemacht.
Mit Blick auf die gerade beendete
und mehr von Enttäuschung
als Durchbruchsstimmung charakterisierte
UN-Klimakonferenz in
Glasgow spielt er eine heute mehr
denn je bedeutende Rolle in der
Auseinandersetzung mit der Frage,
wie die Menschheit in den nächsten
Jahrzehnten mit den selbstverursachten
globalen Problemen fertig
werden kann und will: Klimawandel,
Entwaldungen, Artensterben
und natürlich die zunehmende
Gefahr von Pandemien. Von den
Klimaaktivist*innen wird richtigerweise
gefordert, dass die internationale
Politik angesichts der ökologischen
Krise endlich auf die Wissenschaft
hören soll, wobei damit
die Naturwissenschaften gemeint
sind, die bereits vor Jahrzehnten mit
ihren Klimamodellen die Folgen
unseres Lebensstils vorausgesehen
und davor gewarnt hatten. Wenn
uns tatsächlich nur Physik und
Chemie erklären können, welche
Prozesse in der Atmosphäre von unserem
Tun in Gang gesetzt werden
und wie sie das Leben auf der Erde
bedrohen, sind zur Überwindung
dieser Krise auch die Geistes- und
Kulturwissenschaften gefragt, denn
die Umstellung unseres Lebensstils
und eine ernsthafte Verantwortungsübernahme
gegenüber unserem
Planeten werden nicht ohne ein kritisches
Hinterfragen des geschichtlich
gewordenen abendländischen
Mensch-Natur-Verhältnisses gelingen,
das unserer Zivilisation zugrunde
liegt.
Einen solchen Beitrag zu leisten
versuchen zwei jüngst erschienene
Bücher, die beide ihren Fokus auf
das moderne Selbst- und Naturverständnis
legen. Es ist eine verbreitete
Annahme, dass sich in der Moderne
eine Trennung zwischen Natur
und Kultur etabliert hat, die sich
für die erstere als verhängnisvoll erwiesen
hat, wurde sie ja zum bloßen
materiellen Fundus im Dienste der
menschlichen Interessen degradiert.
Eine solche verkürzende Naturauffassung
ist zwar schon lange in
Frage gestellt worden (man denke
nur an Autoren wie Heidegger und
Adorno), sie ist aber hartnäckig und
noch heutzutage leitend für unsere
Welterfahrung. Dementsprechend
gilt es nach wie vor, ihr entgegenzuwirken,
indem ihre geschichtlichen
Voraussetzungen untersucht und
ihr alternative Konzepte der Natur
und der Stellung des Menschen in
ihr entgegengestellt werden, die
von der Philosophie, der Literatur,
der Rechtswissenschaft erarbeitet
werden. Die Pointe der neuen Veröffentlichungen
liegt darin, dass sie
in derselben Moderne konzeptuelle
Ressourcen für den Aufbau eines respektvollen
Umgangs mit der Natur
auffindbar machen.
Anthropozän – Klimawandel –
Biodiversität
Der von Stascha Rohmer und Georg
Toepfer herausgegebene Sammelband
„Anthropozän – Klimawandel
– Biodiversität. Transdisziplinäre
Perspektiven auf das gewandelte
Verhältnis von Mensch und Natur“
(Verlag Karl Alber, 2021) verfolgt
genau dieses Ziel. Er geht auf eine
internationale Tagung zurück, in
der Wissenschaftler*innen unterschiedlicher
fachlicher Provenienz
zusammengekommen sind, um auf
dem Gebiet der Geisteswissenschaften
Ansätze zu erproben, die der
gegenwärtigen Krise in sowohl diagnostischer
als auch therapeutischer
Hinsicht gerecht werden. In Bezug
auf den ersten Aspekt waren insbesondere
die Philosophen dazu aufgerufen,
zu einer Klärung der Implikationen
von allgegenwärtigen aber
in der alltäglichen Verwendung oft
unzureichend reflektierten Begriffen
beizutragen, wie das gerade beim
„Anthropozän“ der Fall ist.
Wie Eva Raimann in ihrem Aufsatz
zeigt, wird das interpretatorische
Potential dieses Ausdrucks erst
dann völlig ausgeschöpft, wenn er
konsequent zur Durchbrechung der
tradierten Dichotomie Natur-Kultur
eingesetzt wird, wenn auch eine
solche Opposition in der Begriffsentstehung
zum Teil mitspielte. Es
geht nämlich nicht darum, wie der
Begriff nahelegen könnte, die Natur
als eine vom menschlichen Handeln
bis vor Kurzem wesentlich unangetastete
Sphäre zu betrachten, in die
der Mensch seit Beginn der Industrialisierung
gewaltig als Antagonist
eindringen würde. Es geht um ein
Verständnis der radikalen Eingebundenheit
des Menschen in die
natürlichen Prozesse, welche unter
der von der bedrohten Natur ausgehenden
Bedrohung für den Menschen
als eine Spezies unter anderen
womöglich zum ersten Mal konkret
erfahrbar wird.
