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Nächstenliebe - SIFAT Heft 3/2021 - Leseprobe

Als wir im Frühjahr dieses Jahres überlegten, welches Thema wichtig für ein neues Heft sein könnte, haben wir mit dem Blick auf den Prozess einer zunehmenden Polarisierung in unserer Gesellschaft entschieden, dass es lohnend ist, sich mit dem Grundwert sozialen Miteinanders zu beschäftigen – der Nächstenliebe. Und so verweist bereits das Titelbild auf eine Jahrtausende alte Tradition, die mit dem Buddha des Mitgefühls verbunden ist. Das Heft beginnt – anders als gewohnt – diesmal nicht mit einem Text von Hazrat Inayat Khan, sondern mit einem Blick auf Nächstenliebe als einem Fundament menschlichen Zusammenlebens und damit als einem universellen Wert. So mag es auch nicht verwundern, wenn die Beiträge sowohl aus verschiedenen Traditionen als auch unterschiedlichen Lebensbereichen gewählt wurden. Den universellen Blick schärft der Text von Hazrat Inayat Khan, während Pir Zia Inayat-Khan sowie Taj Inayat beschreiben, was es heißt, Nächstenliebe zu praktizieren. Die weiteren Texte bieten eine Fülle von unterschiedlichen Aspekten an: So erinnert der Text von Thich Nhat Hanh daran, dass es auch dann, wenn wir anderen Menschen gegenüber schwere Verfehlungen begangen haben, möglich ist, diese Vergangenheit loszulassen und ganz bewusst Gutes für andere zu tun. Sarida Brown zeigt mit den Erzählungen aus ihrem Leben auf, was es heißt zu dienen und wie wirksam die göttliche Führung durch einen Menschen hindurch in Erscheinung treten kann, wenn man sich dafür öffnet.

Als wir im Frühjahr dieses Jahres überlegten, welches Thema wichtig für ein neues Heft sein könnte, haben wir mit dem Blick auf den Prozess einer zunehmenden Polarisierung in unserer Gesellschaft entschieden, dass es lohnend ist, sich mit dem Grundwert sozialen Miteinanders zu beschäftigen – der Nächstenliebe. Und so verweist bereits das Titelbild auf eine Jahrtausende alte Tradition, die mit dem Buddha des Mitgefühls verbunden ist. Das Heft beginnt – anders als gewohnt – diesmal nicht mit einem Text von Hazrat Inayat Khan, sondern mit einem Blick auf Nächstenliebe als einem Fundament menschlichen Zusammenlebens und damit als einem universellen Wert. So mag es auch nicht verwundern, wenn die Beiträge sowohl aus verschiedenen Traditionen als auch unterschiedlichen Lebensbereichen gewählt wurden. Den universellen Blick schärft der Text von Hazrat Inayat Khan, während Pir Zia Inayat-Khan sowie Taj Inayat beschreiben, was es heißt, Nächstenliebe zu praktizieren. Die weiteren Texte bieten eine Fülle von unterschiedlichen Aspekten an: So erinnert der Text von Thich Nhat Hanh daran, dass es auch dann, wenn wir anderen Menschen gegenüber schwere Verfehlungen begangen haben, möglich ist, diese Vergangenheit loszulassen und ganz bewusst Gutes für andere zu tun. Sarida Brown zeigt mit den Erzählungen aus ihrem Leben auf, was es heißt zu dienen und wie wirksam die göttliche Führung durch einen Menschen hindurch in Erscheinung treten kann, wenn man sich dafür öffnet.

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Zeitschrift für Universalen Sufismus<br />

49. Jg.<br />

<strong>Heft</strong> 3<br />

Dezember <strong>2021</strong><br />

<strong>Nächstenliebe</strong>


Abschied von Karima Sen Gupta<br />

Ich stamme aus einem vollkommenen Grund<br />

und bin gebunden an ein vollkommenes Ziel.<br />

Ich lebe, bewege mich und habe mein Sein in Gott<br />

und nichts in der Welt hat die Kraft, mich zu<br />

berühren.<br />

Hazrat Inayat Khan<br />

Mit diesem für sie so wichtigen Satz nehmen<br />

wir Abschied von Karima Sen Gupta, die<br />

am 15. November <strong>2021</strong> im Alter von 89 Jahren von uns gegangen ist.<br />

Karima gründete im Jahr 1970 „<strong>SIFAT</strong>“, das sie bis 1995 herausbrachte. Das<br />

Thema des ersten <strong>Heft</strong>es war Bruderschaft. Sie übernahm in dieser Zeitspanne<br />

den Verlag Heilbronn von der Verlagsgründerin Inge von Wedemeyer und war<br />

Inhaberin bis 2004. Danach arbeitete sie viele Jahre ehrenamtlich weiter beim<br />

Verlag mit.<br />

Ihr frühes Interesse für die geistigen Traditionen des Ostens brachte sie 1956 in<br />

Kontakt mit der Lehre von Hazrat Inayat Khan. Sie lebte mit ihrem indischen<br />

Mann Ranjit und zwei Töchtern in der Schweiz und wirkte als Cherag und<br />

Leiterin in der internationalen Sufi-Bewegung mit. Ihre beiden Anthologien<br />

aus dem Werk von Hazrat Inayat Khan mit den Titeln „Vom Glück der Harmonie“<br />

und „Wanderer auf dem inneren Pfad" wurden tausendfach verkauft<br />

und kamen erst im Herder Verlag und dann im Verlag Heilbronn heraus. Sie<br />

übersetzte zahlreiche Bücher. Ihr letztes, „Der Zauber Indiens – aus dem Leben<br />

eines Sufi" von Musharaff Moulamia Khan, das 2014 erschien, kommentierte<br />

sie damals in einem Interview. Das Video dazu ist auf unserer Website abrufbar<br />

unter: https://www.verlag-heilbronn.de/autorinnen/karima-sen-gupta/.<br />

Ihr Weg war kein leichter und schwierige Lebenserfahrungen prägten sie nachhaltig.<br />

Vielleicht war sie auch deshalb zeit ihres Lebens eine zutiefst Suchende.<br />

C. G. Jung ist oft darin zitiert worden, dass jeder Mensch eine große Gabe und<br />

eine ebensolche Wunde auf dem Weg ins Menschsein erhält. So haben sich<br />

Karimas Gaben in der Welt auf segensreiche Weise manifestiert.<br />

Karima war uns eine Freundin, die bis zu ihrem Tod trotz ihrer Altersbeschwerden<br />

immer auch das Wohl und die Zukunft von <strong>SIFAT</strong> und Verlag im Auge hatte.<br />

Möge Karima aus der Erdenschwere in die Glückseligkeit des Lichts geführt<br />

werden. In Dankbarkeit, dass wir ein Stück des Weges mir ihr teilen durften,<br />

Uta Maria Baur und Josef Ries, Herausgeber <strong>SIFAT</strong> / Verlag Heilbronn


