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Das Argument B83 - Berliner Institut für kritische Theorie eV

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DAS ARGUMENT<br />

Zeitschrift <strong>für</strong> Philosophie und Sozialwissenschaften<br />

Herausgegeben von Frigga Haug und Wolfgang Fritz Haug<br />

Ständige Mitarbeiter: Wolfgang Abendroth (Frankfurt/M.), Heinz-Harald Abholz (Berlin/W),<br />

Detlev Albers (Bremen), Günther Anders (Wien), Frank Deppe (Marburg),<br />

Hans-Ulrich Deppe (Frankfurt/M.), Bruno Frei (Wien), Klaus Fritzsche (Gießen), Werner<br />

Goldschmidt (Hamburg), Helmut Gollwitzer (Berlin/W), Heiko Haumann (Freiburg),<br />

Dieter Herms (Bremen), Klaus Holzkamp (Berlin/W), Urs Jaeggi (Berlin/ W),<br />

Baber Johansen (Berlin/W), Arno Klönne (Paderborn), Thomas Metscher (Bremen),<br />

Reinhard Opitz (Köln), Wolfgang Pfaffenberger (Oldenburg), Helmut Ridder (Gießen),<br />

Dorothee Solle (Hamburg), Karl Hermann Tjaden (Kassel), Erich Wulff (Hannover)<br />

Redaktion: Dr. Dieter Borgers, Wieland Elfferding, Dr. Karl-Heinz Götze, Sibylle Haberditzl,<br />

Dr. Frigga Haug, Prof. Dr. W.F. Haug, Thomas Laugstien, Rolf Nemitz, Nora<br />

Räthzel, Dr. Werner van Treeck<br />

Autonome Frauenredaktion: Sünne Andresen, Ursula Blankenburg, Anke Bünz-Elfferding,<br />

Dagmar Burgdorf, Claudia Gdaniec, Dr. Frigga Haug, Kornelia Hauser, Birgit<br />

Jansen, Ursula Lang, Hannelore May, Dr. Barbara Nemitz, Erika Niehoff, Sigrid Pohl,<br />

Renate Prinz, Nora Räthzel, Dr. Brita Rang, Petra Sauerwald, Christine Thomas, Dr.<br />

Silke Wenk, Heike Wilke<br />

Redaktion und Verlag: Altensteinstraße 48a, 1 Berlin 33, Tel. 0 3 0 / 8 314079<br />

Anzeigen (o.Tausch): Runze/Casper, Jungfernstieg 20,1 Berlin 45,Tel. 030/7722443<br />

<strong>Argument</strong>-Vertrieb: Tegeler Str. 6, 1 Berlin 65, Tel. 030/461 9061<br />

DAS ARGUMENT — BEIHEFT 83: Rezensionen<br />

Redaktion: Thomas Laugstien und Renate Prinz<br />

Schreibsatz: Christa Metz, Berlin. Druck: alfa-Druck, Göttingen<br />

© <strong>Argument</strong>-Verlag GmbH Berlin 1983<br />

1.-2. Tausend 1983<br />

ISSN 0722-964X<br />

ISBN 3-88619-037-4<br />

<strong>Das</strong> A r g u m e n t erscheint 1983 in 6 H e f t e n (alle 2 Monate). J a h r e s u m f a n g 924 Seiten. — Einzelheft 12,-<br />

DM; Stud., Schüler, Erwerbslose 9,- D M . Jahresabo inkl. Versand 63,80 DM; Stud. etc. 50,- DM. — Kündigung<br />

des A b o s nur z u m J a h r e s e n d e bei Einhaltung einer Dreimonatsfrist. — Die Redaktion bittet um<br />

Mitarbeit, haftet aber nicht <strong>für</strong> unverlangt e i n g e s a n d t e Texte und Rezensionsexemplare. Aufsätze sollen<br />

h ö c h s t e n s 20, Rezensionen 2 MS-Seiten (11/2zeilig mit Rand) haben. Zitierweise wie in den Naturwissenschaften.<br />

— Copyright © <strong>Argument</strong>-Verlag G m b H . Alle R e c h t e — a u c h das der Übersetzung —<br />

vorbehalten. — Konten: Postscheck Berlin West 5745-108. BfG 11 14 40 13 00, BLZ 100 101 11.


INHALT<br />

Margret Lüdemann: Getrennt zusammenschreiben 7<br />

SOZIALE BEWEGUNGEN UND POLITIK<br />

Frauen-Politik<br />

Leger, Daniele: Le Féminisme en France (F. Haug) 8<br />

Dunayevskaya, Raya: Rosa Luxemburg. Women's Liberations<br />

and Marx's Philosophy of Revolution (F. Haug) 9<br />

Féminisme et Marxisme (F. Haug) 11<br />

Krechel, Ursula: Selbsterfahrung und Fremdbestimmung<br />

(A. Grunewald) 13<br />

Neue soziale Bewegungen<br />

Hollstein, Walter: Die gespaltene Generation<br />

(K. Jacobs) 14<br />

Brand, Karl-Werner: Neue soziale Bewegungen (T. Faust) 1?<br />

Mehlich, Harald: Politischer Protest und Stabilität.<br />

(U. Schimank)<br />

Steigerwald, Robert: Protestbewegungen (G. Klinger)<br />

Dybowski, Hartmut u.a.: Nicht wehrlos - doch wohin?<br />

Gewerkschaften und neue soziale Bewegungen unter<br />

der CDU-Herrschaft (G. Klinger)<br />

Kofier, Leo: Zur Kritik der "Alternativen" (W. Neuhaus)<br />

Brandes, Volkhard und Bernhard Schön (Hrsg.): Wer sind<br />

die Instandbesetzer? (N. Steinborn)<br />

Butler, Hugo und Thomas Häberlin (Hrsg.): Die neuen<br />

Verweigerer (J. Frey)<br />

Frauen in der Friedensbewegung<br />

Beiträge zur feministischen <strong>Theorie</strong> und Praxis 8: "Gegen<br />

welchen Krieg - <strong>für</strong> welchen Frieden?" (B. Jansen) 30<br />

Schenk, Herrad: Frauen kommen ohne Waffen (Ch. Daesler-<br />

Lohmiiller) 33<br />

Brinker-Gabler, Gisela (Hrsg.): Frauen gegen den Krieg<br />

(Ch. Wickert) 34<br />

Brinker-Gabler, Gisela (Hrsg.): Kämpferin <strong>für</strong> den Frieden.<br />

Bertha von Suttner (Ch. Wickert) 34<br />

Sozialstaat und Bürgerinitiativen<br />

Matzner, Egon: Der Wohlfahrtsstaat von morgen<br />

(E. Standfest) 38<br />

Atteslander, Peter: Die Grenzen des Wohlstands - An der<br />

Schwelle zum Zuteilungsstaat (E. Standfest) 39<br />

Arzberger, Klaus: Bürger und Eliten in der Kommunalpolitik<br />

(F. Kröll) 41<br />

Grüber, Wolfram: Sozialer Wohnungsbau in der Bundesrepublik<br />

(K. Brake) 43<br />

Moltke, Konrad von und Nico Visser: Die Rolle der Umweltschutzverbände<br />

im politischen Entscheidungsprozeß<br />

der Niederlande (G. Bachmann) 44<br />

2 0<br />

2 2<br />

2 4<br />

2 6<br />

2 9<br />

DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83


Kämpfe von Frauen in Lateinamerika. Biographische Schilderungen<br />

Low, Angelika: "Was wird aus uns, wenn keine sich wehrt?"<br />

Kolumbien: Die alltäglichen Kämpfe der Frauen (B. Ketelhut)<br />

46<br />

Poniatowska, Elena: Allem zum Trotz ... das Leben der<br />

Jesusa (A. Linck) 47<br />

Zago, Angela: Tagebuch einer Guerilla-Kämpferin (R.<br />

Schröder) 49<br />

Guadalupe Martinez, Ana: Die geheimen Kerker El Salvadors:<br />

<strong>Das</strong> Zeugnis der Comandante Guerillera (M.<br />

Braatz) 51<br />

PHILOSOPHIE<br />

Dialektik, Logik und Sozialwissenschaften<br />

Kimmerle, Heinz (Hrsg.): Dialektik heute (P. Körte) 53<br />

Elster, Jon: Logik und Gesellschaft. Widerspruche und mögliche<br />

Welten (W. Kunstmann) 55<br />

Kocyba, Hermann: Widerspruch und <strong>Theorie</strong>struktur. Zur Darstellungsmethode<br />

im Marxschen "Kapital" (H. Brühmann) 57<br />

Holz, Hans Heinz: Natur und Gehalt spekulativer Sätze<br />

(R. Konersmann und P. Körte) 60<br />

Holz, Hans^'Heinz (Hrsg.): Formbestimmtheiten von Sein<br />

und Denken. Aspekte einer dialektischen Logik bei<br />

Josef König (R. Konersmann und P. Körte) 60<br />

Börger, Egon u.a. (Hrsg.): Zur Philosophie der mathematischen<br />

Erkenntnis (M. Lönz) 63<br />

SPRACH- UND LITERATURWISSENSCHAFT<br />

Sprachgeschichte und Sprachsoziologie<br />

Moser, Hans, Hans Wellmann und Norbert R. Wolf: Geschichte<br />

der deutschen Sprache. Bd. 1: Althochdeutsch-Mittelhochdeutsch.<br />

Von Norbert R. Wolf (U. Seelbach) 64<br />

Sanders, Willy: Sachsensprache, Hansesprache, Plattdeutsch<br />

(K. Hackstette) 65<br />

Caudmont, Jean (Hrsg.): Sprachen in Kontakt. Langues<br />

en contact (P. Schlobinski) 67<br />

Schläpfer, Robert (Hrsg.): Die viersprachige Schweiz<br />

(B. Niederer) 67<br />

Soeffner, Hans-Georg (Hrsg.): Beiträge zu einer empirischen<br />

Sprachsoziologie (A. Honer und R. Hitzler) 69<br />

Sprachtheorie<br />

Coulmas, Florian: Über Schrift (P. Jaritz) 70<br />

Droescher, Hans-Michael: Grundlagenstudien zur Linguistik<br />

(Th. Kornbichler) 73<br />

DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83


Sprachliche Gestaltung von Mädchen- und Frauenliteratur<br />

Borsch, Sabine: Fremdsprachenstudium - Frauenstudium?<br />

(H. Decke-Cornill und C. Gdaniec) 74<br />

Gerhardt, Marlis: Kein bürgerlicher Stern, nichts, nichts<br />

konnte mich je beschwichtigen. Essays zur Kränkung der<br />

Frau (U. Blankenburg) 76<br />

Zahn, Susanne: Töchterleben. Studien zur Sozialgeschichte<br />

der Mädchenliteratur (G. Mattenklott) 78<br />

Alves, Eva-Maria (Hrsg.): Ansprüche. Verständigungstexte<br />

von Frauen (R. Decke-Cornill) 81<br />

Morgner, Irmtraud: Amanda. Ein Hexenroman (A. Nette) 83<br />

Literaturtheorie<br />

Brackert, Helmut und Jörn Stückrath (Hrsg.): Grundkurs<br />

Literaturwissenschaft (J. Schutte) 85<br />

Schmidt, Siegfried J.: Grundriß der empirischen Literaturwissenschaft<br />

(W. Faulstich) 87<br />

Masini, Ferrucio: II suono di una sola mano. Lemmi<br />

critici e metacritici (M. Hinz) 90<br />

Deutsche Literaturgeschichte<br />

Rosellini, Jay: Volker Braun (R. Mangel) 91<br />

Arnold, Heinz Ludwig (Hrsg.): Peter Weiß (E. Mindermann)<br />

93<br />

Hoffmann, Ludwig u.a.: Exil in der Tschechoslowakei,<br />

in Großbritannien, Skandinavien und Palästina<br />

(N. Kortz) 95<br />

Koebner, Thomas (Hrsg.): Weimars Ende. Prognosen und<br />

Diagnosen in der deutschen Literatur und politischen<br />

Publizistik 1930-1933 (C. Albert) 97<br />

Marcus-Tar, Judith: Thomas Mann und Georg Lukâcs<br />

(W. Jung) 99<br />

Wagner, Nike: Geist und Geschlecht. Karl Kraus und die<br />

Erotik der Wiener Moderne (H. Schmidt-Bergmann) 101<br />

Schorske, Carl E.: Wien. Geist und Gesellschaft im Fin<br />

de öiecle (H. Schmidt-Bergmann) 102<br />

Unseld, Joachim: Franz Kafka. Ein Schriftstellerleben<br />

(Th. Bremer) 103<br />

Anz, Thomas und Michael Stark (Hrsg.): Expressionismus.<br />

Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur<br />

1910-1920 (H. Schmidt-Bergmann) 105<br />

Becker, Peter von (Hrsg.): Georg Büchner, Dantons Tod.<br />

Die Trauerarbeit im Schönen (Th. Kornbichler) 106<br />

Brenner, Peter J.: Die Krise der Selbstbehauptung. Subj'ekt<br />

und Wirklichkeit im Roman der Aufklärung<br />

(M. Schneider) 108<br />

Klotz, Günther, Winfried Schröder und Peter Weber<br />

(Hrsg.): Literatur im Epochenumbruch. Funktionen<br />

europäischer Literaturen im 18. und beginnenden<br />

19. Jahrhundert (H. Peitsch) 110<br />

DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83


SOZIOLOGIE<br />

Familiensoziologie<br />

Wahl, Klaus, Michael-Sebastian Honig und Lerke Gravenhorst:<br />

Wissenschaftlichkeit und Interessen. Zur Herstellung<br />

subjektivitätsorientierter Sozialforschung<br />

(U.-H. Brockner) 113<br />

Wahl, Klaus u.a.: Familien sind anders! (U.-H.<br />

Brockner) 113<br />

Arbeitsgruppe Elternarbeit/Arbeitsgruppe Frühkindliche<br />

Sozialisation: Orientierungsmaterialien<br />

<strong>für</strong> die Elternarbeit - Elternarbeit mit sozial<br />

benachteiligten Familien (U.-H. Brockner) 113<br />

Bösel, Monika: Lebenswelt Familie (M. Herzer) 115<br />

Kritische <strong>Theorie</strong><br />

Wilson, Michael: <strong>Das</strong> <strong>Institut</strong> <strong>für</strong> Sozialforschung und<br />

seine Faschismusanalysen (K. Willen)<br />

Hansen, Klaus (Hrsg.): Frankfurter Schule und Liberalismus.<br />

Beiträge zum Dialog zwischen <strong>kritische</strong>r Gë<br />

sellschaftstheorie und politischem Liberalismus<br />

(H.-G. Jaschke)<br />

Frankreich<br />

Schmidt, B. u.a.: Frankreich-Lexikon (W. Kowalsky)<br />

Der Frankreich-Brockhaus (W. Kowalsky)<br />

Debray, Régis: "Voltaire verhaftet man nicht." Die<br />

Intellektuellen und die Macht in Frankreich<br />

(J. Tuguntke)<br />

ERZIEHUNGSWISSENSCHAFT<br />

117<br />

119<br />

120<br />

120<br />

Sexualerziehung<br />

Amendt, Günter: <strong>Das</strong> Sexbuch (U. Lang und E. Niehoff) 123<br />

Cousins, Jane: Make it Happy (U. Lang und E. Niehoff) 123<br />

Jaeggi, Eva: Auch Fummeln muß mein lernen (U. Lang und<br />

E. Niehoff) 123<br />

Kentier, Helmut: Eltern lernen Sexualerziehung (U. Lang<br />

und E. Niehoff) 124<br />

Kunstmann, Antje: Mädchen. Sexualaufklärung emanzipatorisch<br />

(U. Lang und E. Niehoff) 124<br />

Fehrmann, Helma, Jürgen Flügge und Holger Franke: Was<br />

heißt hier Liebe? Ein Spiel um Liebe und Sexualität<br />

<strong>für</strong> Leute in und nach der Pubertät (F. Haug) 131<br />

DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83<br />

122


MEDIZIN<br />

Frau und Gesundheit<br />

Pinding, Maria und Herrmann Fischer-Harriehausen: Hauskrankenpflege<br />

in zwei <strong>Berliner</strong> Bezirken. Eine Untersuchung<br />

zum Praxisfeld ambulanter Versorgung<br />

(U. Czock) 132<br />

Maschewsky, Werner und Ulrike Schneider: Soziale Ursachen<br />

des Herzinfarktes (S. Bartholomeyczik) 134<br />

Asmus, Gesine (Hrsg.): Hinterhof, Keller und Manssarde.<br />

Einblicke in <strong>Berliner</strong> Wohnungselend 1901-<br />

1920 (Ch. Leibing) 136<br />

Amendt,Gerhard: Die Gynäkologen (M. Ciaren) 138<br />

Nohke, Anke und Karl Oeker: Der Schwangerschaftsabbruch.<br />

Gründe, Legitimationen, Alternativen<br />

(M. Maurer) 141<br />

Palazzoli, Mara Selvini: Magersucht (B. Jansen) 141<br />

GESCHICHTE<br />

Arbeiterbewegung und Arbeiterkultur<br />

Achten, Udo und Siegfried Krupke (Hrsg.): An Alle!<br />

Lesen! Weitergeben! Flugblätter der Arbeiterbewegung<br />

von 1848 bis 1933 (S. Andresen) 144<br />

van der Will, Wilfried und Rob Burns: Arbeiterkulturbewegung<br />

in der Weimarer Republik (C. Albert<br />

und U. Hornauer) 146<br />

Kaiser, Jochen-Christoph: Arbeiterbewegung und organisierte<br />

Religionskritik (R. Möllers und J.v.<br />

Soosten) 149<br />

Henkel, Martin und Rolf Taubert: Maschinenstürmer.<br />

Ein Kapitel aus der Sozialgeschichte des technischen<br />

Fortschritts (H. Wunderer) 1 5 1<br />

Faschismus und Widerstand<br />

Hübner, Irene: Unser Widerstand. Deutsche Frauen und<br />

Männer berichten über ihren Kampf gegen die Nazis<br />

(F. Kröll) 153<br />

Adolph, Walter : Geheime Aufzeichnungen aus dem nationalsozialistischen<br />

Kirchenkampf 1935-1943 (K.<br />

Drobisch) 156<br />

Peukert, Detlev: Die Edelweißpiraten. Protestbewegungen<br />

jugendlicher Arbeiter im Dritten Reich (A.<br />

Klönne) 157<br />

Sozialistische Erziehung contra Nazi-Verführung<br />

(U. Rauber) 159<br />

Naumann, Uwe (Hrsg.): Lidice - ein böhmisches Dorf<br />

(S. Zielinski) 160<br />

DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83


Frauen suchen ihre Geschichte<br />

Honegger, Claudia und Bettina Heintz (Hrsg.): Listen<br />

der Ohnmacht. Zur Sozialgeschichte weiblicher Widerstandsformen<br />

(S. Petersen) 162<br />

Hausen, Karin (Hrsg.): Frauen suchen ihre Geschichte<br />

(K. Hauser) 166<br />

Borneman, Ernest (Hrsg.): Arbeiterbewegung und Feminismus,<br />

Bericht aus vierzehn Ländern (M. Wolfrum) 168<br />

Warner, Marina: Maria - Geburt, Triumph, Niedergang;<br />

Rückkehr eines Mythos? (H.-J. Koch) 169<br />

ÖKONOMIE<br />

Hausarbeit - Lohnarbeit<br />

Kittler, Gertraude: Hausarbeit. Zur Geschichte einer<br />

"Natur-Ressource" (H. May) 172<br />

Meyer, Sibylle: <strong>Das</strong> Theater mit der Hausarbeit (G.<br />

Heinrich) 174<br />

Pust, Carola, Petra Reichert, Anne Wenzel u.a.: Frauen<br />

in der BRD. Beruf, Familie, Gewerkschaften, Frauenbewegung<br />

(S. Pohl) 176<br />

Eckert, Roland (Hrsg.): Geschlechtsrollen und Arbeitsteilung.<br />

Mann und Frau in soziologischer Sicht<br />

(G. Hartwieg) 178<br />

Beck-Gernsheim, Elisabeth: Der geschlechtsspezifische<br />

Arbeitsmarkt. Zur Ideologie und Realität von Frauenberufen<br />

(G. Hartwieg) 180<br />

Yohalem, Alice M. (Hrsg.): Die Rückkehr von Frauen in<br />

den Beruf. Maßnahmen und Entwicklungen in fünf Ländern<br />

(S. Pohl) 182<br />

Kurbjuhn, Maria und Carola Pust: Emanzipation durch<br />

Lohnarbeit? Eine Untersuchung über Frauenarbeit im<br />

öffentlichen Dienst (G. Hartwieg) 183<br />

Thomas, Carmen (Hrsg.): Die Hausfrauengruppe oder Wie<br />

elf Frauen sich selbst helfen (H. May) 185<br />

Zur Werttheorie bei Marx<br />

Lippi, Marco: Value and Naturalism in Marx<br />

(H. Ganßmann) 187<br />

Steedman, Ian u.a.: The Value Controversy<br />

(H. Ganßmann) 187<br />

Preisverzeichnis der rezensierten Bücher 191<br />

DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83


Margret LUdemann 7<br />

Getrennt zusammenschreiben<br />

Ganz persönlich kommt es meiner Lust entgegen, Rezensionen<br />

zu lesen - auch die <strong>Argument</strong>-Hefte lese ich von hinten<br />

nach vorne. Dieser Atem würde nicht <strong>für</strong> ein ganzes Buch<br />

reichen, deshalb nutze ich es zugleich als 'Nachschlagewerk':<br />

erschließe mir ein Stück fremder Arbeitsgebiete,<br />

verschaffe mir ein Bild der unterschiedlichen Diskussionsstränge.<br />

<strong>Das</strong> finde ich <strong>für</strong> uns Frauen besonders nützlich,<br />

wir haben große Defizite, was die wissenschaftliche Tradition<br />

eingeht und müssen uns rasch auf den Stand bringen, wo<strong>für</strong><br />

die Rezensionen ein gutes Kommunikationsmittel sind.<br />

Mir fiel im letzten Beiheft eine Neuerung auf, die Tradition<br />

werden sollte, ein Einbruch der ein Aufbruch sein<br />

kann: daß Männer und Frauen getrennt-zusammenschreiben. Ich<br />

stieß auf reine Frauenteile unter dem Dach eines gemeinsamen<br />

Oberthemas - Politik oder Literatur, soziale Bewegungen<br />

und Ökonomie. Im Gegensatz zu der resignativen Reaktion einer<br />

Leserin, die hier in einer traditionell männlichen<br />

Zeitschrift jetzt die Frauen "hintangeklatscht" sah, denke<br />

ich mehr an eine produktive Konfrontation: <strong>Das</strong> muß doch die<br />

Rezensionen der Männer wie die der Frauen verändern, da muß<br />

das Geschlechterverhältnis noch einmal deutlich werden in<br />

Verhältnis zu einem Dritten, den besprochenen Büchern. Im<br />

Beiheft '82 können die Leser mitverfolgen, in welche Bereiche<br />

sich die Frauen mit ihren Fragen einmischen. Deutlich<br />

wird in der Kollision mit männlichen Rezensionen, daß die<br />

Frauen nicht schon aufgehoben sind mit ihren spezifischen<br />

Problemen, weder in der Forschung und ihren theoretischen<br />

Zugriffen noch in einer linken Diskussionskultur. Sie müssen<br />

sich im Sinn des Wortes erst 'einschreiben' in die kritisch-verändernde<br />

Tradition marxistischer <strong>Theorie</strong> und tun<br />

dies im Verhältnis zu den den Männern eher subjekthaft. Sie<br />

schreiben mit Standpunkt und Interesse, man kann 'spüren',<br />

daß sie etwas wollen. Frauen erlauben sich eher keine Vernichtungen<br />

der Bücher, sie versuchen das Wenige brauchen zu<br />

können, und sei es durch den produktiven Einbau des neu Gewußten.<br />

Aber diese zweigeschlechtliche Anordnung konfrontiert<br />

auch die Rezensionen der Frauen mit nützlichen Wissenschaftskriterien.<br />

Am Anfang stehend, haben Frauen nicht<br />

den riesigen Überblick, arbeiten eher pünktchenförmig, und<br />

indem sie stärker auf praktische Übersetzung hin schreiben,<br />

zeigen sie weniger theoretische Zusammenhänge auf. Ein Stück<br />

der Not, uns historisch vorenthaltenes Wissen anzueignen,<br />

lösen wir durch Rezensionskollektive. Man merkt den Besprechungen<br />

die Diskussionsprozesse an, sie sind 'gemeinschaftlicher'<br />

: Die Frauen durchbrechen in ihrer Kultur die 'Einsamkeit'<br />

der Wissenschaftler und stellen diese als Struktur<br />

infrage.<br />

DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83


8<br />

SOZIALE BEWEGUNGEN UND POLITIK<br />

Frauen-Politik<br />

Leger, Daniêle: Le Féminisme en France. Editions Le Sycomore,<br />

Paris 1982 (126 S., br.)<br />

<strong>Das</strong> Buch beginnt mit der Beschreibung einer Aktion, die<br />

den Feminismus oder besser die feministische Frauenbewegung<br />

in Frankreich einleitete: Eine kleine Gruppe von Frauen<br />

legte im August 1970 vor dem Triumphbogen einen Kranz<br />

nieder <strong>für</strong> die Frau des unbekannten Soldaten. Die Presse<br />

war am nächsten Tag voll davon und half, die neue Bewegung<br />

aus der Taufe zu heben, ebenso wie sie jetzt durch Verschweigen<br />

ihren Niedergang mitbetreibt.<br />

Ähnlich wie diese Eingangsszene beschreibt die Autorin<br />

mit distanzierter Freundlichkeit die Stationen der Bewegung,<br />

ihre theoretischen Debatten, die von ihren Praxen<br />

kaum zu trennen sind: über Selbsterfahrungsgruppen und Gewalt,<br />

über Körper und Alltag, über Sprache und Sexualität;<br />

über den Kampf gegen den Abtreibungsparagraphen und die<br />

Frage der Organisation, die gegen die der Spontaneität<br />

stand und also <strong>für</strong> eine andere Art, Politik zu machen. -<br />

In einem zweiten Teil geht es um die Frage der Gleichheit<br />

im Unterschied zu der einer eigenen Identität. Auch hier<br />

führt sie die bekannten Positionen vor und ergänzt sie<br />

durch einen Streifzug durch die Geschichte im allgemeinen<br />

wie die der Arbeiterbewegung und ihrer an Personen festzumachenden<br />

(etwa Proudhon und seiri Antifeminismus) wechselnden<br />

Positionen zur Frauenfrage. Es folgt ein ausführlicher<br />

Teil zum Verhältnis von Marxismus und Frauenfrage. Hier<br />

führt Leger die bekannten Zitate aus der deutschen Ideologie,<br />

Ursprung der Familie, Kapital usw. vor, um die Orientierung,<br />

die wir aus Marx'/Engels' Schriften <strong>für</strong> die Frauenfrage<br />

entnehmen können, zu verdeutlichen. Sie arbeitet<br />

heraus, daß zumindest Marx etwa die Prostitution als vollendete<br />

Warenbeziehung und also als gleichartig wie die<br />

Lohnarbeit begriff. Zugleich zeigt sie, daß die Erwerbsarbeit<br />

als Vorbedingung <strong>für</strong> die Emanzipation der Frau bei<br />

Marx und Engels angedeutet ist und bei Lenin sogar die Abschaffung<br />

der Haushalte auf der Tagesordnung stand. Alle<br />

drei aber dachten einen Zusammenhang zwischen Frauenunterdrückung,<br />

Familienform und kapitalistischer Gesellschaftsformation.<br />

Diesen Zusammenhang zugunsten einer reinen Propagierung<br />

der Berufstätigkeit aufgelöst zu haben, beschuldigt<br />

sie die KPF (Komm. Partei Frankreichs). Sie führt einige<br />

Sätze aus dem Frauenprogramm vor, die angesichts der<br />

Verhältnisse in der Tat merkwürdig klingen. Ohne Rücksicht<br />

auf die Familienform, ja sogar die Gesellschaftsform scheint<br />

die KPF demnach ihre Arbeit <strong>für</strong> die Frauen darin zu erschöpfen,<br />

ihnen Erleichterungen <strong>für</strong> den Haushalt verschaffen<br />

zu wollen, damit sie ihre Mutterpflichten mit der<br />

DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83


Frauen-Po litik 9<br />

"Selbstverwirklichung im Beruf" vereinbaren können. Weder<br />

die Familienrollen von Mann und Frau werden in Frage gestellt<br />

noch die Familie selbst als ein Fundament der kapitalistischen<br />

Gesellschaft. Die Unterdrückung der Frau in<br />

•der Familie erscheint als eine Art "ideologischer Rest".<br />

"... Die Frau ist Partnerin, die soviel gibt, wie sie erhält.<br />

Es existiert ein bereichernder Austausch <strong>für</strong> den einen<br />

so gut wie <strong>für</strong> den anderen." (Aus: Die Kommunisten und<br />

die Lage der Frauen, zit. n. Leger, 91). - Dagegen plädiert<br />

die Autorin am Ende da<strong>für</strong>, den Kampf gegen den Sexismus,<br />

den Bruch mit den bisherigen kulturellen Mustern mit dem<br />

Klassenkampf zu verbinden. Alle Formen der sozialen Unterdrückung<br />

zu bekämpfen und dem Problem, daß dabei die Frauen<br />

aus den oberen Schichten ihre ökonomischen, gesellschaftlichen<br />

und kulturellen Privilegien in Frage stellen müßten,<br />

politisch zu begegnen.<br />

Gemessen an anderen Büchern und Zeitschriftenartikeln,<br />

Debatten und Berichten aus dem marxistisch-feministischen<br />

Bereich geht dieses Buch am weitesten in die Richtung, den<br />

Frauenkampf unmittelbar mit dem Klassenkampf zu verbinden<br />

und Konsequenzen daraus zu ziehen, daß die einzelnen Frauen<br />

auch Klassen angehören. Daß dennoch eine so harte Kritik an<br />

der Behandlung der Frauenfrage durch die kommunistische<br />

Partei geübt wird, zeigt, wie wenig auch diese Partei an<br />

den Fragen gearbeitet hat, deren politische Dringlichkeit<br />

ihr spätestens die Existenz der Frauenbewegung hätte verdeutlichen<br />

können. Frigga Haug (Berlin/West)<br />

Dunayevskaya, Raya: Rosa Luxemburg, Women's Liberation, and<br />

Marx's Philosophy of Revolution. Humanities Press, New Jersey<br />

und Harvester Press, Sussex 1982 (234 S., br.)<br />

Die Autorin, Trotzkis Sekretärin in Mexico, möchte im<br />

wesentlichen eine andere Lesart der Marxschen <strong>Theorie</strong> der<br />

Revolution durchsetzen: die Idee der permanenten Revolution.<br />

Marx marxistisch als <strong>Theorie</strong> der Befreiung entdecken,<br />

dies sei auch das Werk Rosa Luxemburgs gewesen, deren Bedeutung<br />

von den derzeitigen Feministinnen bei weitem unterschätzt<br />

werde. Rosa L. feministisch beerben, das ist in der<br />

Tat ein Unterfangen, das neugierig macht, sind wir es doch<br />

gewohnt, sie zwar als wichtige Politikerin und auch Theoretikerin<br />

von Politik zu beurteilen, dies jedoch vielleicht<br />

gerade, weil sie sich um die Frauenfrage wenig kümmerte,<br />

sie sozusagen der Zeitgenossin Klara Zetkin überließ (Niggemann<br />

z.B. untersuchte die Interventionen dieser beiden<br />

Politikerinnen im Parlament und deren Themen und zählte bei<br />

Luxemburg keine einzige, die sich explizit auf Frauen bezog<br />

- vgl. dazu meine Rezension in <strong>Argument</strong> 129/1980). Dunayesskaya<br />

geht in ihrem Plädoyer einen anderen Weg: Sie<br />

untersucht Luxemburgs <strong>Theorie</strong> von Organisation und Revolution<br />

und deren Nutzen <strong>für</strong> feministische Politik und ihre<br />

Persönlichkeit als mögliches Ideal von Frauenbefreiung. Gerade<br />

daß Luxemburg sich einer - von der Parteiführung vor-<br />

DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83


10 Soziale Bewegungen und Politik<br />

gesehene Eingrenzung auf die Frauenfrage widersetzte und<br />

statt dessen nicht nur dort, sondern auch allgemein Grenzen<br />

sprengen wollte im Sprechen und Schreiben » daß sie schon<br />

mit 26 Jahren als leidenschaftliche Rednerin öffentlich<br />

auftrat, daß sie Uber einen politischen Dissens in der Organisationsfrage<br />

mit ihrem Gefährten brach und also unabhängig<br />

lebte und urteilte, scheint ihr Luxemburg als Modell<br />

<strong>für</strong> Frauenemanzipation geeignet zu machen. Die Geschichte,<br />

so sagt sie, beginnt mit originellen Persönlichkeiten (92).<br />

Dreimal in diesem Buch zitiert sie einen Satz L.s über<br />

Menschlichkeit, der ihre perspektivische Denk- und Seinsweise<br />

dokumentieren soll: "Sieh zu, daß Du menschlich bleiben<br />

kannst. Menschlich sein heißt, sein ganzes Leben mit<br />

Freude auf die Waagschale des Schicksals werfen, wenn es<br />

notwendig ist, die ganze Zeit aber jeden Sonnentag genießen<br />

und jede schöne Wolke. Ach, ich kenne keine Formel, in der<br />

ich Dir mitteilen könnte, was Menschlich-sein bedeute "<br />

(III, 77, 83). Sie weist die Interpretation üblicher Luxemburg-Biographen<br />

(etwa Nettl, London 1966) zurück, nach denen<br />

die Jahre nach der Trennung von ihrem Lebensgefährten<br />

Jogiches "verlorene Jahre" waren, und zeigt vielmehr auf,<br />

daß es eben diese Zeit war, in der ihre wichtigsten politischen<br />

Auseinandersetzungen stattfanden, sie ihre bedeutendsten<br />

Schriften verfaßte und zudem èinzige Lehrende in der<br />

Parteischule wurde.<br />

In der Revolutionstheorie sind es ebenso die Idee von<br />

der permanenten Revolution, vom beständigen kulturellen<br />

Neuaufbau, sowie die immer deutlichere Herausarbeitung der<br />

Spontaneität der Massen, auch der unorganisierten <strong>für</strong> die<br />

Revolution, die ihr <strong>für</strong> jede Frauenbefreiungspolitik notwendig<br />

scheinen. Als historischen Beleg führt sie die Frauenmassenauftritte<br />

im Laufe der verschiedenen Revolutionen<br />

an und die Anfänge der Frauenbefreiungsbewegung. Hier behauptet<br />

sie, daß die eigentliche Befreiung mit dem Jahre<br />

1831 sich zu artikulieren begann, als Maria Stewart, eine<br />

Schwarze, als erste Frau öffentlich sprach. Der Ausschluß<br />

aus der Politik, das verbindet die Rassenfrage und die<br />

Frauenfrage und je nach historischen Umständen die Frauen<br />

gegen die Männer.<br />

Gut und nachvollziehbar an D.s Ausführungen sind ihre<br />

Überlegungen zur Bedeutung einzelner Aktionen. Sie empfiehlt<br />

z.B., eine ökonomische Forderung oder auch die Forderungen<br />

nach einem Wahlrecht <strong>für</strong> Frauen nicht als solche zu diskutieren,<br />

sondern nach der Kraft, die dahintersteckt, und wie<br />

Luxemburg Verbindungslinien zu "Generalstreik und Revolution"<br />

zu schaffen. Der neuen feministischen Frauenbewegung<br />

empfiehlt sie, mehr von Luxemburg zu lernen, und merkt kritisch<br />

an, daß die neue Bewegung einen Fehler habe, in den<br />

Männern ihren Feind zu sehen. Sie empfiehlt den Feministinnen,<br />

Marx als Revolutionär zu studieren und da<strong>für</strong> insbesondere<br />

die ethnologischen Notizbücher heranzuziehen. Scharf<br />

zieht sie eine Trennungslinie zwischen Engels und Marx in<br />

DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83


Frauen-Po litik<br />

der Frauenfrage. Die Auffassung von der "weltweiten Niederlage<br />

des weiblichen Geschlechts" aus dem Übergang vom Matriarchat<br />

zum Patriarchat und die Inbeziehungsetzung zur<br />

"ersten Arbeitsteilung zwischen Mann und Frau" seien schon<br />

wegen ihrer Nähe zu biologistischen Auffassungen niemals<br />

Marx zuzurechnen (105). Selbst wenn Marx die erste Arbeitsteilung<br />

als geschlechtliche formuliere (Deutsche Ideologie,<br />

MEW 3), meine er diese sogleich als soziale und und bringe<br />

sie in Beziehung zu den großen Arbeitsteilungen zwischen<br />

Stadt und Land und Kopf und Hand, die er als roten Faden<br />

verfolge. In dieser Weise seien die zentralen Marxschen<br />

Überlegungen zur Frauenfrage in der vorgeschlagenen Analyse<br />

der Geschlechterverhältnisse, der Familienform und der Heiratsformen<br />

zu suchen. Während Engels eine vereinfachte lineare<br />

Betrachtung der Geschlechterbeziehungen verfolge und<br />

von daher die Abfolge Frauenherrschaft, Umsturz und Frauenunterdrückung<br />

denke, habe Marx die Elemente der Frauenunterdrückung<br />

in den primitiven Urgemeinschaften mit dem Beginn<br />

der ersten Führungsfunktionen und der ökonomischen Interessen,<br />

die daraus resultierten, herausgearbeitet.<br />

Am Ende empfiehlt sie <strong>für</strong> die gegenwärtigen Fragen der<br />

Frauenbefreiung, z.B. <strong>für</strong> die Frage der Organisation: das<br />

Problem der Dezentralisierung oder Zentralisierung, der Bürokratisierung<br />

und Stellvertretung, der Trennung von Führung<br />

und Geführten im Sinne R. Luxemburgs zu verfolgen. <strong>Das</strong><br />

heißt Revolution als zweistufigen Prozess zu sehen, nicht<br />

nur als Überwindung des Alten sondern auch als Aufbau von<br />

Neuem. Da<strong>für</strong> brauche es die vielfältige Bewegung aller, die<br />

persönliche Betroffenheit von Politik.<br />

Der dritte Teil des Buches (90 Seiten) ist der Versuch,<br />

die Marxsche Umarbeitung von Hegel zur <strong>Theorie</strong> einer permanenten<br />