Eine Verflüssigung der Grenzen
zwischen Natur und Kultur mit
Blick auf die jeweiligen Zeitskalen
steht im Zentrum des Beitrags
von Eva Horn, die ausführt, wie der
Übergang vom Holozän ins Anthropozän
die Notwendigkeit, aber auch
die Schwierigkeit mit sich bringt,
Menschengeschichte und Erdgeschichte
zusammenzuführen. Dabei
rücken die Dimensionen der Gegenwart,
Vergangenheit und Zukunft in
ein anderes, unheimlicheres Licht.
Auch der Begriff der Biodiversität
wird von Georg Toepfer einer
gründlichen historischen Rekonstruktion
unterzogen, wobei der Autor
gerade auch auf die problematischen
Züge dieses in der zweiten
Dekade des 21. Jahrhunderts hoch
im Kurs stehenden Schlagworts
aufmerksam macht. Der Schutz der
Biodiversität und der Kampf gegen
den Klimawandel bilden das Thema
folgender, rechtswissenschaftlicher
Beiträge. Zum einen wird
die Dringlichkeit dieser Aufgaben
anhand einer Rekognition der bereits
katastrophalen Lage in den
lateinamerikanischen Ländern, vor
allem Brasilien – die Umweltpolitik
des amtierenden Präsidenten
Bolsonaro wird dabei von Felipe
Calderon-Valencia scharf kritisiert
– und Kolumbien, veranschaulicht.
Zum anderen stellt Lateinamerika
den Schauplatz der interessantesten
Anstrengungen dar, den Wert
der Natur jenseits eines anthropozentrischen
Standpunktes auch in
verfassungsrechtlicher Hinsicht zur
Geltung zu bringen. Dabei kann ein
im sogenannten nuevo constitucionalismo
entwickelter biozentrischer
Ansatz, der die Natur als Trägerin
von Rechten ansieht, durchaus an
die Weltanschauung indigener Völker
mit dem für sie zentralen und
der abendländischen Opposition
zwischen Natur und Kultur fremden
Prinzip der Mutter Erde anknüpfen.
Diese in unserem Denken verankerte,
fatale Teilung lässt sich jedoch
gleichsam nicht nur durch den
Rekurs auf außerhalb unserer Zivilisation
entwickelte Vorstellungen,
sondern auch von Innen sprengen.
Wie Stascha Rohmer in dem abschließenden
Beitrag des Bandes
zeigt, sind auch in der philosophischen
Tradition von der Antike bis
in dieselbe Moderne Ansätze zu
finden, den Eigenwert der Natur
angemessen zu fassen, sie stehen
allerdings in einem Spannungsverhältnis
zu einem von Descartes mit
seiner Unterscheidung von rex cogitans
und rex extensa eingeführten
materiellen Reduktionismus der
Natur auf ihre mechanischen Eigenschaften,
der eine Verbannung
von teleologischen Prinzipien aus
der Naturerklärung und damit einhergehend
die Verkennung der
Selbstzweckmäßigkeit der Natur
implizierte. In diesem Sinne gilt
Descartes als Begründer des modernen
Wirklichkeitsverständnisses, in
dessen Koordinaten die Natur „nur
als Rohstoff für die wissenschaftliche
Produktion dient“ und ihren
Eigenwert einbüßt. Zwar habe es
nach Descartes an Brechungen dieser
Gesamteinstellungen nicht gefehlt:
in seiner ästhetischen Theorie
hat Kant die Idee von immanenten
Zwecken der natürlichen Organismen
gerettet, obwohl nur in heuristischer
Hinsicht, während Hegel
noch einen Schritt weiter in Richtung
einer Anerkennung des Eigenwerts
der Natur gegangen ist, indem
er neben der teleologischen Struktur
der Organismen ihre gegenseitige
Bezogenheit thematisiert, und damit
zumindest im Ansatz ein Naturganzes
denkbar gemacht hat, in
dem auch der Mensch ein Bestandteil
ist. Diese Keime eines anderen
Umgangs mit der Natur sind in der
Moderne nicht wirklich zum Tragen
gekommen, die Trennung zwischen
Mensch und Natur ist auch bei Kant
und Hegel leitend und ist in der Folgezeit
dominant geblieben. Jedoch
ist es ein gemeinsames Anliegen der
Autoren des Sammelbandes, nicht
nur zu den modernen Denkern auf
Distanz zu gehen, sondern die in
ihren Entwürfen enthaltenen fruchtbaren
Impulse weiterzuentwickeln,
um die Stelle des Menschen in der
Natur und seine Verantwortung ihr
gegenüber neu zu definieren. Wichtige
moderne Referenzpunkte sind
Helmut Plessner (in dem Beitrag
von Joachim Fischer) und Alfred
North Whitehead mit seiner Prozessphilosophie,
die die cartesischen
Dichotomien ablehnt und eine alle
Lebewesen einbeziehende „Solidarität
des Universums“ zu denken
erlaubt.