Inhaltsverzeichnis<br />

<strong>Nächstenliebe</strong><br />

Vorwort der Redaktion 4<br />

Erläuterungen zum Titelbild:<br />

Dargestellt ist der Buddha des Mitgefühls: Avalokiteshvara 5<br />

Michael Nüssen: <strong>Nächstenliebe</strong> und Feindesliebe sind zeitlose und<br />

und universelle Werte 6<br />

Hazrat Inayat Khan: Die Kultivierung des Herzens 11<br />

Pir Zia Inayat-Khan: Über Almosen 15<br />

Taj Inayat: Kommentar zur Goldenen Regel 10:<br />

Vernachlässige diejenigen nicht, die auf dich angewiesen sind 17<br />

Neil Douglas-Klotz: Das Jesuswort zur <strong>Nächstenliebe</strong> in aramäischer Sicht 20<br />

Sarida Brown: Interview – Ein Licht ging durch mich hindurch, Teil 2 23<br />

Thich Nhat Hanh: Mit Verstehen und Mitgefühl auf Gewalt reagieren 28<br />

Shlomo Bistritzky: „Wer ist geehrt? Wer andere ehrt.“ 29<br />

Ali Özgür Özdil: Talha schenkt mir sein Taschengeld 31<br />

Ali Özgür Özdil: Du sollst deinen Nächsten lieben – <strong>Nächstenliebe</strong> im Islam 32<br />

Christel Ludewig: Beistand am Lebensende –<br />

In schwierigen Zeiten nicht allein gelassen 36<br />

Yunus Emre: Wenn eine Seele diesen Ort verlässt 39<br />

Gebet der Lakota Sioux: Das Gebet zum Großen Geist 40<br />

Aufruf der Hopi: An meine Gefährten, die mit mir schwimmen 41<br />

Marshall B. Rosenberg: Kinder einfühlend ins Leben begleiten 42<br />

Michael Maciel: Ist Empathie genug? 43<br />

Texte aus den Heiligen Schriften der Weltreligionen 48<br />

Blick aus dem Fenster: First Togetherness 51<br />

Buchbesprechungen:<br />

Elif Shafak: Hört einander zu! 53<br />

Anselm Grün und Ahmad Milad Karimi: Im Herzen<br />

der Spiritualität – Wie Christen und Muslime sich begegnen können 55<br />

Hazrat Khwaja Moinuddin Chishti: Die letzte Ansprache an seine Murids 58<br />

Jubiläums-Edition Band 4: Heilung und die Welt des Geistes 59<br />

Projekte 60<br />

Impressum 62<br />

Auszeichnung Verlag Heilbronn <strong>2021</strong> 63<br />

<strong>SIFAT</strong> 3 | <strong>2021</strong> – <strong>Nächstenliebe</strong> 3


Vorwort der Redaktion<br />

Liebe Leserinnen und Leser,<br />

als wir im Frühjahr dieses Jahres überlegten, welches Thema wichtig für ein<br />

neues <strong>Heft</strong> sein könnte, haben wir mit dem Blick auf den Prozess einer zunehmenden<br />

Polarisierung in unserer Gesellschaft entschieden, dass es lohnend ist,<br />

sich mit dem Grundwert sozialen Miteinanders zu beschäftigen – der <strong>Nächstenliebe</strong>.<br />

Und so verweist bereits das Titelbild auf eine Jahrtausende alte Tradition,<br />

die mit dem Buddha des Mitgefühls verbunden ist. Das <strong>Heft</strong> beginnt<br />

– anders als gewohnt – diesmal nicht mit einem Text von Hazrat Inayat Khan,<br />

sondern mit einem Blick auf <strong>Nächstenliebe</strong> als einem Fundament menschlichen<br />

Zusammenlebens und damit als einem universellen Wert. So mag es auch<br />

nicht verwundern, wenn die Beiträge sowohl aus verschiedenen Traditionen<br />

als auch unterschiedlichen Lebensbereichen gewählt wurden. Den universellen<br />

Blick schärft der Text von Hazrat Inayat Khan, während Pir Zia Inayat-Khan<br />

sowie Taj Inayat beschreiben, was es heißt, <strong>Nächstenliebe</strong> zu praktizieren. Die<br />

weiteren Texte bieten eine Fülle von unterschiedlichen Aspekten an: So erinnert<br />

der Text von Thich Nhat Hanh daran, dass es auch dann, wenn wir anderen<br />

Menschen gegenüber schwere Verfehlungen begangen haben, möglich ist, diese<br />

Vergangenheit loszulassen und ganz bewusst Gutes für andere zu tun. Sarida<br />

Brown zeigt mit den Erzählungen aus ihrem Leben auf, was es heißt zu dienen<br />

und wie wirksam die göttliche Führung durch einen Menschen hindurch in<br />

Erscheinung treten kann, wenn man sich dafür öffnet.<br />

Dass wir eine Verantwortung haben, welchen Blick auf die Mitmenschen unsere<br />

Kinder erlernen, erfahren wir von Marshall B. Rosenberg, dem Begründer der<br />

Gesprächsführung einer gewaltfreien Kommunikation sowie dem Text von<br />

Ali Özgür Özdil, der von der unverstellten Weisheit eines Kindes erzählt. Am<br />

anderen Ende des Lebenszyklus steht der Mitmensch als ein Sterbender, der<br />

in besonderer Weise der <strong>Nächstenliebe</strong> bedarf, wie Christel Ludewig auf eindrucksvolle<br />

Weise erklärt und praktiziert.<br />

Einen wichtigen Beitrag stellt der Text von Neil Douglas-Klotz dar. Er setzt<br />

sich mit den bekannten Jesusworten zur <strong>Nächstenliebe</strong> auseinander und gibt<br />

durch den Bezug auf die Bedeutung des Aramäischen im Urtext einen tieferen<br />

Einblick in dessen Bedeutung und Deutungsmöglichkeiten. Ergänzt wird diese<br />

Betrachtung durch den Text von Shlomo Bistritzky, der uns daran erinnert, wie<br />

zentral in diesem Zusammenhang die Selbstliebe gesehen werden muss – ohne<br />

sie gibt es keine <strong>Nächstenliebe</strong>. Der Beitrag „Blick aus dem Fenster“ zeigt bei-<br />

4 <strong>SIFAT</strong> 3 | <strong>2021</strong> – <strong>Nächstenliebe</strong>


Titelbild: Avalokiteshvara – Buddha des Mitgefühls<br />

spielhaft, was wir erfahren können, wenn wir <strong>Nächstenliebe</strong> praktizieren: Wenn<br />

ich gebe, dann wächst meine Freude und meine Selbstakzeptanz.<br />

„Immer ist der wichtigste Mensch der, der dir gerade gegenübersteht.“, sagt<br />

Meister Eckart. In diesem Sinn wünschen wir Freude und Inspiration beim<br />

Lesen der vorliegenden Textsammlung.<br />

Wir möchten unserer Leserschaft noch mitteilen, dass Detlev Qalbi Marzke<br />

leider die Redaktion verlassen hat. Ganz herzlich möchten wir uns für seine<br />

Mitarbeit bedanken und ihm alles Gute für seine weiteren Pläne wünschen.<br />

Die Redaktion:<br />

Hans-Peter Baum, Claudia Nüssen, Michael Nüssen,<br />

Regina Armaiti Winkler-Reber<br />

Erläuterungen zum Titelbild<br />

Dargestellt ist der Buddha des Mitgefühls: Avalokiteshvara<br />

Wer ist Avalokiteshvara?<br />

In den Schriften ist überliefert, dass Avalokiteshvara in seinem Vorleben<br />

allein in Indien 37-mal aufgetreten ist, z. B. als „Derjenige, der bei anderen das<br />