Revolution ins Zentrum zu rücken, den Leninschen<br />

Einfluß auf den Marxismus umzukehren. Auch diese Abschnitte<br />

sind lesenswert,nicht zuletzt wegen ihrer Einbeziehung aktueller<br />

Probleme und vor allem Fragen der Dritten Welt und<br />

Chinas.<br />

Im Anhang gibt es eine lOseitige Biographie zu Luxemburg<br />

und zur Geschichte der Frauenbewegung, insbesondere zur<br />

Rolle der schwarzen Frauen bis heute und schließlich zu<br />

Marxinterpretationen, die den kulturellen und philosophischen<br />

Aspekt hervorheben. Frigga Haug (Bérlin/West)<br />

Feminisme et Marxisme. Journées "Elles voient rouge", 29.<br />

et 30. novembre 1980. Edition Tierce, Paris 1981 (152 S.,<br />

br.)<br />

<strong>Das</strong> Buch ist auf dreifache Weise bemerkenswert: Es berichtet<br />

von einer Tagung und dokumentiert ihre Beiträge,<br />

auf der Frauen aus der autonomen Frauenbewegung Frankreichs<br />

ebenso versammelt waren wie Frauen aus den Parteien und Gewerkschaften.<br />

<strong>Das</strong> Thema bezeichnet die Richtung, in der eine<br />

Lösung" <strong>für</strong> die künftige Frauenpolitik gesucht wird -<br />

noch in diesem Jahr soll eine revolutionäre feministische<br />

11<br />

DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83


12 Soziale Bewegungen und Politik<br />

Partei gegründet werden ; die Initiatorinnen der Tagung waren<br />

die Frauen um die Zeitschrift "Elles voient rouge", die<br />

ursprünglich von vier Frauen gegründet wurde, die aus der<br />

Kommunistischen Partei wegen ihrer orthodoxen Frauenpolitik<br />

ausgetreten waren. Heute gibt es in der Redaktion sowohl<br />

organisierte als auch nicht organisierte Frauen, die sich<br />

allesamt als Kommunistinnen bezeichnen. - <strong>Das</strong> Problem, das<br />

sie verband: wie können wir verhindern, daß die Frauenbewegung<br />

in die Bedeutungslosigkeit und Geschichtslosigkeit zurückfällt,<br />

ohne uns in den Kampf um die Macht im Staat einzulassen?<br />

Und weiter: Wie können wir an der Macht teilhaben,<br />

ohne unsere Stärke, Bewegung zu sein, die an der alltäglichen<br />

Erfahrung jeder einzelnen ansetzt und von daher<br />

einem dürren Delegationsprinzip widerstreitet, zu verlieren?<br />

Wie können wir also Politik im juridisch-öffentlichen<br />

Bereich verändern, ohne seine Strukturen zu bedienen? - Die<br />

Auffassungen waren nicht einhellig, die Diskussionsweise<br />

aber gekennzeichnet von einer wirklichen Suche nach einer<br />

Problemlösung, nicht nach Effekten und Profilierungen. Die<br />

konkretesten Vorstellungen waren die einer Partei anderen<br />

(nicht leninschen) Typs, organisiert wie die Frauenhäuser<br />

(mit Delegierten jeder Gruppe) und nicht als Ersatz, sondern<br />

als Interessenartikulation <strong>für</strong> die Bewegung, als Koordinatorin<br />

der in vielen Arbeitsgruppen oder projektförmig<br />

strukturierten Frauenbewegung.<br />

Die diskutierten Themen waren am ersten Tag die Strategien<br />

um die Hausarbeit. Hier neigen die Kommunistinnen um<br />

die Zeitschrift zumindest eher zu einer Position, die Hausarbeit<br />

als unproduktiv und nicht wertschaffend im Kapitalismus<br />

begreift, und von daher empfehlen sie, eine Strategie<br />

gegen den Ort, der sie notwendig macht - die Familienform<br />

-,und die dazugehörige Ideologie zu entwickeln. Christine<br />

Buci versuchte hier, zusätzlich das Problem des Staates<br />

als Organisatorin des Patriarchats hineinzubringen. Am<br />

zweiten Tag wurden die Organisationsprobleme, die Machtfrage,<br />

die Zukunft der Bewegung sowie die Fragen des Persönlichen<br />

und Politischen, der Komplizenschaft der Frauen und<br />

schließlich Fragen der Strategie um Homo- und Heterosexualität<br />

diskutiert. Unter dem Stichwort "Komplizenschaft"<br />

verstehen sie so etwas wie unsere "Opfer-Täter-Debatte".<br />

Auch hier wird um die psychologische Dimension einer angenommenen<br />

Komplizenschaft der Frauen bei ihrer Unterdrückung<br />

und damit bei der Aufrechterhaltung des Systems gestritten,<br />

um Schuld und Verantwortung und wieder um die Macht. Bei<br />

dieser Debatte, die offenbar auch in Frankreich Tradition<br />

hat, sind die Positionen etwas unscharf: So wird unter Komplizenschaft<br />

sowohl das Zusammenleben mit einem Mann bezeichnet<br />

als auch eine individuelle Karriere im System (leben<br />

wie ein Mann) als auch die Reproduktion des Gesamtsystems<br />

in der weiblichen Knechtsgestalt, die die Herren mit<br />

hervorbringt.<br />

Immer wieder äußern sich die Frauen - ob organisiert<br />

DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83


Frauen-Po litik<br />

oder nicht - zornig Uber eine kommunistische oder sozialistische<br />

Politik, die die Frauenfrage total ignoriert und<br />

gleichwohl alles über sie zu wissen beansprucht. Hier sind<br />

die Parallelen zu unseren westdeutschen Verhältnissen deutlich,<br />

wenngleich wir weit davon entfernt sind, eine solche<br />

Tagung mit dieser problemorientierten und effektiven Diskussion<br />

zu haben. Wir müssen dies organisieren.<br />

Frigga Haug (Berlin/West)<br />

Krechel, Ursula: Selbsterfahrung und Fremdbestimmung. Bericht<br />

aus der Neuen Frauenbewegung. Luchterhand Verlag,<br />

Darmstadt 1983 (217 S., br.)<br />

Dieses ist die erweiterte Neuauflage des bereits 1975<br />

unter gleichem Titel erschienenen Buches. - "Die Explosion,<br />

die die Frauenbewegung im weiblichen Denken und Handeln<br />

ausgelöst hat, bewegt sich in abflachenden Wellen weiter,<br />

dringt in ungeahnte Ritzen ..." (20). Dieses Bild veranschaulicht<br />

das Thema: Es geht der Autorin um einen ausführlichen<br />

Überblick über Veränderungen in der Frauenbewegung,<br />

die Diskussionen und Schwierigkeiten. Dabei soll das Buch<br />

weder ein "Rechenschaftsbericht" (198) sein noch den Anspruch<br />

erfüllen, den "aktuellen Stand" (8) darzulegen.<br />

Die Frauenbewegung hatte am Anfang den Anspruch, sich<br />

"nicht einen Frontabschnitt zuweisen (zu lassen), sondern<br />

sie bestand auf dem Kampf gegen jede (Lebens- und Politik-,<br />

A.G. ) Form und Herrschaft" (14). Aber was heißt das konkret?<br />

Wie konnte das umgesetzt werden? "Die Frauenbewegung<br />

hat den Frauen nur allgemeines zu sagen, sie müssen jetzt<br />

selbst sprechen. Für ihre spezifische Situation kann die<br />

Frauenbewegung ihnen in der Tat wenig sagen und grüßt von<br />

weitem solidarisch" (24). <strong>Das</strong> bedeutet in der Praxis oft,<br />

daß "Verkäuferinnen in den Supermärkten", die "unzähligen<br />

Hausfrauen" trotz Gemeinsamkeiten getrennte Wege gehen.<br />

Aber gerade dies war etwas, was die Frauenbewegung aufheben<br />

wollte. Allerdings müsse man sich nach 15 Jahren Frauenbewegung<br />

fragen, "ob die Strategien aus der Hochzeit der neuen<br />

Frauenbewegung noch Gültigkeit <strong>für</strong> sie haben. Die Probleme<br />

sind komplexer geworden" (15). Nur allein der Wunsch,<br />

befreit und selbstbestimmt leben zu wollen, erwies sich als<br />

unzulänglich. So fehlte z.B. eine Strategie, wie die vorhandene<br />

Wut in Produktivkraft verwandelt werden konnte (12).<br />

Die Frauen mußten die Erfahrung machen, daß sie sich selbst<br />

auch verändern müssen, daß ihre "Emotionalität , die (sie)<br />

in die politische Arbeit einbringen, häufig auch ein Hindernis<br />

(ist)" (113). Die Gemeinsamkeiten als Frauen dürften<br />

nicht zu "Ansprüchen wie: Aus Solidarität bist du mir<br />

schuldig, daß du mich liebst" (48) führen. Vielmehr müßten<br />

die Frauen im Umgang miteinander lernen, daß sie sich auch<br />

von der gerade erst gefundenen Gemeinsamkeit wieder entfernen<br />

müssen.<br />

Es sei berechtigt, in Selbsterfahrungsgruppen "Mosaiksteine<br />

des Selbst" zusammenzutragen, aber es gehe nicht nur<br />

15<br />

DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83


14<br />

Soziale Bewegungen und Politik<br />

um die Kenntnis unserer Unterdrückung. Die Frauenunterdrükkung<br />

müsse in einen gesellschaftspolitischen Kontext gestellt<br />

werden, um die Unterdrückungsmechanismen und deren<br />

Nutzen zu begreifen. Erst so könne die Frauenbefreiung ein<br />

Stück auf dem Weg der Menschenbefreiung werden (49f.).<br />

Ursula Krechel ist es meines Erachtens gut gelungen,<br />

selbstkritisch die Fehler, Schwächen und Mängel der Frauenbewegung<br />

zu begreifen, sie in Beziehung zur Geschichte der<br />

Frauenbewegung zu stellen, aber nicht dort stehenzubleiben.<br />

So weist sie darauf hin, daß ein großer Fehler der Frauenbewegung<br />

deren "ahistorische Betrachtungsweise" sei. Solange<br />

die Frauen nicht den Kapitalismus berücksichtigen, keine<br />

Erklärung <strong>für</strong> ihn hätten, könne eine Wechselwirkung von Kapitalismus<br />

und Patriarchat nicht beachtet und damit auch<br />

nicht angegangen werden (77). Obwohl die Autorin sehr sorgfältig<br />

die vorhandenen Probleme und deren Ursachen (s.o.)<br />

erkennt, macht sie keinen Politikvorschlag. So weist sie<br />

lediglich darauf hin, daß "die Formen sich geändert (haben)<br />

und sich weiter ändern müssen" (25).<br />

Etwas enttäuschend fand ich das Kapitel "Perspektiven<br />

der Frauenbewegung", gerade weil dies ein <strong>für</strong> mich sehr<br />

dringendes Problem der Frauenbewegung ist. Den größten Teil<br />

dieses Kapitels räumt Ursula Krechel den "Lehren aus der<br />

ersten Frauenbewegung" ein, während "Frauenbewegung und Sozialismus"<br />

fast unbearbeitet aus der ersten Ausgabe übernommen<br />

wurde. Als feministische Sozialistin finde ich es<br />

bedauerlich, daß keine der neueren Diskussionen in ihre<br />

Überlegungen mit einbezogen wurden.<br />

Astrid Grunewald (Hamburg)<br />

Neue soziale Bewegungen<br />

Hollstein, Walter: Die gespaltene Generation. Jugendliche<br />

zwischen Aufbruch und Anpassung. Verlag J.H.W. Dietz Nachf.,<br />

Berlin-Bonn 1983 (144 S., br.)<br />

<strong>Das</strong> Buch ist eine Zusammenstellung von 15 Reden und Aufsätzen<br />

aus den Jahren 1965-82; lediglich der Beitrag "Lieber<br />

mitten drin als nur von hinten", der die "jugendsoziologische<br />

Problematik" des Bandes umreißen soll, ist ein<br />

Originalbeitrag. Hollstein möchte einer "möglichst breiten<br />

Öffentlichkeit die Absichten, Motive, Aktionen und gesellschaftlichen<br />

Rahmenbedingungen von Jugend verstehbar machen"<br />

(5) und einen Einblick in die "gegengesellschaftlichen<br />

Lebenswelten" geben. Gleichzeitig soll die "stringente<br />

Verwandtschaft der jugendlichen Protestbewegungen der letzten<br />

30 Jahre" deutlich werden.<br />

Hollstein ordnet die Jugendbewegungen in das Raster von<br />

"Aufbruch" und "Anpassung" ein. Als Aufbruchs-Bewegungen<br />

werden Gammler und Provos, Hippies, der amerikanische Underground<br />

und die deutsche Alternativbewegung dargestellt.<br />

DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83


Neue soziale Bewegungen<br />

"Woodstock und die Folgen" handelt von der Vereinnahmung<br />

der Pop-Musik durch die US-Unterhaltungsbranche. Woodstock<br />

wird hier als Umschlagpunkt begriffen. Fand Pop-Musik vorher<br />

in selbstorganisierten "free concerts" statt, so war<br />

Woodstock schon zum Teil von Konzertagenturen, Filmleuten<br />

und fahrenden Händlern gestaltet. Dem folgten Pop-Festivals<br />

mit Zäunen und Eintrittsgeldern, kommerziellen Ständen und<br />

einer Einteilung in Bühne und Publikum. Der Aufsatz "Untergrund<br />

und Opposition in den USA" zeigt, wie nach der "Veräußerlichung"<br />

der Hippie-Bewegung durch Mode und Kommerz<br />

der Ausbau des "underground" betrieben wurde: durch Gründung<br />

von Kommunen und Gemeinschaftshäusern, Werkstätten,<br />

Initiativen zur Nachbarschaftshilfe und Arbeitsvermittlung<br />

und der Distribution von Nahrungsmitteln von den "free<br />

farms" in die Stadt-Zentren. Der Schritt "von der Selbstgenügsamkeit<br />

zur Absicht (...), gesamtgesellschaftlich tätig<br />

zu werden" (54), wurde durch Anstöße von außen, von Friedensbewegung<br />

und SDS, gemacht. So entstand etwa das "underground<br />

press syndicate", in dem sich 500 Untergrund-Zeitschriften<br />

organisierten, die immerhin fünf Millionen Leser<br />

in den USA erreichten (54). Hollstein interpretiert das als<br />

die <strong>Institut</strong>ionalisierung der "Gegengesellschaft" und die<br />

kämpferische Erweiterung "befreiter Gebiete" (51).<br />

Der Abschnitt "Anpassung" wird eingeleitet durch die Bemerkung,<br />

daß "die nun zu beschreibenden Jugendlichen primär<br />

aus den Unterschichten" kommen; "dort konnten sie aufgrund<br />

einer vergleichsweise restriktiven Sozial- und Bildungssituation<br />

weniger ein-verändernden Perspektiven und Handlungsmöglichkeiten<br />

erwerben als ihre Altersgenossen aus den<br />

mittleren und oberen Gesellschaftsschichten" (67). Die Darstellungsform<br />

ändert sich zugunsten von Interview, Einzelportrait<br />

und Interpretation statistischen Materials. Es<br />

geht um die Passivität und "Resgination" von Mädchen, die<br />

in einer Schweizer Uhrenfabrik arbeiten; die "Apathie" von<br />

Stadtstreichern und Prostituierten "dritter Klasse"; einen<br />

18jährigen Freizeit-Punk , der abends in die Punk-Szene<br />

"ab-", aber jederzeit in die offizielle Gesellschaft wieder<br />

"auftaucht", wo diese es von ihm verlangt. Die Neonazi-Jugendbewegung<br />

wird in einem Artikel von 1977 als "isolierte<br />

Einzelerscheinung" (87) gesehen. Weit gefährlicher als die<br />

Existenz der Wiking-Jugend sei der Zusammenhang von mangelndem<br />

Geschichtsbewußtsein, allgemeiner "Verharmlosungstendenz"<br />

gegenüber dem Faschismus und dem politischen Desinteresse<br />

der Jugendlichen. Die populärsten Bewegungen, die<br />

ich hier erwartet hätte, die Halbstarken, Rocker und Skinheads<br />

, kommen dagegen nicht vor.<br />

Der Schlußabschnitt, "Jugendprotest und sozialer Wandel",<br />

bietet als Erklärungsansatz <strong>für</strong> die Entstehung der Jugendbewegungen<br />

vor allem "die einseitigen Anstrengungen, die<br />

Konfliktlosigkeit im ökonomisch-politischen Bereich zu institutionalisieren<br />

..." (102). Die Folge seien "Unzulänglichkeiten<br />

in der Erfüllung menschlicher Grundbedürfnisse"<br />

15<br />

DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83


16 Soziale Bewegungen und Politik<br />

(ebd.) auf den Gebieten von Erziehungswesen, Stadt- und<br />

Wohnungsbau, öffentlicher Gesundheit und Umweltschutz. Daß<br />

Kritik hier gerade von Jugendbewegungen formuliert wird,<br />

hat Hollstein zufolge den Grund, daß Jugend disponiert ist<br />

zur Innovation. "Sie repräsentiert physisch, psychisch,<br />

geistig und sozial die Kraft des Neuen ..." (132). Diese<br />

Reduktion der Jugendbewegungen auf die Funktion der Systeminnovation<br />

ist das paradoxe Gegenstück zu der vor der Enquete-Kommission<br />

des Deutschen Bundestags vorgebrachten<br />

Einschätzung, bei den Auseinandersetzungen um die neuen Jugendbewegungen<br />

handle es sich "um den ganz handfesten Konflikt<br />

von neuen und alten Werten" (120). Von daher muß auch<br />

die abschließende Forderung an die Jugendsoziologie verstanden<br />

werden, Jugendliche nicht einfach als Untersuchungsobjekt<br />

zu betrachten. Verlangt sei Empathie, d.h. Einfühlung<br />

in die Motive und Einstellungen der Jugendlichen. "Empathie<br />

als Methode kann das praktische Handeln der Jugendlichen<br />

ganzheitlicher begreifen, als es die Auswertung von<br />

Dokumenten, Umfragen, soziometrische und projektive Verfahren<br />

vermögen" (126).<br />

Hollsteins Einfühlung scheint mir den Kern des Buchs<br />

auszumachen. Es wirbt um Verständnis <strong>für</strong> das, was seine<br />

Einfühlung in den Jugendbewegungen wiederentdeckt. Zentral<br />

sind hier die Vorstellungen von "der Gegengesellschaft" und<br />

der Ausweitung herrschaftsfreier Räume, von denen aus Darstellung<br />

und Einschätzung der Jugendbewegungen strukturiert<br />

sind. Wie sehr das ein Verständnis der Bewegungen von Arbeiterjugendlichen<br />

behindert, ließe sich an einem Vergleich<br />

mit den Arbeiten der britischen CCCS-Forscher zeigen. Wo<br />

dort Stiluntersuchungen der Jugendkulturen Umorganisationen<br />

vorgegebener Bedeutungen durch die Jugendlichen entdecken,<br />

in denen Einsichten in die eigene Lebenssituation mit<br />

Selbstverurteilungen untrennbar verbunden sind, findet<br />

Hollstein nur Opfer einer restriktiven Sozial- und Bildungssituation.<br />

Widerstand als Selbstverurteilung paßt auch<br />

nicht in die Perspektive der Erweiterung befreiter Gebiete.<br />

- Aber wie mit der Vorstellung von der "Gegengesellschaft"<br />

umgehen? Der Perspektive eines Ausbaus alternativer Kultur<br />

ist sicher zuzustimmen; der Begriffsbildung gegenüber bin<br />

ich skeptisch. Auf der einen Seite werden Frauen- und Ökologie-,<br />

Jugend- und Alternativbewegung unterschiedslos in<br />

die Gegengesellschaft eingegliedert, um sie dann andrerseits<br />

"der Gesellschaft" zu konfrontieren. Aber die Kämpfe,<br />

die Hollstein beschreibt, finden überhaupt nicht außerhalb<br />

der Gesellschaft statt, an Rändern, von denen aus sie zu<br />

verändern wäre. (Hat eine Gesellschaft Ränder?) Wenn, wie<br />

Hollstein argumentiert, "Grundbedürfnisse" und Fragen der<br />

Lebensweise - mit dem Zentrum der Konsumorientierung - entscheidend<br />

sind, dann sind sie es gerade auch <strong>für</strong> die Orientierung<br />

der Arbeiterbewegung. Die theoretische Abbildungsweise<br />

und die Selbsteinschätzung der sozialen Akteure können<br />

hier entscheidend sein. Mir scheint, daß in der Kon-<br />

DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83


Neue soziale Bewegungen 17<br />

frontation von "Gesellschaft" und "Gegengesellschaft" die<br />

alternative Kulturbewegung auch von ihrem Fürsprecher ins<br />

Abseits manövriert wird. Statt den Akzent auf die Neubesetzung<br />

eines zentralen Kampffeldes zu legen, macht Hollstein<br />

die Alternativen zu Vorreitern einer postmaterialistischen<br />

Wertordnung. Die ist der materialistischen entgegengesetzt<br />

um den Preis der Verjenseitigung, der Abkopplung vom Zentrum.<br />

Kurt Jacobs (Berlin/West)<br />

Brand, Karl-Werner: Neue soziale Bewegungen. Entstehung,<br />

Funktion und Perspektive neuer Protestpotentiale. Eine Zwischenbilanz.<br />

Westdeutscher Verlag, Opladen 1982 (205 S. , br. )<br />

<strong>Das</strong> Buch versteht sich eher als Sichtung unterschiedlicher<br />

Erklärungsansätze, denn als empirische Untersuchung<br />

der Bewegungen (NSB): von <strong>Theorie</strong>n neokonservativer Provenienz<br />

über sozial-demokratische Versuche bis hin zu neueren<br />

marxistischen Ansätzen.<br />

R. Ingleharts Wertwandeltheorie beruht auf der These,<br />

"daß sich in den westlichen Industriegesellschaften ... ein<br />

durchgreifender und anhaltender Wertwandel von 'materialistischen'<br />

zu 'postmaterialistischen 1 Werten vollzieht" (65).<br />

Gemäß Maslows <strong>Theorie</strong> der Bedürfnishierarchie behauptet er,<br />

"... daß dann, wenn materielle Versorgungs- und Sicherheitsinteressen<br />

gedeckt sind, 'nichtmaterielle' Werte wie<br />

Selbstverwirklichung, Partizipation, ästhetische Bedürfnisse<br />

etc. in den Vordergrund rücken" (65). Der soziale Protest<br />

findet sich insbesondere bei Jugendlichen aus der Mittelschicht,<br />

"die von den wirtschaftlichen Prosperitätsbedingungen<br />

der Nachkriegszeit geprägt worden" sind (66). Die<br />

Neigung solcher Gruppen zu sozialem Protest finde ihre Ursachen<br />

in der Mißachtung neuer Bedürfnisse durch die gesellschaftliche<br />

Mehrheit und führe zur Unterstützung von<br />

sozialem Wandel. Brand kritisiert zu Recht die "Projektion<br />

gesamtgesellschaftlich notwendiger Funktionen ... auf eine<br />

'natürliche' Hierarchie von materiellen und nichtmateriellen<br />

Bedürfnissen" und betont, daß sich hieraus keine Hierarchie<br />

gesellschaftlicher Funktionen und Werte ableiten<br />

lasse (69).<br />

J. Habermas geht in der Erklärung der NSB vom Zusammenbruch<br />

der "systemintegrativen Funktion des Marktes" aus,<br />

die nun durch staatliche Funktionen übernommen werden müsse.<br />

Weder die Befriedigung "legitimer Bedürfnisse" noch die<br />

öffentliche Unterstützung des "beruflich-familialen Privatismus"<br />

gelinge jedoch und so sei die Gefahr des Legitimitätsentzugs<br />

<strong>für</strong> die staatlichen Instanzen immer größer geworden.<br />

Die fortwährenden Eingriffe der "gesellschaftlichen<br />

Modernisierung" in die Lebenswelten, zerstören die "kommunikative<br />

Binnenstruktur geschichtlicher Lebenswelten". <strong>Das</strong><br />

"Projekt der Moderne" versteht Habermas nun als das "Bemühen,<br />

die objektivierenden Wissenschaften, die universalistischen<br />

Grundlagen von Moral und Recht und die autonome<br />

Kunst unbeirrt in ihrem jeweiligen Eigensinn zu entwickeln<br />

DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83


18 Soziale Bewegungen und Politik<br />

... und <strong>für</strong> die Praxis, das heißt <strong>für</strong> eine vernünftige Gestaltung<br />

der Lebensverhältnisse zu nutzen" (98). Im Versuch,<br />

die objektivierenden Wissenschaften in die Lebenswelten<br />

zurückzuholen, lägen die Ansatzpunkte breiter Teile der<br />

Ökologie-, Alternativ- und Frauenbewegung. "Der Irrtum all<br />

dieser Versuche liegt nach Habermas darin, eines dieser<br />

verselbständigten Momente mit der Alltagspraxis kurzschließen<br />

zu wollen ohne zu berücksichtigen, daß in den Verständigungsprozessen<br />

der Lebenswelt kognitive Deutungen,<br />

moralische Erwartungen, Expressionen und Bewertungen einander<br />

zwanglos durchdringen können müssen" (98). Als Resultat<br />

der vorschnellen Verwerfung des "Projekts der Moderne"<br />

stellten sich dann Antimodernismus und Prämodernismus in<br />

den grünen und alternativen Gruppen ein.<br />

Die zunhemende Durchdringung der Gesellschaft durch die<br />

Verwertungsbedürfnisse des Kapitals stellt J. Hirsch in<br />

seinem Buch "Der Sicherheitsstaat" heraus. Sie lasse in unterschiedlichsten<br />

Lebensbereichen Konflikte entstehen, in<br />

denen die Kämpfe dezentralisiert, nicht ausschließlich um<br />

die Konfliktlinie Arbeit/Kapital kristallisiert sind. Durch<br />

institutionelle Absicherung - der vielfältigen Interessen<br />

will er die Möglichkeit schaffen, die Konflikte "radikalreformistisch"<br />

auszutragen. Eine Ursache <strong>für</strong> die "Heterogenisierung"<br />

der Konflikte ist die "fordistische Vergesellschaftung",<br />

die Kapitalisierung aller Lebenssphären auf<br />

Grundlage des Taylorismus. "... die Segmentierung, Dezentralisierung<br />

und Partialisierung der Interessenlagen und<br />

Erfahrungszusammenhänge führt dazu, daß sich soziale Konflikte<br />

und Bewegungen quer zu den Klassengrenzen entwikkeln,<br />

uneinheitlicher, dezentraler und in ihren Zielen und<br />

Perspektiven vielgestaltiger werden" (113). Brand bemängelt<br />

die unklare politische Perspektive dieser Konzeption. Es<br />

werde nicht gezeigt, "wie es gelingen soll, nichtkapitalistische<br />

Strukturen gesamtgesellschaftlich mit Erfolg durchzusetzen<br />

;.." (118).<br />

In seiner "Zwischenbilanz" versucht K.-W. Brand, die Ansätze<br />

zu "verschränken", ihre unterschiedlichen Problemstellungen<br />

unter seinem Generaltheorem: "die NSB formieren<br />

sich um die Kritik am industriellen Entwicklungsparadigma"<br />

zu integrieren. Gegen bürgerliche und sozialistische Strategien,<br />

die nur die krisenhaften Folgeprobleme der kapitalistischen<br />

Produktionsweise zu bewältigen trachteten, führt<br />

Brand seine These an, die NSB seien "auf eine säkulare Entwicklungstendenz<br />

industrieller, reformkapitalistischer Vergesellschaftung<br />

und die dadurch geschaffenen Folgeprobleme"<br />

zurückzuführen (129).<br />

Brand geht es um eine Kritik der Herrschaftslogik des<br />

gesellschaftlichen Rationalisierungsprozesses. Dabei wird<br />

das Problem in "... der formalen/instrumentellen/technischen<br />

Rationalität gesehen, die im Maße der Herausbildung<br />

der bürgerlichen Gesellschaft, der kapitalistischen Warenökonomie<br />

und des zentralisierten, bürokratischen Staatsap-<br />

DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83


Neue soziale Bewegungen 19<br />

parates sukzessive alle Bereiche des menschlichen Lebens<br />

erfaßt und sie nach ihren eigenen Strukturprinzipien reorganisiert:<br />

die Denkformen, die Affektstrukturen, die Formen<br />

der Naturaneignung und der gesellschaftlichen Praxis ..."<br />

(133). Durch die Erfahrung der Grenzen des Wachstums werde<br />

nun der Fortschrittsglaube zweifelhaft. Die plötzliche Erosion<br />

der Konflikte wird mit "... der krisenhaften Umstrukturierung<br />

des gesellschaftlichen Reproduktionsprozesses"<br />

erklärt, die die Qualität einer "Krise der Subjekt- und Naturbasis<br />

der Gesellschaft" erhält (150). Die klassischen<br />

Subjektstrukturen werden zersetzt und neu formiert, "indem<br />

sie sich gegenüber dem Zugriff kapitalistischer Verwertungs-<br />

und administrativer Rationalisierungsinteressen als<br />

dysfunktional erweisen ..." (151). Die Trägerschaften der<br />

NSB gruppieren sich um die Konfliktlinien industrieller<br />

Leistungskern/Peripherie, Materialismus/Postmaterialismus<br />

und Modernismus/Antimodernismus.<br />

Brand hat Recht darin, daß klassenreduktionistische Erklärungen<br />

der NSB nicht greifen können. Vielmehr müssen die<br />

differenzierten Kampffelder der Ökologie-, Frauen-, Friedens-,<br />

Anti-Atomkraftbewegungen in ihrer je eigenen Handlungs-<br />

und Entwicklungsdynamik begriffen werden. Die "Kapitallogik"<br />

durch die "Logik der industriellen Entwicklung"<br />

zu ersetzen, ist aber unzureichend; vielmehr müssen die nebeneinander<br />

bestehenden Entwicklungsdynamiken gesondert und<br />

in ihrem widersprüchlichen Zueinander untersucht werden.<br />

Für die Ökologiebewegung heißt dies anzuerkennen, daß das<br />

kapitalistische Verwertungsinteresse die Zerstörung der<br />

Biokreisläufe und die Ausbeutung der Arbeiter gleichzeitig<br />

vorantreibt, andererseits die Verseuchung von Landstrichen<br />

durch militärisch-atomare Versuche oder Umweltkatastrophen<br />

in sozialistischen Ländern nicht hinreichend mit dem<br />

"Grundwiderspruch" durch die traditionelle Unke erklärt<br />

werden können. Für das Gelingen der neuen Kämpfe hält Brand<br />

es <strong>für</strong> unumgänglich, die Arbeiterbewegung "in die eigene<br />

ideologische Perspektive zu integrieren", aber wie dies zu<br />

bewerkstelligen sei, sagt er nicht. Dies liegt meines Erachtens<br />

daran, daß er, zugunsten der NSB, die traditionellen<br />

theoretisch marginalisiert, und die verbindenden und<br />

trennenden Elemente zwischen den Bewegungen aus den Augen<br />

verliert. Dies wirkt auf seine Darstellung der NSB zurück.<br />

Brand behandelt Friedens- und Frauenbewegung nicht. Es hätte<br />

ihm Probleme eingehandelt, diese unter der Kategorie<br />

"anti-industrieller Protest" einzuordnen. Nähme er die widersprüchlichen<br />

Ergebnisse des kapitalistischen Vergesellschaftungsprozesses<br />

zur Kenntnis, der sowohl große Arbeitslosigkeit<br />

wie die Möglichkeit zur Verkürzung der Arbeitszeit<br />

aus sich hervortreibt, oder die "anomische" Existenz<br />

von repetitiver Arbeit gleichzeitig mit den gewachsenen Anforderungen<br />

an die Arbeiter durch die automatisierte Produktion,<br />

könnte er aufzeigen, daß die pauschalisierende Industrialismuskritik<br />

zur Schranke einer Erklärung der NSB<br />

DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83


20 Soziale Bewegungen und Politik<br />

wird.<br />

Die Sichtung eurokommunistischer Positionen fehlt gänzlich.<br />

Die Arbeiten von Laclau und Mouffe, von Buci-Glucksmann<br />

und Ingrao oder Altvater setzen Kontrapunkte zu marxistisch-leninistischen<br />

Positionen, deren exklusive Kenntnisnahme<br />

Brands kapitalismus<strong>kritische</strong> Perspektive zur Unkenntlichkeit<br />

verkommen läßt. Dennoch lohnt sich eine Lektüre,<br />

um die <strong>kritische</strong> Würdigung der referierten Positionen zu<br />

den NSB aufzunehmen; überdies ist die Arbeit hervorragend<br />

geeignet, die Stärken und Schwächen der "Industrialismuskritik"<br />

zu studieren. Daß das Buch nach einmaliger Lektüre<br />

auseinanderfällt, soll seinen theoretisch-transitorischen<br />

Charakter vermutlich nicht unterstreichen.<br />

Thomas Faust (Berlin/West)<br />

Mehlich, Harald : Politischer Protest und Stabilität. Entdifferenzierungstendenzen<br />

in der modernen Gesellschaft.<br />

Reihe "democratia experimentalis - Schriften zur Planungsbeteiligung,<br />

Bd. 5. Verlag Peter Lang, Frankfurt-Bern-New<br />

York 1983 (300 S., br.)<br />

Mehlich argumentiert strikt im Rahmen der funktionalistischen<br />

Systemtheorie Niklas Luhmanns. Er begreift politische<br />

Proteste, die er als "Planungswiderstände" faßt, also<br />

als Widerstand betroffener oder sich betroffen fühlender<br />

Bürger gegen von den politisch-administrativen Entscheidungsinstanzen<br />

getroffene und zur Durchführung anstehende<br />

Planungen, als Stabilitätsrisiko <strong>für</strong> das etablierte politische<br />

System - und damit auch <strong>für</strong> die Gesamtgesellschaft,<br />

deren Reproduktion von der Funktionstüchtigkeit des politischen<br />

Systems entscheidend abhängt. Daraus geht bereits der<br />

funktionale Bezugspunkt dieser Analyse hervor. Die Aufrechterhaltung<br />

der funktionalen Differenzierung der modernen<br />

Gesellschaft und die Wahrung eines funktional ausdifferenzierten<br />

Teilsystems <strong>für</strong> Politik sind die Gesichtspunkte,<br />

unter denen die Planungswiderstände als Phänomene gesellschaftlicher<br />

Entdifferenzierung beurteilt werden müßten -<br />

denn niemand könne im Ernst eine evolutionäre Regression zu<br />

vormodernen Zuständen wollen. Entsprechend beschäftigt Mehlich<br />

sich ausgiebig mit der Möglichkeit, daß die Planungswiderstände<br />

durch ihre Obstruktionsmacht fällige politische<br />

Entscheidungen zu verhindern und dadurch die Funktionsfähigkeit<br />

des politischen Systems in prekärer Weise zu beeinträchtigen<br />

imstande seien; er problematisiert die tendenzielle<br />

Aufhebung der Rollentrennung von politisch Entscheidenden<br />

und Entscheidungsempfängern durch die Plahungswiderstände;<br />

als dramatischste Folge dieser beiden ineinandergreifenden<br />

Prozesse sieht Mehlich die Gefahr, daß das politische<br />

System seine Identität als funktional ausdifferenziertes<br />

gesellschaftliches Teilsystem einbüßen könnte.<br />

Aus dieser Situationsanalyse zieht Mehlich den Schluß,<br />

daß das politische System sich neuartiger Stabilisierungsmechanismen<br />

bedienen müsse, um mit den Planungswiderständen<br />

DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83


Neue soziale Bewegungen<br />

fertig zu werden. Als eine diesbezüglich vielversprechende<br />

Möglichkeit diskutiert er sodann die von Dienel (1978) entwickelte<br />

"Planungszelle" - ein Verfahren der Bürgerbeteiligung<br />

an staatlichen Planungen, bei dem eine per Zufallsauswahl<br />

gebildete Gruppe von Bürgern sich über einen gewissen<br />

Zeitraum freigestellt von ihren beruflichen Verpflichtungen<br />

und von Verwaltung und Experten mit Informationen versorgt<br />

mit einem abgegrenzten Planungsproblem befaßt und dazu ein<br />

"Bürgergutachten" erstellt, das dann der Verwaltung als<br />

Empfehlung vorgelegt wird. In einer differenzierten Betrachtung<br />

dieses Planungsverfahrens kommt Mehlich zu dem<br />

Schluß, daß eine flächendeckende Installation von "Planungszellen"<br />

in all den Politikbereichen, die Planungswiderstände<br />

hervorgerufen haben, aine funktionale Entdifferenzierung<br />

des politischen Systems - im Unterschied zur<br />

dysfunktionalen Entdifferenzierung durch Planungswiderstände<br />

- darstellte - funktional, weil dadurch die Ausdifferenzierung<br />

und die Funktionstüchtigkeit des politischen Systems<br />

stabilisiert würden.<br />

Soweit die sorgfältig entwickelte, von beträchtlicher<br />

Kenntnis der einschlägigen Literatur zeugende, geschickt<br />

aufgebaute <strong>Argument</strong>ationslinie Mehlichs! Ihren hohen Grad<br />

an innerer Stimmigkeit verdankt die Arbeit zweifellos der<br />

konsequenten Zugrundelegung der Luhmannschen Systemtheorie.<br />

Daraus erwachsen auf der anderen Seite allerdings auch die<br />

Grenzen ihrer Thematisierungsfähigkeit. Politischer Protest<br />

wird hier ausschließlich als Legitimitätsproblem <strong>für</strong> das<br />

politische System gesehen. Als Hauptursache des Legitimitätsentzugs<br />

durch Planungswiderstände macht Mehlich ein<br />

durch Wertwandlungen gesteigertes Anspruchsniveau der Bürger<br />

hinsichtlich der Qualität ihrer Partizipation an politischen<br />

Entscheidungen aus. Viele Bürger hätten den Wunsch,<br />

über den Wahlakt hinaus politisch aktiv zu werden. Bei einer<br />

solchen Deutung des Protests erscheinen erweiterte Verfahren<br />

der Bürgerbeteiligung an staatlichen Entscheidungen<br />

wie die "Planungszelle" als geeignete Therapie: "... weil<br />

der Bürger als Wähler unzuverlässig geworden ist, wird ihm<br />

nunmehr das Kostüm der Laienplanerrolle zugewiesen" (269).<br />

Warum freilich die Bürger ihre überschüssige politische<br />

Energie ausgerechnet in Protestaktivitäten anstatt im Engagement<br />

in Verbänden und Parteien ausleben, bleibt in einer<br />

solchen Betrachtung unerklärlich. Deshalb wäre zu fragen,<br />

ob die wahren Ursachen der Planungswiderstände nicht ganz<br />

woanders liegen. An einer Stelle stellt Mehlich sich beiläufig<br />

die Frage (175), ob die staatlichen Planungen, wenn der<br />

Widerstand der Bürger sie nicht behinderte, sich nicht<br />

vielleicht als gesamtgesellschaftlich dysfunktional herausstellen<br />

würden. Genau das ist es ja, was die Protestierenden<br />

mit guten Gründen behaupten: daß zahlreiche Vorhaben im<br />

Bereich der Raum-, Stadt-, Verkehrs- oder Verteidigungsplanung<br />

höchst kurzsichtig konzipiert und an partikularen Interessen<br />

vor allem der ökonomischen "Wachstumskoalition"<br />

21<br />

DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83


22 Soziale Bewegungen und Politik<br />

aus Industrie und Gewerkschaften ausgerichtet sind und sich<br />

über kurz oder lang als höchst bestandsgefährdend <strong>für</strong> diese<br />

Gesellschaft herausstellen werden. Nicht die Planungswiderstände<br />

sind es, die mit der gesamtgesellschaftlichen Systemrationalität<br />

kollidieren - das tun vielmehr die staatlichen<br />

Planungen, gegen die Widerstand geleistet wird. Gerade<br />

diejenigen, die von der etablierten Politik - die <strong>für</strong><br />

sich ja das Auslegungsmonopol hinsichtlich der Erfordernisse<br />

gesamtgesellschaftlicher Systemrationalität beansprucht<br />

- als irrationale Schwärmer und Unruhestifter diffamiert<br />

werden, leisten somit durch ihren Protest, sofern sie ihm<br />

politisch Geltung zu verschaffen vermögen, eine im Sinne<br />

gesamtgesellschaftlicher Systemrationalität notwendige Korrektur<br />

der etablierten Politik.<br />

So besehen, liegen die Ursachen <strong>für</strong> die Planungswiderstände<br />

nicht so sehr in Forderungen nach verstärkter politischer<br />

Partizipation als Wert an sich, sondern vielmehr in<br />

spezifischen Betroffenheiten durch selbstzerstörerische<br />

Strukturwandlungen der Gegenwartsgesellschaft: von der ökologischen<br />

Problematik bis hin zur militärischen Aufrüstung.<br />

Diese Betroffenheiten nehmen dann die politische Erscheinungsform<br />

des Legitimitätsentzugs durch unkoventionelle politische<br />

Partizipationsformen an - solange man jedoch nur<br />

diese Erscheinungsform defizitärer Sozialintegration sieht<br />

und die dahinter stehenden systemintegrativen Defizite der<br />

Gesellschaft bagatellisiert, kuriert man mittels sozialintegrativer<br />

Beschwichtigungsmanöver wie der Planungszelle sin<br />

Symptomen herum, anstatt die Probleme bei der Wurzel zu<br />

packen. Die etablierte Politik mag aus strukturellen Gründen<br />

zu einer reduktionistischen Betrachtungsweise des politischen<br />

Protests neigen müssen - die sozialwissenschaftliche<br />

<strong>Theorie</strong>bildung sollte solche Scheuklappen jedoch, will<br />

sie nicht zum ideologischen Hoflieferanten herunterkommen,<br />

tunlichst ablegen. Uwe Schimank (Bielefeld)<br />

Steigerwald, Robert: Protestbewegungen. Streitfragen und<br />

Gemeinsamkeiten. Verlag Marxistische Blätter, Frankfurt/M.<br />

1982 (218 S., br.)<br />

Mit diesem Buch, das der Verlag im Umschlagtext als<br />

"Beitrag zur grundsätzlichen marxistischen Orientierung"<br />

ankündigt, versucht Robert Steigerwald die Stellung der<br />

Kommunisten zu den neuen "Protestbewegungen" zu bestimmen.<br />

Dabei geht es ihm darum, die "ideologische Klarheit" (6) zu<br />

schaffen, die notwendige Voraussetzung eines Bündnisses sei.<br />

Als wesentlichen und gemeinsamen Kern von Friedensbewegung,<br />

Frauenbewegung, Ökologie- und Alternativbewegung bestimmt<br />

er den nichtproletarischen Charakter ihres Protestes<br />

(11). Ausschlaggebend <strong>für</strong> den nichtproletarischen Charakter<br />

dieser Bewegungen ist, daß sie ihre soziale Basis nicht in<br />

der Arbeiterklasse haben, sondern in den abhängigen Mittelschichten,<br />

die durch die wissenschaftlich-technische Revolution<br />

Einbußen an Privilegien und Freiheiten sowie Be-<br />

DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83


Neue soziale Bewegungen<br />

schränkungen ihrer Arbeits- und Lebensbedingungen hinnehmen<br />

mußten. Es kommt hinzu, daß dieser Protest, obwohl er sich<br />

"objektiv gesehen gegen den Kapitalismus (richtet)", "noch<br />

nicht von proletarisch-sozialistischen Positionen ausgeht"<br />

(5). Vielmehr führt eine "negativ wertende Variante der Industriegesellschaftstheorie"<br />