Kant, Herder, Goethe und die Gegenwart
des Klimas
Die Idee, dass alles mit allem zusammenhängt,
und dass zwischen
Natur und Kultur nicht eine Trennung
als vielmehr fluide Übergänge
bestehen, findet sich im Zentrum
der ökologischen Theorien der
Gegenwart. In ihrem Buch „Übergängliche
Natur. Kant, Herder,
Goethe und die Gegenwart des
Klimas“ (August Akademie, 2021)
meint Hanna Hamel, in den im Titel
aufgeführten Autoren „alternative
Denk- und Darstellungsweisen
von Natur und Kultur“ auffinden
zu können, „die deren Verhältnis
nicht als simple Opposition, sondern
von vornherein in Verflechtung
[...] entwickeln“. Um solche auf
Anhieb nicht immer ersichtlichen
Züge des modernen Denkens ans
Licht zu bringen, setzt sie die historischen
Positionen mit aktuellen
Theorien jenseits rekonstruierbarer
Genealogien in Verbindung. Indem
Hamel vergangene und gegenwärtige
Überlegungen zum Klima abwechselnd
diskutiert – Kant/Latour,
Herder /Morton und Goethe/Lynch
– verdeutlicht sie, wie stark das Interesse
der Autoren des 18. Jahrhunderts
an einer „Dynamisierung des
Natur-Kultur-Verhältnisses, an der
Darstellung ihrer durchdringenden
und wechselseitigen Einflussnahme
und an der Auflösung starrer Grenzziehungen
und Dichotomien“ schon
war, und lässt auf dieser Weise ein
viel bewegteres Bild der modernen
Naturentwürfe entstehen, als es
üblicherweise angenommen wird.
Durch eine penetrante Lektüre der
anthropologischen Schriften Kants
zeigt die Autorin, dass der Mensch
darin nicht auf Distanz zur Natur,
sondern als dezidiert natürlich und
historisch lokalisiert verstanden
wird. So konzipiert entspricht ein
solcher Mensch überraschend sogar
den Aufforderungen Bruno Latours
zum Aufbau eines menschlichen
und nicht-menschlichen Wesens
versammelnden „Parlaments der
Dinge“, in dem auch letztere adäquat
vertreten werden sollen. Bei
Herder wird die Vernetzung zwischen
Mensch und Natur ästhetisch
gefasst, wobei sich interessante Parallelen
zu Timothy Mortons ökologischen
Überlegungen ergeben.
Besondere Aufmerksamkeit widmet
Hamel Goethes Annäherungsversuchen
an Naturphänomene wie
die Witterung, die über ein Zusammenspiel
wissenschaftlicher und
ästhetischer Ansätze erfolgen. Auf
diese Weise bricht Goethe mit dem
zu seiner Zeit herrschenden wissenschaftlichen
Weltbild und verweist
indirekt auf die Möglichkeit eines
nicht auf Dominanz ausgerichteten
Umgangs mit der Natur. In diesem
Sinne hätte nach Hamel derselbe
Bruno Latour Recht mit seiner
Feststellung, dass „wir […] nie modern
gewesen [sind]“, und zwar in
größerem Maße, als von ihm selbst
vermutet: es stimmt nämlich, dass
die moderne Gesellschaft und das
moderne Denken nie strikt nach
der von Descartes eingeführten
Trennung funktioniert haben. Das
ist freilich nicht zu bedauern, im
Gegenteil: man kann sich darüber
freuen, gegenüber den Herausforderungen
des Anthropozäns Verbündete
solchen Rangs wie Kant,
Herder und Goethe neben sich zu
wissen.
Stascha Rohmer (Herausgeber),
Georg Toepfer (Herausgeber), „Anthropozän
– Klimawandel – Biodiversität.Transdisziplinäre
Perspektiven
auf das gewandelte Verhältnis
von Mensch und Natur“, Verlag
Karl Alber, 2021 (ZfL)
Hanna Hamel, „Übergängliche Natur.
Kant, Herder, Goethe und die
Gegenwart des Klimas“, August
Akademie 2021 (ZfL).
Luca Marras
– IHR FACHGESCHÄFT IN FREIBURG FÜR