Heilsame anwachsen lässt“. In dieser Existenz hatte der Bodhisattva schon als<br />

Jugendlicher tiefe Einblicke in die Natur des Leidens. Im Alter von 15 Jahren<br />

kündigte er an, sich körperlich und geistig in die Abgeschiedenheit zu begeben.<br />

Er habe kein Interesse an weltlichem Streben und wolle die Fessel der Begierde<br />

überwinden. Dann machte er sich auf an einen abgeschiedenen Ort. Unterwegs<br />

fragten ihn die Menschen: „Du bist jung. Warum verlässt du deine lieben<br />

Eltern?“ Der Junge gab zur Antwort: „Meine einzige Furcht ist, meine Eltern<br />

langfristig zu verlieren. Deshalb gehe ich jetzt und verlasse sie kurzfristig. Ich<br />

gebe meine Eltern nicht wirklich auf, sondern kümmere mich um etwas, was<br />

ihnen langfristig von Nutzen sein kann.“<br />

Avalokiteshvara ist der Buddha des Mitgefühls, und in ihm verkörpert sich<br />

das Erbarmen sämtlicher Buddhas. Die Meditation über Avalokiteshvara ist sehr<br />

<strong>SIFAT</strong> 3 | <strong>2021</strong> – <strong>Nächstenliebe</strong> 5


Michael Nüssen: <strong>Nächstenliebe</strong> und Feindesliebe sind zeitlose und universelle Werte<br />

heilsam. Aufgrund seines großen Erbarmens sind der Segen und Nutzen seines<br />

Mantra umso größer, je schlechter die Zeiten und je größer die Leiden sind.<br />

Avalokiteshvara richtete das folgende Wunschgebet an den Buddha: „Verleihe<br />

mir die Kraft, dass später allein das Aussprechen meines Namens dazu führt,<br />

dass das Leiden der Lebewesen besänftigt wird.“ Der Name steht hier für die<br />

Mantras, die im Zusammenhang mit der Avalokiteshvara-Praxis rezitiert werden.<br />

Das bekannteste Mantra in der Avalokiteshvara-Praxis ist das OM MANI<br />

PADME HUM.<br />

Was bedeutet das Mantra OM MANI PADME HUM?<br />

OM ist zusammengesetzt aus A, U und M und repräsentiert Körper, Rede<br />

und Geist des Buddha, die damit angerufen werden.<br />

MANI symbolisiert den Pfad der Methode. Wenn man den gesamten buddhistischen<br />

Pfad einteilt, gibt es den Pfad der Methode und den Pfad der Weisheit,<br />

die man zusammen entwickeln muss. MANI heißt so viel wie Diamant,<br />

man kann es sich wie eine Art wunscherfüllendes Juwel vorstellen. Dies repräsentiert<br />

den sogenannten weiten Pfad, welcher Tugenden wie Mitgefühl und<br />

den Erleuchtungsgeist beinhaltet. Dieser Pfad ist eine Art wunscherfüllendes<br />

Juwel für die Lebewesen.<br />

PADME heißt Lotus und steht für den Weisheitsaspekt des Pfades. Dieser<br />

besteht hauptsächlich in der Erkenntnis der endgültigen Realität, der Leerheit.<br />

HUM bedeutet, dass etwas ungetrennt ist und weist auf die Vereinigung von<br />

MANI und PADME, Weisheit und Methode hin, denn diese beiden sollten<br />

niemals getrennt voneinander praktiziert werden.<br />

Nach: „Tibet und Buddhismus“, <strong>Heft</strong> 47, 1998<br />

Michael Nüssen<br />

<strong>Nächstenliebe</strong> und Feindesliebe sind zeitlose<br />

und universelle Werte<br />

Es geht mir in diesem Artikel darum, mithilfe von Zitaten zu zeigen, dass ein<br />

harmonisches Beisammensein aller Menschen von Beginn unserer Zivilisation<br />

bis heute als tiefe universelle menschliche Sehnsucht vorhanden war und<br />

fortbesteht! Weder Levitikus 19,18 aus der Tora noch Lukas 6, 27 im „Neuen<br />

Testament“ haben da Copyright von Nächsten- oder Feindesliebe. Sie sind für<br />

6 <strong>SIFAT</strong> 3 | <strong>2021</strong> – <strong>Nächstenliebe</strong>


Michael Nüssen: <strong>Nächstenliebe</strong> und Feindesliebe sind zeitlose und universelle Werte<br />

mich schöne Perlen in der langen Kette gleicher heiliger Perlen menschlicher<br />

Weisheit:<br />

Die antiken Flusskulturen<br />

Eine der ältesten bekannten schriftlichen Quellen menschlicher Zivilisation<br />

ist der Codex Hammurabi aus Babylon. Dieser in Akkadisch abgefasste<br />

Text (etwa 1728-1686 v. u. Z.), den Archäologen im Iran fanden, ist in eine<br />

Steinsäule gemeißelt. Im Epilog, der den Gesetzen des Codex folgt, lesen wir:<br />

„Hammurabi, der schützende König, bin ich. Die Menschen, die Bel mir geschenkt,<br />

deren Regierung Marduk mir gegeben hat, vernachlässige ich nicht, war nicht säumig,<br />

eine Wohnstätte des Friedens verschaffte ich ihnen. Steile Engen erschloss ich,<br />

Licht ließ ich über sie erstrahlen. Mit der mächtigen Waffe, welche Zamama und Istsar<br />

mir verliehen, mit dem Scharfblick, den Ea mir bestimmt, mit der Weisheit, die<br />

Marduk mir gegeben, habe ich den Kämpfen ein Ende bereitet, dem Lande Wohlbefinden<br />

geschaffen, die Einwohner der Wohnsitze in Sicherheit wohnen lassen, einen<br />

Unruhestifter unter ihnen nicht geduldet. Die Großen Götter haben mich berufen,<br />

ich bin der Heil bringende Hirte, dessen Stab gerade ist, guter Schatten ist über<br />

meine Stadt gebreitet; an meiner Brust hege ich die Einwohner des Landes Sumer<br />

und Akkad, in meinem Schutz habe ich sie ihre Tätigkeit in Frieden ausüben lassen,<br />

in meiner Weisheit sie geborgen. Dass der Starke dem Schwachen nicht schade, um<br />

Waisen und Witwen zu sichern, in Babylon, […] habe ich meine kostbaren Worte<br />

auf meinen Denkstein geschrieben, vor meinem Bildnisse, als des Königs der Gerechtigkeit,<br />

aufgestellt.“<br />

Gut 1000 Jahre später regierte im Zweistromland Kyros der Große: Er erhebt<br />

im Kyros-Edikt <strong>Nächstenliebe</strong> von einer persönlichen Angelegenheit zur Staatsräson.<br />

Sie ist dort politisch motiviert. Etwa die juristische Gleichheit aller, das<br />

erlaubte Miteinander von Religionen oder Freiheit für Sklaven. So steht es auf<br />

dem Kyros-Zylinder aus dem Jahre 539 v. Chr.. Diese Worte fanden auch Einzug<br />

in die Hebräische Bibel (2. Chronik 36,22f + Esra 1,1-4 hebräisch; Esra<br />

6,3-5 aramäisch). Die Bestimmungen wurden in alle sechs offiziellen Sprachen<br />

der Vereinten Nationen übersetzt und entsprechen den ersten vier Artikeln der<br />

Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte.<br />

Auch in den spirituellen Zeugnissen der Indus/Ganges-Flusskultur wurden<br />

die „großen Fragen“ gestellt. In der Rigweda (Vedisch, Sanskrit = Verse/Loblieder),<br />

der ältesten der Veden, handelt es sich um eine Sammlung von 1000 Hymnen<br />

in 10 Mandalas (Büchern). Für die Bücher I - IX wird eine Entstehungszeit<br />

zwischen 1750-1200 v. Chr. vermutet.<br />

<strong>SIFAT</strong> 3 | <strong>2021</strong> – <strong>Nächstenliebe</strong> 7


Michael Nüssen: <strong>Nächstenliebe</strong> und Feindesliebe sind zeitlose und universelle Werte<br />

Der Ursprung der Dinge<br />

1. Weder Nichtsein noch Sein war damals; nicht war der Luftraum noch der<br />

Himmel darüber. Was strich hin und her? Wo? In wessen Obhut? Was war das<br />

unergründliche tiefe Wasser?<br />

2. Weder Tod noch Unsterblichkeit war damals; nicht gab es ein Anzeichen von Tag<br />

und Nacht. Es atmete nach seinem Eigengesetz ohne Windzug dieses Eine.<br />

Irgendein anderes als dieses war weiter nicht vorhanden.<br />

3. Im Anfang war Finsternis in Finsternis versteckt; all dieses war unkenntliche<br />

Flut. Das Lebenskräftige, das von der Leere eingeschlossen war, das Eine wurde<br />

durch die Macht seines heißen Dranges geboren.<br />

4. Über dieses kam am Anfang das Liebesverlangen, was des Denkens erster Same<br />

war. Im Herzen forschend machten die Weisen durch Nachdenken das Band des<br />

Seins im Nichtsein ausfindig.<br />

5. Quer hindurch ward ihre Richtschnur gespannt. Gab es denn ein Unten, gab es<br />

denn ein Oben? Es waren Besamer, es waren Ausdehnungskräfte da. Unterhalb<br />

war der Trieb, oberhalb die Gewährung.<br />

6. Wer weiß es gewiss, wer kann es hier verkünden, woher sie entstanden, woher<br />

diese Schöpfung kam? Die Götter kamen erst nachher durch die Schöpfung dieser<br />

Welt. Wer weiß es dann, woraus sie sich entwickelt hat?<br />

7. Woraus diese Schöpfung sich entwickelt hat, ob er sie gemacht hat oder nicht –<br />

der der Aufseher dieser Welt im höchsten Himmel ist, der allein weiß es, es sei<br />

denn, dass auch er esnicht weiß. (Rigweda 10,129)<br />

Wieder steht Liebe als Urgrund menschlichen Handelns im Mittelpunkt.<br />

In der dritten antiken Flusskultur am Nil regierte vor ca. 3400 Jahren der Pharao<br />

Echnaton. Er leitete eine religiöse Revolution ein, indem er den ägyptischen<br />

Pantheon auf den Sonnengott Aton als Schöpfergott konzentrierte. In seinem<br />

Großen Sonnen-Hymnus auf Aton steht:<br />

„Die Sonnenmenschen sind erwacht und haben sich auf die Füße gestellt, du hast<br />

sie aufgerichtet. Sie waschen ihren Leib und nehmen die Kleider, ihre Arme beugen<br />

sich in Anbetung, weil du erscheinst. Das ganze Land geht an seine Arbeit […] Wie<br />

mannigfaltig sind doch deine Werke! Sie sind verborgen vor dem Gesicht (der Menschen),<br />

du einziger Gott, außer dem es keinen mehr gibt! Du hast die Erde geschaffen<br />

nach deinem Herzen, du ganz allein, mit Menschen, Herden und allem Getier, was<br />

immer auf der Erde auf Füßen geht, was immer in der Höhe ist und mit seinen Flü-<br />

8 <strong>SIFAT</strong> 3 | <strong>2021</strong> – <strong>Nächstenliebe</strong>


Michael Nüssen: <strong>Nächstenliebe</strong> und Feindesliebe sind zeitlose und universelle Werte<br />

geln fliegt. Die Fische im Strom springen vor deinem Angesicht, denn deine Strahlen<br />

dringen in die Tiefe des Meeres […] Du setzt jedermann an seine Stelle und sorgst<br />

für seine Bedürfnisse; ein jeder hat sein Essen, berechnet ist seine Lebenszeit.“<br />

Der Ferne Osten<br />

Im Dao-de-Jing des „greisen Meisters“ Laotse aus China des sechsten Jahrhunderts<br />

v.u. Z. sind „Dao“ und „De“ die dem Sein zugrunde liegenden Gesetzmäßigkeiten<br />

(„Sinn“/„Weg“) und deren Richtschnur im täglichen Leben. Und<br />

so lernen wir:<br />

„Glückverheißend allein ist friedvolles Tun; unglückverheißend das Handwerk des<br />

Krieges […] Ein wahrer Feldherr ist nicht kriegswütig, ein wahrer Kämpfer ist nicht<br />

zornmütig, ein wahrer Bezwinger des Feinds nicht streitsüchtig. Ein wahrer Lenker der<br />

Menschen aber ist demütig. Das nenn ich De des Nichtstreitens, das nenne ich Kraft der<br />

Menschenlenkung, nenn ich Höchstes, das dem Himmel gleicht seit Alters her.“<br />

Zeitgleich verkündet uns Buddha im Buch der Schlange aus dem Pali-Kanon:<br />

„Keiner soll den andren hintergehen, soll um nichts ihn je verachten hier: ohne<br />

Feindschaft, ohne Hassgefühl, Übel wünschen wird man nicht dem Nächsten an.<br />

Wie die Mutter ihres Leibes eigne Frucht, mit dem Leben schützen mag ihr einzig<br />

Kind: also mag man alles, was geworden ist, unbegrenzbar einbegreifen in der Brust.<br />

Liebe soll durchleuchten so die ganze Welt, unbegrenzbar einbegreifen in der Brust:<br />

oben, unten, mitten quer hindurch unermesslich strahlen ohne Grimm und Groll.“<br />

Etwa 100 Jahre danach begann mit Konfutse (Konfuzius) in China das systematische<br />

philosophische Denken. In seiner Ethik nahm Menschenliebe eine<br />

zentrale Stelle ein. Aus dem Buch der Sitten (Li Ki) zwei Zitate:<br />

„Wenn die große Wahrheit siegt, wird die Erde allgemeines Eigentum sein. Man wird<br />

die Weisesten und Tüchtigsten wählen, um Friede und Eintracht aufrecht zu halten.<br />

Dann werden die Menschen nicht mehr nur ihre Nächsten lieben, nicht mehr nur<br />

für ihre eigenen Kinder sorgen, so dass alle Alten ein friedliches Ende haben, alle<br />