(14) zur Absage an den Kapitalismus<br />

und an den realen Sozialismus. Stattdessen würde<br />

nach einem "dritten" Weg gesucht (14). Damit verbunden ist<br />

auch eine Abkehr von der Arbeiterbewegung, die wie die<br />

Bourgeoisie dem Wachstumsfetisch verfallen sei (10).<br />

Im Unterschied zu anderen Formen des nichtproletarischen<br />

Protestes, wie etwa die Studentenbewegung, die revolutionär<br />

sein wollte und sich als Statthalter des nicht mehr/noch<br />

nicht revolutionären Proletariats verstand, werde diesmal<br />

reformerisch versucht, in der bestehenden Gesellschaft anders<br />

zu leben und Freiräume zu schaffen (13f.).<br />

Der mittelständische Charakter dieser Bewegungen finde<br />

seine ideologische und ideenmäßige Entsprechung in einer<br />

lebensphilosophischen Konzeption, die von einer lebensfeindlichen<br />

Veränderung des Mensch-Natur-Verhältnisses ausgehe.<br />

In unterschiedlicher Ausprägung bilde sie den gemeinsamen<br />

Ideenbestand der verschiedenen Bewegungen.<br />

An dieser Konzeption setzt die ideologische Klärungsarbeit<br />

Steigerwalds an. Den Protestbewegungen wird durchgängig<br />

nachgewiesen, daß die lebensphilosophische Sicht der<br />

Probleme sie unfähig mache, die Kriegsgefahr, die Frauenunterdrückung<br />

und die Umweltzerstörung als Ergebnis der Klassen-<br />

und Produktionsverhältnisse zu begreifen. Zu prüfen<br />

ist, welche politischen Eingriffsmöglichkeiten diese "ideologische<br />

Klärung" den Kommunisten eröffnet.<br />

Die "klassenmäßige Klärung" (35) des Problems von Krieg<br />

und Frieden gibt, daß <strong>für</strong> die Pazifisten die Waffen als<br />

solche das Problem darstellen. Dadurch trennt der Pazifismus<br />

"das Problem Krieg und Frieden von seinen tieferen gesellschaftlichen<br />

Wurzeln ab, reduziert das Problem allein<br />

auf die Waffenanwendung ... ". "Wenn man den Krieg ausrotten<br />

will, muß man die Kriegsgründe abschaffen: die Ausbeutung<br />

des Menschen durch den Menschen, die Klassenspaltung, und<br />

damit den Klassenkampf" (35f.).<br />

Sicher kann man sagen, daß die Friedensbewegung nicht zu<br />

den Wurzeln des Rüstungs- und Kriegsproblems vordringt,<br />

wenn sie ausschließlich gegen die Stationierung der Mittelstreckenraketen<br />

kämpft. Aber auch Steigerwald gewinnt aus<br />

der'"klassenmäßigen Klärung" der Frage keinen anderen Vorschlag,<br />

als "den verhängnisvollen Nato-Raketenbeschluß politisch<br />

undurchführbar zu machen" (46). Faßt man das Verhältnis<br />

von Kapitalismus und Krieg wie das von Wurzel und<br />

Stamm, scheint die Einsicht in die Ausbeutung auf einen<br />

rein kontemplativen Status eingeschränkt. Die Frage wäre,<br />

wie Ausbeutung und Kriegsgefahr praktisch miteinander verbunden<br />

sind und wo in diese Verbindung politisch eingegriffen<br />

werden kann. Steigerwald sieht in den Thesen E.P.<br />

23<br />

DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83


24 Soziale Bewegungen und Politik<br />

Thompsons und der Russell-Peace-Foundation über die Verdichtung<br />

der Dynamik des Systemgegensatzes und staatlicher<br />

sowie ökonomischer Macht in den militärisch-politischen<br />

Komplexen nur "trotzkistische Manöver" (33).<br />

In der Frage der Frauenbefreiung hält Robert Steigerwald<br />

gegenüber radikal-feministischen Positionen (Firestone),<br />

die mit der Annahme eines männlich-technischen und eines<br />

kulturell-weiblichen Prinzips die "Klassenfrage ins Biologisch"<br />

vertiefen, zu Recht an dem Zusammenhang zwischen<br />

Privateigentum, Klassenspaltung und Frauenunterdrückung<br />

fest. Mit diesem Festhalten an der Klassenfrage ist allerdings<br />

noch nichts zu dem entscheidenden Problem gesagt, wie<br />

der Kampf <strong>für</strong> die Frauenbefreiung mit dem Ziel der sozialistischen<br />

Revolution zu verbinden ist. Darum wird in den Auseinandersetzungen<br />

der sozialistischen Frauenbewegung gestritten.<br />

Die politischen Konsequenzen laufen neben einer eher defensiven<br />

Vergewisserung der eigenen Stärke darauf hinaus,<br />

daß der Arbeiterbewegung im angestrebten Bündnis mit den<br />

neuen sozialen Bewegungen die Rolle eines Lehrmeisters zugewiesen<br />

wird. Als Garant <strong>für</strong> die "klassenmäßige Klärung"<br />

der Probleme ist es ihre Aufgabe, die neuen sozialen Bewegungen<br />

vom "Holzweg" (6) weg hin auf sozialistische Ziele<br />

zu orientieren.<br />

Die Verbindung der verschiedenen sozialen Bewegungen erträgt<br />

es sicher nicht, wenn Führungsansprüche durchgesetzt<br />

werden sollen, indem hierarchisiert wird zwischen Bewegungen,<br />

die die Grundfragen stellen, und solchen, die an einzelnen<br />

Punkten "protestieren". Stattdessen ist ein pluralistisches<br />

Konzept erforderlich, das sich zur strategischen<br />

Aufgabe macht, die Verbindung der sozialen Bewegungen so zu<br />

bauen, daß ihre Differenzen ausgetragen werden können.<br />

Gerwin Klinger (Berlin/West)<br />

Dybowski, Hartmut u.a.: Nicht wehrlos - doch wohin? Gewerkschaften<br />

und neue soziale Bewegungen unter der CDU-Herrschaft.<br />

Analysen und Dokumentationen des IMSF, Heft 12.<br />

Frankfurt/M. 1983 (112 S., br.)<br />

Unter dem Titel "Blindheit gibt es auf beiden Seiten"<br />

stellt Gert Hautsch im Schwerpunkt des Heftes Überlegungen<br />

zum Verhältnis von Gewerkschaften und neuen sozialen Bewegungen<br />

vor. In der von beiden Seiten praktizierten Politik<br />

komme es trotz weitgehenden Übereinstimmungen in den programmatischen<br />

Aussagen (Wahlkampfprogramm der Grünen und<br />

DGB-Programme) zu wechselseitiger Abgrenzung. Dies sei auf<br />

der Seite der Gewerkschaften "um so verwunderlicher ...,<br />

als viele der von den Bewegungen artikulierten Forderungen<br />

den Bereich der Reproduktions- und Lebensbedingungen der<br />

Arbeiterklasse berühren, und zum Teil zu den 'originären<br />

Aufgaben' der Gewerkschaften gehören (Frieden, Wohnungspolitik,<br />

Umweltschutz, Gleichberechtigung der Frau)" (55).<br />

Die Gründe sieht Hautsch zum einen in einer Blockadepolitik<br />

DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83


Neue soziale Bewegungen 25<br />

der Gewerkschaftsspitze gegenüber den neuen sozialen Bewegungen<br />

(Beispiele sind die Kampfansage an die Anti-AKW-Bewegung<br />

1977 und die Durchsetzung der "Kanzlerlinie" in der<br />

Friedensfrage). Zum anderen bestehen gegenüber den neuen<br />

sozialen Bewegungen kulturelle Barrieren (64). So wird auf<br />

die Herausforderung durch die Frauenbewegung und Hausbesetzer<br />

"oft mit einer starren und patriarchalischen Abwehr<br />

reagiert" (65). <strong>Das</strong> Bild ist hier jedoch nicht eindeutig.<br />

Da ein abgeschottetes Arbeitermilieu heute nicht mehr existiere,<br />

fänden Ansprüche, Forderungen und Aktivitäten der<br />

neuen Bewegungen im aktiven Kern der gewerkschaftlichen Kader<br />

große Resonanz" (60).<br />

Die neuen sozialen Bewegungen ihrerseits bleiben trotz<br />

der sich verschärfenden Krise und der dadurch eingeschränkten<br />

Möglichkeiten zur Realisierung von Lebensansprüchen auf<br />

Distanz zu den Gewerkschaften, da sie diese vorwiegend nach<br />

den führenden Vertretern der integrationistischen Richtung<br />

beurteilen (65). Möglichkeiten zur Überwindung der bestehenden<br />

Barrieren sieht Hautsch in der verstärkten Zusammenarbeit<br />

zwischen Gewerkschaftern und Vertretern der Friedensbewegung<br />

sowie der Kooperationsbereitschaft der Arbeitslosenbewegung<br />

mit dem DGB. Daß der hier vorgestellte<br />

Beitrag Anknüpfungspunkte <strong>für</strong> weitere Diskussionen bieten<br />

will, wird durch eine umfangreiche Bibliographie zu den aktuellen<br />

Auseinandersetzungen zwischen den Bewegungen unterstrichen.<br />

Gerwin Klinger (Berlin/West)<br />

Kofier, Leo: Zur Kritik der "Alternativen". VSA-Verlag,<br />

Hamburg 1983 (92 S., br.)<br />

Kofier formuliert als Hauptfrage, inwieweit die sich als<br />

Humanisten verstehenden Alternativen mit ihren Aktionen<br />

"innerhalb oder außerhalb der bestehenden Entfremdung bewegen",<br />

"politisch ausgedrückt", inwieweit sie "integrativ<br />

oder revolutionär" seien (13). Bei der Beantwortung dieser<br />

Frage verweist er auf drei "Irrwege" von oppositionellen<br />

Bewegungen. Der "ökonomistische Irrweg" manipuliere wichtige<br />

Begriffe wie Klasse, Ausbeutung, Mehrwert usw. so, daß<br />

die komplizierten Vermittlungen des Gesellschaftlichen<br />

nicht mehr erfaßt werden, das Verhältnis von <strong>Theorie</strong> und<br />

Praxis verzerrt erscheint, praktische Politik unmöglich<br />

wird (vgl. 15). Dies bezieht er auf "Vulgärmarxisten" (38).<br />

Ökonomist sei, wer das bloße "Produzieren" hervorhebe und<br />

"dem Begriff der Schönheit nur eine geringe Reverenz" erweise<br />

(vgl. 19). Der "biologistische Irrweg" ziehe den Historischen<br />

Materialismus und die politische Praxis hinab<br />

"auf die Ebene vulgärmaterialistischer Reflexionen und<br />

spontan-naiver Handlungen" mit Vorstellungen, die sich um<br />

Begriffe wie Sexualität, Sinnlichkeit, Triebe usw. drehen<br />

(15f.). Der Biolögist übersehe, daß "es geistige (künstlerische<br />

und philosophische) Phänomene gibt, die sowohl im<br />

Prozeß ihrer Erschaffung wie in den Resultaten ebenso genossen<br />

werden können wie das Libidinöse in seinem ursprüng-<br />

DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83


26<br />

Soziale Bewegungen und Politik<br />

lichsten und engsten Bereich" - der "Umfang des Erotischen"<br />

sei weit (28). Die Alternativen sind <strong>für</strong> Kofier insofern<br />

Biologisten, als sie die Askese, nicht den Eros als Lebensprinzip<br />

bejahten (vgl. 66). Praktizisten seien sie in einer<br />

unreflektierten Rebellion (vgl. 16). Die Alternativen übten<br />

die Flucht "in Richtung des romantischen Sozialismus Gandhis"<br />

(49), das falsche Mittel der "inneren Einkehr" zur<br />

gesellschafts<strong>kritische</strong>n Haltung (23, vgl. 25). Implizit bedeute<br />

dies: das Bestehende soll entgegen allem "äußeren<br />

Schein" nicht mehr "radikal überwunden, sondern nur verbessert<br />

werden" (vgl. 49). Kofier kritisiert ihre "auffällige<br />

Unfähigkeit zur zusammenfassenden Organisation" und "zur<br />

Ausbildung und Rezeption einer den empiristischen Oberflächenschein<br />

durchbrechenden und über viele Kanäle der populären<br />

Vermittlung bestimmende Teile des Volkes ergreifenden<br />

<strong>Theorie</strong>" (9). Die Alternativen vermieden eine eingehende<br />

theoretische Beschäftigung, ohne die sie die Hintergründe<br />

und tieferen Wurzeln der Probleme nicht erkennen können;<br />

"abgetrennt von jeglicher aesthetischer und anthropologischer<br />

Sinnvision und Philosophie" verblieben sie "im Rahmen<br />

der Entfremdung" (38). In der daraus resultierenden "praktischen<br />

und aufklärerischen Erfolgslosigkeit" solle eine<br />

"humanistische Elite" Abhilfe schaffen, zusammengesetzt aus<br />

"einer marxistisch bestens geschulten Intellektuellenschicht<br />

und einem aus dem Proletariat stammenden Volkstribunentum"<br />

(44), deren Stärke in dem Wissen um die "verschüttete<br />

Schönheit des Menschen" und das "verlorene Paradies" bestehe<br />

(17). Sie solle tätig sein gegen den "positivistischen<br />

Tatsachenschein, der nicht nur die verborgenen Wesenheiten<br />

verdeckt, sondern auch das alles lenkende empiristisch-positivistische<br />

Handeln möglich macht" (43), und das Bewußtsein<br />

des "Totalitätsdenkens" bilden, auf dessen Grundlage<br />

das "Durchschauen der Verhältnisse" die "Identifikation mit<br />

wesentlichen Einrichtungen der bestehenden Ordnung unmöglich<br />

machen" würde (41). Sie müsse "eine Heimat und eine<br />

organisatorische wie intellektuelle Stütze finden in einer<br />

übergeordneten Partei, die in der Lage ist, die notwendigen<br />

Mittel des Lehrens und Handelns zur Verfügung zu stellen"<br />

(65). Zur Aufhebung der Entfremdung bedürfe es der "vollkommenen<br />

Umorganisierung der Industrieländer", der "Verfügung<br />

der gewaltigen Kapitalien ..., in den Dienst der libidinösen<br />

Bedürfnisse des Volkes", das heiße der Kultur und<br />

der "Befähigung des Volkes zur Inanspruchnahme dieser Kultur<br />

auf dem Wege eines weitverzweigten Umerziehungssystems"<br />

(35). Angesichts seiner utopischen Perspektive, daß "<strong>für</strong><br />

alle nach dem 'Maß der Schönheit' produziert werden wird",<br />

sieht er keinen Anlaß zu "alternativer Skepsis und Resignation"<br />

(83). Kofier empfiehlt der Alternativbewegung, "sich<br />

die theoretische Methode anzueignen oder sie wenigstens zur<br />

Kenntnis zu nehmen, mit deren Hilfe sie Wissen in die Tat<br />

umzusetzen lernen könnte" - den Marxismus (88).<br />

Schade ist, daß Kofiers Analyse der Schwächen der Alter-<br />

DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83


Neue soziale Bewegungen 27<br />

nativen nicht durch Belege aus deren Erfahrungen und Literatur<br />

gestärkt ist. Ich vermag auch nicht einzusehen, daß<br />

die Sehnsucht der Individuen "nach andersgearteten paradiesischen<br />

Zuständen" die "eigentliche und letzte Triebkraft<br />

der Geschichte" sein soll, wo diese Sehnsüchte doch selbst<br />

sich in die Geschichtsmächte des Ökonomischen, Politischen,<br />

Religiösen usw. hineinbilden. - "Schönheit" stellt sich <strong>für</strong><br />

Kofier dar als "der Weg, auf dem der Mensch Mißbrauch und<br />

Vereinseitigung seiner Anlagen, antagonismusträchtige Entfremdung<br />

und würdelose Repression hinter sich läßt." Ob<br />

nicht das "Maß der Schönheit" hier unnötig zu einem letzten<br />

und allzu homogenen Bezugspunkt der Veränderungsarbeit<br />

wird? Brecht schreibt: "Schön ist es, wenn man die Schwierigkeiten<br />

löst. Schön ist also ein Tun ... Sie zu lösen,<br />

ist ganz verschieden schön und nicht ewig schön" (Notizen<br />

zur Philosophie GW 20, 154). Wolfgang Neuhaus (Berlin/West)<br />

Brandes, Volkhard und Bernhard Schön (Hrsg.): Wer sind die<br />

Instandbesetzer? Selbstzeugnisse, Dokumente, Analysen. Ein<br />

Lesebuch, päd. extra buchverlag, Bensheim 1981 (184 S.,br.)<br />

In der Einleitung bekunden die Lesebuch-Herausgeber<br />

Brandes und Schön ihre feste Absicht, auf "analytische Einordnungsversuche<br />

der Instandbesetzer weitgehend verzichten<br />

zu wollen, weil sie den Linken zu schnell und oftmals<br />

falsch von der Hand gingen" (11) und vorwiegend Selbstzeugnisse<br />

und Gespräche mit Hausbesetzern zu dokumentieren. Der<br />

erste Teil des Buches ist jedoch durchaus - und keineswegs<br />

zu seinem Schaden - angefüllt mit theoretischen Beiträgen,<br />

in denen die historische Entwicklung der Hausbesetzungen in<br />

der BRD dargestellt und die politischen Protestformen der<br />

60er Jahre mit denen der Gegenwart verglichen werden. In<br />

seinen vorzüglichen Streiflichtern aus der Geschichte der<br />

Hausbesetzungen korrigiert Roland Roth die gängige Vorstellung<br />

von der säkularen Originalität der gegenwärtigen Instandbesetzerbewegung,<br />

indem er auch ihre verwandten Vorläufer<br />

(Jugendzentrumsbewegung, "Frankfurter Häuserkampf",<br />

Arbeiterinitiativen im Ruhrgebiet zur Verteidigung von Zechensiedlungen<br />

etc.) kurz skizziert. Gemeinsames Schicksalsmerkmal<br />

aller dieser Bewegungen war - so Roth - ihre<br />

Kriminalisierung durch die Staatsmacht, da sie generell die<br />

bestehende Eigentumsordnung demonstrativ in Frage stellten<br />

und damit den Kern der gesellschaftlichen Ordnung in der<br />

Bundesrepublik bedrohten. <strong>Das</strong> Autorenpaar Lessing/Liebel<br />

propagiert in seinem Beitrag die - im anschließenden Dokumententeil<br />

vielfach erhärtete - These, daß es wesentlichen<br />

Teilen der Instandbesetzer nicht primär um selbstbestimmte<br />

Arbeiten oder gar um die Initiierung demokratischer Veränderungen<br />

etwa der betrieblichen Realität, sondern vielmehr<br />

um ein selbstbestimmtes Leben geht, übersehen dabei aber<br />

wohl den Prozeßcharakter und das Lernpotential vieler Jugendlicher<br />

in dieser politischen Auseinandersetzung. Gekeler/Hauser<br />

weisen in ihrer Arbeit überzeugend nach, daß die<br />

DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83


28 Soziale Bewegungen und Politik<br />

Sprache der heutigen "Szene" weniger intellektuell geprägt,<br />

da<strong>für</strong> aber phantasievoller, reich an politischem Witz und<br />

direkt treffender ist als die nicht selten in Schnellkursen<br />

an Klassikern geschulte und mit Avantgardeansprüchen operierende<br />

68er Bewegung (16).<br />

Die Dokumentensammlung, weitgehend basierend auf Extrakten<br />

aus Szene-Blättern, belegt eindringlich den heterogenen<br />

Charakter der Hausbesetzerbewegung, die aber doch als wichtiger<br />

Bestandteil der neuen Jugendbewegung das Lebensgefühl<br />

einer verkrusteten, entfremdeten Gesellschaft und einen unmittelbaren,<br />

nicht auf eine ferne Zukunft vertröstbaren Lebensanspruch<br />

zu vereinen scheint. Politische und soziale<br />

Herkunft, Handlungsmotive, gesellschaftliche Leitbilder und<br />

politische bzw. individuelle Perspektiven der Hausbesetzer<br />

und ihres sympathisierenden Umfeldes schließen sich nicht<br />

selten gegenseitig aus, wobei besonders die Haltung zur direkten<br />

Gewaltanwendung innerhalb der Bewegung als Spaltpilz<br />

wirkt. Die Interviews mit einer ganzen Reihe von Hausbesetzern<br />

muten in der Tat auch erschreckend an, weil bei ihnen<br />

jegliche politische Lösung des in gesellschaftlichen Verhältnissen<br />

wurzelnden Problems leerstehender Häuser zu reinen<br />

Gewaltorgien ("Meine Phantasie geht in die Richtung,<br />

den Kudamm brennen zu sehen. Es war erregend, die Scheiben<br />

klirren zu hören", 83, 84) verkommt. Ein recht ungeschminktes<br />

Bild vermitteln die Selbstzeugnisse auch von den Verkehrsformen<br />

und Entscheidungsprozessen innerhalb von Hausbesetzergruppen.<br />

Der eigene Anspruch, herrschaftsfrei zu<br />

leben, steht im Widerspruch zu zahllosen Klagen von Aktiven,<br />

daß sich "im Besetzerrat immer die Leute mit der größten<br />

Schnauze durchgesetzt haben und andere einfach untergebuttert<br />

wurden" (93) odefr zur Kritik am "Riesengerangel um<br />

Macht und Einfluß, um Positionen in der Hackordnung der Aktiven"<br />

(139). Dieser Dokujnentationsteil besticht insgesamt<br />

durch seine lebendige Form und macht zweifellos die Stärke<br />

des Lesebuches aus. Offenbar fühlten sich die Herausgeber<br />

aber wohl auch der nationalen Frage oder schlicht der Konvergenztheorie<br />

verpflichtet, als sie einen Bericht über<br />

Hausbesetzungen in der DDR aufnahmen, der aber - gewiß<br />

nicht in ihrem Sinne - eher fundamentale Unterschiede zur<br />

hiesigen Wohnungspolitik und Hausbesetzerbewegung deutlich<br />

sichtbar macht. Überhaupt werden durch das Bestreben der<br />

Herausgeber, den globalen Charakter dieser Bewegung partout<br />

hervorzuheben (siehe auch Berichte über Zürich etc.), wesentliche<br />

sozialökonomische und politische Unterschiede<br />

eher verwischt; ein solcher Ansatz übersteigt bei weitem<br />

auch die Möglichkeiten eines schmalen Lesebandes.<br />

Recht flüchtig kompiliert erscheint auch der dritte Teil<br />

der Publikation ("Dialoge mit der Jugend"), der besonders<br />

die subtileren Umarmungsstrategien und die Intentionen, den<br />

Konflikt durch partielle Konzessionen zu entschärfen, gänzlich<br />

ignoriert. Die Gefahren <strong>für</strong> die Hausbesetzer und all<br />

jene Kräfte, die wesentliche Korrekturen der gegenwärtigen<br />

DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83


Neue soziale Bewegungen 29<br />

Wohnungspolitik fordern, rühren nicht allein von Leuten wie<br />

Lummer her. Norbert Steinborn (Berlin/West)<br />

Butler, Hugo und Thomas Häberling (Hrsg.): Die neuen Verweigerer.<br />

Unruhe in Zürich und anderen Städten. Verlag Neue<br />

Zürcher Zeitung, Zürich 1981 (296 S., br.)<br />

<strong>Das</strong> Buch will durch eine Auswahl von Artikeln, die in<br />

den ersten vierzehn Monaten nach dem Beginn der neuen Jugendunruhen<br />

im Mai 1980 in der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ)<br />

erschienen sind, "die vom politischen Liberalismus inspirierte<br />

geistige Haltung der Zeitung in der täglichen Auseinandersetzung<br />

mit einem zeitgeschichtlichen Phänomen" dokumentieren<br />

(7). Einerseits finden wir Zeugnisse der Tagespolitik<br />

der freisinnig-demokratischen Partei (FDP), die zum<br />

Teil erfolgreich Druck auf die Stadtregierung ausübte und<br />

in scharfer Polemik ihren Wahlsieg vom Frühling 1982 vorbereitete.<br />

Andererseits wird eine Auseinandersetzung mit den<br />

Ursachen und Formen der Unruhen dokumentiert, in die allerdings<br />

kaum nicht-bürgerliche Positionen einbezogen worden<br />

sind. Der Leser vermißt zudem Informationen insbesondere<br />

über jene Autoren, die "nicht zum Hause gehören".<br />

Die Beiträge der ersten Kategorie sind geprägt durch ein<br />

rechtsbürgerliches Rechtsstaatsdenken, das unter dem Motto<br />

"Ruhe und Ordnung" die aufgebrochenen Wunschvorstellungen<br />

und den demonstrierten Veränderungswillen kompromißlos bekämpft.<br />

Den bürgerlichen Parteien, insbesondere der FDP,<br />

ist es damit gelungen, einen erfolgreichen rechtspopulistischen<br />

Kurs anzusteuern. Was auf der Ebene des Individuums<br />

mittels Verdrängungsmechanismen aus dem Weg geschafft wird,<br />

kann auf der gesellschaftlichen Ebene nur die Polizei und<br />

eine hart durchgreifende Regierung. - Die Beiträge der<br />

zweiten Kategorie gehen von einem mehr analytischen Interesse<br />

aus, zeichnen durch theoretische und politische Fixierungen<br />

jedoch zum Teil abstruse Zerrbilder. Einige Autoren<br />

können sich die Bewegung der Unzufriedenen nur als straff<br />

organisierte Armee vorstellen und suchen nach den verantwortlichen<br />

Kadern. Im Gegensatz zur eidgenössischen Jugendkommission<br />

(vgl. <strong>Argument</strong> 133,. S. 471) lehnen die Zürcher<br />

Freisinnigen jeden gesellschaftlichen Erklärungsansatz ab:<br />

"Ausbruch und gewalttätige Form der neuen Revolte (hängen)<br />

nicht vom Vorhandensein mehr oder weniger gewichtiger Probleme<br />

an sich (ab), sondern von Existenz und Aktivität eigentlicher<br />

Kerngruppen" (10). In einem längeren Aufsatz mit<br />

imponierendem Anmerkungsapparat, aber einigen Fehlschüssen,<br />

tritt Hugo Bütler den Beweis dieser Hauptthese an (9-22).<br />

Wenn die Bewegung selbst auf gesellschaftssynthetisches<br />

Denken verzichtet und im Konzept der Autonomie ihre eigene<br />

Marginalisierung auf strategischer Ebene reproduziert, so<br />

ist der von Bütler verfochtene Liberalismus auf die "Autonomie<br />

des Subjekts" fixiert. Der gesamtgesellschaftliche<br />

Zusammenhang geht beide Male verloren.<br />

Besonderen Augenmerk verdienen jene Beiträge, die nach<br />

DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83


30 Soziale Bewegungen und Politik<br />

einer politischen Verwertbarkeit von Bedürfnissen fragen,<br />

die in den Unruhen manifest wurden. Nicht zufällig ist der<br />

Ruf nach "Mehr Freiheit, weniger Staat" sowohl Wahlslogan<br />

der FDP als auch Motto der neuen sozialen Bewegung. Hugo<br />

Bütler schließt nicht aus, daß hier eine gemeinsame Stoßrichtung<br />

liegt, die er mit Lipinsel als "Korrektur an der<br />

Verwaltigungstendenz der sozialen Gebilde" definieren möchte<br />

(19). Der Kampf gegen die ideologische Vergesellschaftung<br />

durch den Staat soll umgemünzt und in den Angriff auf<br />

die sozialen Funktionen des Staates integriert werden. Die<br />

Sozialdemokratie läuft Gefahr, beide Male auf verlorenem<br />

Verteidigungsposten zu kämpfen.<br />

Es ist ein Verdienst einiger Autoren, <strong>Argument</strong>e in die<br />

Diskussion um die Unruhen gebracht zu haben, die den hier<br />

üblichen lokalen Blickwinkel sprengen. Gerade weil die kollektiven<br />

Ideen der Bewegung oft unklar waren, suchten einige<br />

Autoren nach ideellen Verbindungen zum klassischen Anarchismus,<br />

zur italienischen Autonomen-Bewegung, zum Selbstverwaltungsdiskurs<br />

der Linken etc. Damit warfen sie Fragen<br />

auf, die auch von linker Seite neuer Antworten bedürfen.<br />

Ein wichtiger Punkt wurde benannt, wenn nach dem Verhältnis<br />

der linken Parteien zur sozialen Bewegung gefragt wird. Indem<br />

ein mehrmaliges Zusammenspiel kritisiert wird, werden<br />

umgekehrt Möglichkeiten eines produktiven Verhältnisses<br />

aufgezeigt. Jürg Frey (Zürich)<br />

Frauen in der Friedensbewegung<br />

Beiträge zur feministischen <strong>Theorie</strong> und Praxis 8: "Gegen<br />

welchen Krieg - <strong>für</strong> welchen Frieden?" Eigenverlag des Vereins<br />

Sozialwissenschaftliche Forschung und Praxis <strong>für</strong> Frauen,<br />

Köln 1983 (144 S., br.)<br />

Dieses Heft ist das erste, das von der neu gebildeten<br />

festen Redaktion herausgebracht wird. Stärker als bisher<br />

soll auch zu aktuellen politischen Problemen diskutiert<br />

werden. Anknüpfend an heiße Auseinandersetzungen innerhalb<br />

der Frauen- und Friedensbewegung, warum gerade Frauen als<br />

Frauen gegen die aktuelle Kriegsgefahr kämpfen, werden unsere<br />

Blicke auf Probleme gelenkt, deren Geringschätzung<br />

oder Nichtbeachtung innerhalb der Friedensdiskussion der<br />

Frauenbewegung schaden könnten.<br />

Christina Thürmer-Rohr plädiert in ihrem Aufsatz "Aus<br />

der Täuschung in die Ent-Täuschung" <strong>für</strong> eine Sichtweise von<br />

Frauen als Mittäterinnen, auch an dem uns aktuell so bedrohenden<br />

Prozeß der Vor/Auf/Hochrüstung. Sie warnt vor der<br />

"frauenhaften" Haltung "so schlimm kann es doch gar nicht<br />

sein" und führt uns schonungslos vor Augen, daß wir uns auf<br />

einer in der Geschichte einmaligen Qualitätsstufe der Hochrüstung<br />

mit A-B-C-Waffen befinden, die sie "atomares Patri-<br />

DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83


Frauen in der Friedensbewegung<br />

archat" (17) nennt. Sie fordert uns auf, den Schritt von<br />

der Täuschung in die Ent-Täuschung, von der Sinnstiftung in<br />

die Sinn-Losigkeit, von der Hoffnung in die Hoffnungs-Losigkeit<br />

zu wagen. Denn Frauen hätten gerade durch Sinnstiftungen,<br />

durch Herstellen von Hoffnungen und schönen Illusionen<br />

daran mitgearbeitet, daß auf viele, viele Menschen<br />

eben doch nicht alles so schlimm wirke, wie es sei.<br />

"Sind Frauen friedfertig?" fragt Petra Müller und kommt<br />

zu dem Schluß, daß die "befriedete" Frau ein Produkt patriarchalischen<br />

Alltagskrieges sei. Sie zeigt die verschiedenen<br />

Dimensionen des Begriffes "Friedfertigkeit", der sowohl<br />

das Resultat jahrhundertelanger Unterdrückung als auch eine<br />

menschliche Qualität des Sich-Sorgens um das Leben sowie<br />

die Bereitschaft zur (Not-)Wehr, zum Friedenskampf fasse.<br />

Frauenkämpfe in der Vergangenheit hätten gezeigt, welch ungeheure<br />

gesellschaftliche Macht wir hätten.Diese gälte es<br />

im Sinne einer "positiven Aggression" zu mobilisieren.<br />

Wie ging die "alte" Frauenbewegung mit Kriegsbedrohung,<br />

Militarismus und Krieg im Verhältnis zu Fraueninteressen<br />

um? Können wir in der Geschichte Einschätzungskriterien,<br />

Positionen oder gar theoretisches Werkzeug finden, das uns<br />

heute von Nutzen sein könnte? Dies untersuchen Brunhilde<br />

Sauer-Burghard und eine von ihr vorgestellte Unbekannte Autorinnengruppe<br />

aus England im Jahre 1915. Zwar habe es einige<br />

Pazifistinnen in der Frauenbewegung gegeben, doch der<br />

Großteil habe "mit Pauken und Trompeten" den 1. Weltkrieg<br />

unterstützt. Suchen wir da<strong>für</strong> Gründe, so fänden wir Kombinationen<br />

aus theoretischer Blindheit gegenüber dem innigen<br />

Verhältnis von Kapital und Militarismus mit dem Nicht-Sehen<br />

des Zusammenhangs von Militarismus und Patriarchat. Es sei<br />

ein Mangel an Autonomie der alten Frauenbewegung gewesen,<br />

der die dringend nötige Strategiebildung im Sinne von Fraueninteressen<br />

verhindert habe. Die Autorinnengruppe betont,<br />

die alte Frauenbewegung sei zu fortschrittsgläubig gewesen<br />

und habe das Problem patriarchaler Gewalt hauptsächlich als<br />

eines des einzelnen Mannes oder als Ergebnis der Struktur<br />

der Kleinfamilie gesehen. Genau wie die heutige Frauenbewegung<br />

habe die alte übersehen, daß die sogenannten Friedenszeiten<br />

mit Kriegen in den Kolonien (heute "3. Welt") erkauft<br />

waren. Krieg und Kolonialismus sehen sie als Kult der<br />

Männergewalt. So müßten gerade Feministinnen bzw. alle<br />

Frauen gegen Militarismus kämpfen.<br />

Theresa Wobbe beschreibt, daß sich heute das Zeitalter<br />

des "Ost-West-Widerspruches" dem Ende zuneige, einzelne<br />

Länder (wie Japan) und auch Westeuropa sich ökonomisch von<br />

den USA abkoppeln. Dadurch entstünden neue Räume, die einerseits<br />

lebensgefährlich sein könnten - falls die USA diese<br />

erobern wollten - die aber andererseits auch neue Möglichkeiten<br />

eröffne. Frauen sollten sich unbedingt zu Expertinnen<br />

z.B. der Weltwirtschaft und der "sozialen Verteidigung"<br />

machen, um die potentiellen Chancen zu nutzen. Nur so<br />

könne eine bessere Gesellschaft entstehen, in der und vor<br />

31<br />

DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83


32 Soziale Bewegungen und Politik<br />

der Frauen <strong>für</strong> Autonomie sorgen müßten, da sonst erneut die<br />

Gefahr des männlichen Expansions- und Kriegs"dranges" bestehe.<br />

Für den Frieden hieße dann nicht, lediglich <strong>für</strong> die<br />

Abwesenheit von Pershing II und Cruise Missiles zu sein,<br />

sondern <strong>für</strong> einen Zustand frei von personeller und struktureller<br />

Gewalt mit der Möglichkeit der Autonomie <strong>für</strong> jede/n.<br />

Maria Mies fragt, ob und wie nationale Befreiungskämpfe<br />

in der "Dritten Welt" mit dem Kampf <strong>für</strong> die Frauenbefreiung<br />

zusammengehen. Dies sei auch <strong>für</strong> uns von Bedeutung, würden<br />

wir doch gegenwärtig mit der Frage des Verhältnisses von<br />

Frau und Nation konfrontiert (Vaterland mitverteidigen,<br />

Kinder gebären). Sehr viele Frauen hätten die nationalen<br />

Befreiungskämpfe z.B. Nicaraguas oder Grenadas mitgetragen,<br />

doch die Ziele der Frauenbewegungen seien nach den Revolutionen<br />

stets unter den Tisch gefallen. Dies zeigt sie an<br />

einer Fülle von Beispielen. Hausfrauisierung und Überkonsum<br />

basierten auf der Ausbeutung der Frauen der "Dritten Welt".<br />

Frauen sollten energisch gegen geschlechtliche Arbeitsteilung<br />

kämpfen, den Konsum unnötiger Waren boykottieren, sich<br />

so organisieren, daß sie Einfluß auf volkswirtschaftliche<br />

Entscheidungen nehmen können, indem sie ihre de facto bestehende<br />

ökonomische Bedeutung in politische Macht umsetzen;<br />

Frauen sollten Autonomieforderungen in alle Bereiche<br />

tragen (auch in Wirtschaft und Politik). Somit würden Kapitalismus,<br />

Imperialismus und Patriarchat letztlich zerstörbar.<br />

Den Zusammenhang von Krise, Krieg, Verschuldung der<br />

"Dritten Welt" und Frauenarbeit beleuchten Ute Annecke und<br />

Carola Müller. Die Zahlungsunfähigkeit dieser Länder sei<br />

ein Ergebnis der weltweiten Überproduktionskrise, welche<br />

auf dem ausbeuterischen Arbeitsteilungsverhältnis zwischen<br />

"Erster" und "Dritter" Welt beruhe. Die Frauen, die unteroder<br />

unbezahlte (Mehr-)Arbeit leisteten - hier wie dort -<br />

bewirkten, daß noch nicht längst alles zusammengebrochen<br />

sei. Wie aber könnte es anders gehen? Die Autorinnen plädieren<br />

<strong>für</strong> eine <strong>kritische</strong> Betrachtung von "Basisdemokratie",<br />

"Dezentralisierung" und "überschaubare Einheiten", da<br />

sie sehr viel Kontrolle beinhalten könnten und die Inferiorität<br />

der Frauen nicht zwangsläufig beseitige. Wir müßten<br />

vielmehr bis übermorgen denken, beispielsweise an Aufhebung<br />

der internationalen und geschlechtlichen Arbeitsteilung, ein<br />

arbeits- statt kapitalorientierte Wege, an kollektive Neubestimmung<br />

bedürfnisorientierter Produktion und gesellschaftlich<br />

notwendiger Arbeit, ihrer Organisation und Bewertung<br />

.<br />

Besonders die letzten vier genannten Beiträge waren <strong>für</strong><br />

mich interessant, da ich sie spontan nicht im Zusammenhang<br />

mit der Frauen/Friedensdiskussion dachte. Leider sehe<br />

ich gerade bei ihnen die Gefahr, daß die Politikvorschläge<br />

im Appellcharakter verhaftet bleiben, wenn wir nicht auch<br />

versuchen, uns über die Herstellungsmöglichkeiten der politischen<br />

und kulturellen Bedingungen Gedanken zu machen, die<br />

DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83


Frauen in der Friedensbewegung<br />

beispielsweise das Ziel der Aufhebung der oben genannten<br />

Arbeitsteilungen ermöglichen könnten. Neben den Schwerpunktaufsätzen<br />

finden sich eigene Sparten <strong>für</strong> Diskussionsbeiträge,<br />

eine Dokumentation über "Helene Stöcker: eine revolutionäre<br />

Pazifistin", zusammengetragen von Gerda Gutenberg,<br />

Berichte von und Einladungen zu Frauenwiderstandsaktionen<br />

sowie Rezensionen etlicher Bücher zum Thema.<br />

Diese Heftkonzeption ist ein wichtiger Schritt gegen die<br />

unselige (auch geschlechtliche) Arbeitsteilung von politischer<br />

<strong>Theorie</strong> und Praxis. Birgit Jansen (Marburg)<br />

Schenk, Herrad: Frauen kommen ohne Waffen. C.H. Beck'sehe<br />

Verlagsbuchh., München 1983 (216 S., br.) {<br />

<strong>Das</strong> Buch nimmt Bezug auf aktuelle politische Entwicklungen<br />

und setzt sich mit der Frage auseinander, was die Berührung<br />

mit dem Pazifismus <strong>für</strong> den Feminismus bedeutet.<br />

Durch die geplante Einbeziehung der Frauen in die Bundeswehr<br />

rückten Fragen nach dem Verhältnis der Frauen zu Waffen<br />

und Krieg, zu Macht und Gewalt, nach dem 'natürlichen'<br />

Pazifismus von Frauen und ihrer besonderen Verantwortung<br />

<strong>für</strong> den Frieden wieder in den Vordergrund. Die Diskussion<br />

darüber gipfelt innerhalb der Frauenbewegung in der Frage<br />

"Sind Frauen von Natur aus friedfertiger als Männer?", die<br />

sie - wieder einmal - in zwei Lager spaltet und eine Analyse<br />

der jeweiligen Konsequenzen angezeigt erscheinen läßt.<br />

Dabei wird ein guter, knapper Überblick über die Entwicklung,<br />

die verschiedenen Standpunkte und über die unterschiedlichen<br />

Strategien geliefert.<br />

Herrad Schenk richtet ihr besonderes Interesse auf den<br />

Geschlechterrollenaspekt und zeigt zunächst in einem historisch-soziologischen<br />

Überblick, wo Frauen am direkten<br />

Kriegsgeschehen beteiligt waren, inwieweit sie in ihrer<br />

traditionellen Rolle Stützen des Krieges waren und inwieweit<br />

sie als Friedenskämpferinnen Einfluß hatten. Um das<br />

Verhältnis des Geschlechts zum Krieg genauer zu untersuchen,<br />

wird auf die kulturelle Definition von Männlichkeit<br />

und Weiblichkeit Bezug genommen und das Männlich-Kriegerische<br />

als Wesensmerkmal des soldatischen Mannes alter Prägung<br />

identifiziert, das heute zwar im Wandel, aber in Restbeständen<br />

noch wirksam ist. Wenn aber das Kriegerische als<br />

natürlich zum Männlichen zugehörig betrachtet wird, gehört<br />

dazu auch die Gegenidee, nämlich daß Frauen von Natur aus<br />

friedfertiger sind. Mit der Berufung auf die friedfertige<br />

Natur von Frauen wird von Teilen der Frauenfriedensgruppen<br />

jedoch ein männlich-patriarchalischer Entwurf von Weiblichkeit<br />

akzeptiert, und es scheint fraglich, ob aus dieser Position,<br />

die in Ergänzung und Stützung des Mannes besteht,<br />

ein weltverbesserndes Wirken überhaupt möglich ist.<br />

Feministische Positionen befinden sich seit jeher im<br />

Spannungsfeld zwischen der Betonung der Gleichheit und der<br />

Betonung der Verschiedenheit der Geschlechter. In dem Buch<br />

wird die grundsätzliche Andersartigkeit von Frauen abge-<br />

33<br />

DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83


34 Soziale Bewegungen und Politik<br />

lehnt und die behauptete größere Friedfertigkeit eher als<br />

Produkt der untergeordneten und abhängigen Stellung von<br />

Frauen angesehen, als Ergebnis der geschlechtsspezifischen<br />

Arbeitsteilung, aufgrund derer Frauen nur andere Mittel als<br />

Männer wählen, um ihre Interessen zu vertreten. Aufgrund<br />

der Rollenzuweisung waren Frauen auch immer eher Opfer des<br />

Krieges als Akteurinnen und nie an Kriegsentscheidüngen beteiligt.<br />

Von daher kann ihre größere Friedensliebe auch als<br />

bloßes Desinteresse interpretiert werden. Wie die Berufung<br />

auf die natürliche Friedfertigkeit von Frauen wird auch die<br />

Bezugnahme auf die Mütterlichkeit, aus der sich eine besondere<br />

Verantwortung <strong>für</strong> den Frieden ableiten soll, als konservatives<br />

Denken kritisiert, weil damit die geschlechtsspezifische<br />

Arbeitsteilung und die Festschreibung auf die<br />

traditionelle weibliche Rolle akzeptiert wird. Es erscheint<br />

bedenklich oder sogar beängstigend, wie viele der Aktivitäten<br />

von Frauen <strong>für</strong> den Frieden sich im traditionellen geschlechtsrollenkonformen<br />

Rahmen abspielen. Statt dessen<br />

wird eine fundierte Bezugnahme auf den Pazifismus gefordert,<br />

ohne sich einseitig auf emotionale <strong>Argument</strong>ationen zu<br />

stützen. Frauen sollten sich ihren besonderen geschlechtsspezifischen<br />

Ausgangspunkt, der andere - eben gewaltfreie<br />

- Strategien nahelegt, zunutze machen und in einem umfassenden<br />

Pazifismus vertreten. Nachdem auch im Kampf der<br />

Frauen gegen das Patriarchat nur gewaltfreie Strategien angemessen<br />

erscheinen, wird eine enge Affinität zwischen Feminismus<br />

und Pazifismus als gewaltfreiem Kampf gesehen und<br />

ein eigenes Konzept eines feministischen Pazifismus entwikkelt,<br />

das einen gewaltfreien Kampf auf zwei Ebenen beinhaltet:<br />

Krieg, Militarismus, Gewalt einerseits, geschlechtsspezifische<br />

Arbeitsteilung, Rolle der Frau andererseits.<br />

Der Zusammenhang zwischen beiden muß immer wieder hergestellt<br />

und problematisiert werden, und mit dem einen muß<br />

auch gleichzeitig das andere bekämpft werden.<br />

Ein wichtiges Buch,, das Anlaß zur Überprüfung des eigenen<br />

Standorts gibt und Aufruf an alle Frauen ist, Uber ihrem<br />

Engagement <strong>für</strong> den Frieden die Ziele der Frauenbewegung<br />

nicht aus den Augen verlieren.<br />

Christel Daesler-Lohmüller (München)<br />

Brinker-Gabler, Gisela (Hrsg.): Frauen gegen den Krieg. Fi- -<br />

scher Taschenbuch Verlag, Frankfurt/M. 1980 (352 S., br.)<br />

Brinker-Gabler, Gisela (Hrsg.): Kämpferin <strong>für</strong> den Frieden<br />

- Bertha von Suttner. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt/M.<br />

1982 (222 S., br.)<br />

Die Sicherung des Friedens ist heute das wichtigste internationale<br />

Anliegen überhaupt. Daß die Frauenbewegung ihren<br />

Anteil zur Friedensbewegung beitragen will und muß, ist<br />

unumgänglich (siehe z.B. die Schwierigkeiten, die wir am<br />

10. Juni 1982 in Bonn hatten, einen Frauenblock zu halten,<br />

um unserer Forderung nach einem feministischen Beitrag in<br />

der Abschlußkundgebung Nachdruck zu verleihen).<br />

DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83


Frauen in der Friedensbewegung 35<br />

Zu wenig im Bewußtsein ist uns, daß es Bertha von Suttner<br />

war, die schon in den 90er Jahren des vorigen Jahrhunderts<br />

die Vorstellungen vertrat, die auch heute die neue<br />

Friedensbewegung bestimmen: <strong>Das</strong> "Prinzip der Offenheit, das<br />

auf die Mobilisierung aller Kräfte zielt und keinen Personenkreis,<br />

keiner gesellschaftlichen oder politischen Gruppierung<br />

Vorrang oder Führungsanspruch einräumt" (Gisela<br />

Brinker-Gabler in der Einleitung zu "Kämpferin <strong>für</strong> den<br />

Frieden", 18).<br />

Gerade weil die Frage nach dem (besonderen) Beitrag der<br />

Frauen zur Friedensbewegung immer wieder auftaucht, habe<br />

ich die Herausgabe des Bandes "Frauen gegen den Krieg" begrüßt.<br />

Er will einen Überblick über das Engagement von<br />

Frauen gegen den Krieg geben. Er enthält Manifeste, Demonstrationsberichte,<br />

Antikriegsresolutionen, Analysen . der<br />

Kriegsursachen und Passagen pazifistischer Literatur. Die<br />

Aufgabe der Friedenserhaltung ist <strong>für</strong> mich jedoch eine<br />

ebenso wichtige Aufgabe der Männer, die Fortschritte ebenso<br />

wie Rückschritte maßgeblich mitzuverantworten haben. Lida<br />

Gustava Heymanns Zitat - "Weibliches Wesen, weiblicher Instinkt<br />

sind identisch mit Pazifismus" -, auf dem die Einleitung<br />

aufbaut, ist einfach ärgerlich. Einerseits schiebt<br />

diese Feststellung uns den größten Teil der Verantwortung<br />

zu und entlastet damit die Männer, andererseits haben Frauen,<br />

auch Frauenrechtlerinnen wie z.B. Lange und Bäumer,<br />

durchaus ihren Anteil am Kriegsdienst geliefert. Oder haben<br />

Golda Meir und Margret Thatcher kraft ihrer politischen<br />

Funktionen die Kriege in Nahost oder auf den Falklands weniger<br />

beeinflußt?!<br />

Die Auswahl der Textauszüge, auf die ich an zwei Beispielen<br />

später noch einmal zurückkommen werde, läßt zu wünschen<br />

übrig. Die Aktivitäten deutscher Frauen <strong>für</strong> den Frieden<br />

sind zwar zahlreich belegt, deren Auswahl täuscht jedoch<br />

darüber hinweg, daß die Auseinandersetzungen über die<br />

Positionen zum Krieg von unterschiedlichen Einstellungen<br />

geprägt waren, die sich auch organisatorisch niederschlugen.<br />

So wird beispielsweise vollkommen verschwiegen, daß<br />

die radikaleren Frauen - wie Lida Gustava Heymann, Anita<br />

Augspurg und Helene Stöcker - eine eigene Vereinigung hatten,<br />

den "Verband fortschrittlicher Frauenvereine" unter<br />

Vorsitz von Minna Cauer. <strong>Das</strong> Organ dieses Verbandes, "Die<br />

Frauenbewegung", wird auf S. 22 als Zeitschrift von Minna<br />

Cauer hingestellt, die in Wirklichkeit nur die Herausgeberin<br />

war. - Statt dessen stehen im Mittelpunkt der Darstellung<br />

die <strong>Argument</strong>e von Helene Lange und Gertrud Bäumer, die<br />

gemeinsam mit dem "Bund deutscher Frauenvereine" in der<br />

aufkommenden nationalistischen Welle vor dem I. Weltkrieg<br />

schwammen und die Gründung des "nationalen Frauendienstes"<br />

forcierten (21ff.). Sinnvoll wären übrigens unbedingt Texte<br />

aus dem Zeitraum nach 1933 gewesen, da Heymann, Augspurg<br />

und Stöcker in der Emigration weiterhin aktiv die Friedensbewegung<br />

unterstützten, die drohende Kriegsgefahr voraussa-<br />

DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83


36 Soziale Bewegungen und Politik<br />

hen und reflektierend kommentierten.<br />

Eine entscheidende Lücke, die diese Textsammlung aufwies<br />

, wurde durch die Herausgabe des Bandes "Kämpferin <strong>für</strong><br />

den Frieden. Bertha von Suttner" geschlossen: Er bringt<br />

Auszüge aus Suttners Memoiren, aus ihren Tagebuchaufzeichnungen,<br />

aus ihren publizistischen Arbeiten und Vorträgen.<br />

Die Herausgeberin bemüht sich in ihrer Einleitung um eine<br />

historische Einordnung der Aktivitäten von Suttner, um zu<br />

zeigen, "wie der Gedanke der Friedensbewegung von ihr Besitz<br />

ergriff und wie sie die Bewegung zu organisieren begann,<br />

welche Ideen sie entwickelte und wie sie den Militarismus<br />

ihrer Zeit analysierte; ebenso sollte ein Einblick<br />

in ihr persönliches Leben gegeben werden" (36). Bertha von<br />

Suttner widmete sich den Problemen der Friedenssicherung,<br />

des Nationalismus, der staatsbürgerlichen Rechte und<br />

Pflichten, der Frauenemanzipation, des Antisemitismus und<br />

der Jugenderziehung. Letzterem besonders in ihrem 1889 erschienenen<br />

Buch "<strong>Das</strong> Maschinenzeitalter". Es zeigt ihren<br />

Weg zu fast allen Friedenskonferenzen vor 1914 und ihren<br />

Einsatz <strong>für</strong> die Organisierung einer internationalen Friedensfront<br />

und,damit kombiniert,die Notwendigkeit einer Analyse<br />

der Kriegsursachen (s. Zweite Haager Friedenskonferenz<br />

1907, 117ff.).<br />

Die Bemühungen der Tochter aus adeligem Hause fallen in<br />

die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, dessen Ausbruch zu erleben<br />

ihr glücklicherweise erspart geblieben ist. 1906 hatte<br />

sie als erste Frau den Friedensnobelpreis erhalten. Sie<br />

warb in einer Zeit, als Frauen kein Wahlrecht hatten, keiner<br />

politischen Partei angehören, ja nicht einmal eine politische<br />

Versammlung besuchen durften. Mit aus diesem Grunde<br />

hatten die 1891 und 1892 in Deutschland und Österreich<br />

gegründeten Friedensgesellschaften einen überparteilichen,<br />

humanitären Status, was ihnen von Seiten der Sozialisten immer<br />

wieder als unpolitisch vorgeworfen wurde: Für die Arbeiterbewegung<br />

mußte die Friedensbewegung gleichzeitig ein<br />

Bekenntnis zur sozialistischen Gesellschaft implizieren.<br />

Eine Bewegung nur gegen den Krieg stellte <strong>für</strong> sie eine Herausforderung<br />

dar.<br />

Die beiden Exponentinnen der Antikriegsbewegung der Sozialisten<br />

nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges waren unbestreitbar<br />

Rosa Luxemburg und Clara Zetkin. Leider wurde in<br />

"Frauen gegen den Krieg" besonders Clara Zetkins Haltung<br />

gegen Krieg allgemein und ihr Widerstand gegen die Bewilligung<br />

der Kriegskredite zu Unrecht in Kontrast gesetzt zu<br />

ihrer Haltung in den 20er Jahren (als KPD-Mitglied): Derartige<br />

Brüche in ihrer <strong>Argument</strong>ation <strong>für</strong> den Weltfrieden gibt<br />

es nicht. Sie erhofft sich nach der Oktoberrevolution lediglich<br />

eine besondere Unterstützung Rußlands <strong>für</strong> den Weltfrieden.<br />

Die Ideen und Initiativen von Bertha von Suttner wurden<br />

nicht nur, wie gemeinhin angenommen wird, von Männern fortgesetzt,<br />

sondern auch von Exponentinnen der radikalen bür-<br />

DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83


Frauen in der Friedensbewegung 37<br />

gerlichen Frauenbewegung, wie z.B. Helene Stöcker.<br />

Sie hatte sich z.B. schon seit den 90er Jahren gegen die<br />

- wie. sie meinte - freiwillige Reduzierung der Frau auf ihre<br />

Rolle als Staatsbürgerin und Mutter von seiten der konservativen<br />

bürgerlichen Frauenrechtlerinnen (Lange/Bäumer)<br />

ausgesprochen. Während die bürgerliche Frauenbewegung im<br />

Bund deutscher Frauenvereine sich nach Kriegsausbruch als<br />

"innere Front" begriff und den Nationalen Frauendienst als<br />

Unterstützung der "äußeren Front" betrachtete, kämpfte Helene<br />

Stöcker gegen den Krieg, den Patriotismus und Nationalismus<br />

als schärfsten Ausdruck von Doppelmoral und Menschenverachtung<br />

der patriarchalischen wilhelminischen Gesellschaft.<br />

Von dieser Position rückte sie kurz vor ihrem Tode 1933<br />

mehr und mehr ab, eine Folge ihrer Erfahrung mit der Regierung<br />

Stalins und der gerade beginnenden Liquidierung politisch<br />

andersdenkender ehemaliger Kampfgenossen. Sie sieht<br />

hinter der russischen Politik eine generelle Gefährdung des<br />

Friedens (Briefe an Maria Reese, in: Kleine Erwerbungen Nr.<br />

379, Bundesarchiv Koblenz).<br />

Mit keinem Wort ist z.B. der 1905 von ihr mitgegründete<br />

"Bund <strong>für</strong> Mutterschutz" erwähnt, der Anfang der 20er Jahre<br />

auf ihr Drängen als ausgesprochen pazifistische Organisation<br />

auftrat. Zum anderen wäre einmal ein Text von Helene<br />

Stöcker aus der "Neuen Generation" von 1914 interessant gewesen,<br />

dem Organ des "Bundes <strong>für</strong> Mutterschutz". Auf S. 22<br />

wird die Zeitschrift fälschlicherweise als Blatt von Helene<br />

Stöcker hingestellt. In den Artikeln dort zeigen sich Stökkers<br />

Betroffenheit und Orientierungsschwierigkeiten, ausgelöst<br />

durch den Kriegsausbruch und als dessen Folge der<br />

wachsende Nationalismus in Deutschland. Die Veränderung von<br />

Stöckers politischem Standpunkt während der Weimarer Zeit<br />

wird ignoriert. In der abgedruckten Haager Rede von 1922<br />

kommt nicht zum Ausdruck, daß der "Kampf <strong>für</strong> eine bessere<br />

Gesellschaftsordnung" (101) bei ihr im Kern auf eine sozialistische<br />

Gesellschaft hinzielte.<br />

Insgesamt sind beide Bände eine Hilfe, erste Eindrücke<br />

über Frauen und deren Engagement gegen den Krieg zu gewinnen.<br />

Die Texte sind illustriert mit Portraits und zeitgenössischen<br />

Plakaten. Darüber hinaus hat die Herausgeberin<br />

ein sehr gutes Autorinnenverzeichnis (Lebensdaten, Veröffentlichungstitel,<br />

Sekundärliteratur) an den Schluß gestellt.<br />

Die Lektüre eignet sich als Einstieg in ein weiteres<br />

Studium, zeigt allerdings deutlich die Notwendigkeit<br />

von Editionen des publizistischen Werkes und der in den<br />

Nachlässen befindlichen Briefwechsel von Bertha von Suttner<br />

und Helene Stöcker (hier auch besonders deren Memoiren),<br />

neben einer Neuauflage der Memoiren von Heymann/Augspurg<br />

"Erlebtes - Erschautes". Christi Wickert (Göttingen)<br />

DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83


38<br />

Sozialstaat und Bürgerinitiativen<br />

Soziale Bewegungen und Politik<br />

Matzner, Egon: Der Wohlfahrtsstaat von morgen. Entwurf eines<br />

zeitgemäßen Musters staatlicher Interventionen. Schriften<br />

des Wissenschaftszentrums Berlin - Internationales <strong>Institut</strong><br />

<strong>für</strong> Management und Verwaltung/Arbeitsmarktpolitik.<br />

Campus Verlag, Frankfurt/M. 1982 (408 S., br.)<br />

Egon Matzner, Professor am <strong>Institut</strong> <strong>für</strong> Finanzwissenschaft<br />

und Infrastrukturpolitik an der TU Wien, u.a. auch<br />

Berater der SPÖ, versucht mit dieser Arbeit zu begründen,<br />

warum neue, effektivere Formen staatlicher Interventionen<br />

entwickelt werden müßten, um besser mit veränderten Bedingungen<br />

<strong>für</strong> die Reproduktion gesellschaftlicher Basisinstitutionen<br />

(Kapital, Arbeitsvertrag, Markt und Staat) fertig<br />

werden zu können. Die veränderten Bedingungen lassen sich<br />

als Krise interpretieren, die aus der Funktionsweise der<br />

Basisinstitutionen selbst und aus exogenen Kräften resultiert.<br />

Krise, d.h. Problemdruck, führt zeitverzögert zu<br />

staatlichen Interventionen. Wenn es diesen nicht gelingt,<br />

den Problemdruck zu mindern, so ist ein Wandel der Basisinstitutionen<br />

(der "gesellschaftlichen Verhältnisse") selbst<br />

zu erwarten.<br />

Zweitens versucht Matzner, ein "zeitgemäßes" Muster<br />

staatlicher Interventionen zu entwerfen, teilweise als Forschungsprogramm,<br />

teilweise als konkrete Vorschläge <strong>für</strong> politische<br />

Strategien. Der Vorzug dieser Arbeit scheint mir<br />

zu sein, daß die Grundmuster staatlicher Interventionen in<br />

den vielfältigen Bezügen, Voraussetzungen, Abhängigkeiten<br />

theoretisch über Ressortgrenzen hinweg auch im Detail ausgeleuchtet<br />

werden, wobei die Verbindung zu den praktischen<br />

Problemen fast immer erhalten bleibt. Die Position Matzners<br />

läßt sich wie folgt skizzieren: Der Wohlfahrtsstaat ist eine<br />

gesellschaftliche Leistung, die in den letzten Jahrzehnten<br />

einmalige Erfolge hervorbrachte. Jedoch zeigt sich, daß<br />

seit Anfang der 70er Jahre die bisherige Form des expansiven<br />

staatlichen Interventionismus nicht mehr an diese Erfolge<br />

anknüpfen kann. Dies hängt u.a. mit folgenden grundsätzlichen<br />

Problemen zusammen: 1. Staatliche Interventionsanreize<br />

wirken nur dann kontinuierlich, wenn sie ständig<br />

ausgeweitet werden. Eine ständige Expansion ist auf Dauer<br />

aber nur dann finanzierbar, wenn sich entsprechende Wachstumserfolge<br />

zeigen. 2. Bei personalen Dienstleistungen<br />

stellt sich das Problem der "Kosten-Krankheit", d.h. die<br />

geringeren Produktivitätsfortschritte in diesem Bereich<br />

führen - bei gleichen Wachstumsraten der Lohnsätze wie in<br />

den produktiveren Bereichen - zur Expansion. 3. <strong>Das</strong> Ausbleiben<br />

von angemessenen Wachstumsraten führt daher zwangsläufig<br />

zu Finanzkrisen bei staatlichen Aufgaben. 4. Es läßt<br />

sich begründen, daß es in den entwickelten Volkswirtschaften<br />

partielle Wachstumsgrenzen gibt, die sowohl ökonomischer,<br />

ökologischer als auch gesellschaftlicher ("Interak-<br />

DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83


Sozialstaat und Bürgerinitiativen 39<br />

tionskrise") Natur sind. Dies hat zur Folge, daß der globale<br />

Interventionismus nicht mehr greift, teilweise sogar<br />

kontraproduktiv wirkt.<br />

Daher schlägt Matzner eine Reform der Formen und Inhalte<br />

staatlicher Interventionen vor. Inhaltlich plädiert er <strong>für</strong><br />

eine differenzierte Entwicklungspolitik, die festlegt, welche<br />

wirtschaftlichen Bereiche expandieren, stagnieren und<br />

welche reduziert werden sollten. Als Kriterien könnten gelten:<br />

Versorgungsgrad der Bevölkerung, Ressourcenbegrenztheit,<br />

ökologische Gesichtspunkte, überflüssige und/oder<br />

schädliche Produkte. Voraussetzung einer solch differenzierten<br />

Politik ist eine Reform der Entscheidungsverhältnisse,<br />

die vor allem zwei Stufen beinhaltet: a) die partizipativ,<br />

professionell und politisch erfolgende Festsetzung<br />

quantitativer Grenzen; b) die Installierung von Signal- und<br />

Anreizsystemen, die das Mikroverhalten entsprechend steuern.<br />

Ein weiterer, zentraler Bestandteil des Reformkonzepts<br />

ist Matzners Plädoyer <strong>für</strong> eine "neue Kultur der Politik":<br />

"Dabei geht es vor allem darum, dem autonomen, schon seit<br />

langer Zeit durch Markt und Staat eingeschränkten Bereich<br />

der zivilen Gesellschaft eine neue Möglichkeit zur Entfaltung<br />

zu geben" (375). Damit wird im Grunde ein historischer<br />

Kompromiß vorgeschlagen zwischen traditionellen, etatistischen<br />

und alternativen Positionen, die geistesgeschichtlich<br />

aus den Wurzeln des politischen Liberalismus, des utopischen<br />

Sozialismus und des Anarchismus stammen.<br />

Die Arbeit Matzners formuliert gut fundierte Leitlinien<br />

<strong>für</strong> eine Reformdiskussion. Allerdings ist sein Modell in<br />

den Umsetzungsbedingungen stark an die (sozialpartnerschaftlichen)<br />

Verhältnisse und Entscheidungsstrukturen<br />

Österreichs angelehnt. Mit anderen Worten: Die Macht- und<br />

Mobilisierungsprobleme bleiben ausgeklammert. Dies ist aber<br />

gerade eine entscheidende Frage: Wo ist das handelnde Subjekt,<br />

das eine solche Politik tragen könnte, und auf welche<br />

Weise ist es möglich, "gebrauchswertorientierte" Politik<br />

mobilisierungs- und mehrheitsfähig zu machen. Nicht nur das<br />

Wahlergebnis vom 6. März vermag Optimismus in dieser Frage<br />

zu dämpfen. Erich Standfest (Düsseldorf)<br />

Atteslander, Peter: Die Grenzen des Wohlstands. An der<br />

Schwelle zum Zuteilungsstaat. Deutsche Verlagsanstalt,<br />

Stuttgart 1981 (200 S., Ln.)<br />

Peter Atteslander, Direktor des <strong>Institut</strong>s <strong>für</strong> Sozialökonomie<br />

an der Universität Augsburg, versucht mit diesem<br />

Buch, in relativ populärer Form - ohne den sonst üblichen<br />

Zitate- und Anmerkungsapparat - die Thesen über die Grenzen<br />

des Wohlstands zu beschreiben, und Alternativen <strong>für</strong> künftige<br />

Entwicklungstrends zu formulieren. Er liefert dabei keine<br />

eigenen, originären Ansätze, sondern die einzelnen,<br />

ziemlich heterogenen Kapitel fassen jeweils Aspekte der<br />

wissenschaftlichen und politischen Diskussion zusammen.<br />

Der Tenor des Buches liegt - liberal abgemildert - in<br />

DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83


40 Soziale Bewegungen und Politik<br />

der Tradition des Kulturpessimismus: Bedürfnisse und Erwartungen<br />

der Menschen wachsen schneller als die Möglichkeiten<br />

ihrer Befriedigung. Diese "Bedürfnisschere" produziere soziale<br />

Konflikte, die von den gesellschaftlichen <strong>Institut</strong>ionen<br />

nicht kanalisiert werden können, im Gegenteil: Die Delegation<br />

individueller Ansprüche an den Wohlfahrtsstaat<br />

führe zur Entmündigung; zugeteilte Wohlfahrt ersetze den<br />

erwerb- und erlebbaren Wohlstand und damit auch individuelle<br />

Verantwortung als Voraussetzung künftigen Wohlstands.<br />

Darin sieht Atteslander das zentrale Problem unserer Gesellschaft:<br />

das Sicherheitsstreben führe zu einer Diskrepanz<br />

zwischen (steigenden) Ansprüchen und (sinkender) Leistungsbereitschaft.<br />

Die Zukunft erfordere aber Risikobereitschaft<br />

und nicht Sicherheitsdenken. Dieses Leitthema<br />

taucht in den einzelnen Kapiteln immer wieder auf:l. Die<br />

Bedeutung von Eliten <strong>für</strong> die Beherrschung des sozialen Wandels.<br />

Nur Eliten seien imstande, die technologische Entwicklung<br />

zu steuern. 2. "Echter" Wohlstand wird als Lebensqualität<br />

definiert, die durch Maßnahmen geschaffen<br />

wird, die die individuelle Abhängigkeit von technologischen<br />

und bürokratischen Systemen verringern. 3. Die angebliche<br />

Nivellierung durch die Sozialpolitik verwische notwendige<br />

Unterschiede, diskriminiere Leistung und Leistungsbereitschaft.<br />

- Die politische Folgerung, die Atteslander zieht,<br />

beschränkt sich aufs Allgemeine: die gesellschaftlichen <strong>Institut</strong>ionen<br />

so verändern, daß Eigeninitiative, Verantwortung<br />

und Leistungsbereitschaft gefördert werden, das Credo<br />

also des politischen Liberalismus.<br />

Ich halte es schon <strong>für</strong> fruchtbar und sinnvoll, sich mit<br />

dem politischen Liberalismus und seinen Forderungen auf den<br />

konkreten gesellschaftlichen Handlungsfeldern auseinanderzusetzen.<br />

Er liefert zweifellos produktive Ideen und <strong>kritische</strong><br />

Regulative zum Verhältnis von Individuum und politischem<br />

System. Der entscheidende Mangel - und Atteslander<br />

macht dabei keine Ausnahme - scheint mir zu sein, daß in<br />

seinen Analysen "vergessen" wird, daß die Mehrzahl der Bürger<br />

von viel gravierenderen Abhängigkeiten betroffen sind,<br />

als von bürokratischen Systemen. Staatliche Regulierungen<br />

(z.B. Arbeits- und Sozialrecht) schaffen erst die Voraussetzungen<br />

<strong>für</strong> eine teilweise Emanzipation der Arbeitnehmer<br />

und ihrer Familien aus den Zwängen des Lohnarbeitsverhältnisses<br />

im liberalen Kapitalismus. Vergessen wird auch, daß<br />

der Wohlfahrtsstaat kein Geschenk ist, sondern Ergebnis relativ<br />

erfolgreicher Kämpfe der Arbeiterbewegung. Nun muß<br />

man sich selbstverständlich damit auseinandersetzen, in<br />

welcher Weise eine Sicherung und ein demokratischer Ausbau<br />

des Wohlfahrtsstaats erfolgen sollte. Die Diskussion darüber<br />

ist voll im Gange. Leider liefert Atteslander dazu<br />

keinen konkret erfaßbaren Beitrag. Die einzelnen Kapitel<br />

erscheinen eher zufällig aneinandergereiht, es fehlt ein<br />

durchgehender theoretischer Faden (das politische Credo<br />

kann ihn nicht ersetzen), der die ausgebreiteten Fakten<br />

DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83


Sozialstaat und Bürgerinitiativen<br />

ordnet. Manchmal hat man auch den Eindruck, Zitate werden<br />

angeführt, weil sie in die Richtung passen, aber nicht weil<br />

sie das Ergebnis einer Auseinandersetzung mit dem betreffenden<br />

Autor sind. <strong>Das</strong> Fehlen eines theoretischen Zugriffs<br />

und die ziemlich willkürlich erscheinende Eklektik machen<br />

einem nicht nur das zusammenhängende Lesen schwer, es nimmt<br />

einem auch die Lust zur Auseinandersetzung. Der Titel verspricht<br />

nur, was andere Arbeiten zu diesem Thema viel eher<br />

auch halten. Erich Standfest (Düsseldorf)<br />

Arzberger, Klaus: Bürger und Eliten in der Kommunalpolitik.<br />

Schriften des Deutschen <strong>Institut</strong>s <strong>für</strong> Urbanistik, Bd. 67.<br />

Verlag W. Kohlhammer/Deutscher Gemeindeverlag, Stuttgart-<br />

Berlin-Köln-Mainz 1980 (181 S., Abb., br.)<br />

Die vorliegende Studie ist Teil eines größeren Projektes<br />

zur Thematik "Bürgernahe Gestaltung der sozialen Umwelt",<br />

das vom Bundesministerium <strong>für</strong> Forschung und Technologie finanziert<br />

worden ist. "<strong>Das</strong> allgemeine Ziel des Projekts bestand<br />

darin, die kommunalpolitisch relevanten Bedürfnisse<br />

und Erwartungen der Bürger detailliert zu erfassen und deren<br />

Zustandekommen und Veränderungen zu erklären" (18). Eine<br />

Erklärung freilich liefert die Studie kaum, einfach deshalb,<br />

weil es an einem reproduktionstheoretischen. Ansatz<br />

mangelt. Stattdessen offeriert Arzberger als analytisches<br />

Konzept eine Mischung aus staats- und kommunaltheoretischen<br />

Denkelementen, die er aus Arbeiten u.a. von Galbraith, Offe<br />

und insbesondere Habermas ("Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus",<br />

1973) komponiert hat. Gleichwohl handelt es<br />

sich um eine solide, methoden<strong>kritische</strong> Untersuchung, in der<br />

verschiedenartig generiertes Material zum Komplex "Bürgererwartungen<br />

und Kommunalpolitik" detailliert ausgebreitet<br />

wird. Passagenweise allerdings verzettelt sich der Autor<br />

allzu sehr in thematisch bedeutungsschwache Kreuz-und-quer-<br />

Korrelationen hinein (bes. Kapitel 5.6. Uber die "Wechselseitigen<br />

Einschätzungen" von "Bürgern" und "Eliten"). Die<br />

Erhebungsdaten beziehen sich auf sechs städtische Gemeindeeinheiten:<br />

Frankfurt-Sachsenhausen, Frankfurt-Nordend, Coburg,<br />

Aalen, Hadamar und Usingen. Sie sind unter begründeten<br />

problemtypologischen Gesichtspunkten ausgewählt worden.<br />

Der Erhebungszeitraum lag zwischen 1975 und 1979, so daß<br />

den Daten, sofern sie sich auf das zum Teil doch forciert<br />

sich entwickelnde und qualifizierende Bedürfnisniveau der<br />

Bürger beziehen, allemal noch Problemaktualität zuzuerkennen<br />

ist.<br />

Im Zeichen wachsender "Planungsbetroffenheit".Kürzungen<br />

der kommunalen Haushalte usf. einerseits und gewachsener<br />

Mobilisierungsbereitschaft von Teilen der Bevölkerung andererseits,<br />

ihre lokalen Reproduktionsbedingungen zu verteidigen<br />

bzw. zu verbessern, gewinnen die Probleme der "politischen<br />

Konsensbildung" (13) und der "Legitimationsbeschaffung"<br />

(12) an Brisanz; im herrschenden Politiker-Jargon hat<br />

sich dies in der Rede von Schaffung von "Akzeptanz" festge-<br />

41<br />

DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83


42 Soziale Bewegungen und Politik<br />

setzt. Und "besonders eindringlich zeigen sich die genannten<br />

Probleme heute auch auf der Ebene der Kommunalpolitik"<br />

(13), "die <strong>für</strong> mehr als zwanzig Jahre als ein Bereich<br />

(galt), der gesellschafts- und sogar parteipolitisch relativ<br />

wenig Konfliktpotentiale barg" '(15). <strong>Das</strong> hat sich inzwischen<br />

gründlich geändert, was sogar auf einer Ebene, die<br />

als besonders stabil galt, den Wahlen,durchgeschlagen hat.<br />

Laut Arzberger stecken die Gemeinden in einem "Dilemma",<br />

"daß sie bei erweiterten Einzugs- und Aufgabenbereichen einerseits<br />

und eingeschränkten Mitteln und Entscheidungskompetenzen<br />

andererseits vor allem die legitimatorischen Lasten<br />

des 'politischen Prozesses' behalten haben" (16). Weil<br />

die Kommune der Ort "unmittelbarer Erfahrbarkeit" (15) von<br />

Verschlechterungen in den Reproduktionsbedindungen der Menschen<br />

ist, sind es gerade die "kommunalen Instanzen", an<br />

die ein "breit gefächerter Katalog von Forderungen" (16)<br />

adressiert wird und gegen den bekanntlich unter der Parole<br />

"Inflation der Ansprüche" (vgl. 139ff.) polemisiert wird,<br />

von Helmut Schmidt bis Manfred Rommel. Diesem "Katalog"<br />

geht die Studie systematisch-deskriptiv nach und konfrontiert<br />

ihn mit den Dispositionen der kommunalen Eliten.<br />

Aus der Fülle der Detailbefunde möchte ich kurz zwei<br />

Aspekte herausheben, die von reproduktionsanalytischem Interesse<br />

sind. Der erste bezieht sich auf die Generationsund<br />

Sozialspezifik des Forderungsniveaus. Dabei zeigt sich,<br />

daß <strong>für</strong> einige sozialdemographische Gruppen die tiefgreifende<br />

Benachteiligung im Reproduktionsbereich sich nicht<br />

nur auf die Befriedigung bestehender Reproduktionsbedürfnisse<br />

erstreckt, sondern tief in die Entwicklungs- und Artikulationsfähigkeit<br />

von Reproduktionsansprüchen hineinreicht:<br />

"Ältere, weniger Gebildete, Unterschichtenangehörige<br />

und Frauen" (141) besitzen "in der Regel" nicht nur ein<br />

niedrigeres Forderungsniveau, sondern zeigen auch weit weniger<br />

als "Jüngere Menschen, höher Gebildete, Angehörige<br />

der oberen Gesellschaftsschichten und Männer" (141) Bereitschaft<br />

zur Artikulation von Ansprüchen. Damit hängt der<br />

zweite Aspekt eng zusammen, der im Lichte der jüngst von<br />

Fred Karl publizierten Studie über "Bürgerinitiativen"<br />

(1981) und deren sozialer Zusammensetzung besonderes Gewicht<br />

bekommt. Diejenigen Bürger, die in Initiativen und<br />

anderen Formen aktiv ihr gewachsenes Bedürfnis- und Anspruchsniveau<br />

artikulieren und durchzusetzen suchen, entwickeln<br />

nicht nur ihr Forderungsniveau im Zuge eben dieser<br />

Praxis qualitativ und quantitativ fort, sondern gelangen<br />

auch "zu erhöhter politischer Beteiligung" (131). Auf diese<br />

Weise verdoppelt sich gleichsam die reproduktionsspezifische<br />

Benachteiligung der oben genannten sozial-demographischen<br />

Gruppen. Einzelne Befunde Arzbergers sollten nicht<br />

nur von Gewerkschaftskollegen, die mit Kulturpolitik und<br />

sozialer Kulturarbeit befaßt sind, aufmerksam zur Kenntnis<br />

genommen werden, zumal die Studie erkennen läßt, daß die<br />

Gewerkschaften im kommunalen Bereich der Qualifizierung,<br />

DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83


Sozialstaat und Bürgerinitiativen 43<br />

Artikulation und Durchsetzung von ReproduktionsansprUchen<br />

der Lohnabhängigen bisher nur unzureichend Kraft entfaltet<br />

haben. Friedhelm Kröll (Nürnberg)<br />

Grüber, Wolfram: Sozialer Wohnungsbau in der Bundesrepublik.<br />

Der Wohnungssektor zwischen Sozialpolitik und Kapitalinteressen.<br />

Pahl-Rugenstein Verlag, Köln 1981 (196 S., br.)<br />

"Ein Gespenst geht um: die neue Wohnungsnot". Mit diesen<br />

Worten beginnt das sehr informative Buch von Grüber über<br />

die Geschichte des Sozialen Wohnungsbaus in der Bundesrepublik.<br />

Diese erste systematische Darstellung erscheint zu<br />

einem Zeitpunkt, wo der desolate Zustand der staatlichen<br />

Wohnungsbauförderung offensichtlich ist und die Sparbeschlüsse<br />

aus Bonn einen weiteren tiefgreifenden Einschnitt<br />

in das soziale Sicherungssystem gebracht haben. Grüber beschränkt<br />

sich nicht auf eine reine Beschreibung, sondern<br />

stellt die Veränderungen der Wohnungsbaupolitik und der<br />

Förderungsformen in den Zusammenhang mit der wirtschaftlichen<br />

und politischen Entwicklungsgeschichte der Bundesrepublik.<br />

Zwei Entwicklungslinien werden verfolgt: Seit Beginn<br />

besteht das prinzipielle Ziel, den gesamten Wohnungsbestand<br />

dem "freien Markt" zu übereignen. Staatliche Interventionen<br />

haben damit nur "Nothilfecharakter", sind zeitlich befristet.<br />

<strong>Das</strong> Nebeneinander von sozialpolitisch motivierten<br />

Eingriffen und einer unreglementierten Preis- und Gewinnentwicklung<br />

in der Gesamtwirtschaft erzeugt genau die faktischen<br />

Fehlentwicklungen wie Mietverzerrungen und Fehlbelegungen,<br />

die als Rechtfertigung <strong>für</strong> den Rückzug des Staates<br />

herhalten müssen. Grüber belegt, daß nicht die Interventionen<br />

die Ursache der Fehlentwicklungen sind, sondern<br />

ein widersprüchlicher Zielkatalog, in dem Sozialpolitik mit<br />

demontierenden Gewinninteressen unvereinbar sind. Die Kontinuität<br />

dieses <strong>Argument</strong>ationsmusters zieht sich durch die<br />

wohnungspolitische Diskussion vom Abbaugesetz 1960 über<br />

die Rezession 1966/67 bis in die aktuellen Spardebatten.<br />

Die 2. Entwicklungslinie erschließt eine neue Dimension,<br />

die bisher noch nie auf das Förderungssystem des Sozialen<br />

Wohnungsbaus übertragen wurde: die Krisenregulierung des<br />

spätkapitalistischen Staates. Die Absicht der "vollständigen<br />

Liberalisierung des Wohnungsmarktes" scheiterte am dauerhaft<br />

weiter bestehenden Wohnungsmangel, so daß die Wohnungsbauförderung<br />

als fester Bestandteil der Staatsinterventionen<br />

institutionalisiert wurde. Damit unterlag aber<br />

der Soziale Wohnungsbau spätestens seit der Rezession 1966/<br />

67 der damals neuen Programmatik der staatlichen Globalsteuerung<br />

der Gesamtwirtschaft. <strong>Das</strong> Prinzip, staatliche<br />

Ressourcen zur Behebung kapitalistischer Verwertungskrisen<br />

einzusetzen, galt seither <strong>für</strong> Wohnungsbauausgaben gleichermaßen<br />

wie <strong>für</strong> andere Sozialleistungen. Der Soziale Wohnungsbau<br />

wurde damit konsequent den Strategien zur Änderung<br />

der Haushaltsstruktur und Beendigung der "Staatsfinanzkrise"<br />

untergeordnet. <strong>Das</strong> Verdienst von Grüber ist es, erst-<br />

DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83


44 Soziale Bewegungen und Politik<br />

mais diese in der Rezession 1966/67 installierten Krisenstrategien<br />

detailliert im Förderungssystem nachzuweisen.<br />

Weiterhin werden Unterschiede zu anderen Sozialleistungen<br />

herausgearbeitet. So berühren Kürzungen bzw. Veränderungen<br />

in der Wohnungsbauförderung unmittelbar sektorale Kapitalinteressen.<br />

Es wird deutlich, wie der Soziale Wohnungsbau,<br />

der 1949 angetreten ist, die Wohnversorgung der unteren<br />

Einkommensgruppen sicherzustellen, zu einem Subventionsinstrument<br />

der Wohnungsunternehmen verkommen ist. Darüber<br />

hinaus bietet Grüber eine Fülle von Einzelinformationen<br />

über Mietkalkulation, Zinsanteile an der Kostenmiete und<br />

die kommenden Mietbelastungen.<br />

Insgesamt ist das Buch eine wichtige und lesenswerte Arbeit,<br />

da es zu einem klareren Verständnis der gegenwärtigen<br />

Wohnungspolitik beiträgt. Denn es untermauert die Forderung<br />

nach einer Priorität des Mietwohnungsbaus in den Ballungsgebieten<br />

und nach einer Abkoppelung der Finanzierung vom<br />

allgemeinen Zinsmechanismus. Es bildet eine Grundlage <strong>für</strong><br />

eine alternative sozialorientierte Miet- und Wohnungsbaupolitik.<br />

Klaus Brake (Oldenburg)<br />

Moltke, Konrad von und Nico Visser: Die Rolle der Umweltschutzverbände<br />

im politischen Entscheidungsprozeß der Niederlande.<br />

Beiträge zur Umweltgestaltung Band A 84. Erich<br />

Schmidt Verlag, Berlin 1982 (116 S., br.)<br />

Die im Auftrage des Umweltbundesamtes und mit Unterstützung<br />

des <strong>Institut</strong>es <strong>für</strong> Europäische Umweltpolitik angefertigte<br />