Kräftigen eine nützliche Arbeit leisten, alle Jungen in ihrem Wachstum gefördert<br />

werden, Witwer und Witwen, Waisen und Einsame, Schwache und Kranke ihre<br />

Fürsorge finden, die Männer ihre Stellung und die Frauen ihr Heim haben.“<br />

„Der Heilige vermag die ganze Erde als eine Familie anzusehen und das Reich<br />

der Mitte als einen Menschen. Nicht nur so, dass er allgemeine Vermutungen hätte,<br />

sondern so, dass er genau die Gefühle der Menschen kennt, dass er ihre Pflichten<br />

weiß, dass er klar ist, darüber, was gut für sie ist, dass er ihre Leiden versteht: dann<br />

erst kann er es vollbringen. Was sind die Gefühle der Menschen? Es sind Freude,<br />

<strong>SIFAT</strong> 3 | <strong>2021</strong> – <strong>Nächstenliebe</strong> 9


Michael Nüssen: <strong>Nächstenliebe</strong> und Feindesliebe sind zeitlose und universelle Werte<br />

Zorn, Trauer, Furcht, Liebe, Hass und Begehren: diese sieben Dinge kennt jeder,<br />

ohne sie gelernt zu haben. Was sind die Pflichten der Menschen? Dass der Vater<br />

mild ist und der Sohn ehrfürchtig, der ältere Bruder freundlich und der jüngere<br />

fügsam, der Gatte gerecht und die Gattin gehorsam, das Alter gütig und die Jugend<br />

folgsam, der Herrscher liebevoll und der Diener gewissenhaft: diese zehn Dinge sind<br />

die Pflichten der Menschen. Zuversicht verbreiten und Frieden stiften, das ist gut<br />

für den Menschen. Streiten, rauben und töten: das sind die Leiden der Menschen.<br />

Womit der Berufene die sieben Gefühle der Menschen ordnet, sie zu ihren zehn<br />

Pflichten ausbildet; Zuversicht verbreitet und Frieden stiftet, Freundlichkeit und<br />

Duldsamkeit fördert, Streit und Raub beseitigt, was anderes ist das Mittel, zu dem<br />

allem als die Sitte?“<br />

Der Nahe Osten<br />

Zoroaster / Mazda-Anbeter<br />

Wir dürfen annehmen, dass Zarathustra eine historische Figur war, die vielleicht<br />

etwa um 1000 v. u. Z. gelebt hat. Er gilt als der Verfasser uralter religiöser Gesänge,<br />

der Gathas, die zunächst Jahrhunderte lang mündlich überliefert wurden, bevor<br />

man sie – wahrscheinlich in sassanidischer Zeit (224-651 n. Chr.) vermutlich im<br />

4. Jahrhundert n. u. Z. – zusammen mit anderen, jüngeren Texten, unter anderen<br />

den Jasnas (liturgischen Texten), aufgezeichnet hat. Das Ergebnis war die ‚Awesta‘<br />

genannte Sammlung von heiligen Schriften der Zoroastrier.<br />

Die Ethik der Zoroastrier wird in den drei Grundforderungen „Gut denken,<br />

gut sprechen, gut handeln“ zusammengefasst. Ein ursprüngliches Glaubensbekenntnis<br />

der Zoroastrier enthält die Jasna 12:<br />

„Ich verschmähe ein Dev-Anbeter zu sein, ich bekenne mich als Mazda-Anbeter, als<br />

Zarathushtrier. […] Den Hausbewohnern gönne ich freien Wandel, freies Wohnen<br />

(und) den Haustieren, mit denen sie auf Erden wohnen. Mit schuldiger Ehrfurcht<br />

gelobe ich bei geweihtem (Wasser) dem Asha dieses: Nicht will ich fortab Plünderung<br />

noch Verwüstung in Dörfern der Mazda Gläubigen begehen, noch das Begehren<br />

nach Leib und Leben. […] Ich bekenne mich als Mazda-Anbeter, als Zarathushtrier,<br />

mit Gelöbnis und Bekenntnis. Ich gelobe gutgedachtes Denken, ich gelobe gutgesprochenes<br />

Wort, ich gelobe gutgetane Werke. Ich gelobe die Religion der Mazda-<br />

Anbeter, die (den Säbel) abschnallt und die Waffen niederlegt und die Sippenehe<br />

will, die von den gegenwärtigen und zukünftigen die höchste, beste und schönste<br />

ist, die Ahura-Gläubige, Zarathushtrische. Dem Weisen Herren verspreche ich alles<br />

Gute. Dies ist das Gelöbnis der Religion der Mazda-Anbeter.“<br />

(Jasna 12, 1,3, 8+9)<br />

10 <strong>SIFAT</strong> 3 | <strong>2021</strong> – <strong>Nächstenliebe</strong>


Hazrat Inayat Khan: Die Kultivierung des Herzens<br />

F azit<br />

Zusätzlich zu dem hier Aufgezeichneten ließen sich noch Gedanken zur <strong>Nächstenliebe</strong><br />

aus germanischer sowie griechischer Mythologie (Parzival, Edda, Odyssee<br />

und Ilias) erläutern, oder aus den Schriften der indigenen Völker Nord- und Südamerikas<br />

sowie der arktischen Region (Inuit oder Aleuten) berichten. Dort finden<br />

sich ähnliche ethische Gedanken wie in den oben erwähnten Texten. Auch in den<br />

„modernen“ Zeiten geht das Streben der Menschen nach Liebe, Gerechtigkeit,<br />

Einheit in Vielfalt und Frieden weiter: angefangen beim kategorischen Imperativ<br />

Kants über Martin Buber, Paul Tillich, Noor Inayat Khan und Dietrich Bonhoeffer<br />

bis hin zu M. L. King, Karen Armstrong, dem Dalai Lama, Adin Steinsaltz<br />

oder Politikern wie Vaclav Havel und Nelson Mandela, um nur einige zu nennen.<br />

All dies belegt für mich die zeitlose und universelle Gültigkeit von Nächsten- und<br />

Feindesliebe! Zum Schluss dazu ein Zitat aus dem Gebet „Khatum“ von Hazrat<br />

Inayat Khan.<br />

Gnadenreicher und barmherziger Gott,<br />

gib uns Deine große Güte,<br />

lehre uns Dein liebendes Verzeihen,<br />

erhebe uns über die Unterschiede und Abgrenzungen,<br />

die die Menschen trennen,<br />

sende uns den Frieden Deines göttlichen Geistes<br />

und vereinige uns alle<br />

in Deinem vollkommenen Sein.<br />

Michael Nüssen, Jg. 1951,<br />

Cherag in der Inayatiyya Deutschland<br />

Hazrat Inayat Khan<br />

Die Kultivierung des Herzens<br />

Achtung, Respekt – Adab<br />

Der höchste Ausdruck der Liebe ist Achtung. Achtung gebührt nicht nur<br />

dem Höhergestellten oder dem Alter, sondern selbst einem Kind; nur sollte man<br />

<strong>SIFAT</strong> 3 | <strong>2021</strong> – <strong>Nächstenliebe</strong> 11


Hazrat Inayat Khan: Die Kultivierung des Herzens<br />

wissen, in welchem Maße und in welcher Form sie ausgedrückt werden sollte.<br />

Die Liebe zum Partner, zum Freund oder Verwandten, zu den Eltern, zum Lehrer<br />

oder Seelsorger findet den schönsten Ausdruck in einer aufrichtig respektvollen<br />

Haltung. Kein Liebesbeweis kann kostbarer sein als ein Wort oder ein Verhalten<br />

der Achtung.<br />

Sehr oft entstehen Konflikte zwischen Religionen, weil Menschen ihre eigene<br />