Untersuchung will eine Lücke schließen: Bisher gibt<br />

es weder in den Niederlanden noch hier eine zusammenfassende<br />

Darstellung der niederländischen UmWeltorganisationen,<br />

obgleich nach Meinung der Autoren aus den Erfahrungen der<br />

niederländischen Umweltbewegung durchaus sinnvolle Verallgemeinerungen<br />

ableitbar sind. Die Untersuchung basiert auf<br />

der Auswertung von niederländischen, zum Teil noch unpublizierten<br />

Analysen über die Umweltinitiativen, deren eigenen<br />

Untersuchungen sowie den Ergebnissen einer Fragebogen-Aktion<br />

und Experten-Interviews der Autoren. Ihr Hauptgewicht<br />

liegt auf der Darstellung der derzeitigen allgemeinen<br />

Struktur der Umweltbewegung und der Beschreibung der typischen<br />

und bedeutenden UmWeltorganisationen: Vereinigung Arbeitsgruppe<br />

<strong>für</strong> Naturschutz und Umweltgestaltung in Eindhoven<br />

und Umgebung (WNM), Nationale Vereinigung zum Schutz<br />

des Wattenmeeres (LVBW), Vereinigung <strong>für</strong> den Schutz von Naturmonumenten<br />

in den Niederlanden (Natuurmonumenten), Stiftung<br />

Geldersche Umweltföderation (GMF), Stiftung Natur und<br />

Umwelt (SNM), Vereinigung zur Verteidigung der Umwelt<br />

(VMD).<br />

Die Autoren deuten die Konflikte in der strategischen<br />

Orientierung zwischen alten (Naturschutz-) und neuen (nach<br />

1970 entstandenen Umweltschutz-)Organisationen an, um deutlich<br />

zu machen, daß nunmehr eine Struktur gefunden sei, die<br />

ein stabiles Bündnis garantiere. Dies beruhe auf der Exi-<br />

DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83


Sozialstaat und Bürgerinitiativen 45<br />

Stenz von zwei nationalen Koordinationsgremien, von denen<br />

eines die Organisation der inhaltlichen, praktischen Zusammenarbeit<br />

zur Aufgabe hat, während das andere als unverbindliche<br />

Clearing-Stelle unterschiedlicher Standpunkte<br />

wirkt. Dieses Nebeneinander von Minimalkonsens und Diskussionsforum<br />

hat es nach Auffassung der Autoren bewirkt, daß<br />

breite Bündnisse zu Einzelfragen Zustandekommen, die die<br />

Eigenständigkeit der einzelnen Organisationen nicht in Frage<br />

stellen. Für die Aktionsfähigkeit der Initiativen ist<br />

weiterhin von Bedeutung, daß sie sich gemäß dem 1980 in<br />

Kraft getretenen Gesetz über die Offenheit der Verwaltung<br />

Zugang zur Vorbereitungsphase von Planungen verschaffen<br />

können (allerdings mit wichtigen Einschränkungen).<br />

Weiterhin wird in den Niederlanden die Klagebefugnis von<br />

Initiativen wesentlich weiter gefaßt (sog. Jedermann-Verfahren)<br />

als dies bei uns auch nach Abschluß der kleinlichen<br />

Diskussion um die Verbandsklage im Naturschutzrecht sein<br />

wird. Die stärkere Einbindung der Initiativen in den Verwaltungs-Ablauf<br />

kommt auch in der recht hohen finanziellen<br />

Unterstützung aus öffentlichen Geldern zum Ausdruck. Die<br />

Organisationen akzeptieren - so folgern die Autoren -, daß<br />

sie ain der Umweltpolitik mitwirken, letztlich aber nur ein<br />

Interesse unter anderen vertreten. Sie berichten andererseits<br />

auch von Organisationen mit gegensätzlicher Haltung,<br />

die eine Zusammenarbeit mit der Verwaltung ablehnen. Dessen<br />

ungeachtet zählen die Autoren als Möglichkeiten der Organisationen,<br />

die niederländische Umweltpolitik zu beeinflussen,<br />

lediglich die rechtlich vorgesehenen Mitwirkungs-Verfahren<br />

auf.<br />

Diese Beschränkung macht das entscheidende Manko der Ar- '<br />

beit deutlich; denn schließlich umfaßt der politische Entscheidungsprozeß,<br />

den es zu untersuchen galt, in den Niederlanden<br />

wie anderswo mehr als nur verfahrensrechtliche<br />

Mitwirkung. Es darf sogar bezweifelt werden, ob die weitgehenden<br />

legalen Aktionsmöglichkeiten überhaupt zustande gekommen<br />

wären ohne die Wahrnehmung legitimer Aktionsformen<br />

wie Demonstrationen, Besetzungen, Blockaden etc. Die Studie<br />

argumentiert ausschließlich organisationssoziologisch, die<br />

Darstellung konkreter Konflikte, der Klassen-Strukturen und<br />

des politischen Prozesses unterbleibt. Analytische Flachheit<br />

und thematische Einschränkungen sind die Folge und bewirken,<br />

daß der Titel der Studie mehr verspricht als der<br />

Inhalt zu erbringen in der Lage ist. Immerhin: Entnehmen<br />

mag man der Untersuchung zahlreiche Informationen zu den<br />

einzelnen Organisationen und zu ihrem Bündnis-Konzept, die<br />

die Aktions- und Organisationsdiskussion der bundesdeutschen<br />

Umweltbewegung durchaus anreichern können.<br />

Günther Bachmann (Berlin/West)<br />

DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83


46 Soziale Bewegungen und Politik<br />

Kämpfe von Frauen in Lateinamerika. Biographische Schilderungen<br />

Löw, Angelika: "Was wird aus uns, wenn keine sich wehrt?"<br />

Kolumbien: Die alltäglichen Kämpfe der Frauen. Rowohlt Taschenbuch<br />

Verlag, Reinbek 1982 (151 S., br.)<br />

Mit Hilfe der Lebensgeschichten von zehn kolumbianischen<br />

Frauen wollte Löw sich und den Lesern Zugang zu einer fremden<br />

Realität schaffen. "Besonders während meines zweiten<br />

längeren Kolumbien-Aufenthaltes habe ich begriffen, daß ich<br />

von dem Leben der Menschen, den Motiven ihrer Handlungen,<br />

ihren Kommunikationsformen, ihren Gefühlen und ihrem gesellschaftlichen<br />

Bewußtsein nur etwas verstehen kann, wenn<br />

ich genau hinschaue und zuhöre und die <strong>Theorie</strong> als Interpretationshilfe<br />

benutze" (10). Welche <strong>Theorie</strong>n sie wie benutzt,<br />

sagte sie nicht. Der Autorin geht es um die kleinen<br />

alltäglichen Kämpfe der Frauen ums Überleben in einem Entwicklungsland,<br />

da diese die Vorbereitung <strong>für</strong> organisierte<br />

nationale Befreiungskämpfe bilden würden. Löw besuchte jede<br />

einzelne Frau und zeichnete das Gespräch auf Tonband auf.<br />

, Die Schwerpunkte legte sie dabei auf die zwischenmenschlichen<br />

Beziehungen der Frauen zu den Männern, Kindern, Vorgesetzten,<br />

auf Liebe und Sexualität, auf die Arbeit (im und<br />

außer Haus), auf Ausbildung und Freizeit. Da nirgends (weder<br />

in den Wiedergaben der Gespräche noch als Anhang) die<br />

Fragen der Autorin auftauchen, bleibt den Lesern/innen verborgen,<br />

auf welche Fragen die Kolumbianerinnen nicht geantwortet<br />

und welche sie nicht verstanden haben. "Je weiter<br />

der soziale und kulturelle Abstand zwischen mir und meiner<br />

Gesprächspartnerin war, desto schwieriger und vieldeutiger<br />

wurde die Kommunikation" (13). Könnten nicht gerade diese<br />

Mißverständnisse dazu beitragen, die Unterschiede zwischen<br />

unserer und der kolumbianischen Kultur aufzudecken, um beide<br />

besser verstehen und hinterfragen zu können?<br />

Jedem Lebensbericht schließt sich eine kurze Darstellung<br />

der sozialen Situation, in der die jeweilige Befragte lebt,<br />

an. <strong>Das</strong> ist eine gute Hilfe <strong>für</strong> die Leser, denn die Frauen<br />

sind unterschiedlichster sozialer, ethnischer, religiöser<br />

und regionaler Herkunft. Trotz dieser großen Unterschiede<br />

haben acht der vorgestellten Frauen gemein, ob sie nun besonders<br />

arm oder reich sind, daß sie sehr früh (im Alter<br />

von 15 bis 20 Jahren, ohne einen Beruf gelernt zu haben)<br />

heiraten und früh viele (drei bis zwölf) Kinder bekommen,<br />

so daß sie kaum überlegen, wie sie ihr Leben (selbst) gestalten<br />

könnten. Sind sie arm, müssen sie meist <strong>für</strong> ihre<br />

Kinder selber sorgen, weil die Ehemänner trinken, herumlungern<br />

oder Frau und Kinder verlassen. Dennoch bereiten die<br />

Frauen ihre Töchter immer wieder auf die Ehe vor; jungfräulich<br />

zu heiraten ist wichtiger als eine Berufsausbildung.<br />

So unterschiedlich wie die Frauen sind auch ihre alltäglichen<br />

Kämpfe. <strong>Das</strong> ist z.B. Marie, eine Straßenhändlerin,<br />

mit sieben Kindern, ihr Mann hat sie verlassen. Sie arbei-<br />

DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83


Frauen -in Lateinamerika<br />

tet den ganzen Tag und die ganze Woche, abhängig von der<br />

Laune der Polizisten, die sie ab und zu ins Gefängnis stekken,<br />

weil sie keine Papiere hat. Im Krankheitsfall helfen<br />

sich die Straßenhändler gegenseitig, eine Versicherung gibt<br />

es nicht. Jeder Tag birgt den Überlebenskampf. Die Textilarbeiterin<br />

Fabiola muß ebenfalls <strong>für</strong> den Unterhalt ihrer<br />

Kinder sorgen. Sie wurde arbeitslos, weil sie mit ihren<br />

Kollegen zusammen eine Gewerkschaft gründen wollte, um gegen<br />

eine Pausenverkürzung in der Textilfabrik, in der sie<br />

arbeitete, vorgehen zu können. Für eine politische Gefangene<br />

, die gefoltert wurde, wird sogar das Leben im Gefängnis<br />

zu einem Bestandteil ihres Kampfes um Veränderung: "Wie<br />

schon vorher außerhalb dieser Mauern, bestätigt sich, was<br />

politisches Engagement unter anderem heißt: uns gegenseitig<br />

als Menschen respektieren, ... Und uns auch von hier aus<br />

<strong>für</strong> unsere Gerechtigkeits- und Freiheitsideale einzusetzen"<br />

(83). <strong>Das</strong> Buch endet mit einer Chronologie des Landes<br />

und einigen statistischen Daten.<br />

Leider nimmt Low nicht zusammenfassend Stellung zu den<br />

Gesprächen, so daß unklar bleibt, inwiefern ihrer Meinung<br />

nach die alltäglichen Kämpfe der Kolumbianerinnen den nationalen<br />

Befreiungskampf vorbereiten. Dies wird der Interpretation<br />

des Lesers/der Leserin überlassen. Dennoch bietet<br />

dieses Buch sicherlich allen, die sich mit Kolumbien und/<br />

oder der Situation der dort lebenden Frauen beschäftigen<br />

wollen, die Möglichkeit eines ersten Zugangs.<br />

Barbara Ketelhut (Hamburg)<br />

Poniatowska, Elena: Allem zu Trotz ... das Leben der Jesusa.<br />

Lamuv Verlag, Bornheim-Merten 1982 (331 S., br.)<br />

Wie kommt eine wohlhabende, intellektuelle Mexikanerin<br />

dazu, 10 Jahre lang eine arme alte Frau aus den Slums von<br />

Mexico City zu interviewen, um ein Buch über deren Leben zu<br />

schreiben? Inspiriert hat sie die Methode von Oscar Lewis,<br />

der anthropologische Bücher über Armut in Mexiko schrieb<br />

und mit der Interviewmethode arbeitete, und dem sie 1 1/2<br />

Jahre bei seiner Arbeit zuschaute.<br />

Im Gegensatz zu ihm will sie die Distanz zwischen Forscher<br />

und Untersuchten überwinden. Und so besucht sie Jesusa<br />

Uber Jahre regelmäßig einmal in der Woche, lernt ihr Leben<br />

dabei kennen, und es entwickelt sich eine Art Freundschaft<br />

zwischen den beiden Frauen. Vor allem die Autorin<br />

macht dadurch einen Lernprozeß durch, weil sie durch Jesusa<br />

eine andere Welt kennenlernt, in der diese um ihr tägliches<br />

Überleben kämpft und um ihre Unabhängigkeit als Frau.<br />

Gleichzeitig fängt die Autorin an, sich selbst in Frage zu<br />

stellen. Doch hat sich in ihrem Leben dadurch wirklich etwas<br />

geändert oder hatte die Beziehung zu Jesusa eher eine<br />

Alibifunktion <strong>für</strong> ihre politischen Ansprüche? "Ich versuchte<br />

immer ein Gleichgewicht zu halten zwischen der extremen<br />

Armut, die ich am Nachmittag teilte, und dem Glanz der Emp-<br />

47<br />

DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83


48<br />

Soziale Bewegungen und Politik<br />

fange. Mein Sozialismus war unaufrichtig" (23). Was sie mit<br />

"ihrem Sozialismus" meint, läßt sie dahingestellt. Für sie<br />

ist Jesusa das Sinnbild <strong>für</strong> eine menschlichere, gerechtere<br />

Gesellschaft. Jesusa ist stolz und mißtrauisch gegen jede<br />

Form von Abhängigkeit und Ungerechtigkeit und lehnt sich<br />

gegen die gesellschaftlichen Zustände auf, aber gleichzeitig<br />

resigniert sie auch an ihnen. So wird sie verbittert<br />

und einsam und sucht mit zunehmendem Alter Trost in der Religion.<br />

Anknüpfend an ihre religiösen Visionen rollt sie<br />

ihr Leben in sehr lebendiger Umgangssprache noch einmal<br />

auf.<br />

Jesusa, Ende des letzten Jahrhunderts geboren, ist das<br />

Kind armer Leute. Die Mutter stirbt früh und nach ihrem Tode<br />

zieht der Vater mit ihr und ihrem Bruder herum, bis er<br />

wieder heiratet. Dort muß sie hart arbeiten und verdingt<br />

sich mit 11/12 Jahren als Dienstmädchen. Zur Zeit der mexikanischen<br />

Revolution gehen Vater und Bruder zu den Soldaten,<br />

und sie zieht mit ihnen. Mit 14/15 Jahren heiratet sie<br />

einen 17jähriger Offizier. Dieser versorgt sie materiell<br />

gut, und sie hat eine relative Abwechslung durch das Leben<br />

bei der Truppe. Aber er hat auch öfter Liebschaften und<br />

schlägt sie häufig. Sie rechtfertigt sein Verhalten, steht<br />

aber trotzdem auf, als das Faß zum Überlaufen kommt - und<br />

ihr Aufstand hat Erfolg. "Von dem Moment an, wo ich die Pistole<br />

auf Pedro gerichtet hatte, hatte er sich gebessert"<br />

(117). Aber sie fühlt sich schuldig, denn <strong>für</strong> eine Frau<br />

ziemt es sich nicht, sich gegen ihren Mann zu wehren und<br />

aggressiv zu sein. Daß die Frau Besitz ihres Mannes ist,<br />

stellt sie nicht in Frage; trotzdem zieht sie ihre Konsequenz:<br />

Nach dem Tode ihres Mannes heiratet sie nicht mehr.<br />

Ihr Mann wird im Kampf getötet und bis zur Übergabe führt<br />

sie das Kommando seiner Truppe. Doch dann verläßt sie die<br />

Soldaten und geht nach Mexiko City, um sich Arbeit zu suchen.<br />

<strong>Das</strong> ist sehr schwierig, weil sie nicht lesen und die<br />

Zettel an der Tür: 'Dienstmädchen gesucht' nicht entziffern<br />

kann. Sie arbeitet dann als Dienstmädchen unter Bedingungen,<br />

unter denen sie krank wird. <strong>Das</strong> läßt sie sich später<br />

nicht mehr gefallen. Sie nimmt viele verschiedene Arbeiten<br />

an: als Arbeiterin in Fabriken, Schreinerin, Serviererin;<br />

sie war sogar Leiterin eines Lokales und später eines Frisörsalons.<br />

Sie hat es nie sehr lange ausgehalten auf ihren<br />

Arbeitsstellen, obwohl ihre Arbeit ihr immer sehr wichtig<br />

war und sie z.T. sehr genaue Beschreibungen ihrer Tätigkeiten<br />

gibt. Sie führt in dieser Zeit ein sehr bewegtes Leben,<br />

geht nachts in Bars, hat viele Männerbekanntschaften,<br />

streitet und rauft sich gerne, so daß sie einmal auch im<br />

Gefängnis landet. Aber sie macht auch bei einer Landbesetzung<br />

mit und erwähnt kurz, daß sie in der Gewerkschaft war.<br />

Als sie älter ist, kümmert sie sich 3 Jahre um die Kinder<br />

einer verstorbenen Freundin und zieht dann eines davon<br />

groß. Sie arbeitet hart, um ihn zur Schule schicken zu können.<br />

Bildung scheint die Hoffnung <strong>für</strong> ein besseres Leben zu<br />

DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83


Frauen -in Lateinamerika 49<br />

sein. Sie erzieht ihn sehr streng. Auf der Schule erfährt<br />

der Sohn Klassenunterschiede, die offensichtlich auch mit<br />

ihrer dunklen Hautfarbe verbunden sind. Denn die Schule kostet<br />

Geld und ist nur etwas <strong>für</strong> Privilegierte: Jesusa holt<br />

ihren Pflegesohn, der blond ist, von der Schule ab: "...<br />

seine Schulkameraden hänselten ihn: 'Da kommt dein Dienstmädchen.<br />

' Er bekam einen hochroten Kopf: '<strong>Das</strong> ist nicht<br />

mein Dienstmädchen, das ist meine Mama.' Sie glaubten ihm<br />

nicht. Sie dachten wohl bei sich: 'Diese dunkelhäutige Alte<br />

soll seine Mutter sein?" 1 (301) Eines Tages verläßt der<br />

Junge sie ohne ein Wort. Sie fragt nicht warum, sondern betrachtet<br />

ihn als verstorben. Zur Zeit der Interviews lebt<br />

sie allein und davon, daß sie Arbeitsanzüge reinigt. Sie<br />

wartet nur noch auf den Tod.<br />

"... weder mein derzeitiges Leben noch mein vergangenes<br />

haben etwas mit Jesusa zu tun" (23), schreibt die Autorin<br />

in ihrem Vorwort. Zuerst wollte sie Jesusa zu einer Art revolutionärer<br />

Volksheldin machen, ihre einen Platz in der<br />

mexikanischen Geschichte einräumen, dann zieht sie es aber<br />

vor, "besonderes Gewicht auf die persönlichen Qualitäten<br />

der Jesusa zu legen, jenes Etwas, daß sie von dem traditionellen<br />

Bild der mexikanischen Frau unterscheidet" (26). Erstaunt<br />

hat mich, nur im Vorwort zu lesen, daß Jesusa auch<br />

in der Kommunistischen Partei war. Hat sie kaum darüber erzählt,<br />

oder hat die Autorin es herausgelassen? Welchen Einfluß<br />

hatte dies auf ihren Konflikt, sich gegen die herrschende<br />

Ordnung zu wehren und sie gleichzeitig zu akzeptieren?<br />

"Es tut weh darüber nachzudenken, daß unser Land über<br />

ein solch hervorragendes Menschenmaterial verfügt wie Jesusa,<br />

das nicht nur nicht genutzt, sondern auch noch schlecht<br />

behandelt wird" (26). Sie spricht dabei über Jesusa wie<br />

Uber einen Gegenstand und bestärkt diese nur in ihrer immer<br />

wieder auftauchenden Selbstverachtung und Resignation. So<br />

können Jesusas Kämpfe nur scheitern.<br />

Annekathrin Linck (Hamburg)<br />

Zago, Angela: Tagebuch einer Guerilla-Kämpferin. Hammer<br />

Verlag, Wuppertal 1977 (215 S., br.)<br />

Morella, eine 20jährige Psychologiestudentin aus Caracas,<br />

beschreibt in einfachen, treffenden Sätzen und Ich-Form,<br />

wie es ihr 1964/65 an der Guerillafront Venezuelas erging.<br />

Wichtig erscheint mir an diesem schon etwas älteren Buch,<br />

daß sie ihre Lernprozesse sehr offen aufzeichnet. Als langjähriges<br />

Parteimitglied lernt sie in den Bergen die eher<br />

soldatischen Anforderungen, nämlich stark, hart und diszipliniert<br />

gehorsam zu sein, infrage zu stellen. Und sie entmystifiziert<br />

den Guerillakampf. So etwa habe ich mir eine<br />

weibliche Revolutionärin vorgestellt.<br />

Sie will ihre Waffen niemals einsetzen, und kann dies<br />

auch während der zwei Jahre einhalten, da sie mit dem Feind<br />

nicht direkt in Berührung kommt. Ihr wird eine Gruppe von<br />

9 Jungen im Alter von 15 bis 25 Jahren unterstellt, mit de-<br />

DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83


so<br />

Soziale Bewegungen und Politik<br />

nen sie auf der kameradschaftlichen Ebene gut zurechtkommt.<br />

Als sich einige Jungen in sie verlieben, geht sie mit diesen<br />

Gefühlen sehr diskret und vorsichtig um. Die Warmherzigkeit<br />

der Beziehungen der Guerilleros untereinander und<br />

auch mit den Bauern war <strong>für</strong> mich neu und faszinierend,<br />

schon deshalb finde ich das Buch lesenswert. Birgt dieses<br />

sehr soziale sanfte Miteinander, das allerdings Sexualität<br />

eher peinlich meidet, die Perspektive menschlicheren Zusammenlebens?<br />

In ihrer Sexualität ist Morella sehr widersprüchlich<br />

und Traditionen verhaftet. Sie verliebt sich in ihren<br />

Vorgesetzten Marcelo, der sie sehr herablassend behandelt,<br />

aber das scheint sie nicht zu stören. Inhaltliche Differenzen<br />

wegen seiner Parteihörigkeit diskutiert sie nicht mit<br />

ihm. Als er mit ihr schlafen will, verweigert sie dies,<br />

weil sie während der Guerillazeit nicht will und weil die<br />

Partei dagegen wäre. Sie versteht sein Begehren nicht, und<br />

sie trennen sich. Erst viel später fragt sie, ob sie nicht<br />

zu hart gegen sich gewesen ist.<br />

Die Guerillaarbeit wird von der Parteileitung in Caracas<br />

zentral dirigiert. Befehle werden weder begründet noch diskutiert,<br />

"man führt sie aus" (85). Es herrscht striktes Delegationsprinzip.<br />

Morella handelt widerständig, indem sie<br />

Sicherheitsbestimmungen einfach ignoriert, aber sie wehrt<br />

sich nicht offen, setzt keine offiziellen Änderungen durch.<br />

Sie findet, daß die Partei Fähigkeiten und Vertrauen der<br />

Bauern und auch der Companeros unterschätzt, aber sie selbst<br />

diskutiert auch nicht, sondern entscheidet sehr selbstbewußt<br />

und eigenständig.<br />

Sie wird <strong>für</strong> ein bestimmtes Gebiet als politisch Verantwortliche<br />

eingesetzt. Sie soll die Bauern schulen, damit<br />

sie die soziale Basis <strong>für</strong> ein neues Kommando bilden und von<br />

der Brigade geleitet werden können. Sie gründet Parteizellen,<br />

leitet diese zu Versammlungen an, bildet eine "Rote<br />

Garde" als Milizeinheit zum Schutz der Versammlungen. Nach<br />

etwa 4 1/2 Monaten erhält sie den Auftrag, sich einem anderen<br />

Teil ihres Gebietes zuzuwenden. Dabei lernt sie den berühmten<br />

und allseits bewunderten Commandante Argimiro als<br />

väterlichen Freund und Lehrer kennen und lieben. Mit ihm<br />

spricht und korrespondiert sie über ihre Zweifel und Fragen<br />

bezüglich der Parteipolitik. Dieser Briefwechsel ist <strong>für</strong><br />

mich einer der schönsten und hoffnungsvollsten Teile des<br />

Buches. Argimiro will "die Entwicklung der sozialen Basis<br />

als Ausgangspunkt nehmen" (91). Die Partei sei zwar wichtig,<br />

aber auch die Bauern könnten die Partei etwas lehren<br />

und natürlich ihr Gebiet selbst leiten. Er betreibt Bündnis-<br />

und Aufbaupolitik, d.h. die Bauern helfen den Guerilleros<br />

ohne Parteiunterschiede und es werden Komitees der<br />

Befreiungsfront statt Parteizellen gegründet. Er erklärt<br />

und diskutiert Befehle. Morella will sich in seine Brigade<br />

versetzen lassen, aber die Partei lehnt dies ab. Kurz darauf<br />

stirbt Argimiro durch einen Unglücksfall.<br />

Dann beginnt die Einkesselung durch die Armee und der<br />

DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83


Frauen -in Lateinamerika 51<br />

Terror. Die Soldaten vergewaltigen, verbrennen und töten<br />

selbst nichtsahnende Bauern, und die Bauern erkennen in ihnen<br />

ihre Feinde. Sehr deutlich wird dem Leser geschildert,<br />

daß die Verpflegung wie das Überleben der Guerilleros allein<br />

von den Bauern abhängt, und wie demoralisierend es<br />

ist, sich verstecken und vor dem Aufspüren ängstigen zu<br />

müssen. Morella versteckt sich tagelang völlig allein am<br />

Berg, nur verpflegt und gestützt von einem Mann der Bauernmiliz.<br />

Dieses Alleinsein zerbricht sie völlig, sie hat Halluzinationen,<br />

Alpträume und resigniert. Nachdem sie wieder<br />

Kontakt zu ihrem Kommando bekommt, trifft sie Marcelo wieder,<br />

aber er ist ihr gleichgültig, und als er später stirbt,<br />

ist sie unfähig zu trauern.<br />

Morella wird aufgrund ihres sich verstärkenden Hustens<br />

zur Rückkehr nach Caracas bestimmt. Als sie in Caracas ankommt,<br />

schreibt sie: "Ich sah meine eigene Stadt. Meine<br />

Stadt ohne Krieg. Und ich dachte, bevor ich wieder ein Teil<br />

von ihr wurde: Hier ist nichts geschehen" (215). Dieser<br />

letzte Satz ist gleichzeitig der spanische Titel des Buches.<br />

Ich denke, er bezieht sich auf die Partei, die von<br />

ihrer zentralistischen autoritären Politik nicht abgegangen<br />

ist, nichts gelernt hat. Allerdings hat Morella sich auch<br />

nicht offen <strong>für</strong> Änderungen eingesetzt. Weder ein Vor- noch<br />

ein Nachwort deuten auf Konsequenzen ihrer Guerillaarbeit<br />

hin. Vielleicht meint sie mit ihrem Schlußsatz aber auch<br />

den Kontrast zwischen der so deutlich effektiven Arbeit mit<br />

den Bauern in den Bergen und den so wenig sichtbaren Erfolgen<br />

in der Stadt, wo die Probleme vielschichtiger und ungleich<br />

komplizierter sind. Renate Schröder (Hamburg)<br />

Guadalupe Martinez, Ana: Die geheimen Kerker El Savadors.<br />

<strong>Das</strong> Zeugnis der Comandante Guerrillera. Lamuv Verlag, Bornheim<br />

1982 (205 S., br.)<br />

Ana Guadalupe Martinez, heute Mitglied der politisch-diplomatischen<br />

Kommission der FMLN/FDR, geriet am 5. Juli<br />

1976 in die Hände der Nationalgarde El Salvadors. Mehr als<br />

6 Monate verbrachte sie in Gefangenschaft, bis es ihrer Organisation,<br />

der ERP (Revolutionäres Volksheer) gelang, sie<br />

durch die Entführung einer wichtigen Persönlichkeit freizupressen.<br />

Ihr Bericht schildert die unmenschlichen Haftbedingungen,<br />

die zermürbenden Verhöre, die Mißhandlungen und<br />

Folter, der sie und mit ihr die unzähligen anderen politischen<br />

Gefangenen ausgesetzt waren. <strong>Das</strong> Buch war erstmals<br />

kurz nach Ana Guadalupe Martinez' Freilassung, d.h. 1977,<br />

erschienen, zu einem Zeitpunkt also, zu dem kaum Zeugenaussagen<br />

darüber existierten, wie es in den Gefängnissen zuging.<br />

Ana war nach ihrer eigenen Aussage die erste Person,<br />

die das Gefängnis lebend verlassen hatte. Alles, womit Öffentlichkeit<br />

geschaffen wurde, konnte dazu beitragen, die<br />

Sicherheit der Gefangenen zu erhöhen, konnte eventuell ihr<br />

Leben retten.<br />

Aber nicht nur der Öffentlichkeitsarbeit sollte dieses<br />

DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83


52 Soziale Bewegungen und Politik<br />

Buch dienen, sondern Ana versucht auch, die eigenen Genossen<br />

vorzubereiten auf das, was sie bei einer möglichen<br />

Festnahme erwartet. Bis zu diesem Zeitpunkt gab es <strong>für</strong> die<br />

Revolutionäre mehr oder weniger nur die Alternative, zu<br />

siegen oder mit der Waffe in der Hand zu sterben. Die Möglichkeit<br />

einer langdauernden Gefangenschaft wurde kaum in<br />

Betracht gezogen. Demgegenüber war das Militärregime mit<br />

dem Erstarken des Widerstandes in der Bevölkerung in den<br />

siebziger Jahren und der sich verschlechternden politischen<br />

Machtposition immer mehr darauf angewiesen, Informationen<br />

von den Gefangenen zu erhalten, um die Widerstandsbewegungen<br />

wirksamer bekämpfen zu können. Man war bemüht, die Gefangenen<br />

am Leben zu halten und stattdessen die Verhör- und<br />

Foltertechniken immer weiter zu entwickeln. Da Ana am eigenen<br />

Leib erfahren hatte, wie schwer es ist, dem demoralisierenden<br />

Druck der Folter standzuhalten, ist ihr Buch sowohl<br />

ein Plädoyer <strong>für</strong> eine verbesserte politische und ideo^<br />

logische Vorbereitung der Guerrilleros, als auch ein Plädoyer<br />

da<strong>für</strong>, sich <strong>für</strong> die Einheit der Untergrundorganisationen<br />

einzusetzen, statt sich in Flügelkämpfen zu erschöpfen.<br />

Im Gefängnis hatte sie erfahren, daß es nur durch die<br />

Solidarität der Gefangenen untereinander möglich war, zu<br />

überleben, daß die Uneinigkeit der Organisationen "draußen"<br />

nur ihren Unterdrückern Möglichkeiten in die Hände spielt,<br />

effektiver gegen sie vorzugehen. Ob dieses Buch bei seinem<br />

Erscheinen vor inzwischen sechs Jahren diesen Zweck erfüllen<br />

konnte, vermag ich nicht zu beurteilen. Zumindest war<br />

es eine der ersten Schilderungen der Zustände in El Salvador,<br />

die eine breitere Öffentlichkeit erreichen konnte. Die<br />

deutsche Ausgabe aber erschien erst 1982. Die politische<br />

Situation in El Salvador hat sich weiter zugespitzt, die<br />

Tatsache, daß gefoltert wird, kann als bekannt vorausgesetzt<br />

werden, zumindest bei jedem, der es wissen will. Die<br />

Foltermethoden haben inzwischen ein dermaßen wissenschaftlich<br />

ausgeklügeltes Ausmaß angenommen, daß sie, wie Ana<br />

selbst am Ende des Buches in einem Interview sagt, alles,<br />

was sie damals erlebt hatte, in den Schatten stellen.<br />

Mich stört die völlige Distanz, aus der heraus Ana<br />

schreibt. Von ihr persönlich erfährt man sehr wenig. An den<br />

Stellen, an denen sie ein bißchen von der puren Darstellung<br />

abgeht, zieht sie sich oft hinter die Partei zurück. Es mag<br />

sein, daß es ihr so kurz nach ihrer Freilassung nicht möglich<br />

war, anders über das Erlebte zu schreiben. Mir aber<br />

fehlt jeder Einblick darüber, wer sie eigentlich ist, gerade<br />

noch, daß man nach der Hälfte ihres Berichtes weiß, daß<br />

sie eine 24jährige ehemalige Medizinstudentin ist. Wie sah<br />

ihr Entwicklungsweg hin zur Guerrillakämpferin aus, was sind<br />

ihre Wünsche und Hoffnungen, welche Perspektiven hat sie?<br />

Die Partei kommt nur wie ein über allem schwebendes Gebilde<br />

vor. Wie sieht ihre innere Struktur aus? Wie werden<br />

Entscheidungen getroffen? Sie berichtet, daß ihre Festnahme<br />

nur durch Verrat möglich war. Der Verräter, ein ehemaliger<br />

DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83


Dialektik, Logik und Sozialwissensahaften 53<br />

Genosse, wurde aus der Partei ausgeschlossen und sogar zum<br />

Tode verurteilt. Daß es sich hierbei um handfeste interne<br />

Auseinandersetzungen um die politische Richtung handelte,<br />

in deren Verlauf ein Minderheitsflügel die Organisation<br />

verließ, nachdem ihr Wortführer ermordet worden war, läßt<br />

sich aus allem, was sie dazu sagt, kaum ersehen. Wie sieht<br />

sich Ana selbst innerhalb ihrer Partei in ihrer Rolle als<br />

Frau? Nach ihrer Darstellung scheint es gar kein Diskussionspunkt<br />

zu sein, daß und wie Frauen mitkämpfen. Läuft<br />

wirklich alles so problemlos und selbstverständlich? Wie<br />

ist eigentlich ihr Bild vom Revolutionär? Mir scheint es,<br />

daß sie unter der Guerrilla eine Elitetruppe versteht, die<br />

<strong>für</strong> das Volk die Revolution betreibt, aber nicht mit und<br />

aus dem Volk heraus. Was sie Uber "der! Revolutionär" und<br />

"das Volk" sagt, wirkt auf mich wie aus einem Parteikommunique<br />

Übernommen.<br />

Ein wenig verständlicher wird die Art ihrer Darstellung,<br />

d.h. ihr Buch dann, wenn man sich die Entwicklung ihrer Organisation,<br />

der ERP, ansieht. <strong>Das</strong> "Revolutionäre Volksheer",<br />

gegründet 1971, war bis zu den erwähnten Auseinandersetzungen<br />

und der darauf folgenden Spaltung eine Gruppierung, die<br />

hauptsächlich durch militärische Aktionen von sich reden<br />

machte. Erst 1977, dem Jahr Anas Freilassung, begann man<br />

sich auf eine eher politische Strategie zu besinnen und<br />

gründete die 'Partei der Salvatorianischen Revolution'<br />

(PRS), der die ERP als bewaffnete Kampftruppe unterstellt<br />

wurde. Ohne genauere Hintergrundinformationen, die zum Beispiel<br />

eine ausführliche Einleitung der Autorin hätte bieten<br />

können, bleibt dieses Buch meiner Meinung nach sehr oberflächlich<br />

und unbefriedigend. Melanie Braatz (Hamburg)<br />

PHILOSOPHIE<br />

Dialektik, Logik und Sozialwissenschaften<br />

Kimmerle, Heinz (Hrsg.): Dialektik heute. Rotterdamer Arbeitspapiere.<br />

Germinal Verlag, Bochum 1983 (141 S., br.)<br />

Bei den vorgelegten Texten handelt es sich ausnahmslos<br />

um Überlegungen zu einer materialistischen <strong>Theorie</strong> der Dialektik,<br />

so unterschiedlich sachliches Gewicht und Lösungswege<br />

der einzelnen Beiträge auch einzuschätzen sein mögen.<br />

Kimmerle hat in einer Einleitung, zum Teil auch in seinem<br />

Aufsatz "Dialektik der Grenze und Grenze der Dialektik"<br />

(127-141), versucht, aus der Heterogenität der Konzeptionen<br />

eine gemeinsame Tendenz herauszulesen. So plausibel dabei<br />

die Abgrenzungen vom "linguistic turn" und von einem rein<br />

philosophiehistorischen Interesse an Dialektik erscheinen,<br />

so wenig vermag einzuleuchten, daß die von verschiedenen<br />

DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83


54 Philosophie<br />

Ausgangspunkten vollzogenen Vorstöße an die Grenze der Dialektik<br />

sich zu einer Art Einbahnstraße verengen sollen, die<br />

in den Raum des durch die Namen Heidegger und Derrida markierten<br />

Differenzdenkens führt (vgl. 6 und 137f.). Kimmeries<br />

Plädoyer <strong>für</strong> eine "Synthese aus Dialektik und Differenzdenken"<br />

(139) krankt vor allem daran, daß es seine Begründungsbasis<br />

aus der einseitigen Verknüpfung dialektischer<br />

<strong>Theorie</strong> mit industriell-kapitalistischen Verhältnissen<br />

gewinnt. In eine ähnliche Richtung weist auch die<br />

Gleichsetzung von Arbeit mit Entfremdung von der Nautr<br />

(vgl. 135), so daß die als Korrektiv eingeführten Verweise<br />

auf Deleuze/Guattari und Derrida in der Tat nur "vage<br />

Orientierungsgrößen" (136) bieten.<br />

Brockmeier (7-42)rückt seine Deutung der Hegeischen "Logik"<br />

als Entwicklungstheorie des 'reinen Denkens 1 (11) in<br />

den Kontext einer materialistischen Fassung des Erkenntnisqua<br />

Entwicklungsproblems. Hegels Metaphysikkritik wird am<br />

Bewegungsbegriff und am Verhältnis Möglichkeit-Wirklichkeit<br />

untersucht und auf ihren wissenschaftshistorischen Hintergrund<br />

(Newton/Lamarck) bezogen. "Durch die kategoriale<br />

Brille der materiellen Produktion gelesen" (32), erweist<br />

sich Hegels Modell von Entwicklung als ungeeignet, um einen<br />

Begriff der erweiterten Reproduktion zu denken. <strong>Das</strong> Zusammenfallen<br />

von Produktion und Produkt manifestiert sich im<br />

"Gesetz des teleologischen Determinismus der absoluten<br />

Idee" (26), das durch die Präsenz des Resultats im Anfang<br />

und die Aufhebung des Anfangs im Resultat den Blick auf einen<br />

nichtteleologischen Typus von Entwicklung verstellt.<br />

Der bei Brockmeier eher implizit bleibende Ansatz Peter Rubens<br />

wird in dem Beitrag von Furth (73-96) unter dem Titel<br />

"Arbeitskonzept" (73) vorgestellt. Aufgrund wichtiger Präzisierungen<br />

des Ansatzes, die zumal die Struktur der Widerspiegelungsrelation<br />

betreffen (vgl. 90ff.), gelingt Furth<br />

eine überzeugende Demonstration des Bruchs, den eine als<br />

"gegenständliche Tätigkeit und Produktionsvorgang" (83) gefaßte<br />

Widerspiegelungstheorie mit der traditionellen Subjekt-Objekt-Problematik<br />

vollzieht. Leider beschränken sich<br />

die Ausführungen auf den "archaischen Entstehungszusammenhang<br />

von Arbeit und Erkenntnis" (89) und setzen sich mit<br />

den mehrfach artikulierten Zweifeln (z.B.: die Rezensionen<br />

von Ripalda in Arg. 128 und Jäger in Arg. 135) am operativen<br />

Radius des Modells nicht auseinander. Hier wie auch bei<br />

dem Beitrag Erdeis (43-72), dem es um eine Lösung der <strong>für</strong><br />

die analytische Wissenschaftstheorie aporetischen Frage der<br />

Induktion zu tun ist, wird eine Tendenz sichtbar, deren<br />

Diskussionspotential nur kurz angedeutet sei. Der betont<br />

ontologischen Fassung des Widerspruchs korrespondiert eine<br />

Vernachlässigung seiner konkreten Typik. Es wäre zu fragen,<br />

wie sich innerhalb der sehr Hegeischen Rede vom Widerspruch<br />

als dem "absoluten Grund" (Erdei, 64) oder von Entwicklung<br />

als dialektischem Widerspruch von Erhaltung und Veränderung<br />

(Furth, 80) z.B. der Klassenantagonismus oder andere Kon-<br />

DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83


Dialektik, Logik und Sozialwissensahaften 55<br />

fliktanordnungen als distinkte Formen ausweisen lassen.<br />

Manschots Ausführungen (97-109) zeichnen Althussers Weg<br />

von einer "theoretisch-wissenschaftlichen Konzeption der<br />

Dialektik" zu einer "politisch-strategischen" (97) nach.<br />

Eine Erklärung der referierten Verschiebung, die diese auf<br />

innertheoretische Zwänge und/oder politische Konjunkturen<br />

bezöge, wird nicht geboten. Darüber hinaus bleibt das gewählte<br />

Schema zu grobmaschig, da es weder den schon zwischen<br />

"Für Marx" und "<strong>Das</strong> Kapitel lesen" eintretenden Wandel<br />

noch die weiteren Verlagerungen hin zu "Lenin und die<br />

Philosophie" und zur Selbstkritik nuanciert erfaßt. Carchedis<br />

Aufsatz "Dialektik und gesellschaftliche Gesetze" (110-<br />

126) ist in das Konzept eines "nicht-reflexive(n) Materialismus"<br />

(112) eingelassen. "Nicht-reflexiv" steht <strong>für</strong> die<br />

These, daß die Betrachtungsweise des Proletariats "...nicht<br />

die wirklichen Prozesse, wie sie in der Wirklichkeit stattfinden,<br />

(schildert)" und "... doch objektiv gesehen die<br />

Möglichkeit (hat), richtig zu sein, ein Zusammentreffen mit<br />

der Wirklichkeit zu erreichen, die sie schildert" (112).<br />

Wie das vor sich gehen soll, verrät der Verfasser leider<br />

nicht. Seine weiteren Überlegungen, die unter den Leitbegriffen<br />

"dialektische Bestimmung" (113) und "Überbestimmung"<br />

(118f.) ein Modell gesellschaftlicher Kausalität entwickeln<br />

wollen, kommen über die Kategorie "komplexe Wechselwirkung"<br />

(119) nicht hinaus und begnügen sich mit dem<br />

eher trivialen Befund, daß die Bewegungsgesetze einer widersprüchlich<br />

strukturierten Gesellschaft diese auf widersprüchliche<br />

Weise regulieren. Peter Körte (Münster)<br />

Elster, Jon: Logik und Gesellschaft. Widersprüche und mögliche<br />

Welten. Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M. 1981 (406 S.,<br />

Ln. )<br />

Elster, der in Oslo und Paris Geschichte und Soziologie<br />

lehrt, geht der Frage nach, wie neuere Entwicklungen in der<br />

Logik, besonders der Modallogik (der Logik von Möglichkeit<br />

und Notwendigkeit), <strong>für</strong> die Sozialwissenschaften fruchtbar<br />

gemacht werden können. Diese Frage mag zunächst nicht sehr<br />

spannend klingen, bei näherem Hinsehen aber enthüllt sich<br />

sein Buch als eine Vorratskammer interessanter Ideen und<br />

weiterweisender Erkenntnisse <strong>für</strong> alle sozialwissenschaftlichen<br />

Bereiche, denn jede <strong>Theorie</strong> "wohnt in der Möglichkeit"<br />

(78), d.h. beschreibt nicht nur Realität, sondern macht<br />

oder impliziert Aussagen über Mögliches und Unmögliches.<br />

Nach einer kurzen Darstellung der formalen Logik und deren<br />

Erweiterung in der Modallogik im 1. Kapitel belegt Elster<br />

die konstitutive Rolle des Möglichkeitsbegriffs <strong>für</strong> sozialwissenschaftliche<br />

<strong>Theorie</strong>n und Analysen an ganz unterschiedlichen<br />

Beispielen aus Soziologie, Linguistik, Anthropologie<br />

und Ökonomie (Kap. 2). Welche heuristische Kraft<br />

eine modallogische Formalisierung haben kann, demonstriert<br />

er im 3. Kapitel an dem Begriff der "politischen Möglichkeit".<br />

In diesen Passagen wird, unabhängig von den einzel-<br />

DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83


56 Philosophie<br />

nen Resultaten, die gesondert zu diskutieren wären, deutlich,<br />

daß jede sozialwissenschaftliche Analyse von einer<br />

modallogischen Fassung des Möglichkeitsbegriffs nur gewinnen<br />

kann, sei es an Klarheit über verborgene Konsequenzen<br />

(vgl. das Beispiel über Samuelsons Berechnung des realen<br />

Nationaleinkommens 67ff.), sei es die Einsicht in neue Fragen<br />

(z.B. 91 oder 99ff.).<br />

Den Kern des Buches bildet eine Untersuchung über geistige<br />

und soziale Widersprüche. Seit Poppers Kritik der<br />

Dialektik postulieren viele Wissenschaftstheoretiker (auch<br />

Sozialwissenschaftler beten diesen Glaubenssatz nach), von<br />

realen Widersprüchen könne nicht sinnvoll geredet werden.<br />

Gegen diese Tradition insistiert Elster darauf, es gebe<br />

"Situationen in der Realität, die nur mittels des Begriffs<br />

von einem logischen Widerspruch beschrieben werden können"<br />

(116). Von denjenigen, die den Begriff des Widerspruchs -<br />

gar des "dialektischen" - auf jedweden Streit, Konflikt<br />

oder Gegensatz anwenden, unterscheidet er sich durch seine<br />

präzise modallogische Analyse des Begriffs. Neben widersprüchlichen<br />

Wünschen und Überzeugungen, die er als geistige<br />

Widersprüche im 4. Kapitel anhand von Hegel (Widerspruch<br />

von Herr und Knecht), Hintikka und Festinger (Analyse des<br />

kognitiven Widerspruchs) behandelt, analysiert Elster im 5.<br />

Kapitel verschiedene Spielarten sozialer Widersprüche, so<br />

den zwischen individueller Intention und kollektivem Resultat<br />

(Kontrafinalität) und den zwischen dem Möglichen und<br />

dem Tatsächlichen (Suboptimalität). Eingebettet in diese<br />

Analysen untersucht Elster zugleich die Strukturen einiger<br />

Fehlschlüsse, die sich sowohl im Alltag als auch in den Sozialwissenschaften<br />

zeigen (Kompositionsfehlschluß, "strukturalistischer"<br />

Fehlschluß u.a.). Auch in diesen Kapiteln<br />

belegt er seine Interpretationen durch zahlreiche Beispiele,<br />

auch aus der marxistischen <strong>Theorie</strong>tradition (vgl. die<br />

Kritik an Marxens Erklärung des tendenziellen Falls der<br />

Profitrate 180ff.). Obwohl - wie Elster selbst im Vorwort<br />

schreibt - seine Untersuchung des Widerspruchsbegriffs noch<br />

leere Stellen aufweist (etwa im Zusammenhang von individuellen<br />

und sozialen Widersprüchen, vgl. 10) und weder zu<br />

einer systematischen <strong>Theorie</strong> zusammenfügt (vgl. 26) noch<br />

hinreichend mit einer <strong>Theorie</strong> von Veränderungsprozessen<br />

verknüpft ist (zu Elsters Intention vgl. 110 und 116; hier<br />

wäre ein Anschluß an das, was Marx als "Verlaufsform" von<br />

Widersprüchen bezeichnet hat, möglich), halte ich die Kapitel<br />

über geistige und soziale Widersprüche <strong>für</strong> so wichtig,<br />

daß ich sie jedem/r zur Lektüre und zum Weiterdenken empfehle,<br />

der/die den Begriff des Widerspruchs in sozialwissenschaftlichen<br />

Analysen nicht aufgeben will.<br />

Im letzten Kapitel behandelt Elster die Rolle irrealer<br />

Konditionalsätze in der Geschichtswissenschaft. Mit Recht<br />

weist er auf die Bedeutung von Aussagen des Typs "Wenn p<br />

der Fall gewesen wäre, wäre q der Fall gewesen" hin, die<br />

jeder Historiker implizit oder explizit benutzt, um histo-<br />

DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83


Dialektik, Logik und Sozialwissensahaften 57<br />

rische Ereignisse im Lichte anderer Möglichkeiten zu sehen.<br />

Elster macht deutlich, daß solche kontrafaktischen Behauptungen<br />

nie "<strong>für</strong> sich" gesehen werden dürfen, sondern theorieabhängig<br />

sind. Irreale Konditionalsätze sind vor allem<br />

von angelsächsischen Wissenschaftstheoretikern und Philosophen<br />

diskutiert worden; im Rahmen dieser Diskussion (275ff.)<br />

bewegt sich Elsters Analyse, in der er mit einleuchtenden<br />

<strong>Argument</strong>en eine metalinguistische <strong>Theorie</strong> der Gültigkeitsbedingungen<br />

kontrafaktischer Aussagen (276) entwickelt und<br />

in der Auseinandersetzung mit historischen Analysen (u.a.<br />

über die Rolle der Eisenbahnen <strong>für</strong> das Wirtschaftswachstum<br />

der USA im 19. Jahrhundert und über die Sklaverei in den<br />

Südstaaten) präzisiert. Auch hier gewinnt er seine Erkenntnisse<br />

ex negativo, durch den Aufweis der Probleme und Zirkelschlüsse,<br />

die bei unzulässigem Gebrauch irrealer Konditionalsätze<br />

entstehen und die die Folgerungen, die aus diesen<br />

Aussagen gezogen werden, ungültig machen.<br />

Elsters sorgfältiger, doch unbefangener Umgang mit theoretischen<br />

Traditionen erscheint mit besonders angesichts<br />

des hierzulande noch üblichen Schwankens zwischen modischer<br />

Beliebigkeit und verbissenen Beharrens sympathisch und<br />

nachahmenswert. Wilfried Kunstmann (Marl)<br />

Kocyba, Hermann: Widerspruch und <strong>Theorie</strong>struktur. Zur Darstellungsmethode<br />

im Marxschen 'Kapitel'. Materialis Verlag,<br />

Frankfurt/M. 1979 (219 S., br.)<br />

Die herausragende Rolle, die dem Begriff des Widerspruchs<br />

in der begrifflichen Architektonik der Marxschen<br />

Kritik der politischen Ökonomie zukommt, schien Generationen<br />

von Marx-Interpreten kennzeichnend <strong>für</strong> die - in <strong>kritische</strong>r<br />

oder apologetischer Absicht konstatierte - methodologische<br />

Abhängigkeit der Marxschen Gesellschaftstheorie von<br />

der Hegeischen Dialektik. Ob es sich jedoch tatsächlich um<br />

eine gemeinsame diskursive Matrix beider Autoren handelt<br />

oder vielmehr bloß um metaphorische Ähnlichkeiten, terminologische<br />

Anleihen, Anspielungen oder gar parodlstische Wiederholungen,<br />

blieb dennoch umstritten. Schon Marx' eigene<br />

Äußerungen zu dieser Frage sind von bemerkenswerter Ambiguität;<br />

die Stichworte 'Umstülpen' beziehungsweise 'Kokettieren'<br />

mit der Hegeischen Dialektik weisen kaum in dieselbe<br />

Richtung.<br />

Gegen die verschiedenen Varianten des zumal im 'westlichen'<br />

Marxismus dominierenden "residualhegelianischen Deutungsparadigmas"<br />

(10) führt Kocyba anhand einer Untersuchung<br />

der darstellungsorganisierenden Funktionen und der<br />

Bedeutungsfelder des Widerspruchsbegriffs im 'Kapital' den<br />

Nachweis, daß eine von Hegel entlehnte Begrifflichkeit sich<br />

zwar <strong>für</strong> zahlreiche Passagen belegen läßt, daß aber in den<br />

hegelianisierenden Interpretationsansätzen nicht hinreichend<br />

berücksichtigt wird, "ob sich bestimmte spekulative<br />

Figuren der Hegeischen Dialektik überhaupt von ihren idealistischen<br />

Prämissen ablösen und in ein materialistisches<br />

DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83


58 Philosophie<br />

<strong>Theorie</strong>programm eingliedern lassen" (30). Versteht man etwa<br />

die Warenanalyse zu Beginn des 1 Kapital ' als eine Art semantische<br />

Interpretation der wesenslogischen Reflexionsbestimmungen<br />

Identität und Differenz, so darf man doch nicht<br />

Ubersehen, daß der Struktur der wesentlichen Identität -<br />

die ja kein Produkt 'äußerer Reflexion' Uber einen der Reflexion<br />

äußerlichen Gegenstand sein soll - eine Figur der<br />

selbstreferentiellen Prädikation zugrunde liegt, die Henrich<br />

unter dem Titel 'autonome Negation' als konstruktiven<br />

Grundgedanken des diskursiven Aufbaus der Hegeischen Logik<br />

aufgewiesen hat. Einer materialistischen <strong>Theorie</strong> dürfte es<br />

kaum erlaubt sein, das Gefälle zwischen der Darstellung eines<br />

Sachverhalts und dem Sachverhalt seiner Darstellung systematisch<br />

zu nivellieren.<br />

Eine ausführliche Durchsicht der Verwendungsweisen und<br />

Bedeutungskontexte des Widerspruchsbegriffs im 'Kapital'<br />

führt Kocyba zu der weiterreichenden These, daß es sich<br />

beim Gang der Marxschen Darstellung "nicht um eine eindimensionale<br />

Ausdifferenzierung eines einheitlichen,ursprünglichen<br />

Widerspruchsverhältnisses (handelt), das sich in immer<br />

entwickeltere, komplexere Widerspruchsverhältnisse vervielfacht.<br />

Die Knotenlinie der <strong>Argument</strong>ation folgt ebensowenig<br />

einem dialektischen Entwicklungsschema als einem in<br />

sich zurücklaufenden Kreis von Kreisen" (146f.).<br />

Angesichts der Unmöglichkeit, den Widerspruchsbegriff<br />

als durchgängiges dialektisches Prinzip der begrifflichen<br />

Entwicklung zu charakterisieren oder einen homogenen Bedeutungskern<br />

des Widerspruchsbegriffs zu isolieren, kann von<br />

'der' dialektischen Methode des 'Kapital' nicht mehr die<br />

Rede sein. In seiner sehr erhellenden Klassifikation der<br />

Funktionstypen des Widerspruchsbegriffs (51ff.) zeigt Kocyba,<br />

daß sich die Marxsche Rede von 'Widersprüchen', 'Gegensätzen'<br />

oder 'Antagonismen' mit einer einfachen Disjunktion<br />

zwischen logischen Widersprüchen (die im Kontext der Kritik)<br />

konkurrierender ökonomischer <strong>Theorie</strong> eine Rolle spielen)<br />

und nicht-logischen, deskriptiven Widersprüchen (bei<br />

denen es sich nicht darum handelt, einem grammatischen Subjekt<br />

ein Prädikat gleichzeitig zu-und abzusprechen, sondern<br />

einem Subjekt zwei Prädikate zuzuordnen, mit denen Ursachen<br />

bezeichnet werden, deren Wirkungen sich wechselseitig neutralisieren)<br />

nicht erschöpfend erfassen läßt. Vielmehr ist<br />

bei den nicht-logischen Widersprüchen noch zu unterscheiden<br />

zwischen ihrer darstellungsorganisierenden Funktion im Gang<br />

der Marxschen <strong>Argument</strong>ation einerseits und ihrer Funktion<br />

bei der Beschreibung von Wirkungszusammenhängen in der<br />

Struktur des untersuchten Gegenstandes andererseits.<br />

Als Darstellungskategorie ergeben sich diese Widersprüche<br />

aus einer fehlenden oder mangelhaften Einsicht in den<br />

Zusammenhang zwischen den verschiedenen Strukturniveaus der<br />

begrifflichen Totalität; sei es, weil diese Einsicht bei<br />

dem erreichten Explikationsstand noch gar nicht möglich ist<br />

(so daß 'unmittelbare Produktion' und 'Zirkulation' in 'Wi-<br />

DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83


Dialektik, Logik und Sozialwissensahaften<br />

derspruch' zu geraten scheinen); sei es, weil Vermittlungsschritte<br />

ausgeblendet werden (wie beim 'Widerspruch' zwischen<br />

dem Wertgesetz und seinen Durchsetzungsformen) oder<br />

sich der Perzeption der Subjekte im gesellschaftlichen Feld<br />

aufgrund ihrer Position in diesem notwendig entziehen.<br />

Als Wirkungszusammenhang beschreibt der nicht-logische<br />

Widerspruchsbegriff die Effekte der Überlagerung verschiedener<br />

Teilstrukturen in der Gesamtstruktur - Prozesse, die<br />

sich wechselseitig verstärken, durchkreuzen oder blockieren<br />

können -, sowie die systematische Produktion unbeabsichtigter<br />

Nebenfolgen (hierher gehört der tendenzielle Fall der<br />

Profitrate, aber auch der 'Widerspruch' zwischen Produktivkräften<br />

und Produktionsverhältnissen; letzterer ist ein<br />

'Uberdeterminierter' Effekt innerhalb einer komplexen Gesamtstruktur<br />

und nicht etwa jener einfache 'Keim', aus dem<br />

alle weiteren Widerspruche 'dialektisch ableitbar' wären).<br />

Im dritten Teil seiner Arbeit diskutiert Kocyba einige<br />

der Konsequenzen, die sich aus dem Verzicht auf einen einheitlichen<br />

Widerspruchsbegriff und ein hegelianisches Interpretationsmodell<br />

fUr die Deutung des konzeptuellen Aufbaus<br />

des 'Kapital' ergeben. Die Abfolge der ökonomischen<br />

Formen in der theoretischen Darstellung beschreibt keine<br />

zeitliche, kausale oder deduktive Relation zwischen diesen<br />

Formen. Die Gesetze der kapitalistischen Produktionsweise<br />

und zumal das 'Wertgesetz' sind nicht nach dem Muster deduktiv-nomologischer<br />

Erklärungen zu begreifen: <strong>Das</strong> Wertgesetz<br />

realisiert sich als Verteilungsgesetz der gesellschaftlichen<br />

Arbeit auf die einzelnen Produktionszweige,<br />

ohne damit fUr den Einzelfall definitive Prozeßverläufe<br />

festzulegen. Es handelt sich um ein 'negatives Koexistenzgesetz'<br />

analog dem 'Pauli-Verbot' in der Atomphysik, das<br />

die Anzahl gleichzeitig möglicher Zustände eines Systems<br />

einschränkt. <strong>Das</strong> Wertgesetz ist diejenige Uberdeterminierende<br />

Regulationsinstanz, die den Bewegungsspielraum der<br />

relativ autonomen Teilstrukturen limitiert und so die innere<br />

Einheit der komplexen Gesamtstruktur geltend macht. Marx<br />

stutzt sich also, so Kocyba, auf einen Gesetzesbegriff ähnlich<br />

dem der strukturalen Linguistik, der regional spezifizierte<br />

Wirkungszusammenhänge innerhalb eines geordneten RelationsgefUges<br />

beschreibt.<br />

Hier wie auch in den abschließenden ideologietheoretischen<br />

Bemerkungen stützt sich Kocybas Rekonstruktion der<br />

Marxschen Darstellungsweise auf die Interpretation Althussers.<br />

Dessen Ideologiekonzept zeichnet "die Umrisse einer<br />

<strong>Theorie</strong> des Überbaus (...), die diesen nicht auf einen mechanischen<br />

Reflex der ökonomischen Basis reduzieren (will),<br />

ohne umgekehrt 'Gesellschaftstheorie als Erkenntniskritik',<br />

das heißt als philosophische <strong>Theorie</strong> verkehrter Subjektivität<br />

zu betreiben" (187). Ideologien leisten vor allem eine<br />

praktisch wirksame Organisation der Alltagsvorstellungen<br />

der Akteure, indem sie deren Handlungshorizont strukturieren<br />

und Perspektiven normativer Urteile bereitstellen. Alt-<br />

59<br />

DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83


60 Philosophie<br />

hussers Konzeption verstrickt sich dabei freilich in Schwierigkeiten,<br />

die mit dem in Anspruch genommenen Begriff des<br />

'Imaginären' und der 'Anrufung des Subjekts' zusammenhängen.<br />

Derartige Einwände machen allerdings Kocyba zufolge<br />

die Althussersche Problemstellung noch nicht obsolet.<br />

Horst Brühmann (Frankfurt/M.)<br />

Holz, Hans Heinz: Natur und Gehalt spekulativer Sätze.<br />

Pahl-Rugenstein Verlag, Köln 1980 (47 S., br.) zit. I<br />

Holz, Hans Heinz (Hrsg.): Formbestimmheiten von Sein und<br />

Denken. Aspekte einer dialektischen Logik bei Josef König.<br />

Pahl-Rugenstein Verlag, Köln 1982 (117 S., br.) zit. II<br />

Beide Arbeiten sind einem Projekt gewidmet, das Holz<br />

seit den fünfziger Jahren immer wieder in den Mittelpunkt<br />

seines Interesses gerückt hat: die mit der "Grundfrage"<br />

nach dem Verhältnis von Sein und Bewußtsein aufgegebenen<br />

metaphysischen und ontologischen Konsequenzen <strong>für</strong> die Philosophie<br />

aufzuzeigen und den Problembestand der Tradition<br />

in einer <strong>Theorie</strong> der Dialektik, in einem "dialektisch-materialistischen<br />

Begriff von Spekulation" (II, 98) zu reformulieren.<br />

Die nun publizierten Überlegungen deuten die Grundlinien<br />

einer dialektischen Logik an. <strong>Das</strong> vergleichsweise<br />

wenig beachtete Werk Königs bietet bei diesem Projekt einen<br />

unverzichtbaren Ausgangspunkt, da König bereits in seiner<br />

Schrift "Sein und Denken" (1937) den Möglichkeiten einer,<br />

wie er selbst erklärte, "noch nicht vorhandenen Logik", von<br />

der die mathematische Logik nur ein Teil sein würde, nachgegangen<br />

war. Unter der Maxime einer - Hegelsch-verstandenen<br />

- Aufhebung des transzendentalphilosophischen Programms<br />

versucht Holz das von Kant verhängte Verdikt über die ontologische<br />

Fassung der "Grundfrage" außer Kraft zu setzen,<br />

indem die bis auf Parmenides zurückgehende These der Selbigkeit<br />

von Sein und Denken ihrerseits als synthetisches<br />

Urteil a priori ausgewiesen wird. Als wertvolle Hilfe zur<br />

Lösung dieser Problemstellung dienen die Untersuchungen Königs,<br />

anhand derer die Relativität der Trennung von Denken<br />

und Sein, die Immanenz des Seins im Denken demonstriert<br />

wird. "<strong>Das</strong> heißt nun aber nicht einfach, daß das Sein bloß<br />

Produkt des Denkens ist - nur eben dies, daß 'sein' nicht<br />

ohne das Denken herauskommt: im Denken erscheint erst rein<br />

- und nicht am Seienden - das Sein" (I, 14). Einige pointierte<br />

Exkurse zu Schelling, Leibniz, Spinoza und insbesondere<br />

Hegel untermauern das Votum <strong>für</strong> eine ontologische Formulierung<br />

der Frage nach der adaequatio intellectus ad rem.<br />

Holz' Deutung zufolge ist es Hegel, der mit der Identifikation<br />

von Logik und Ontologie und mit dem der "Logik"<br />

zugrundeliegenden Methodenbegriff die Kantsche Forderung<br />

nach der Begründung synthetischer Urteile a priori einzulösen<br />

unternimmt. Die von Kant übernommene Hypothek wird abgetragen<br />

durch eingehende Beschäftigung mit der "Natur des<br />

spekulativen Satzes" (I, 28), in dem bereits nach Hegel das<br />

Medium philosophischer Wahrheit zu erblicken ist. Spekula-<br />

DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83


Dialektik, Logik und Sozialwissensahaften<br />

tive Sätze als "'Spiegel'-Sätze" (I, 38) lassen das Denken<br />

seines Charakters als einer Seiendes reflektierenden Substanz<br />

(=Spiegel) innewerden. Sie sind "solche, die nicht<br />

nur (wie alle Erkenntnis) Spiegelung sind, sondern das Denken<br />

als Widerspiegelung erkennen lassen und so die Behauptung,<br />

alles Erkennen sei Widerspiegelung, erst zu begründen<br />

erlauben" (I, 38). Derart verstandenes spekulatives Denken,<br />

das Holz nachdrücklich von Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie<br />

abhebt (vgl. I, 21), übernimmt zugleich die fundierende<br />

Rolle <strong>für</strong> ein Kategorien- und Relationssystem materialistischer<br />

Dialektik als einer "<strong>kritische</strong>n Metatheorie"<br />

(I, 30), die die Konstruktionsprinzipien einer "Wissenschaft<br />

des Gesamtzusammenhangs" (Engels) bereitstellen<br />

soll. Die damit verbundenen Probleme einer adäquaten Lokalisierung<br />

dieser Metatheorie werden leider nur gestreift,<br />

so daß jene materialistisch revidierte spekulative Vernunft<br />

vorerst in einer Art Niemandsland verbleibt.<br />

Die mit der Forderung nach einem prozessualen, als Einheit<br />

des Entgegengesetzten gefaßten Totalitätsbegriff eröffneten<br />

Möglichkeiten, den Begriff der Veränderung (dem an<br />

anderer Stelle Überlegungen zum Begriff der Bewegung (vgl.<br />

II, 93f.) und des Anfangs bzw. Eintritts (R. Winter: Zur<br />

Frage der Lokalisierbarkeit, 54ff.) zur Seite gestellt werden)<br />

nicht als additive Gesamtheit von Einzelzuständen,<br />

sondern als ein die vorausgegangenen Zustände von ihrem jeweils<br />

letzten her übergreifendes Verhältnis darzustellen<br />

(vgl. II, 16), verweist exemplarisch auf die eingangs angedeutete<br />

Aufgabenstellung der mit König anvisierten spekulativen<br />

Logik. Als "Grunddisziplin der Philosophie" (König)<br />

soll sie die Selbstbegrenzung der formalen Logik auf die<br />

Darstellung reiner Reflexionsbeziehungen überwinden und zu<br />

einer auf der "Grundfrage" aufbauenden begrifflichen Systematik<br />

finden, die die Differenz von Sein und Denken nicht<br />

- wie die Reduktionsschritte der Tradition - nivelliert,<br />

sondern als spekulatives Verhältnis im Sinne der Selbigkeit<br />

von Denken und Sein im Unterschied erschließen hilft (vgl.<br />

II, 19). Die versuchte Ausleuchtung des Problemfeldes einer<br />

dialektisch-spekulativen Logik und die Lozierung der "Grundfrage"<br />

in einer erklärtermaßen philosophischen Reflexion<br />

weiß sich in der Tradition des von Ernst Bloch mitformulierten<br />

Programms. Die Seltenheit der expliziten Hinweise<br />

auf sein Werk - wesentlich häufiger sind Bezugnahmen auf<br />

die Gewährsleute der Phänomenologie - mag viele Gründe haben.<br />

Der wichtigste dürfte sein, daß die etablierte Bloch-<br />

Rezeption eine Auseinandersetzung auf dem von Holz erreichten<br />

Niveau erschwert. <strong>Das</strong> Verschweigen gilt weniger dem<br />

Theoretiker Bloch, dem Holz eine überaus kenntnisreiche Monographie<br />

gewidmet hat, als der freiwillig-unfreiwilligen<br />

Leitfigur einer allzu gefälligen, sich selbst genügenden<br />

Auffassung von marxistischer <strong>Theorie</strong>.<br />

Die an zentraler Stelle stets wiederkehrende Rede vom<br />

Spiegel (vgl. besonders K. Peters: Sehen wir im Spiegel das<br />

61<br />

64 ' DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83


62 Philosophie<br />

Ding selbst? II, 41ff.) will demonstrieren, wie die im Denken<br />

des gegenständlichen Seins vorausgesetzte allgemeine<br />

Bestimmung von Sein als 'Sein'-Denken die Ebene abgibt, auf<br />

der sich das jeweils besondere Denken von Sein (Sein-Denken<br />

bzw. das Denken eines bestimmten Seienden) spiegelt (vgl.<br />

II, 23f. und G. Hoppe: Bemerkungen zum Seinsbegriff, ebd.,<br />

67ff., sowie D. Pätzold, Seinsmetaphysik und Substanzmetaphysik,<br />

ebd., 83ff. ). Wie der Spiegel, der nur (d.h. als<br />

conditio sine qua non) durch den Akt des Spiegeins wird,<br />

was er ist, nämlich: Spiegel, "so entspringt das 'Sein'-<br />

Denken nur, indem es ein Anderes, das Denken von Seièndem,<br />

enthält" (II, 24). Die spekulative Logik expliziert dieses<br />

in den Vorgang des Denkens als stillschweigende Voraussetzung<br />

immer schon eingegangene Verhältnis. Deutlich wird<br />

dieses Bemühen bei der wiederum mit Blick auf König vorgenommenen<br />

Differenzierung der Eigenart praktischer und theoretischer<br />

Sätze nicht als verschiedener (diversa), sondern<br />

als unterschiedenere (differentia). Der Aufweis der SpiegelbildlijChkeit<br />

dieses Verhältnisses, das nach der Vermutung<br />

von Holz in sich alle dialektischen Formbestimmtheiten<br />

des Widerspiegelungsverhältnisses enthält (vgl. II, 100),<br />

erklärt, inwiefern die an sich korrekte Erkenntnis des Unterschieds<br />

als eines Selbstunterschieds praktischer Sätze<br />

noch keine hinreichende Begründung <strong>für</strong> die weiterführende<br />

Annahme bietet, praktische Sätze bürgten auch <strong>für</strong> eine höhere<br />

erkenntnistheoretische Dignität als theoretische (vgl.<br />

II, 33). Ein solcher Sprung bedarf, wie Holz weiß, noch der<br />

Legitimation. Thesenhaft bleibt daher die durch schlichte<br />

Konjunktion vorgenommene Gleichsetzung dieser Einsicht mit<br />

der verallgemeinernden Formel: "Praxis ist das übergreifende<br />

Allgemeine ihrer selbst und ihres Gegenteils, der <strong>Theorie</strong>"<br />

(II, 39), deren Anschaulichkeit auf einer Äquivokation<br />

beruht, die sich aus der Analogisierung des Verhältnisses<br />

von <strong>Theorie</strong> und Praxis mit der Beziehung zwischen theoretischen<br />

und praktischen Sätzen ergibt.<br />

Nicht allein die Asymmetrie dieses Verhältnisses, noch<br />

der bei einem Marxisten überraschend traditionale Zugriff<br />

sind es, die abschließend zur Formulierung einiger Fragen<br />

veranlassen, sondern in erster Linie der bei aller grundsätzlichen<br />

Korrektheit und Solidität doch recht geringe<br />

operative Radius des Entwurfs, der sich damit der ständigen<br />

Gefahr einer Hypostasierung der dialektischen <strong>Theorie</strong> aussetzt.<br />

Es sei hier, ohne zu verkennen, daß das Projekt sich<br />

noch in statu nascendi befindet, nachdrücklich auf die abwägenden<br />

Erörterungen von Ripalda (vgl. Arg. 128) zu diesem<br />

Punkt verwiesen. Angesichts der Häufigkeit, mit der im<br />

Marxschen Werk von "Formbestimmtheiten" (-bestimmungen) die<br />

Rede ist, hätte man sich auch eine stärkere Berücksichtigung<br />

dieses Sachverhalts gewünscht.<br />

Ralf Konersmann und Peter Körte (Münster)<br />

DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83


Dialektik, Logik und Sozialwissensahaften 63<br />

Börger, Egon u.a. (Hrsg.): Zur Philosophie der mathematischen<br />

Erkenntnis. Verlag Königshausen und Neumann, Würzburg<br />

1980 (159 S., br.)<br />

Philosophie der Mathematik, traditionell Feld der Auseinandersetzung<br />

von formalistischen, logizistischen, konstruktivistischen,<br />

... Begründungsstrategien, hat es schwer:<br />

Philosophen, wenn sie nicht gleichzeitig mathematisch ausgebildet<br />

sind, tun sich schwer, die weithin hochâbstraktmathematische<br />

"Grundlagendiskussion" zu verstehen; Mathematiker<br />

wiederum sind an den in ihren Augen mathematik-fremden<br />

Erörterungen kaum interessiert. So ist es wenig verwunderlich,<br />

daß heutzutage die Grundlagentheoretiker eine von<br />

Philosophen kaum verstandene und von Mathematikern zumeist<br />

belächelte Elfenbeinturmexistenz führen.<br />

Mit diesem Zustand zu brechen, setzte sich das in diesem<br />

Band dokumentierte Münsteraner Kolloquium zum Ziel; in den<br />

Beiträgen soll deutlich werden, "daß eine den grundlegend<br />

neuen Ergebnissen und Methoden der Mathematik der letzten<br />

hundert Jahre gerecht werdende philosophische Diskussion<br />

wieder das zum Ausgangspunkt und Leitfaden ihrer Erörterungen<br />

machen muß, was schon in der Antike den Griechen als<br />

Hauptproblem mathematisch-philosophischer Grundlagendiskussion<br />

galt, nämlich die Frage nach den erkenntnistheoretischen<br />

und metaphysischen Voraussetzungen der Anwendbarkeit<br />

mathematischer Erkenntnisse und Denkprozesse auf die Wirklichkeit"<br />

(9). Wie dieser Anspruch in dem vorliegenden Band<br />

eingelöst wurde, soll an zwei der insgesamt acht Beiträge<br />

verdeutlicht werden.<br />

Hans Georg Carstens nimmt angesichts der wachsenden<br />

Nichtbeachtung der klassischen Grundlagendiskussion gerade<br />

durch jüngere Mathematiker die Erfahrungen, die bei mathematischer<br />

Betätigung zu gewinnen sind, zum Ausgangspunkt<br />

seiner Erörterungen. In einer morphologischen Diskussion<br />

weist er nach, daß das formalistische Modell (die Deduktion<br />

aus Axiomen gemäß zugelassener Regeln, Schemata und Operationen),<br />

indem es so wichtige Aspekte wie die "Überlegungen,<br />

die zu den Axiomen geführt haben, ... die beweisleitenden<br />

Intuitionen ... und schließlich ... das Kriterium,<br />

das bedeutungsloses von bedeutungsvollem Zeichenmaterial<br />

scheidet" (60), außer acht läßt, und auch die mathematische<br />

Tätigkeit, die ja eine rein formale Herleitung erst dann<br />

als Beweis akzeptiert, "wenn ihre <strong>Argument</strong>ationsstruktur<br />

inhaltlich analysiert und verstanden ist" (60), nicht vollständig<br />

zu beschreiben vermag, nur sekundäre Aspekte mathematischen<br />

Tuns erfaßt. Die wesentliche mathematische Leistung<br />

liegt <strong>für</strong> Carstens im "Aufbau der Morphologie und im<br />

Herausarbeiten der beweisleitenden Ideen" (61), und damit<br />

in der Einsicht in die Struktur eines Kalküls zugrundeliegenden<br />

Morphologie. "Solche Einsichten werden vom Kalkül<br />

nur herausgefordert, aber nicht bewirkt. Erst das Auffinden<br />

der Gültigkeitsgründe in der Morphologie macht aus Hergeleitetem<br />

ein Theorem. <strong>Das</strong> ist aber nicht Sache des Kalküls"<br />

64 ' DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83


64 Sprach- und Literaturwissenschaft<br />

Die bei Carstens in den Vordergrund tretende mathematische<br />

Tätigkeit ist auch Gegenstand des Beitragés von Elmar<br />

Cohors-Fresenborg. Er zeigt auf, daß der oftmals kompliziert<br />

anmutende, "normale" Umgang mit Funktionen "ohne Verzicht<br />

an Leistungsfähigkeit in eine an einfachen 1 Rechen'-<br />

Handlungen orientierte Sprache" (102) sich übersetzen läßt,<br />

und so das "psychologisch-philosophische Problem, was unter<br />

einem Verständnis der grundlegenden Handlungen zu verstehen"<br />

(102) sei, eröffne. Dabei zeigt der Beitrag Cohors-<br />

Fresenborgs, daß eine solche Fragestellung auf der Grundlage<br />

algorithmischer Überlegungen auch ohne die Vorentscheidung<br />

<strong>für</strong> einen konstruktivistischen Begründungszusammenhang<br />

zu erreichen ist.<br />

Die weiteren Beiträge des Bandes widmen sich u.a. der<br />

Frage "Was ist konstruktive Mathematik?" (eine auch von<br />

Nichtmathematikern nachvollziehbare Grundlegung konstruktiver<br />

Beweisführung durch Peter Päppinghaus), dem "Denken in<br />

Begriffen" (eine Anfrage an den Erkenntnisgehalt unseres<br />

begrifflichen Denkens von Hansjürgen Brämik) oder der Unterscheidung<br />

von "Philosophischer und informationstheoretischer<br />

Erkenntnistheorie" (Friedrich Kaulbach). - In seinem<br />

Bemühen, den interdisziplinären Charakter der Philosophie<br />

der Mathematik wiederherzustellen, kann der Band sowohl von<br />

dem mit der Thematik Vertrauten wie auch vom "Anfänger" mit<br />

Gewinn gelesen werden; die hier angesprochenen Fragen verdienen<br />

jedenfalls eine weitere Diskussion.<br />

Michael Lönz (Münster)<br />

SPRACH- UND LITERATURWISSENSCHAFT<br />

Sprachgeschichte und Sprachsoziologie<br />

Moser, Hans, Hans Wellmann und Norbert Richard Wolf: Geschichte<br />

der deutschen Sprache. Bd. 1: Althochdeutsch-Mittelhochdeutsch.<br />

Von Norbert R. Wolf. Quelle & Meyer Verlag,<br />

Heidelberg 1981 (271 S., br.)<br />

Deutsche Sprachgeschichten wurden nicht oft geschrieben,<br />

da sich in der Fachwissenschaft kaum das Bewußtsein von einem<br />

eigenständigen Gegenstandsbereich entwickeln konnte;<br />

die vorherrschende Historische Grammatik in der Abfolge von<br />

germanischer, althochdeutscher, mittel- und neuhochdeutscher<br />

Grammatik ließ einer Sprachgeschichte kaum etwas übrig.<br />

Seit jedoch die synchrone Sprachdarstellung auch <strong>für</strong><br />

ältere Epochen die Historische Grammatik verdrängt, haben<br />

Sprachgeschichten eine ergänzende Funktion. Die vorliegende<br />

Sprachgeschichte des "Früh- und hochmittelalterlichen<br />

Deutschs" umfaßt den Zeitraum vom Ende des 8. bis Mitte des<br />

14. Jahrhunderts. Neben der Entwicklung der Lautgeschichte,<br />

DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83


Sprachgeschichte und Sprachsoziologie 65<br />

des Sprachsystems, werden Auskünfte über den Wortschatz und<br />

die Gründe <strong>für</strong> einen Wandel im Gebrauch gegeben (institutionelle<br />

Gründe: karolingische Verwaltungspraxis, Schreibschulen,<br />

religiöse Praxis) und, vor allem.<strong>für</strong> das Mittelhochdeutsche<br />

wichtig, über die Herausbildung von Funktiound<br />

Soziolekten (Sprachstil als Abgrenzungsmerkmal). Die<br />

Darstellung ist im allgemeinen sorgfältig gearbeitet und <strong>für</strong><br />