Religion achten, auf die Religion eines anderen aber mit Verachtung herabblicken.<br />

Wer die Religion des Freundes nicht respektiert, sollte wenigstens seinen<br />

Freund respektieren und aus Achtung für ihn seine Religion mit Achtung<br />

betrachten. Bei aller Liebe, Hingabe und Aufrichtigkeit geschieht es doch häufig,<br />

dass eine Freundschaft zerbricht, nur weil der eine oder andere Teil sich<br />

gegen das Gesetz der Achtung vergeht.<br />

Was ist Anbetung? – Anbetung besteht nicht im Tanzen vor Gott; Anbetung<br />

ist eine Äußerung der Ehrerbietung gegenüber Gott, dem alle Verehrung<br />

gebührt. Wer Gott anbetet und den Menschen verachtet, dessen Anbetung ist<br />

eitel, seine Frömmigkeit ist ein Wahn. Der wahre Gottesanbeter erblickt Gott in<br />

allen Erscheinungen und indem er andere achtet, achtet er Gott.<br />

Dies kann sich so weit entwickeln, dass der wahrhaftige Anbeter Gottes, des<br />

Allgegenwärtigen, behutsam über die Erde schreitet und sich in seinem Herzen<br />

vor jedem Baum und jeder Pflanze neigt; dann besteht zu allen Zeiten, ob er<br />

wacht oder schläft, eine Verbindung zwischen dem Anbetenden und dem göttlichen<br />

Geliebten.<br />

Rücksicht – Khatir<br />

Khatir bedeutet Rücksicht einem anderen gegenüber, die sich in der Form von<br />

Achtung, Hilfe oder Dienstbereitschaft äußert. Häufig erfordert sie ein Opfer,<br />

manchmal sogar Selbstverleugnung. Rücksichtnahme ist die höchste Eigenschaft,<br />

die im menschlichen Wesen gefunden werden kann. Rücksicht gegenüber dem<br />

Alter, der Erfahrung, dem Wissen, der Stellung, den Verdiensten eines Menschen,<br />

aber auch gegenüber seinen Schwächen, all dies ist in dem Wort khatir enthalten.<br />

Wenn dieser Geist der Rücksichtnahme entwickelt ist, erstreckt er sich nicht<br />

nur auf den einen Menschen, dem diese Rücksicht gilt, sondern auf alle, die<br />

mit ihm in irgendeiner Verbindung stehen. Den Gesandten eines Königs nicht<br />

achten, heißt so viel, wie den König nicht achten.<br />

Für Sufis gehört diese Haltung zu ihrer Moral. Der Sufi lernt Rücksicht, indem<br />

er bei seinem Murshid beginnt, aber dies findet seinen Höhepunkt in Rücksicht<br />

gegenüber Gott. Wenn jemand zu dieser Zartheit des Gefühls gelangt, nimmt<br />

er schließlich auf jeden Menschen in der Welt Rücksicht. Für Sufis bedeutet<br />

12 <strong>SIFAT</strong> 3 | <strong>2021</strong> – <strong>Nächstenliebe</strong>


Hazrat Inayat Khan: Die Kultivierung des Herzens<br />

es eine große Enttäuschung, wenn sie es einmal versäumen, einem anderen<br />

Rücksicht zu erweisen; denn sie betrachten es nicht als ein Versagen gegenüber<br />

einem Menschen, sondern gegenüber Gott. Wer auf das menschliche Empfinden<br />

Rücksicht nimmt, ist wahrhaft fromm.<br />

Ohne Zweifel bedarf es unendlicher Ausdauer und Geduld, allzeit und allen<br />

gegenüber Rücksicht zu üben. Ist dabei anscheinend auch nichts gewonnen, so<br />

bedeutet die Rücksichtnahme auch keinen Verlust. Den Lohn für diese Tugend<br />

bringt die Zukunft. Rücksichtsvolles Verhalten ist das Merkmal der Weisen.<br />

Teilen mit anderen – Tawazu<br />

In der Sufiterminologie bedeutet tawazu mehr als nur Gastfreundschaft. Es<br />

heißt, alles, was man besitzt, bereitwillig darzubieten. Mit anderen Worten: seine<br />

Freunde an allem Guten, was man im Leben besitzt, teilnehmen zu lassen und<br />

damit für sich selbst die Lebensfreude zu vergrößern.<br />

Ist diese Neigung entwickelt, so werden uns Dinge, die uns Freude und Vergnügen<br />

bereiten, durch das Teilen mit einem anderen noch mehr erfreuen. Diese<br />

Neigung entsteht aus dem Adel des Herzens. Sie ist Großzügigkeit, ja, mehr<br />

noch als Großzügigkeit; denn Großzügigkeit hat ihre Grenze in der Mitfreude<br />

am Glück eines anderen, aber das eigene Teilen mit anderen, Glück mit einem<br />

anderen zu teilen, ist noch größer. Es ist eine Eigenschaft, die einem selbstsüchtigen<br />

Menschen fremd ist, und wer sie besitzt, ist auf dem Pfad zur Heiligkeit.<br />

Tawazu kostet nichts, es ist eine Wesenshaltung. Wer von Natur aus nicht<br />

gastfreundlich ist, dessen Gastfreundschaft hat keinen Wert. Wer das Beglückende<br />

dieser Eigenschaft erfahren hat, fühlt eine größere Befriedigung darin,<br />

sein einziges Stück Brot mit einem anderen zu teilen, als es selbst zu essen.<br />

Zwiespältigkeit im Wesen hält all solche schönen Eigenschaften der Seele vom<br />

Menschen fern. Das Bewusstsein der Einheit schafft dagegen alle guten Eigenschaften<br />

im Menschen. Gastfreundschaft erweist man nicht nur im Schenken<br />

oder Teilen von Freude, selbst in Worten, im Verhalten oder Handeln kann<br />

man dieses Gefühl äußern. Der Wunsch, jemanden willkommen zu heißen, zu<br />

begrüßen, ihm Achtung zu erweisen, einen Platz anzubieten, ihn mit Zuvorkommenheit<br />

zu behandeln, die Art ihn zu verabschieden, all dies zeugt von<br />

tawazu.<br />

Selbstlosigkeit – Inkisar<br />

Das Wort inkisar bedeutet in der Sufiterminologie Selbstlosigkeit. Die menschliche<br />

Natur ist so beschaffen, dass der Mensch dazu neigt, jedes Geschöpf, das sich<br />

neben ihm erhebt, niederzuschlagen. Alle lebendigen Geschöpfe, nicht nur die<br />

<strong>SIFAT</strong> 3 | <strong>2021</strong> – <strong>Nächstenliebe</strong> 13


Hazrat Inayat Khan: Die Kultivierung des Herzens<br />

Menschen, haben diese Veranlagung. Um sich dagegen zu schützen, graben sich<br />

viele intelligente Wesen der niederen Schöpfung Löcher in die Erde, um darin<br />

zu leben und sich vor Tieren, die ihnen nachstellen, zu verstecken. Kaum heben<br />

sie den Kopf aus ihrer Höhle, müssen sie sich in Acht nehmen, dass sie nicht die<br />