Fachwissenschaftler sicher eine willkommene Zusammenfassung<br />

der in den letzten Jahrzehnten betriebenen Einzelforschung<br />

auf dem Gebiet der Sprachgeschichte. Ich bezweifle nur, daß<br />

die "Studenten der Germanistik" und "Deutschlehrer", an die<br />

der Band sich außerdem wendet (Umschlag), mit der Lektüre<br />

zufrieden sein werden. Allzuvieles wird als bekannt vorausgesetzt<br />

und Studenten, die keine sprachgeschichtlichen Vorkenntnisse<br />

im "Vorneuhochdeutschen" haben, werden sicherlich<br />

nicht einmal wissen, wo sie etwas über die "Weiterentwicklung<br />

der Obstruenten" (20) oder "Bahuvrihizusammensetzungen"<br />

(116) erfragen können. Ärgerlich ist zudem die hohe<br />

Zahl von sinnentstellenden Druckfehlern.<br />

Ulrich Seelbach (Berlin/West)<br />

Sanders, Willy: Sachsensprache, Hansesprache, Plattdeutsch.<br />

Sprachgeschichtliche Grundzüge des Niederdeutschen. Vandenhoeck<br />

und Ruprecht, Göttingen 1982 (237 S., br.)<br />

In "Schloß Gripsholm" schreibt Kurt Tucholsky: "<strong>Das</strong><br />

Plattdeutsche kann alles sein: zart und grob, humorvoll und<br />

herzlich, klar und nüchtern und vor allem, wenn man will,<br />

herrlich besoffen" (I, 3).<br />

Heute ist diese Sprache in ihrer Existenz bedroht. Sanders<br />

beschreibt ihre Entwicklung von der langsamen "Eindeutschung"<br />

der alten Sachsesprache mit Beginn des 9. Jahrhunderts<br />

Uber die sogenannte Hansesprache, die als "internationale"<br />

Schriftsprache im späten 14. und im 15. Jahrhundert<br />

den Höhepunkt in der Geschichte des Niederdeutschen<br />

bildet, bis zu den heutigen plattdeutschen Mundarten, in<br />

denen die eigentliche und ursprungliche Sprache Norddeutschlands<br />

in stetiger Konkurrenz mit der dominierenden hochdeutschen<br />

Schrift- und Standardsprache weiterbesteht. Die<br />

Periodenbezeichnungen "Sachsensprache", "Hansesprache" und<br />

"Plattdeutsch" sind keine sprachwissenschaftlichen Termini.<br />

Sanders verwendet sie als Bezeichnungen, die plakativ das<br />

Wesentliche der Sprachperioden des Niederdeutschen kennzeichnen.<br />

Die linguistischen Fachausdrücke "Alt"-,"Mittel"und<br />

"Neu-Niederdeutsch" haben es nie zu allgemeiner Popularität<br />

gebracht, im Gegensatz zum volkstümlichen "Plattdeutsch"<br />

oder einfach "Platt".<br />

Ein Lieblingsthema der niederdeutschen Sprachwissenschaft<br />

und der Dialektologie ist die Frage, ob das Niederdeutsche<br />

eine eigenständige Sprache oder eher eine Mundart<br />

sei.<br />

Sanders vertritt die Auffassung, daß die Erforschung der<br />

modernen niederdeutschen Mundarten - im Gegensatz zu der<br />

DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83


66 Sprach- und Literaturwissenschaft<br />

des Alt- und Mittelniederdeutschen - keine eigenständige<br />

Disziplin mehr sei, sondern in das Sachgebiet der Dialektologie<br />

falle. <strong>Das</strong> heutige Platt sei nicht mehr einheitlich,<br />

es fehle eine geregelte Rechtschreibung, und weise zudem<br />

ein erhebliches lexikalisches Defizit auf. Nur allzu oft<br />

sei der plattdeutsch Sprechende gezwungen, vor allem beim<br />

Reden Uber intellektuell oder technisch anspruchsvolle<br />

Sachverhalte das Hochdeutsche zu Hilfe zu nehmen.<br />

In den Kapitel 3 und 4 gibt Sanders Informationen über<br />

lautliche Unterschiede zwischen Hoch- und Niederdeutsch,<br />

über die geographische Erstreckung und die mundartliche<br />

Binnengliederung des Niederdeutschen. Sein Hauptanliegen<br />

ist jedoch, die geschichtliche Entwicklung des Niederdeutschen<br />

in ihrer Abhängigkeit von politischen, ökonomischen<br />

und soziokulturellen Bedingungen darzulegen. Für die Ausformung<br />

der altniederdeutschen Sachsensprache macht der Autor<br />

zwei Faktoren geltend: die fränkische Unterwerfung<br />

Sachsens durch Karl den Großen (Sachsenkriege 772-804) und<br />

die damit zusammenhängende Christianisierung der Sachsen.<<br />

Noch deutlicher wird die Verknüpfung mit außersprachlichen<br />

Umständen im Falle der Hansesprache. Ihre Ausbreitung und<br />

ihr Verfall vollziehen sich nach Sanders in derselben zeitlichen<br />

Abfolge wie der Aufstieg und der Untergang der Hanse.<br />

Mit dem Niedergang der hansischen Handelsmacht sei um<br />

1600 die mittelniederdeutsche Schriftsprache durch das<br />

Schrifthochdeutsche abgelöst worden. Den Hauptgrund <strong>für</strong><br />

diese Entwicklung sieht Sanders aber in einer von der gebildeten<br />

Oberschicht gepflegten Sprachmode: "... in dieser<br />

verband sich eine verhängnisvolle Mißachtung des muttersprachlichen<br />

Niederdeutschen mit einer besonderen Wertschätzung<br />

des Hochdeutschen in Form der obersächsisch-meißnischen<br />

Gebildetensprache" (153).<br />

Obwohl die Mundarten insgesamt seit einigen Jahren einen<br />

großen Aufschwung erleben (Mundartdichtung, Mundarttheater<br />

etc.), hat sich nach Sanders das Vorurteil, Plattdeutsch<br />

sei eine minderwertige Sprachform, bis heute gehalten. Immer<br />

mehr plattdeutschsprechende Eltern reden mit ihren Kindern<br />

hochdeutsch, weil sie glauben, daß die Mundart <strong>für</strong> den<br />

schulischen Erfolg und das berufliche Weiterkommen hinderlich<br />

sei - was die soziolinguistische Forschung in der Tat<br />

bestätigt. Sanders meint jedoch, daß dies mehr ein Problem<br />

der Schule als der Familiensprache sei und fordert deshalb<br />

eine angemessene Berücksichtigung des Niederdeutschen im<br />

Deutschunterricht (Projekt "Niederdeutsch in der Schule").<br />

Unter dieser Voraussetzung sollten plattdeutschsprachige<br />

Eltern überdenken, "ob sie im Umgang mit ihren Kindern<br />

nicht doch bei ihrem Platt als Muttersprache bleiben sollten;<br />

denn ein Lehrer hat fraglos weniger Schwierigkeiten,<br />

einem nur Mundart sprechenden Schüler von Grund auf korrektes<br />

Hochdeutsch beizubringen, als die zäh haftenden Fehler<br />

eines zuhause vielleicht falsch erlernten Deutsch nachträglich<br />

zu korrigieren" (217).<br />

DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83


Sprachgeschichte und Sprachsoziologie 67<br />

Die von Sanders im Schlußabschnitt gestellte Frage, was<br />

man <strong>für</strong> das Niederdeutsche in seiner aktuellen Situation<br />

tun könne, erhält die einfache Antwort: Wer kann, soll es<br />

sprechen - mehr sprechen! Und das heiße, "mehr und neue<br />

mundartliche Redesituationen in pragmatischem Sinne zu<br />

schaffen" (226). Beispiele da<strong>für</strong> seien: plattdeutsche Predigt<br />

in der Kirche, Plattdeutsch in der Schule, Plattdeutsch<br />

im Behördenverkehr (mundartkundige Beamte könnten<br />

ein Schild anbringen: "Hier wird Platt gesprochen!") und<br />

Plattdeutsch in den Massenmedien. Dadurch könne eine beachtliche<br />

Aufwertung des Niederdeutschen in der Öffentlichkeit<br />

erreicht werden. Karl Hackstette (Mannheim)<br />

Caudmont, Jean (Hrsg.): Sprachen in Kontakt. Langues en<br />

contact. Verlag Gunter Narr, Tübingen 1982 (383 S., br.)<br />

Der vorliegende Sammelband enthält 19 teils auf Deutsch,<br />

teils auf Französisch geschriebene Beiträge, die sich in<br />

erster Linie mit den Themenbereichen Sprachkontakt und Interferenzen<br />

sowie Zwei- und Mehrsprachigkeit auseinandersetzen.<br />

Die meisten angesprochenen Probleme beziehen sich<br />

auf das Französische und Spanische. So untersuchen Persoons/<br />

Versele den deutsch-französischen Sprachkontakt im Kanton<br />

Malmedy in der Wallonie, Kolde behandelt das Problem der<br />

Mehrsprachigkeit in den Städten Biel und Freiburg, Haensch<br />

gibt einen guten Überblick über das sprachliche Mosaik in<br />

der zentralpyrenäischen Landschaft Ribargorza, "in der die<br />

castellanizaciôn - trotz neuer regionalistischer Strömungen<br />

- ... weiter fortschreiten (wird)" (216).<br />

Allen Beiträgen in diesem Buch, die sich vorwiegend mit<br />

den soziolinguistischen Kategorien Sprachkontakt, Diglossie,<br />

"language maintenance", "language shift", Sprachloyalität<br />

und Sprachentwicklung auseinandersetzen, ist gemeinsam,<br />

daß sie die sprachlichen Prozesse auf soziologische<br />

Kategorien wie technischer Fortschritt, Konsumgesellschaft,<br />

sozio-ökonomische Umschichtung beziehen. Diese Perspektiven<br />

machen das Buch lesenswert, obwohl vom Methodischen her wenig<br />

zu lernen ist. Zum Abschluß sei noch auf den interessanten<br />

Beitrag von Cadiot hingewiesen, der am Beispiel von<br />

frz. "de" und "pour" die Schwierigkeiten der Isolation einer<br />

syntaktischen Variablen aufzeigt. Der funktionale Gebrauch<br />

dieser Variablen in Abhängigkeit vom außersprachlichen<br />

Faktor Stil belegt, daß "die syntaktische Variation<br />

nicht nur ein Phänomen der Oberfläche ist" (116), sondern<br />

in Diskurszusammenhängen, also unter Rückbezug auf die<br />

Pragmatik, untersucht werden muß.<br />

Peter Schlobinski (Berlin/West)<br />

Schläpfer, Robert (Hrsg.): Die viersprachige Schweiz. Benziger<br />

Verlag, Zürich-Köln 1982 (356 S., br.)<br />

Sechs Schweizer Autoren stellen die gegenwärtige Sprachsituation<br />

ihres Landes ausgehend von der historischen Entwicklung<br />

der Sprachregionen dar. In vier Kapiteln wird je-<br />

DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83


68<br />

Sprach- und Literaturwissenschaft<br />

des Spr&chgebiet einzeln behandelt. Ein historisches und<br />

ein kulturpolitisches Rahmenkapitel beschäftigen sich mit<br />

der Entstehung der viersprachigen Schweiz und den Problemen<br />

des Zusammenlebens. Jedes Kapitel wird durch eine ausführliche<br />

Bibliographie ergänzt. - Zur nun schon altehrwürdigen<br />

Diskussion über die "Gräben und Brücken" zwischen den<br />

Sprachgebieten ist dies der erste Beitrag, der sich auf den<br />

sprachlichen Aspekt konzentriert. Die Viersprachigkeit ist<br />

eines der Elemente, die das eidgenössische Selbstverständnis<br />

wesentlich mitbestimmt haben: nicht natürliche Bande,<br />

sondern Idee und Wille halten die Schweiz als Nation zusammen<br />

- so wurde und wird argumentiert. Der "schweizerische<br />

Sprachfrieden" ist jedoch eine schöne Fassade, hinter der<br />

oft genug Unkenntnis, auch Uninteressiertheit an der andern<br />

Sprachregion und Vorurteile gegenüber deren Bewohner stekken.<br />

Situation und Problem der andern Gebiete, sowie die<br />

Probleme, die die Viersprachigkeit an den Staat stellen,<br />

sind der Mehrheit der Schweizer nicht bewußt, und die<br />

Kenntnis der andern Landessprachen steht auf schwachen Beinen.<br />

So können denn die Beziehungen zwischen den verschiedenen<br />

Regionen zusammengefaßt werden im bösen Bonmot: "s'<br />

entendre sans se comprendre" (Verstehen ohne Verständnis).<br />

Solche Zustände möchte Die viersprachige Schweiz beheben<br />

helfen: Solidarität und gegenseitiger Respekt der Sprachregionen<br />

sind nur auf der Grundlage fundierter Kenntnisse<br />

möglich, meint der Herausgeber, Dozent <strong>für</strong> deutsche Philologie<br />

in Basel und Mitarbeiter am Sprachatlas der deutschen<br />

Schweiz. Deshalb soll das Buch "mit der Schilderung der<br />

sprachlichen Situation Grundlagen vermitteln zu einem vertieften<br />

Verständnis des Wesens und der Probleme der verschiedenen<br />

Sprachregionen" (9), wobei "sprachpolitische<br />

Fragen ... eher im Hintergrund bleiben" (9). Die Hervorhebung<br />

der "sprachlichen Situation" kann als Hinweis verstanden<br />

werden: man bleibt nahe an der konkreten sprachlichen<br />

Situation der Vielfalt und versucht sich nicht in allgemeinen,<br />

übergreifenden <strong>Theorie</strong>n und Hypothesen.<br />

Die vier Sprachregionen werden von Linguisten aus den<br />

betreffenden Gebieten vorgestellt. Sie behandeln, soweit<br />

möglich, dieselben Themenkreise und vermitteln einerseits<br />

Sachwissen (z.B. die historische Entwicklung von Mundart<br />

und Standardsprache eines Gebietes), andererseits diskutieren<br />

sie <strong>für</strong> jede Region das Verhältnis von Mundart, Soziolekt<br />

und Standardsprache und deren Verhältnis zum Rest der<br />

Schweiz. Ottavio Lurati (Basel) macht z.B. aufmerksam auf<br />

die Gefahr der fortschreitenden Verdrängung des Italienischen<br />

in der nichtitalienischen Schweiz: die Schwächung der<br />

der italienischen Sprache und Kultur bedeute eine "objektive<br />

Gefährdung des eidgenössischen Zusammenhalts" (219). Und<br />

<strong>für</strong> die deutsche Schweiz betont Walter Haas (Marburg) den<br />

problematischen Charakter der Mundartwelle, die eine Erschwerung<br />

der Kontakte zum Rest der Schweiz und zu Deutschland<br />

bewirken muß. Angesichts dieser Schwierigkeiten drän-<br />

DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83


Sprachgeschichte und Sprachsoziologie<br />

gen sich "radikale Fragen" (110) nach dem Verhältnis von<br />

Mundart und Standardsprache auf.<br />

Während der deskriptiv zusammenfassende Ansatz <strong>für</strong> die<br />

Darstellungen der Sprachgebiete durchaus gewinnbringend<br />

ist, indem sie aufklären Uber Tatsachen und Probleme jeder<br />

Region, vermissen wir im geschichtlichen Rahmen Überlegungen<br />

allgemeiner Art. Gerade im letzten Kapitel Uber die<br />

kulturpolitischen Probleme unserer Zeit, wären Fragpn zum<br />

Sprachpluralismus in der Schweiz von großem Interesse gewesen.<br />

Wie verhalten sich zum Beispiel Nationalbewußtsein und<br />

Viersprachigkeit jenseits grUnderväterischer Ideologie zueinander?<br />

Statt dessen wird hier wieder allzu "konkret" argumentiert.<br />

Zwar lauert das Stichwort Föderalismus ganz<br />

dick zwischen den Zeilen; er wird aber nicht erwähnt, geschweige<br />

denn sein Verhältnis zur Sprache untersucht. So<br />

wird das Buch unter der Hand zum ungewollten aber präzisen<br />

Ausdruck des schweizerischen Föderalismus, durchdrungen vom<br />

Skrupel, dem andern zu nahe zu treten.<br />

69<br />

Barbara Niederer (Paris)<br />

Soeffner, Hans Georg (Hrsg.): Beiträge zu einer empirischen<br />

Sprachsoziologie. Gunter Narr Verlag, Tübingen 1982 (220 S.,<br />

br. )<br />

Der Band versammelt die Uberarbeiteten und erweiterten<br />

Vorträge aus der Sektion 'Sprachsoziologie' beim Bremer Soziologentag<br />

(1980). Der gemeinsame thematische Nenner der<br />

Beiträge ist kommunikatives Handeln, bezogen auf seine situativen<br />

Bedingungen und Resultate. Diskursiv aufgezeichnete<br />

Interaktionseinheiten liegen als 'Rohmaterial' einem<br />

zwar forschungspragmatisch begrenzten aber prinzipiell endlosen<br />

Auslegungsprozeß zugrunde. Die hierbei angewandten<br />

Prozeduren 'qualitativer' Analyse zielen auf die Entschlüsselung<br />

von so etwas wie 'Codes 1 , also von verdeckten, chiffrierten<br />

Motiv- und Relevanzstrukturen, von impliziten<br />

Handlungs-Normen und -Strategien.<br />

Hans Georg Soeffner grenzt in seinen theoretischen 'Prämissen'<br />

wissenschaftliches von nichtwissenschaftlichem Verstehen<br />

ab und liefert beiläufig den 'roten Faden' durch die<br />

anschließenden empirischen Teile: "Texte sind Interaktionsprodukte"<br />

(11) und "Interpretieren ist Sequenzanalyse" (14).<br />

- So zeigt Max Miller am Beispiel einer Kindergruppe die<br />

argumentative Konstruktion von Moral unter Rekurs auf kollektive<br />

Deutungsmuster auf. - Manfred Auwärter und Edith<br />

Kirsch exemplifizieren am kindlichen Handpuppenspiel Regeln<br />

interaktiver Erzeugung von <strong>für</strong> die Teilneher verbindlich<br />

definierten Handlungskontexten. - Ehrhardt Cremers, Jo Reichertz<br />

und Rainer Seidel demonstrieren anhand einer Sequenzanalyse,<br />

wie bestimmte Interaktionsformen innerhalb<br />

vorgegebener Rahmenbedingungen (hier: beim Jugendgerichtsprozeß)<br />

signifikante Kommuni kat i onss törungen verursachen.<br />

- Jörg R. Bergmann interpretiert mit dem Instrumentarium<br />

ethnomethodologischer Konversationsanalyse Schweigephasen<br />

DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83


70 Sprach- und Literaturwissenschaft<br />

im Gespräch (insbesondere die von ihm so genannte 'Redezugvakanz<br />

' ) als konstruktive und konstruierte Elemente kommunikativen<br />

Handelns. - Michael Giesecke präsentiert die<br />

'Normalfallanalyse' als seiner Meinung nach besonders geeignetes<br />

Verfahren zur Untersuchung institutionell geprägter<br />

Interaktionsformen (hier: in speziellen Therapiegruppen),<br />

die, durch ihre spezifischen Erwartungserwartungen,<br />

sich sowohl von alltäglichen als auch von institutionalisierten<br />

Normen- und Relevanzsystemen signifikant unterschieden.<br />

- Kerstin Nagler und Jo Reichertz haben eine Auswahlbibliographie<br />

zu neueren Entwicklungen im Bereich der<br />

empirischen Sprachsoziologie zusammengestellt.<br />

Was in dem Reader versammelt ist, erscheint uns symptomatisch<br />

(wenn auch vielleicht nicht immer exemplarisch) <strong>für</strong><br />

einige - vor allem methodologische - Präferenzen bei der<br />

aktuellen Deskription und Analyse kommunikativen Handelns:<br />

Gefragt ist die 'objektive' Interpretation durch "grundlegende<br />

Distanz zum Leben und Erleben" (35). Gerade weil der<br />

Band von Hans Georg Soeffner mit einem emphatischen" Plädoyer<br />

<strong>für</strong> eine sozialwissenschaftliche Hermeneutik eingeleitet<br />

wird, verführt er dazu, an Odo Marquard, einen der<br />

derzeitigen Großmeister skeptizistischer Hermeneutik, zu<br />

erinnern und an dessen Bemerkungen zur Differenz zwischen<br />

Hermeneutikern und Code-Knackern: die vorliegenden Beiträge<br />

kennzeichnet jene 'Optik des Dechiffrierers', jene Skalpellmentalität<br />

der in den Sozialwissenschaften so aktuellen,<br />

geräteintensiven und transkriptionsbeflissenen Decodierungs-Welle.<br />

Womit auch die Reichweite erkennbar wird,<br />

auf die die Soeffnersche Konzeption einer 'sozialwissenschaftlichen<br />

Hermeneutik' abzielt: sie vereinnahmt so ziemlich<br />

alles, was sich dem sogenannten interpretativen Paradigma<br />

im weiteren Sinne verpflichtet wähnt. Und dazu zählen<br />

eben ^auch und vor allem solche als 'qualitativ' firmierenden<br />

Forschungsansätze, die von der Konversations- und Narrations-Analyse<br />

über die 'objektive Hermeneutik' bis hin zu<br />

Milieudeskriptionen reichen (um nur einige zu nennen). So<br />

bleibt denn resümierend nur zu hoffen, daß die von Soeffner<br />

reklamierte skeptizistische Grundhaltung auch die instrumentelle<br />

Vernunft selber mitzureflektieren geneigt ist.<br />

Sprachtheorie<br />

Anne Honer und Ronald Hitzler (Konstanz)<br />

Coulmas, Florian: Über Schrift. Suhrkamp Verlag, Frankfurt/<br />

M. 1981 (153 S., br.)<br />

Dies ist eines der Bücher, denen man einen barocken Titel<br />

wünscht, in diesem Fall etwa: Bedenkenswertes über die<br />

Schrift als Gegenstand der Sprachwissenschaft, aufgesammelt<br />

bei der Beschäftigung mit Herkunft und Funktionsweise der<br />

DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83


Sprachtheorie<br />

japanischen Schrift und mit der Schriftpolitik der Volksrepublik<br />

China nebst einiger Erörterungen kognitiver und ästhetischer<br />

Vorgänge bei der Verfertigung und Wahrnehmung<br />

von Schriftzeichen und einem Anhang über die Kunst der Kalligraphie.<br />

Wer, dem Titel entsprechend, (alles) Überschrift<br />

erwartet, der wird enttäuscht sein; wer unbestimmt neugierig<br />

ist auf einen Blick hinter den Spiegel der eigenen<br />

Schrift, der kann einige Entdeckungen machen.<br />

<strong>Das</strong> Büchlein verdankt sein Entstehen der Erfahrung der<br />

Illiteralität, die unsereins macht beim Besuch von Ländern<br />

mit nicht-alphabetischen Schriften, wie z.B. China oder Japan.<br />

Die Schrift läßt sich nicht entziffern, der Sinn nicht<br />

zusammenbuchstabieren, wie das beim Niederländischen oder<br />

Italienischen noch gelingen mag aufgrund einer gewissen Familienähnlichkeit<br />

mit der eigenen oder einer bekannten<br />

Fremdsprache und wegen ähnlicher Prinzipien der Verschriftlichung.<br />

Diese Erfahrung der Illiteralität stößt darauf,<br />

daß Schrift Sprachanalyse ist. Fremd ist eine Schrift wie<br />

die japanische nicht nur wegen der sprachtypologischen Unterschiede,<br />

die von der Schrift mit abgebildet werden, sondern<br />

auch wegen der unterschiedlichen Art und Weise, in der<br />

die Schrift die sprachlichen Einheiten auflöst und wegen<br />

der jeweils verschiedenen Strukturebenen, auf denen sie das<br />

tut.<br />

Dieser fremde Blick gibt dem Buch eine einheitliche Perspektive.<br />

Richtet man ihn auf das uns geläufige Verhältnis<br />

von gesprochener und geschriebener Sprache, dann erweist<br />

sich zuerst die traditionelle Annahme, daß Schrift nur Abbild<br />

der Rede sei, als Vorurteil. Um abbilden zu können,<br />

muß die Schrift analysieren (27-32); die Form der Analyse<br />

aber wächst nicht aus der Rede heraus, sondern wird ihr<br />

auferlegt. Die Ansicht, daß Schrift nur Zeichen von Zeichen<br />

sei, grafisches Zeichen eines Lautzeichens, entstand durch<br />

den kurzsichtigen Blick auf die mehr oder weniger phonematisch<br />

analysierenden Schriften unseres Kulturkreises. Und<br />

gleich eine weitere verbreitete Vorstellung wird dem fremden<br />

Blick zum Vorurteil: die von der Vollkommenheit der<br />

Phonemschriften (32-52). Zwar spiegelt die Schriftentwicklung<br />

vom Piktogramm zum Alphabet die zunehmende Abstraktheit<br />

der Sprachanalyse durch die Schrift, aber Abstraktheit<br />

der Analyse kann nicht das einzige Gütekriterium einer<br />

Schrift sein. Schriften analysieren die gesprochene Sprache<br />

nicht als Selbstzweck, sondern in Erfüllung ihrer kommunikativen<br />

und mnemotechnischen Aufgaben.<br />

Als Beispiel <strong>für</strong> äußerst komplexe Verhältnisse bei der<br />

Verschriftlichung läßt sich auch die zunächst beliebig erscheinende<br />

Wahl des Japanischen begründen. Die Übernahme<br />

der chinesischen Schrift <strong>für</strong> das Japanische spiegelt neben<br />

sprachtypologischen Unterschieden (isolierend vs. agglutinierend)<br />

zwei Übernahmestrategien, eine lautbezogene und<br />

eine bedeutungsbezogene. Beide Übernahmeformen können<br />

durchaus dasselbe Schriftzeichen betreffen und führten zu-<br />

71<br />

DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83


72<br />

Sprach- und Literaturwissenschaft<br />

sammçn mit der gleichzeitigen Entlehnung einer Vielzahl von<br />

chinesischen Wörtern, die das Japanische zu einer an Homonymen<br />

reichen Sprache macht, zu Mehrdeutigkeiten auf verschiedenen<br />

Strukturebenen: mit einem übernommenen Zeichen<br />

können sowohl mehrere Bedeutungen als auch mehrere Lautungen<br />

verbunden sein. In dieser Konfusion wurde als Lesehilfe<br />

eine Silbenschrift (Kanamoji) eingeführt, die in verkleinerter<br />

Form neben die übernommenen Zeichen (Kanji) geschrieben<br />

wurde und deren Aussprache anzeigte. Heute gibt<br />

es eine Aufgabenverteilung zwischen beiden Schriftsystemen:<br />

Kanji bezeichnet lexikalische Morpheme, Kanamoji grammatische.<br />

<strong>Das</strong> letztgenannte System hat sich dann nochmals in<br />

zwei parallel gebaute, funktional unterschledne Subsysteme<br />

geteilt, Hiragana <strong>für</strong> die Schreibung grammatischer Affixe<br />

und Katakana <strong>für</strong> die Schreibung nicht-chinesischer Fremdwörter<br />

und Eigennamen, <strong>für</strong> maschinelle Textverarbeitung,<br />

Telegramme und Onomatopoetica. Coulmas hebt hervor (59),<br />

daß die beiden Silbenschriftsysteme nicht nur prinzipiell<br />

durcheinander ersetzbar wären, sondern jedes <strong>für</strong> sich ausreichen<br />

würde, ,das Japanische zu verschriftlichen. Die erwähnten<br />

mehrfachen Aussprachemöglichkeiten der Kanji-Zeichen<br />

lassen bei den Benutzern die graphemische Vermittlung<br />

der Bedeutung gleichwertig neben die phonemische treten.<br />

Dies hat Auswirkungen auf die Sprachwahrnehmung, auf die<br />

Formen, in denen sich aphasische Störungen zeigen, auf die<br />

kognitive Verarbeitung der Schrift und auf ihre Ästhetik<br />

(68ff.). Die Schriftzeichen können ihre ästhetische Wirkung<br />

nicht Uber Laut und Bedeutung, sondern als Zeichen selbst<br />

entfalten. Folgerichtig schließt das Buch - nach einem Abschnitt<br />

Uber retardierende wie innovatorische Einflüsse der<br />

Schrift auf die Sprachentwicklung, in dem u.a. einige Akronyme,<br />

das sind aus Anfangsbuchstaben zusammengesetzte Kurzwörter<br />

wie z.B. Radar oder okay (O.K.) entzaubert werden<br />

(118f.) - mit einem Kapitel Uber Kalligraphie. Kalligraphien<br />

sind zugleich Exemplare nach einem Muster und Unikate,<br />

Schrift und Bild. Sie haben indexikalische, ikonische<br />

und symbolische Eigenschaften. Durch die Art ihrer Ausführung<br />

verweisen sie auf ihren Urheber, seine Einordnung in<br />

die Tradition der Schriftkunst und seine Verfassung zur<br />

Zeit des Schreibens. Durch ihre zugleich malerischen und<br />

sprachlichen Eigenschaften verweisen sie auf zweifache,<br />

sich wechselseitig kommentierende Weise auf ihren Gegenstand.<br />

An Kalligraphien kann Coulmas nochmals verdeutlichen,<br />

daß mit Hilfe der Schrift (und nicht nur der japanischen!)<br />

Bedeutung auf verschiedenen Ebenen verschlüsselt<br />

und rekonstruiert werden kann.<br />

Schreiben ist auch vergegenständlichtes Reden. In der<br />

vergegenständlichten Form des Geschriebenen kann das Sprechen<br />

auf sich selbst zurückblicken, so werden Bauformen und<br />

Funktionsweisen der Sprache bewußt, werden analysiert und<br />

durch die Analyse schon verändert (an diesem Umweg des Erkennens,<br />

der den Gegenstand der Sprache nur in der Diffe-<br />

DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83


Sprachtheorie 73<br />

rënz der Schrift hat, haben sich die Reflexionen Derridas<br />

entwickelt). Zugleich ist Schreiben mehr als vergegenständlichtes<br />

Reden. Es hat seine eigenen Formtraditionen, es<br />

setzt voraus und fördert ganz eigenständige psychische, motorische<br />

und kognitive Leistungen (vgl. hierzu vor allem<br />

die Arbeiten von Egon Weigl). Coulmas' Buch regt an, in<br />

beide Richtungen weiterzulesen. Peter Jaritz (Duisburg)<br />

Droescher, Hans-Michael: Grundlagenstudien zur Linguistik.<br />

Julius Groos Verlag, Heidelberg 1980 (526 S., br.)<br />

Droescher rekonstruiert den Sprachbegriff Wilhelm von<br />

Humboldts und Noam Chomskys. Seine Interpretation Humboldts,<br />

die er selbst als wohlwollend bezeichnet, arbeitet vor allem<br />

die Aktualität seiner Überlegungen <strong>für</strong> eine Grundlegung<br />

der Sprachwissenschaft heraus: Sprache sei <strong>für</strong> Humboldt synonym<br />

mit "sprachlichem Handeln", dessen Ziel Verständigung<br />

ist. Die vieldiskutierte Humboldtsche Behauptung, sprachliches<br />

Handeln gliedere die 'Welt', die keine uns bekannte<br />

vorsprachliche Struktur besitze, liest Droescher als Bestätigung<br />

da<strong>für</strong>, daß es methodisch inkorrekt sei, eine <strong>Theorie</strong><br />

der Bedeutung als Abbildtheorie zu konzipieren (151f.).<br />

Es wird rasch deutlich, daß Droescher den Ausführungen<br />

Chomskys weitaus reservierter gegenübersteht. Die Ausführlichkeit,<br />

mit der Droescher sich mit den sprachtheoretischen<br />

Überlegungen Chomskys beschäftigt hat, mag allerdings<br />

ein Indiz da<strong>für</strong> sein, wie sehr auch er von Chomsky und dessen<br />

in weiten Bereichen der Sprachwissenschaft zur Herrschaft<br />

gelangten Transformationsgrammatik berührt worden<br />

ist: "Es hat den Anschein, als hätte jeder Wissenschaftler,<br />

der sich in anderer Weise um Sprache oder um andere Probleme<br />

kümmert als die 'generative Sprachwissenschaft' dies zumindest<br />

zu rechtfertigen. Meine eigene Arbeit macht das<br />

keine Ausnahme" (Anmerkung 11, 419). Droescher wirft Chomsky<br />

"Ungenauigkeit der Rede" vor und gelangt in Abwandlung<br />

eines Ausspruchs von Wittgenstein zu der Beurteilung: "Kalküle,<br />

experimentelle Methoden und Begriffsverwirrung" (315).<br />

Im Anschluß an Coseriu, Weisgerber u.a. kritisiert er Chomskys<br />

Berufung auf Humboldt. Motiv <strong>für</strong> diese Verbindung sei<br />

hauptsächlich die eigene Aufwertung. - Die auf Exaktheit<br />

und Präzision bedachte generative Sprachwissenschaft erweise<br />

sich in ihren wissenschaftstheoretischen Grundlagen als<br />

unzureichend, ihre Begriffsbildung sei verworren und unpräzise.<br />

Am Ende seines Kapitels über Chomsky zitiert Droescher<br />

zustimmend Lyons, der mit der Möglichkeit rechnet,<br />

"daß Chomskys <strong>Theorie</strong> der Generativen Grammatik eines Tages<br />

von den Linguisten einhellig als bedeutungslos <strong>für</strong> die Beschreibung<br />

von natürlichen Sprachen aufgegeben wird" (344).<br />

In einem abschließenden Kapitel deutet Droescher an, wie<br />

seiner Absicht nach zukünftig Sprachwissenschaft sinnvoll<br />

betrieben werden könnte, wobei er sich auch auf Wittgenstein<br />

und auf Texte stützt, die im weiten Sinn des Wortes<br />

zur 'Pragmatik' gehören. Droescher begreift Wissenschaft<br />

DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83


74<br />

Sprach- und Literaturwissenschaft<br />

als Problemlösungsverhalten, als institutionalisierte Praxis,<br />

"dazu da und da<strong>für</strong> geschaffen, die Lebensverhältnisse<br />

in einer Gruppe von Menschen, die diese Praxis tragen, zu<br />

verbessern zu helfen" (350), und fordert entsprechend <strong>für</strong><br />

die Sprachwissenschaft , Ziel ihrer Forschung müsse die<br />

Darstellung ' und Beurteilung (institutionellen) Sprachhandelns<br />

sein. "Sprachwissenschaft oder Linguistik wären somit<br />

als normative Wissenschaft Teil einer '<strong>kritische</strong>n Kulturwissenschaft'<br />

, der Vorbereitung eines vernünftigen Handelns<br />

der Menschen dienend" (353). Die Grundlage einer derartigen<br />

Sprachwissenschaft sieht Droescher in einer Handlungstheorie<br />

, die sprachliches Handeln als eingebettet in<br />

"nichtsprachlichen Lebensvollzug" begreift. Wie der Zusammenhang<br />

von sprachlichem Handeln und nichtsprachlichem Lebensvollzug,<br />

zwischen Wissenschaft und Praxis konkret zu<br />

verstehen sein soll, bleibt allerdings offen.<br />

Thomas Kornbichler (Berlin/West)<br />

Sprachliche Gestaltung von Mädchen- und Frauenliteratur<br />

Borsch, Sabine: Fremdsprachenstudium - Frauenstudium? Stauffenberg<br />

Verlag, Tübingen 1982 (-218 S., br.)<br />

Sabine Borschs Untersuchungsgegenstand ergibt sich aus<br />

der Tatsache, daß - abweichend von der Unterrepräsentation<br />

von Studentinnen an westdeutschen Universitäten - Frauen in<br />

fremdsprachlichen Studiengängen mit einem Anteil von 75%<br />

zahlenmäßig deutlich dominieren. Die Verfasserin grenzt<br />

sich in ihrem Erkenntnisinteresse von historischen Untersuchungen<br />

zur Überrepräsentation von Frauen in neuphilologischen<br />

Fächern und von andern Arbeiten ab, die die Studienfachwahl<br />

nur fremdbestimmt erscheinen lassen und damit die<br />

Frauen zu passiven Produkten der Geschichte ihrer Unterdrückung<br />

reduzieren. S. Borsch geht es vielmehr darum, die<br />

subjektiven Einstellungen und Prozesse aufzudecken, die<br />

Frauen zur Aufnahme des Fremdsprachenstudiums veranlassen<br />

und die Einstellung zur fremden Sprache prägen. Damit geht<br />

die Frage einher, inwieweit sich diese Haltungen und Prozesse<br />

von denen männlicher Kommilitonen unterscheiden, geschlechtsspezifisch<br />

sind. Die Autorin gibt sich nicht mit<br />

<strong>Theorie</strong>n der Verstrickung zufrieden, die deterministisch<br />

von Rollenzwängen sprechen. Sie geht davon aus, daß <strong>für</strong> die<br />

Studienfachwahl der Studentinnen auch eigene Entscheidungsprozesse<br />

zum Tragen kommen. Damit betritt sie wichtiges<br />

Neuland. Als Methode benutzt sie das Gruppengespräch als -<br />

von einem "Grundreiz" ausgehenden - interaktiven Verständigungsprozeß.<br />

Für dessen Auswertung scheint ihr ein Verfahren<br />

qualitativer Textanalyse geeignet, nämlich die psychoanalytische<br />

Textinterpretation (nach Th. Leithäuser/B. Volmerg,<br />

Anleitung zur empirischen Hermeneutik, Frankfurt<br />

DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83


Mädchen- und Frauen lit eratur 75<br />

1979). Dieses sozialwissenschaftliche Verfahren will 1. eine<br />

exakte Beschreibung dessen liefern, worüber gesprochen<br />

wird; 2. die Art und Weise berücksichtigen, wie gesprochen<br />

wird; und 3. die Widersprüche und Konflikte, die sich auf<br />

den vorher genannten Textebenen herausgestellt haben, als<br />

Hinweise auf Verdrängtes, als bedrohlich Empfundenes, "Eigentliches"<br />

analysieren. Die Gespräche fanden in je drei<br />

Sitzungen einer Frauen- und einer Männergruppe (je ca. 12<br />

Teilnehmer/inne/n) statt. Daran schloß sich eine gemeinsame<br />

Sitzung, beider Gruppen. "Grundreiz" war ein schriftlich<br />

vorgelegter Fragenkatalog, der die Adressat/inn/en zu einer<br />

Auseinandersetzung mit ihren subjektiven Gefühlen und Erfahrungen<br />

in bezüg auf die Fremdsprache anregen sollte. Die<br />

Themenschwerpunkte ergaben sich aus dem Katalog, wurden<br />

aber von den Gruppen unterschiedlich gesetzt, z.B. "Von der<br />

sprachlichen Überlegenheit der Frau" in der Frauengruppe,<br />

"Affinität zum Ausland und Identität" bei den Studenten. S.<br />

Borsch gelangt zu folgenden "Befunden": " - Einerseits erlaubt<br />

das Fremdsprachenstudium den Frauen, einem ihnen häufig<br />

recht massiv vermittelten Druck zur Anpassung an ein<br />

traditionelles Weiblichkeitsstereotyp zu entsprechen,<br />

- andererseits erlaubt es ihnen, sich im Rahmen dieser Anpassung<br />

durch das Verfügen über eine fremde Sprache gleichzeitig<br />

einen eigenen Bereich zu schaffen, in dem sie offenbar<br />

besonders im muttersprachlichen Kontext nicht artikulierbare<br />

Gefühle und Bedürfnisse ausdrücken und weniger<br />

Rollenkonformität zulassen können. (...)<br />

- Der Fremdsprachenerwerb kommt Frauen möglicherweise insofern<br />

besonders entgegen, als sie im Vergleich zu Männern<br />

eine intensivere emotionale Beziehung - wenn auch durchaus<br />

unterschiedlicher Natur - sowohl zur Muttersprache als auch<br />

zur Fremdsprache haben" (187).<br />

Männer dagegen - so ihre Vermutung - funktionalisieren<br />

die Sprache eher als ein zu eroberndes Regelsystem und<br />

richten ihr Interesse eher auf die fremde Kultur und auf<br />

das fremde Land als auf die fremde Sprache. Zu ihrer Interpretation<br />

gelangt sie allerdings nicht auf dem eingangs<br />

versprochenen Wege einer Analyse der in den Gesprächen<br />

chiffrierten Verschiebungsarbeit. Die tieferen Schichten<br />

des Textes bleiben - entgegen ihrem Anspruch - verdeckt.<br />

Sie nimmt die Selbstaussagen der Diskutierenden <strong>für</strong> bare<br />

Münze, wobei sie die erdrückende Menge von Sprechhülsen<br />

nicht irritiert, sondern sie im Gegenteil aus deren Paraphrase<br />

ihre (Hypo-)Thesen ableitet. Dabei werden so kontrovers<br />

diskutierte und <strong>für</strong> ihre Arbeit zentrale Begriffe wie<br />

Identität, Emotionalität, Stereotyp, Weiblichkeit nicht<br />

problematisiert. S. Borsch begibt sich also nicht auf Spurensuche<br />

zwischen den Zeilen der Gesprächstexte, sondern<br />

liefert ihre - allerdings vorsichtigen - Auswertungshinweise<br />

über andere Forschungsansätze. Unverständlich ist ihr<br />

Vorgehen auch insofern, als sie ihr Versprechen nicht einlöst,<br />

zwischen den einzelnen Gesprächsteilnehmer/inne/n zu<br />

DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83


76 Sprach- und Literaturwissenschaft<br />

differenzieren. In diesem Punkt wollte sie Uber Leithäuser/<br />

Volmerg hinausgehen, fUr die nur das Gruppenergebnis zählt.<br />

Tatsächlich gelten die individuellen Aussagen der Teilnehmer/innen<br />

in ihrer Interpretation noch weniger als bei<br />

Leithäuser/Volmerg, denn sie versucht, die geschlechtsspezifischen<br />

Unterschiede beim Fremdsprachenerwerb als Bestreben,<br />

sich von der Mutter abzugrenzen (bei Frauen) bzw. als<br />

RUckgängigmachen dieser Ablösung (bei Männern) Uberindividuell<br />

zu erklären. Aus den Gesprächen allerdings kann sie<br />

diese Interpretation nicht gewonnen haben. Fragwürdig<br />

scheint uns auch ihre Versuchseinordnung. Wir konnten uns<br />

des Eindrucks nicht erwehren, daß diese den Gesprächsverlauf<br />

sowie ihre Ergebnisse präjudizierte. Die Studentinnen<br />

sind sich bewußt, daß ihnen als Frauen das Interesse der<br />

Autorin gilt, während die Studenten nur als Kontrollgruppe<br />

fungieren. So scheinen die Studentinnen dann in der gemeinsamen<br />

Sitzung eine kurze, problematische Machtposition innezuhaben,<br />

der die Studenten offensichtlich nur durch Anpassungsgestus<br />

begegnen können.<br />

Helene Decke-Cornill und Claudia Gdaniec (Berlin/West)<br />

Gerhardt, Marlis: Kein bürgerlicher Stern, nichts, nichts<br />

konnte mich je beschwichtigen. Essays zur Kränkung der<br />

Frau. Luchterhand Verlag, Darmstadt 1982 (146 S., br.)<br />

"Selbstverständlich litten und leiden auch Männer an<br />

Verstörungen ihres Selbstwertgefühls. Nur traf sie die<br />

Kränkung stets an bestimmten individuellen Punkten ihrer<br />

Biografie. Die Kränkung der Frau aber meint nie die individuelle<br />

Frau, sondern stets ihr Geschlecht, den anatomischen<br />

Imperativ: Und nur ihr wurde immer wieder nahegelegt,<br />

die Wunde als Schicksal hinzunehmen" (14). Bilder und Gegenbilder,<br />

EntwUrfe von Weiblichkeit in der Literatur und<br />

der Wissenschaft vom ausgehenden 18. bis ins 20. Jahrhundert<br />

sind der Ubergreifende Zusammenhang in Marlis Gerhardts<br />

leicht verständlichen und spannend geschriebenen Essays.<br />

Hier kommt ihr sicher ihre Erfahrung als Journalistin und<br />

Literaturwissenschaftlerin zugute. In all ihren Beispielen<br />

versucht sie, die mühevolle Gratwanderung, das "Schicksal",<br />

begreifbar zu machen als eines aus selbstverschuldeter Unmündigkeit<br />

der Frau und den gesellschaftlichen Verhältnissen,<br />

die ihr manche Frauenbilder nahelegten oder verordneten".<br />

Im ersten Teil gilt ihr Hauptinteresse den Frauenbildern<br />

in den großen Romanen des 19. Jahrhunderts. Dabei findet M.<br />

Gerhardt keineswegs nur ein bestimmtes Frauenbild vor, sondern<br />

sie zeigt auf, daß diese Entwürfe korrelieren, korrespondieren<br />

mit den jeweils gesellschaftlichen Idealvorstellungen.<br />

<strong>Das</strong> heißt nicht, daß diese EntwUrfe einfach gesellschaftliche<br />