Beute hungriger Feinde werden. Da die Menschheit weiterentwickelt ist, schlägt<br />

der Mensch wohl nicht gleich das Wesen nieder, das sich neben ihm erhebt, aber<br />

fühlt sich doch beunruhigt bei dessen Anblick. Weil Sufis diese Veranlagung der<br />

menschlichen Natur verstehen und das Geheimnis des ganzen Lebens zu erkennen<br />

suchen, haben sie jenem Geist in seiner Essenz, der zu den Urgründen aller<br />

Dinge gehört, nachgespürt. Sie nennen ihn kabir oder kibria, das Ego oder egoistisch.<br />

Dieser Geist hat den Sufis gelehrt, dass jede Selbstüberschätzung nicht nur<br />

dem Menschen, sondern auch Gott missfällt. Die Haltung, die Sufis einnehmen,<br />

um diesen beunruhigten Geist nicht zu wecken, nennen sie inkisar, was Selbstlosigkeit<br />

bedeutet.<br />

In der Theorie scheint dies leicht zu sein, doch es in die Tat umzusetzen, ist<br />

eine große Kunst. Es ist eine Kunst, die ein sorgfältiges Studium der menschlichen<br />

Natur benötigt und genaue Beobachtung und ständige Übung erfordert.<br />

Sie lehrt, vorsichtig zu sein bei allem Reden und Tun, um die Gefühle anderer<br />

möglichst nicht zu verletzen. Inkisar lehrt den Menschen die Empfindlichkeit<br />

der Mitmenschen zu erkennen und Einfühlsamkeit zu üben.<br />

Dieser Sinn wird immer lebendiger, je weiter er sich entwickelt. Deshalb wird<br />

der Mensch immer mehr Fehler in seinem eigenen Leben entdecken, je weiter<br />

er auf diesem Pfad voranschreitet. Diese Haltung wird so verfeinert, dass<br />

man nicht nur dadurch einen Fehler begeht, Stolz oder Anmaßung zu zeigen,<br />

sondern sogar, indem man Bescheidenheit und Demut zum Ausdruck bringt.<br />

Inkisar erfordert ein außerordentliches Feingefühl. Man muss fähig werden, bei<br />

jeder Handlung oder bei jedem gesprochenen Wort das Licht oder den Schatten<br />

zu sehen, die sie verursachen. Hat ein Mensch diese Kunst erlernt, so meistert<br />

er dieselbe Kunst, die Christus den Fischern mit den Worten verhieß: „Kommt<br />

her zu mir, ich will euch zu Menschenfischern machen.”<br />

Sufis legen größeren Wert auf dieses Verhalten als Yogis, denn der Weg des<br />

Yogi ist Askese, der des Sufi jedoch die Entwicklung wahrer Menschlichkeit<br />

im eigenen Wesen. Aus prophetischer Sicht ist inkisar etwas Größeres als das<br />

sogenannte Gutsein. Es ist der einzige Weg, Gott wohl zu gefallen. Ein guter<br />

Mensch, der stolz ist auf sein Gutsein, verwandelt seine Perlen in Kieselsteine.<br />

Ein schlechter Mensch, geplagt von Gewissensbissen über begangene Fehler,<br />

kann Edelsteine aus seinen Kieseln machen.<br />

Selbstlosigkeit ist nicht nur den Menschen, sondern auch Gott wohlgefällig.<br />

14 <strong>SIFAT</strong> 3 | <strong>2021</strong> – <strong>Nächstenliebe</strong>


Pir Zia Inayat-Khan: Über Almosen<br />

Es gibt keinen Augenblick im Leben, in dem Gott nicht um seine Worte und<br />

Taten weiß. Doch über die Worte und Taten hinaus kennt Gott auch die Haltung<br />

eines Menschen, die er oft in seinen Worten und Taten verbirgt. Nichts<br />

ist vor Gott verborgen, der ein vollkommener Richter und Verzeiher ist. Von<br />

Seinem Wohlgefallen oder Missfallen hängt Glück oder Unglück im Leben des<br />

Menschen ab. Darum hat der Mensch nicht nur die Aufgabe, auf das Wohlgefallen<br />

oder Missfallen seiner Mitmenschen zu achten, sondern auch darauf, was<br />

Gott wohlgefällt oder missfällt. Ihm, dem alle Schönheit, aller Reichtum, alle<br />

Herrlichkeit und alle Größe zu eigen ist, kann der Mensch nichts darbringen,<br />

was von irgendwelchem Wert wäre, es sei denn seine Selbstlosigkeit.<br />

Man kann sich das Leben als ein Haus vorstellen, in dem es mehrere Türen<br />

gibt, durch die der Mensch hindurch gehen muss, wenn er in diesem Gebäude<br />

herumgeht. Der Rahmen einer jeden Tür ist kleiner als des Menschen Gestalt.<br />

Da es in der Natur des Menschen liegt, aufgerichtet zu gehen, stößt er bei jedem<br />

Versuch sich aufzurichten, mit dem Kopf gegen den Türrahmen. Nur dadurch<br />

kann er sich hiervor bewahren, dass er sich bückt. Diese logische Lehre machen<br />

sich die Weisen zunutze und verwandeln sie zu guter Lebensart.<br />

aus: Hazrat Inayat Khan, „Weisheit der Sufis – Die Gathas“,<br />

Verlag Heilbronn 2016, Auszug aus III Teil V<br />

Pir Zia Inayat-Khan<br />

Über Almosen<br />

Fils du roi Gahmuret, alles in der Welt gehört dem Einen, dem die ganze Welt<br />

gehört. Nichts ist deines oder meines. Wenn Besitztümer von einem zum<br />

andern gehen, ändert sich in Wirklichkeit nichts. Wir betreten die Welt am<br />

Anfang mit leeren Händen und verlassen sie am Ende mit leeren Händen. […]<br />

Sobald wir über unsere Wünsche hinausschauen, beginnen wir, die Bedürfnisse<br />

anderer zu sehen. Besitz erscheint dann nicht mehr so erstrebenswert. Man<br />

ist weniger darauf aus, die Dinge der Welt zu erwerben, sondern neigt eher<br />

dazu, sie wegzugeben. Je mehr man gibt, desto freier fühlt man sich. Der Geber<br />

empfängt ebenso viel wie der Empfänger, denn das Almosenspenden erleichtert<br />

die Seele. Münzen sind aus Metall, und Metall ist die schwerste Substanz auf<br />

der Erde. Wenn Münzen in großen Haufen angesammelt werden, fühlt sich die<br />

Seele darunter begraben wie unter einem Erdrutsch. Sie kann erst wieder atmen,<br />

<strong>SIFAT</strong> 3 | <strong>2021</strong> – <strong>Nächstenliebe</strong> 15


Impressum | Mitteilungen vom Verlag Heilbronn<br />

Impressum<br />

<strong>SIFAT</strong> – Zeitschrift für Universalen Sufismus<br />

ISSN 1420-1712<br />

Gegründet 1972 von Karima Sen Gupta, von 1997 - 2016 von Marita Ischtar Dvořák und<br />

Wolfgang Huraksh Meuthen herausgegeben<br />

Herausgeber und Redaktion:<br />

Hans-Peter Baum hpbaum@nord-com.net 0049-(0)421 353528<br />

Michael Nüssen michaelnuessen@t-online.de 0049-(0)40 357 33 006 (V. i. S. d. P.)<br />

Claudia Nüssen claudianuessen@t-online.de 0049-(0)40 215439<br />

Regina Armaiti Winkler-Reber rwinklerreber@posteo.de 0049(0)731-7187642<br />

<strong>SIFAT</strong><br />

Preise ab 2020:<br />

erscheint in der Regel dreimal jährlich zum Selbstkostenpreis<br />

€ 18,00 pro Jahr für 3 <strong>Heft</strong>e inkl. Versand – Abonnement<br />

Geschenk-Abonnement – € 18,00 für 3 <strong>Heft</strong>e (1 Jahr)<br />

€ 23,70 pro Jahr für 3 <strong>Heft</strong>e als Printausgabe und als eBook<br />

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Abbestellungen zum Ende des bezahlten ABOs sind jederzeit möglich<br />

Folgende <strong>SIFAT</strong>-<strong>Heft</strong>e sind noch lieferbar:<br />

<strong>Heft</strong> 2 / <strong>2021</strong> – Heilung<br />

<strong>Heft</strong> 1 / <strong>2021</strong> – Klangbrücken<br />

<strong>Heft</strong> 3 / 2020 – Kraftquellen<br />

<strong>Heft</strong> 2 / 2020 – AUFeinander achten<br />

<strong>Heft</strong> 1 / 2020 – Die Erde lieben<br />

<strong>Heft</strong> 3 / 2019 – Religion und Wissenschaft II<br />

<strong>Heft</strong> 2 / 2019 – Religion und Wissenschaft<br />

<strong>Heft</strong> 1 / 2019 – Glaube und Zweifel<br />

<strong>Heft</strong> 3 / 2018 – Mutige Frauen – Gelebte Spiritualität<br />

<strong>Heft</strong> 2 / 2018 – Sonderheft: Noor-un-Nisa Inayat Khan<br />

<strong>Heft</strong> 1 / 2018 – Sehnsucht der Seele<br />

<strong>Heft</strong> 3 / 2017 – Geschwisterlichkeit<br />

<strong>Heft</strong> 2 / 2017 – Gerechtigkeit<br />

<strong>Heft</strong> 1 / 2017 – Opfer und Opfern<br />

<strong>Heft</strong> 2 / 2016 – Religion und Liebe<br />

<strong>Heft</strong> 1 / 2016 – Ein menschenfreundlicher Islam<br />

<strong>Heft</strong> 3 / 2015 – Grenzen überwinden<br />

62 <strong>SIFAT</strong> 3 | <strong>2021</strong> – <strong>Nächstenliebe</strong>


Auszeichnung des Freistaates Bayern <strong>2021</strong><br />

Auszeichnung des Freistaates Bayern <strong>2021</strong><br />

Der Verlag Heilbronn wurde <strong>2021</strong> für sein herausragendes<br />

Programm und das vielversprechende Publikationsvorhaben<br />

Dream Flowers von Noor Inayat Khan ausgezeichnet.<br />

Stellungnahme der Jury:<br />

„Der Verlag Heilbronn, ansässig in Polling, wurde 1981 gegründet – mit einem<br />

ganz besonderen Verlagsprofil: Es geht stets um Yoga, Spiritualität, interreligiöse<br />

Themen und indische Mystik für Menschen, die sich auf den inneren Weg<br />

machen. Das erfolgt beinahe ausschließlich über Schriften von und über Hazrat<br />

Inayat Khan, eines indischen Religionslehrers und Gründers des internationalen<br />

Sufi-Ordens, sowie mit Werken über den Sufismus. Im Gegensatz zu vielen<br />

anderen Hochglanz-Publikationen, die Yoga, Ayurveda und Co. tendenziell<br />

als Lifestyle-Thema behandeln, geht es hier stets um Tiefe und Verständnis für<br />

inneren Weg, um Kontemplation, etwa im Buch „Ritterschaft des Herzens. 40<br />

Regeln für ein aufrechtes Leben“, ein spirituelles Regelwerk der Sufis.<br />

Dazu gehört auch die dreizehnbändige Jubiläumsausgabe zum Werk Hazrat<br />

Inayat Khans. Darüber mag man inhaltlich diskutieren und einen anderen Blick<br />

auf die Welt bevorzugen – doch der Verlag ist in seiner Ausrichtung konsequent<br />

und einzigartig. Die Jury honoriert hier das Engagement und die Arbeit für ein<br />

echtes Nischenthema."<br />

Dream Flowers – Gesammelte Werke von Noor Inayat Khan<br />

„Dream Flowers“ versammelt 75 Jahre nach ihrem Tod das Gesamtwerk der im<br />

Alter von 30 Jahren im Konzentrationslager Dachau ermordeten Schriftstellerin,<br />

Kinderbuchautorin, spirituellen Lehrerin und Resistance-Kämpferin Noor<br />

Inayat Khan, davon weite Teile erstmals in deutscher Sprache.<br />

Im Einzelnen werden ihr einziges zu Lebzeiten veröffentlichtes<br />

Werk „Jataka Märchen“, die dramatische Odyssee<br />

„Aède“, sowie die Märchensammlung aus verschiedenen<br />

Kulturen in Ost und West „König Akbar und seine<br />

Tochter“ und Gedichte und Essays veröffentlicht, versehen<br />

mit einer biografischen und spirituellen Würdigung<br />

und Einordnung durch ihren Neffen, den Religionswissenschaftler<br />

Dr. Zia Inayat-Khan.<br />

Die deutsche Ausgabe ist für Ende 2022 geplant - der<br />

Titel und das Cover stehen noch nicht fest.<br />

<strong>SIFAT</strong> 3 | <strong>2021</strong> – <strong>Nächstenliebe</strong> 63


Buddha des Mitgefühls: Avalokiteshvara<br />

In den Schriften ist überliefert, dass Avalokiteshvara in seinem<br />

Vorleben allein in Indien 37-mal aufgetreten ist, z. B. als<br />

„Derjenige, der bei anderen das Heilsame anwachsen lässt“.<br />

Das bekannteste Mantra in der Avalokiteshvara-Praxis ist das<br />

OM MANI PADME HUM.<br />

OM ist zusammengesetzt aus A, U und M und repräsentiert<br />

Körper, Rede und Geist des Buddha, die damit angerufen<br />

werden.<br />

MANI symbolisiert den Pfad der Methode. Wenn man den<br />

gesamten buddhistischen Pfad einteilt, gibt es den Pfad der<br />

Methode und den Pfad der Weisheit, die man zusammen entwickeln<br />

muss. MANI heißt so viel wie Diamant, man kann<br />

es sich wie eine Art wunscherfüllendes Juwel vorstellen. Dies<br />

repräsentiert den sogenannten weiten Pfad, welcher Tugenden<br />

wie Mitgefühl und den Erleuchtungsgeist beinhaltet. Dieser<br />

Pfad ist eine Art wunscherfüllendes Juwel für die Lebewesen.<br />

PADME heißt Lotus und steht für den Weisheitsaspekt des<br />

Pfades. Dieser besteht hauptsächlich in der Erkenntnis der<br />

endgültigen Realität, der Leerheit. HUM bedeutet, dass etwas<br />

ungetrennt ist und weist auf die Vereinigung von MANI und<br />

PADME, Weisheit und Methode hin, denn diese beiden sollten<br />

niemals getrennt voneinander praktiziert werden.<br />

nach: „Tibet und Buddhismus“, <strong>Heft</strong> 47, 1998

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