Wunschvorstellungen waren, als Erziehungsauftrag<br />

an die Frauen gerichtet, sondern es konnte durchaus<br />

sein, daß ein Gegenbild vorgeführt wurde oder das idealisierte<br />

"andere", die Utopie, aber auch die "Spiegelung je-<br />

DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83


Mädchen- und Frauen lit eratur<br />

ner Hoffnungen und Phantasien", die immer wieder verworfen<br />

wurden. M. Gerhardt spannt ein Netz zwischen den literarischen<br />

Frauenfiguren und einer Vielheit von gesellschaftlichen<br />

Frauenbildern, die doch alle am gleichen leiden: Entwurf<br />

männlicher Weiblichkeitsvorstellungen zu sein, immer<br />

um den Körper zentriert, immer im Spannungsfeld von Natur<br />

und Kultur doch auf der Seite der Natur zu sein. Beispiel<br />

hier<strong>für</strong> ist unter anderem die Figur der "Undine". Auch an<br />

den Frauengestalten des bürgerlichen Trauerspiels wird die<br />

kultivierte Natur (gebändigt durch den Mann) gezeigt - als<br />

Schutzschild vor das sich konstituierende Bürgertum gehalten,<br />

zur Abwehr des Übels (des Adels). Lulu dagegen macht<br />

eher den Doppelcharakter der männlichen Weiblichkeitsvorstellung<br />

deutlich: Natur-Frau, aber dabei nicht nur das<br />

Reine, Bewahrte, sondern auch das Gefährliche, Zerstörerische,<br />

das Regellose, das Chaos, die Abwesenheit der männlichen<br />

Ordnung. Doch Marlies Gerhardt sitzt dem Bild der Natur-Frau<br />

Lulu als damals schon Emanzipierter, Unabhängiger<br />

nicht auf. Sie zeigt, daß sie, um als vollkommenes Naturgeschöpf<br />

wirksame Figur sein zu können, das zeitgenössische<br />

Arrangement eines weiteren Frauenbildes der männlichen<br />

Phantasie braucht: die Hetäre, die femme fatale, die Frau<br />

der demimonde. Dieses Spiegelkabinett ist der Raum, in dem<br />

Lulu als gefährliches Naturgeschöpf erscheint. Damit ist<br />

Lulu nicht nur das Gegenbild zur bürgerlichen Ehefrau, sondern<br />

auch die Antithese einer sich tatsächlich neu darstellenden<br />

emanzipierten Frau. In ihrer Interpretation fehlt<br />

leider der Verweis auf das Authentische in Wedekinds Lulufigur,<br />

die soziale Realität der weiblichen Prostituierten,<br />

die von Wedekind durchaus geschildert wird. Wedekind erliegt<br />

nicht männlicher Projektion, sondern er stellt sie<br />

als solche dar. <strong>Das</strong> ist wichtig, da viele Interpretationen<br />

vom Bild der Lulu als der "Inkarnation des Ewig-Weiblichen"<br />

ausgehen, die das Unglück und Unheil des Mannes ist. So<br />

wird selbst der Lustmord verständlich. Diese Frauenbilder<br />

scheinen nicht die realen Verhältnisse zwischen den Geschlechtern<br />

vorzuführen, sondern ihr realer Gehalt liegt im<br />

"kulturellen Symptom einer Abwehr" (76). An Beispielen<br />

macht sie deutlich, daß damit die reale Ungleichheit zwischen<br />

Männern und Frauen verschleiert und verdrängt werden<br />

kann. Denn die "hetärenhafte, erotische Frau, die in den<br />

kulturellen Inszenierungen eine so große Rolle spielt,<br />

braucht überhaupt keine formalen Rechte, da sie sich - ...<br />

ohnehin alles nimmt, was sie haben will" (76).<br />

Im zweiten Teil ihres Buches sieht sie sich Frauen an,<br />

die bewußt gegen die von Männern geprägten Frauenidentitäten<br />

anschreiben. Beispiel da<strong>für</strong>: Verena Stefans Kultbuch<br />

der neuen Frauenbewegung "Häutungen", ein Versuch, aus dem<br />

Reich der männlichen Sprache und Bilder auszuziehen. Erfolgreich<br />

war nach M. Gerhardt das Buch allerdings vor allem<br />

durch das Hereinnehmen der subjektiven Erfahrung, die<br />

aus der Literatur der 50er und 60er Jahre ausgeblendet war.<br />

77<br />

DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83


78 Sprach- und Literaturwissenschaft<br />

M. Gerhardts literatur- und kulturtheoretische Analysen<br />

sind der Versuch, einerseits die Entwürfe von Frauen (in<br />

doppelter Bedeutung) als Festschreibungen von Polaritäten<br />

zu beschreiben und gleichzeitig die Festschreibung selbst<br />

in Frage zu stellen, sie nicht weiterhin zu bedienen. Auf<br />

der Suche nach einer Literatur jenseits dieser Polaritäten,<br />

jenseits von Definitionen von männlich, weiblich, die kulturspezifische<br />

Projektionen sind, geht sie mit ihrer Kritik<br />

nicht nur gegen die von Männern entworfenen Frauenbilder<br />

vor, sondern zeigt auf, daß auch bei feministischen" Autorinnen<br />

die Zuordnung von Frau und Natur, die Organisierung<br />

der Frau als Anblick (wenn auch nicht ausschließlich <strong>für</strong><br />

Männer), die alten Polaritäten bedient werden. Der Wunsch<br />

nach einer verallgemeinerbaren Fragestellung an die neuere<br />

Literatur von Frauen, die Frage nach einem utopischen<br />

Selbstentwurf, bricht leider den Blick der Autorin auf den<br />

Roman "Malina" von Ingeborg Bachmann, und es entsteht durch<br />

eine ausgezeichnete Einzelinterpretation hindurch eine verzerrte<br />

Einschätzung. Sie wirft ihr, die doch gerade die Abspaltung<br />

der männlichen von den weiblichen Teilen als nicht<br />

lebbar vorführt und das Leiden der Frau auch als eigene Unterwerfung,<br />

ein traditionelles weibliches Selbstbild vor,<br />

einen mißglückten Entwurf, der zur Selbstzerstörung führt<br />

(vgl. 139, 141). Hoffnung auf Grenzüberschreitung führt sie<br />

vor allem am Beispiel von Christa Wolfs Romanen und Erzählungen<br />

vor, hier im besonderen an der Geschichte "Selbstversuch".<br />

In ihren Analysen macht M. Gerhardt deutlich, daß<br />

der Emanzipation der Frauen nicht nur gesellschaftliche<br />

Barrieren und Projektionen des Mannes im Wege stehen, sondern<br />

genauso die "Innenseite der Ohnmacht", die klassische<br />

Zweiteilung der Welt in leidende Frauen und handelnde Männer.<br />

Die Frau ist das Weib hoch zwei (Weib 2 ), Projektion<br />

des Mannes und Selbststilisierung der Frau.<br />

Ursula Blankenburg (Berlin/West)<br />

Zahn, Susanne: Töchterleben. Studien zur Sozialgeschichte<br />

der Mädchenliteratur. dipa-Verlag, Frankfurt/M. 1983 (460<br />

S., br.)<br />

Die Bücher von Dahrendorf (<strong>Das</strong> Mädchenbuch und seine Leserin,<br />

1970, neu bearbeitet 1978) und S. Köberle (zuerst 1924,<br />

Neuauflage 1972) sowie A. Kuhns Anhang zu ihrer Untersuchung<br />

"Sentimentalität und Geschäft" (1977) haben Aufmerksamkeit<br />

und Interesse geweckt <strong>für</strong> die spezifische Sozialisation<br />

des Mädchens, wie sie seit dem 18. Jahrhundert durch<br />

die <strong>Institut</strong>ion "Mädchenbuch" gespiegelt und unterstützt<br />

worden ist. Historisch-soziologische Untersuchungen wie die<br />

von Karin Hausen (Die Polarisierung der 'Geschlechtscharaktere<br />

1 - Eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbs- und<br />

Familienleben, 1976) und von J. Zinnecker (Sozialgeschichte<br />

der Mädchenbildung, 1973) haben wichtige theoretische und<br />

historische Grundinformationen bereitgestellt. In diesen<br />

erst seit wenig mehr als zehn Jahren entwickelten For-<br />

DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83


Mädchen- und Frauen lit eratur<br />

schungszusammenhang gehört Susanne Zahns "Töchterleben".<br />

Die Verfasserin hatte das Pech, daß kurz vor dem Abschluß<br />

ihrer Untersuchung (als Dissertation Bremen 1982) Dagmar<br />

Grenz' grundlegende Darstellung der Mädchenliteratur des<br />

18. und 19. Jahrhunderts erschien (Stuttgart 1981, rezensiert<br />

im <strong>Argument</strong> 138, 296). S. Zahn reagierte, indem sie<br />

entgegen ihrer früheren Absicht "nunmehr auf eine ausführliche<br />

Darstellung der älteren Geschichte des Mädchenbuchs"<br />

verzichtete. Trotzdem erscheinen mir die Teile III-VI von<br />

S. Zahns Buch noch immer als unnötig ausführlich. (Sie betreffen<br />

die Moralischen Wochenschriften als Wegbereiter des<br />

Mädchenbuchs; den Einfluß des bürgerlichen Romans auf die<br />

Entwicklung der Mädchenliteratur; die ersten Mädchenbücher<br />

und die Vorläufer des Backfischbuchs.) Oft referiert die<br />

Verfasserin hier nur und neigt auch zur Vereinfachung, so<br />

daß diese Teile, abgesehen von der Darstellung eines bei D.<br />

Grenz ausgesparten Buchs (das "Liebenswürdige Mädchen" von<br />

Fuhrmann) und einer ausführlicheren Analyse von Th. v. Gumperts<br />

"Töchteralbum", zumindest stark gekürzt hätten werden<br />

können, allerdings ist die Funktion des Buches - Prüfungsarbeit<br />

- zu berücksichtigen. Den Leser/n/innen, die sich<br />

schneller und ohne großen wissenschaftlichen Apparat informieren<br />

wollen, sei deshalb die Zusammenfassung dieser Kapitel<br />

(sowie des zweiten Uber "Lesewut" und "Lesesucht") empfohlen,<br />

die die Verfasserin 1980 als Anhang zum "Marienbüchlein"<br />

von Glasenapp veröffentlicht hat (neu hrsg. von<br />

J. Merkel und D. Richter, München: Weismann 1980). Der gut<br />

lesbare und hübsch bebilderte Aufsatz von S. Zahn ist betitelt:<br />

Mädchen wie sie im Buch stehen. Zur Geschichte der<br />

Mädchenliteratur. - Auf das ausgezeichnete Nachwort von Elke<br />

Liebs "Schwierige Idylle. Kinder-Geschichten aus dem<br />

19. Jahrhundert" sei nebenbei hingewiesen. Die Parallelveröffentlichung<br />

von D. Grenz macht vieles überflüssig, und<br />

daran ändert auch der Versuch der Verfasserin nichts, in<br />

der Einleitung die eigene Fragestellung von der anderen abzugrenzen<br />

- "es geht mir weniger um eine literarhistorische<br />

Beschreibung des Mädchenbuchs im engeren Sinn als vielmehr<br />

darum, Mädchenbücher als Mittel weiblicher Sozialisation zu<br />

untersuchen, wobei der Schwerpunkt auf der Vermittlung der<br />

Frauen- und Mädchenbilder liegen wird" (1). Grenz' Buch<br />

zeigt ja, daß gerade die detaillierte literarhistorische<br />

Analyse <strong>für</strong> dieses Ziel fruchtbar ist, wenn sie so sorgfältig<br />

die verschlungenen Wege der widersprüchlichen Entwicklung<br />

des bürgerlichen Frauenbildes nachzeichnet.<br />

Nach den Kapiteln über die Vorläufer der Mädchenliteratur<br />

im 18. und den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts,<br />

die die Herausbildung der "Geschlechtscharakter"-<strong>Theorie</strong><br />

markieren (hier folgt die Verfasserin K. Hausen), ist der<br />

umfangreichere zweite Teil der Backfischliteratur und den<br />

Mädchenbuchserien des 19. und 20. Jahrhunderts gewidmet und<br />

schließt damit sinnvoll an die Arbeit von D. Grenz an. S.<br />

Zahn analysiert Clementine Helms "Backfischchens Leiden und<br />

79<br />

DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83


80 Sprach- und Literaturwissenschaft<br />

Freuden" (1859), die "Trotzkopf-Serie (v. Rhoden u.a. ab<br />

1885), die "Nesthäkchen"-Bände (Else Ury ab 1908/09) und<br />

die "Pucki"-Serie (Magda Trott ab 1935). Es mag nur wenige<br />

Kinderbücher geben, die in vergleichbar hohen Auflagen immer<br />

wieder gedruckt worden sind. Jetzt, 1983, sendet der<br />

Bayerische Rundfunk eine 5-Millionen-DM-Fernsehserie nach<br />

dem "Trotzkopf". S. Zahn unternimmt den Versuch, "die sozialen,<br />

psychischen und kulturellen Verflechtungen zu rekonstruieren,<br />

die neben der Faktizität des Angebots die<br />

Voraussetzungen <strong>für</strong> den Erfolg dieser Literatur bilden"<br />

(128). Die Bücher, die mit der Sozialisation ihrer Heldinnen<br />

zugleich die der Leserinnen betreiben wollen, sind ausnahmslos<br />

die Geschichten von erfolgreichen Zähmungen. Ihre<br />

zentralen Mädchenfiguren sind ursprünglich alles andere als<br />

brav und ordentlich, sie sind temperamentvoll bis "jungenhaft"<br />

wild, eigensinnig bis zur Aufsässigkeit. <strong>Das</strong> ermöglicht<br />

den Leserinnen lustvolle und entlastende Identifikation<br />

in Zeiten heftiger Konflikte mit den Anforderungen der<br />

Erwachsenenwelt und erlaubt ihnen das phantasierte Ausleben<br />

eigener Wunschträume von Selbständigkeit und Durchsetzung<br />

ihres Willens. Indem selbst während der intensivsten Dressurzeit<br />

auf dem Höhepunkt der Pubertät der Heldinnen immer<br />

wieder betont wird, daß ihre Ursprünglichkeit, Lebendigkeit,<br />

Natürlichkeit eigentlich Vorzüge sind, durch die sie sich<br />

von anderen, etwa den "Zierpuppen" oder "Trantüten" positiv<br />

abheben, wird das Schmerzhafte des Sozialisationsprozesses<br />

gelindert. <strong>Das</strong> Produkt der erfolgreichen Zähmung ist die<br />

anschmiegsame Braut und Gattin, die <strong>für</strong> sich nichts mehr,<br />

<strong>für</strong> den Mann alles erwartet, sich ihm willig unterordnet<br />

und all ihre Kräfte einsetzt, um ihm und den Kindern ein<br />

warmes Nest zu polstern, in dem er sich von der Arbeit erholen<br />

kann, die Kinder geborgen in die gleichen Rollenfächer<br />

hineinwachsen dürfen. Dies Erziehungsziel ändert sich<br />

zwischen 1885 (Trotzkopf) und 1935 (Pucki) nur geringfügig.<br />

Die jüngste Serie allerdings weist entsprechend ihrer Entstehung<br />

zur Zeit der nationalsozialistischen Mutter-Ideologie<br />

und Emanzipationsfeindlichkeit besonders reaktionäre Züge<br />

auf. Die scheinbare Zeitlosigkeit des Erziehungsziels<br />

ist einer seiner wesentlichen Bestandteile, soll doch das,<br />

was Ergebnis schmerzhafter Dressur ist, als die Erfüllung<br />

weiblicher Natur schlechthin akzeptiert werden. S. Zahn illustriert<br />

und kommentiert ausführlich die einzelnen Dressurphasen<br />

in den Serien, ihre Übereinstimmungen und Abweichungen<br />

im Mädchen- und Frauenbild. Hier hätte m.E. eine<br />

straffere, weniger redundante Darstellung genügt. Größeren<br />

Gewinn als die langen Zitate und Inhaltsangaben bringen eine<br />

Reihe von Informationen: die Definitionen des Begriffs<br />

"Backfisch", die Exkurse zur Mode der Backfisch-Zeit und zu<br />

Töchterschulen und Pensionaten, die Untersuchung zur Sozialgeschichte<br />

der Mädchen im 19. Jahrhundert; schließlich<br />

auch die biographischen Angaben zu den einzelnen Schriftstellerinnen<br />

und die Geschichte der Trotzkopf-Fortsetzungen<br />

DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83


Mädchen- und Frauen lit eratur 81<br />

durch zwei Autorinnen, von denen eine, die Tochter E. v.<br />

Rhodens, offensichtlich nicht ohne Widerstand die alte Geschichte<br />

immer wieder aufnimmt und besonders im letzten<br />

Band versucht, das liberaltete und emanzipationsfeindliche<br />

Frauenbild zu korrigieren (262f.). Daneben hätte ich mir<br />

mehr psychologisch differenzierte Interpretationen gewünscht<br />

wie die der pubertären Erwartungsangst des sexuell unaufgeklärten,<br />

aber durch warnende Andeutungen erregten und verwirrten<br />

Mädchens (154f.), etwa zum Thema "Mädchen-Schwärmerei"<br />

(z.B. <strong>für</strong> Lehrer), die die Verfasserin in fragwürdiger<br />

Vereinfachung als "Äußerungsform verdrängter Sexualität"<br />

versteht (219). - Was hat es mit dem Pensionsjähr der Backfische<br />

auf sich - steht diese Einrichtung vielleicht in einem<br />

Zusammenhang mit alten Initiationshütten und -türmen,<br />

die das Mädchen <strong>für</strong> die Zeit der Menarche isolierten? Erfüllt<br />

es als sexuelles und gesellschaftliches Moratorium<br />

vielleicht wichtige Funktionen in der Entwicklung, die<br />

durch die dressierende Erziehung nur unkenntlich gemacht<br />

werden? - Wie ist die Häufigkeit des Künstlermilieus in der<br />

Kinder- und Enkelgeneration der Serienheldinnen im literarhistorischen<br />

und gesellschaftlichen Zusammenhang ihrer Entstehungszeit<br />

zu interpretieren? - Wie ist die Verachtung<br />

und Verurteilung der schriftstellernden Frauen in den Serien<br />

zu verstehen - liegt ihnen ein besonderer Masochismus<br />

der Autorinnen zugrunde, die doch selbst schreiben? Oder<br />

geht es um die Abschreckung der Konkurrenz? Immerhin war<br />

das Schreiben eine der wenigen nicht-haushälterischen Tätigkeiten,<br />

die bürgerlichen Frauen mindestens nicht strikt<br />

verboten waren - und eine wichtige Produktionsform ist es<br />

ihnen bis heute geblieben.<br />

Diese Fragen sollen andeuten, wieviel im Bereich der<br />

Mädchenliteratur-Forschung noch zu tun ist. Vor allem dank<br />

seinem umfangreichen Material ist Susanne Zahns Buch ein<br />

beachtenswerter Beitrag dazu.<br />

Gundel Mattenklott (Berlin/West)<br />

Alves, Eva-Maria (Hrsg.): Ansprüche. Verständigungstexte<br />

von Frauen. Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M. 1983 (264 S., br.)<br />

<strong>Das</strong> Buch reiht sich ein in die Zahl der in den letzten<br />

Jahren entstandenen Zusammenstellungen kürzerer autobiographischer<br />

Skizzen, die, unter einen bestimmten Aspekt gestellt,<br />

Allgemeines und Besonderes oft sehr glücklich verbinden.<br />

Hierzu gehören so gelungene Bücher wie 'Guten Morgen,<br />

Du Schöne' (von Maxie Wander) oder 'Pfarrerskinder'<br />

(von Martin Greiffenhagen).<br />

Eva-Maria Alves hat Frauen unterschiedlichen Alters gebeten,<br />

über die Ansprüche zu berichten, die ihr Leben bestimmt<br />

haben und noch bestimmen. Die Konkretheit individueller<br />

Erfahrungen war ihr Ziel, daher das Thema 'Ansprüche',<br />

nicht 'Rolle', 'Identität' oder ähnliches. Diese Ansprüche<br />

sollten nicht als allgemeine Überlegungen, sondern<br />

als erlebte Situationen gefaßt werden. Zwanzig Beiträge, an<br />

DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83


82 Sprach- und Literaturwissenschaft<br />

denen sie nichts veränderte, hat die Herausgeberin chronologisch<br />

nach dem Alter der Befragten angeordnet. Aus anscheinend<br />

äußeren Gründen der Einheitlichkeit sind nur<br />

Frauen und nur Vertreterinnen aus bürgerlichem Milieu zur<br />

Sprache gekommen. Da werden eigene und fremde, ausgesprochene<br />

und stillschweigend erwartete, als gerechtfertigt<br />

oder als ungerecht empfundene, unerfüllbare, verbotene, widersprüchliche,<br />

mißverstandene und verweigerte Ansprüche<br />

beschrieben. Es sind damit in erster Linie die vielen alltäglichen,<br />

von jeder zu erlernenden Fertigkeiten, Leistungen<br />

und Verhaltensweisen gemeint, die Elternhaus, Kirche<br />

und Schule, später der Beruf, die eigene Familie und die<br />

weitere soziale Umwelt der einzelnen abfordern.<br />

Mancher Autorin bedeuten Ansprüche Fundament des Lebens,<br />

Halt und Stütze in schweren Situationen. Als richtungsweisend<br />

und tröstlich empfindet sie beispielsweise eine Frau<br />

mit allerdings besonderem Lebensgang, die, als Kind aus dem<br />

revolutionären Rußland emigriert, während der Zeit des europäischen<br />

Faschismus' noch mehrmals auf verschiedenen Stationen<br />

die Unsicherheiten und Herausforderungen des Lebens<br />

im Exil kennenlernen muß. Andere dagegen zerreiben sich an<br />

ihren Widersprüchen, fühlen sich ihnen nicht gewachsen, haben<br />

sie aber zu sehr verinnerlicht, um sich ohne Verlust an<br />

eigener Lebenssubstanz von ihnen lösen zu können. "In all<br />

diesen Überforderungssituationen erwartete ich immer von<br />

dem, was praktisch Uber meine Kräfte ging, die eigentliche<br />

Lebenserfüllung und Befriedigung. Wenn der Druck nachließ,<br />

hatte ich leicht das Gefühl von 'Nicht-richtig-leben', von<br />

Zweifeln, ob alles überhaupt lohnt" (196). Es ist sicher<br />

kein Zufall, daß die Uber 50jährigen, eher als die Jüngeren,<br />

in ihren Beiträgen zeigen, wie die Auseinandersetzung<br />

mit Lebensansprüchen zum Aufbau einer Identität führen kann,<br />

"die im wesentlichen im Reinen mit sich ist". Die Frage, ob<br />

es die ältere Generation dadurch leichter hatte, bleibt dabei<br />

unbeantwortet. Sicher ist aber, daß die Reflexion über<br />

Ansprüche gerade bei Frauen nach etwa 1970 ihr Bewußtsein<br />

<strong>für</strong> peinigende Widersprüche zwischen unausgelebten aber unabweisbaren<br />

individuellen Ansprüchen und den gesellschaftlich<br />

geforderten Verhaltensnormen gefördert hat, damit aber<br />

auch die Verunsicherung an ihrer Rolle, Distanzierungs- und<br />

Verweigerungsversuche, Neuorientierungen, die nicht immer<br />

glücken. Schmerzhafte Brüche im Lebensgang oder in der eigenen<br />

Person, das Gefangensein in selbst erkannten oder<br />

selbst angelegten Fesseln werden quälend empfunden. Eine<br />

Frau sieht sich selbst unter dem Zwang, sich "Streicheleinheiten<br />

durch Hochleistung" zu erwerben. "Und keine oder wenig<br />

Möglichkeiten, das Programm zu wechseln."<br />

Auch in der Generation der etwa 30- bis 40jährigen gibt<br />

es Beispiele <strong>für</strong> die gelungene Verarbeitung von Anspruchskonflikten,<br />

von Erfahrungen, die zu mündigerem, selbstverantwortlicherem<br />

Umgang mit ihnen führten. Bei Almuth Schulze-Conrades<br />

heißt es: "Die zu Anfang gestellte Frage 'Wie<br />

DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83


Mädchen- und Frauen lit eratur 83<br />

gehe ich mit den Ansprüchen um?' hat sich unter der Hand in<br />

die Frage verwandelt 'Wie gehen und gingen die Ansprüche<br />

mit mir um? 1 " Ihr, die sich von Ansprüchen ihr ganzen Leben<br />

erdrückt fühlte, gelingt es heute manchmal, "die Fragestellung<br />

wieder umzudrehen - neue oder alte Ansprüche erstmal<br />

auf Armlänge von mir abzuhalten und zu prüfen, ehe ich mich<br />

zu ihnen stelle" (205). Der Preis da<strong>für</strong> ist hoch. So ist<br />

sich die erfolgreiche Wissenschaftlerin, der es gelungen<br />

ist, berufliche und persönlich-private Ansprüche zu vereinbaren,<br />

bewußt, daß nur sehr wenige der hohen psychischen<br />

Belastung gewachsen sind, die sie auszuhalten hat. Und die<br />

durchaus positive Lebensbilanz der im Privatleben glücklichen<br />

Frau eines Diplomaten, die bewußt ihre Berufstätigkeit<br />

aufgegeben hat, wird zum Schluß mit einem Fragezeichen versehen.<br />

Dialektik des Fortschritts also auch hier. Die<br />

Sprengung fester Anspruchsgefüge ermöglicht größere Freiheit<br />

der Wahl, Selbstbestimmung, Handlungsalternativen. Aber die<br />

Wirklichkeit wird im gleichen Maße komplexer, und gebieterisch<br />

stellen sich neue, nun z.T. als politische formulierte<br />

Ansprüche, die die einzelne ebenso gefangennehmen und<br />

lähmen können. Im Beitrag einer 19jährigen werden die hypertrophen,<br />

schier unerfüllbaren Ansprüche angestrengt,<br />

gleichsam pedantisch abgehandelt, wobei selbst das Ausleben<br />

der Gefühle zum Pflichtpensum gemacht wird.<br />

<strong>Das</strong> Buch bietet mehr als eine Illustrierung weiblicher<br />

Unterdrückung bzw. Emanzipation. In den Geschichten werden<br />

über die allgemeinen historischen Entwicklungslinien, die<br />

sich in ihnen zeigen, unverwechselbare, einzigartige Erfahrungen<br />

mit großer Lebendigkeit festgehalten. Allerdings<br />

sind es spezifisch bürgerliche und in der Tradition bürgerlicher<br />

Artikulationsformen stehende Erfahrungen.<br />

Renate Decke-Cornill (Marburg)<br />

Morgner, Irmtraud: Amanda. Ein Hexenroman. Luchterhand Verlag,<br />

Darmstadt und Neuwied 1983 (656 S., Ln.)<br />

"Denn uns Frauen wird Leidenschaft nur in der Liebe zugebilligt.<br />

Auf allen anderen Gebieten hält uns die Knute<br />

der Bravheit nieder" (226). Dieser Satz im 57. Kapitel des<br />

Romans könnte als Leitsatz <strong>für</strong> den gesamten Roman dienen.<br />

Denn was macht eine Frau, die leidenschaftlich lieben und<br />

(schriftstellerisch) arbeiten will? Sie lebt zweigeteilt,<br />

als Laura Salman und als Hexe Amanda. Laura als realistischer<br />

Teil, Amanda als phantastischer. Laura ist Triebwagenführerin<br />

und alleinerziehende Mutter des Sohnes Wesselin;<br />

ihre Aufgaben als Mutter und als berufstätige Frau<br />

lassen sich nur in Nachtschichtarbeit vereinbaren. Die andere<br />

Hälfte, Amanda, lebt als Hexe auf dem Hörselberg - mit<br />

dem Ziel, die männlichen Raben (das Patriarchat) zu entmachten<br />

und endlich an das Trinksilber zu gelangen, welches<br />

"entrückt und unteilbar" machen kann. Nicht mehr aufgeteilt<br />

zu sein zwischen den alltäglichen Anforderungen als berufstätige<br />

Mutter und nicht mehr "erschlagen" zu sein von der<br />

DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83


84<br />

Sprach- und Literaturwissenschaft<br />

Weltkatastrophe (Umweltzerstörung, nuklearer Overkill) ist<br />

der Wunsch Lauras. Mit Amanda setzt Irmtraud Morgner die<br />

Trilogie der Trobadora Beatriz fort, die nach einem achthundertjährigen<br />

Schlaf erwacht, ins gelobte Land,die DDR,<br />

aufbricht, dort Laura Salman kennenlernt, die die Beatriz<br />

zu ihrer Spielfrau erklärt. Durch Laura Salman erfährt die<br />

Trobadora Beatriz, daß es mit der gesetzlichen Verankerung<br />

der Gleichberechtigung noch lange nicht getan ist.<br />

Hoffte Laura im ersten Teil der Trilogie noch auf die Hilfe<br />

der Männer bei der Gleichberechtigung, so macht sie sich im<br />

zweiten Teil selbst auf den Weg und stellt die Gleichberechtigtheit<br />

mit dem Mann generell in Frage. "Nach allen<br />

bisherigen Revolutionen, die Männer und Frauen gemeinsam<br />

durchkämpften, gehörten die Frauen zu diesen Letzten. Diesmal<br />

lassen wir uns nicht bescheißen, redete Laura auf sich<br />

ein, gedachte der Hexenküche im 'Faust' und begann noch am<br />

selben Abend mit alchimistischen Versuchen" (139). Zaubermittel<br />

dienen den Frauen im Roman, um die Spannung zwischen<br />

Realität und Utopie aushalten zu können. Am Ende des ersten<br />

Teils der Trilogie fällt Beatriz aus Freude Uber den Linkssieg<br />

in Frankreich beim Fensterputzen aus dem Fenster und<br />

ist tot. Zu Beginn des neuen Romans kehrt sie erneut ins<br />

Leben zurUck, als Sirene im Gehege des <strong>Berliner</strong> Tiergartens,<br />

um dort an der Lebensgeschichte der Laura Salman weiterzuschreiben.<br />

Ihrer Zunge beraubt, was <strong>für</strong> eine Sirene<br />

katatrophale Folgen hat, weil nur noch Sirenisches Geschrei<br />

hilft, die Katastrophen zu benennen, wartet sie auf die<br />

Hilfe der Sirene Sappho und des Orakels von Delphi. Alle<br />

drei Frauen, Amanda, Laura und Beatriz,versuchen, sich mit<br />

verschiedenen Strategien zu befreien. Laura erkennt, daß<br />

das, was sie bisher lebte, nur die halbe Wahrheit ist, die<br />

andere Hälfte ist das Hexische. Alchimistische Versuche und<br />

närrische Fraktionssitzungen im <strong>Berliner</strong> Dom sind die Mittel,<br />

mit denen Laura versucht, Widerstand zu leisten. Sie<br />

will damit an die alte Karnevalstradition anknüpfen, wo<br />

närrische Aktionen als Widerstand gegen die Obrigkeit verstanden<br />

wurden. Amanda als radikal-feministische Hexe versucht<br />

derweil auf dem Hörselberg, den Umsturz gegen das Patriarchat<br />

zu organisieren. Die Sirene Beatriz überlegt in<br />

ihrer Voliere, ob Schreiben das geeignete Mittel ist, die<br />

Menschen wachzurütteln.<br />

Um diese Frauen herum bewegen sich Oberteufel, Oberengel,<br />

Schlangen, Fabelwesen und Kinder. Befreiungslösungen<br />

und -Strategien sind in diesem Buch nicht zu erwarten, auch<br />

wenn Sirene Beatriz ihre Zunge von der Hexenfraktion des<br />

Hörselbergs zurückerhält und es Laura gelingt, ihre <strong>für</strong><br />

verrUckt erklärte Freundin Vilma aus der Psychiatrie zu befreien.<br />

Der Roman enthält historische und aktuelle Elemente,<br />

verbunden mit fantastischen und realistischen Geschichten<br />

und im Hintergrund die Faustfigur als grenzüberschreitendes<br />

Element. Für Nichtkenner ist es schwer, die Verbindungen<br />

zu Figuren wie Faust und Pandora herzustellen. Neben<br />

DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83


Literaturtheorie 85<br />

den schwer zugänglichen Teilen sind <strong>für</strong> mich die Alltagsgeschichten<br />

der Laura sehr eindrucksvoll. Sie geben das Bild<br />

einer alleinerziehenden Frau in der DDR wieder, die versucht,<br />

sich trotz allgemeiner Borniertheit und Sturheit mit<br />

Ironie und Witz und dem hexischen Anteil durchzusetzen.<br />

"Der ganze Sieg", sagen die Hexen am Schluß zu Beatriz,<br />

"ist freilich eine lange Geschichte". Solange ist es noch<br />

notwendig, daß Laura zweigeteilt lebt, als Triebwagenführerin<br />

und als Hexe Amanda. Angelika Nette (Hamburg)<br />

Literaturtheorie<br />

Brackert, Helmut und Jörn Stückrath (Hrsg.): Literaturwissenschaft.<br />

Grundkurs. Rowohlt Verlag, Reinbek 1981 (2 Bde.,<br />

434 und 514 S., br.)<br />

Aus der Arbeit am "Funk-Kolleg Literatur" entstand der<br />

vorliegende Grundkurs als wesentlich erweitertes und systematischer<br />

konzipiertes Handbuch. Die Herausgeber wollen<br />

propädeutsche Information, wissenschaftsprogrammatische<br />

Akzentuierung und didaktische Vermittlung miteinander verbinden.<br />

<strong>Das</strong> Darstellungsziel: "Den Stoff dieser Einführung<br />

ebenso wissenschaftlich exakt aktuell wie verständlich zu<br />

präsentieren" (I, II). Adressaten sind nicht nur Studienanfänger<br />

der Germanistik, sondern alle an der Literatur und<br />

ihrer Vermittlung Interessierten. Ihnen sei das Buch als<br />

ein Vademekum empfohlen. Es eignet sich als Hand- und Nachlese-Buch<br />

vor allem, weil die zitierten Absichten der Herausgeber<br />

im ganzen glücklich realisiert sind.<br />

Die Brauchbarkeit ergibt sich vor allem aus der Tatsache,<br />

daß die Mehrzahl der Beiträge den 'lebenspraktischen'<br />

Bezug literaturwissenschaftlicher Arbeit ins Zentrum stellen:<br />

"Die Praxis der Textauslegung ist immer Bestandteil<br />

des Handelns von Mitgliedern bestimmter, geschichtlicher<br />

entwickelter und sich entwickelnder Gesellschaftsformationen"<br />

(L. Fischer; I, 67). Daß wissenschaftliche Information<br />

und <strong>Argument</strong>ation, wie es in dem vorzüglichen Beitrag von<br />

J. Landwehr heißt, nicht nur "haltbar", sondern auch<br />

"brauchbar" sein müsse: dies läßt sich vielleicht - bei allen<br />

methodischen Differenzen - als ein gemeinsamer Anspruch<br />

der Literaturwissenschaft "nach 1968" festhalten.<br />

Der Gesamtaufbau des Grundkurses vermittelt ein Bild der<br />

Literaturwissenschaft, das (bis auf eine noch zu erörternde<br />

Einschränkung) der "Logik der Sache" angemessen ist. Am Anfang<br />

stehen zwei instruktive Beiträge über das Lesen (von<br />

R. Schenda und K.F. Geiger). Sie erinnern an die keineswegs<br />

banale Tatsache, daß der Gegenstand literaturwissenschaftlicher<br />

Arbeit nicht eine Masse von "Kulturgütern" ist, sondern<br />

die Lektüre als eine besondere Form der Aneignung von<br />

Wirklichkeit. Die Geschichte des Lesens und der Lesestoffe<br />

DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83


86 Sprach- und Literaturwissenschaft<br />

erscheint auf diese Weise zu Recht als eine Geschichte von<br />

Kämpfen, (Lese-)Kultur und Demokratie im einleuchtenden Zusammenhang.<br />

Diese Einsicht kommt m.E. in dem ansonsten<br />

spannenden Beitrag von J. Stückrath zu kurz: die Geschichte<br />

der Textüberlieferung ist so gut wie die der Textinterpretation<br />

eine "Geschichte der Sieger" (W. Benjamin). Die von<br />

L. Fischer dargelegte Entwicklung der Bibelauslegung und<br />

die von E. Lämmert behandelte juristische Hermeneutik könnten<br />

das Bewußtsein da<strong>für</strong> schärfen, daß auch Literaturkritik<br />

und Literaturwissenschaft - als Kanonbildung so gut wie als<br />

Meinungs- und Wahrnehmungsbildung - etwas mit dem Kampf<br />

zwischen "herrschender" und "abweichender" (nicht: anderer!)<br />

Meinung zu tun haben; hier sind die Parallelen allerdings<br />

eher implizit und werden nicht deutlich genug herausgearbeitet.<br />

Die Nützlichkeit von exemplarischen Interpretationen in<br />

einer Einführung ist unbestritten. Zwei Epen (Ilias/Parzival),<br />

drei Romane (Madame Bovary/Effi Briest/Die Geheimnisse<br />

von Paris), ein Drama (Der Kaufmann von Venedig) und eine<br />

Literaturverfilmung (Fontanes Cécile) werden vorgeführt.<br />

J. Links vorzügliche, ebenso konkret-anschauliche wie<br />

brauchbare Untersuchung über die Struktur lyrischer Texte<br />

stände sinnvoller.in dem folgenden Abschnitt über Literatur<br />

als Struktur, in dem die Darstellung linguistischer und<br />

strukturalistischer Ansätze zu Recht ein hohes Gewicht erhalten<br />

hat. Die Beiträge zur Rhetorik/Topik (Haberkamm/Richartz)<br />

und zum neuhochdeutschen Vers (Binder/Schluchter/<br />

Steinber) erscheinen als weniger geeignet <strong>für</strong> eine Einführung,<br />

da sie - wenig exemplarisch - historische Auseinandersetzungen<br />

behandeln, deren Kenntnis zum Mitdenken erforderlich<br />

wäre, aber wohl bei Studienanfängern nicht vorausgesetzt<br />

werden kann. - Zu wünschen wäre gewesen, daß die<br />

Herausgeber aus dem Funk-Kolleg (Bd. 1, 210-233) den ausgezeichneten<br />

Aufsatz von K. Stierle zur Struktur narrativer<br />

Texte übernommen hätten; R. Fellingers Artikel zum gleichen<br />

Thema ist umständlich, z.T. nichtssagend-allgemein und in<br />

wesentlichen Teilen eine eher mißglückte Paraphrase von<br />

Stierles Ausführungen. Als spürbare 'Lücke' in diesem Kursteil<br />

erweist sich das Fehlen einer Untersuchung struktureller<br />

Probleme des Dramas, die hoffentlich <strong>für</strong> eine zweite<br />

Auflage des Grundkurses nachgeliefert wird.<br />

Es wäre wünschenswert, in den Teil über die Geschichtlichkeit<br />

der Literatur unter allen Umständen einen Beitrag<br />

zur Produktion der Literatur aufzunehmen, welche ja wohl<br />

ebenso wie die von W. Barner instruktiv behandelte Rezeptions-<br />

und Wirkungsgeschichte "als notwendiger und integraer<br />

Bestandteil des historischen Arbeitens mit Literatur"<br />

(II, 102) gelten muß (vielleicht hätten die Hrsg. B.J. Warneken<br />

gewinnen können?). Und damit bin ich bei der angekündigten<br />

Einschränkung: in einem 'Umriss' der Literaturwissenschaft<br />

müßte m.E. auch das Funktionsproblem verbindlicher<br />

behandelt werden. <strong>Das</strong> ist keine Kritik an den hierher<br />

DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83


Literaturtheorie 87<br />

gehörenden Aufsätzen von H. Müller und H. Brackert; diese<br />

reichen jedoch <strong>für</strong> eine systematische Einführung nicht aus.<br />

Probleme der ästhetischen Erfahrung und Erkenntnis, der<br />

1 kathartischen 1 oder distanzierenden Funktion, des operativen<br />

bzw. instrumentalen Gebrauchs von Literatur, des konkreten<br />

Wirklichkeitsverhältnisses etwa der dokumentarischen<br />

oder satirischen Texte etc. müssen bei der Literaturinterpretation<br />

angesprochen werden, wenn diese nicht formalistisch<br />

ausfallen soll. <strong>Das</strong> zeigen z.B. die informativen<br />

Überlegungen H. Kallweits über lehrhafte Literatur; auch G.<br />

Plumpe argumentiert einleuchtend in diese Richtung (I,<br />

353ff.). Daß Funktionsbestimmung und Funktion nicht das<br />

gleiche sind und jede Vermischung sich hier desorientierend<br />

auswirkt, zeigt jede Seminardiskussion über einen konkreten<br />

Text deutlich genug. Ausgesprochen ärgerlich tritt diese<br />

Unklarheit bei Hans Günther zutage. Was er als "historische<br />

Position" deklariert, ist vor allem eine Wiederholung der<br />

bekannten Vorurteile gegen die marxistische Literaturwissenschaft.<br />

In vollkommen unhistorischer Weise wird eine in<br />

der sowjetischen Kulturpolitik seit den dreißiger Jahren<br />

lange Zeit dominant gesetzte Funktionsbestimmung zur generellen<br />

Unfähigkeit 'der' marxistischen Literaturwissenschaft<br />

hochgerechnet, mit Literatur anders als dogmatischborniert<br />

umzugehen; diese <strong>Argument</strong>ation gewinnt auch nicht<br />

dadurch, daß der Marxist Walter Benjamin umstandslos zur<br />

Frankfurter Schule gerechnet wird (II, 324). - Sehr viel<br />

brauchbarer ist der Teil Literarische <strong>Institut</strong>ionen; zu begrüßen<br />

sind die Ausführungen Plumpes über den Autor als<br />

Rechtssubjekt; in G. Peters Studie über Autor und Publikum<br />

(oder in einem eigenen Beitrag) würde ich mir eine eingehendere<br />

Behandlung solcher Fragen wie Honorare, materielle<br />

Lebensbedingungen, politisch-gewerkschaftliche Zusammenschlüsse<br />

der Schriftsteller o.ä. wünschen; aber das ist nun<br />

wohl tatsächlich eine Umfangs- und Vollständigkeitsfrage.<br />

- Der abschließende Teil über Geschichte und Aufgaben der<br />

Literaturwissenschaft enthält u.a. einige interessante und<br />

weiterführende Erörterungen zur gegenwärtigen Methodendiskussion<br />

(von H. Steinmetz, K.R. Scherpe, U. Japp und J.<br />

Link). Sie sind wohl zu Recht als "Neuere Ansätze" klassifiziert;<br />

- zum Lobe des Ganzen sei jedoch ausdrücklich hervorgehoben,<br />

daß dies <strong>für</strong> die meisten Beiträge dieses übersichtlichen<br />

und brauchbaren Handbuchs gilt.<br />

Jürgen Schutte (Berlin/West)<br />

Schmidt, Siegfried J. : Grundriß der empirischen Literaturwissenschaft.<br />

Bd. 1: Der gesellschaftliche Handlungsbereich<br />

Literatur. Vieweg-Verlag, Braunschweig 1980 (346 S., br.)<br />

Bd. 2: Zur Rekonstruktion literaturwissenschaftlicher Fragestellungen<br />

in einer empirischen <strong>Theorie</strong> der Literatur.<br />

Vieweg-Verlag, Braunschweig 1982 (246 S., br.)<br />

Die programmatische Erneuerung der Literaturwissenschaft<br />

aus der Perspektive der Rezeptionsforschung hatte zunächst<br />

DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83


88 Sprach- und Literaturwissenschaft<br />

- vereinfacht und zugespitzt ausgedrückt - zwei Phasen<br />

durchlaufen, die sich zugleich kontradiktorisch zueinander<br />

verhalten. Der Rezeptionsästhetik eines Jauß (ab 1967) und<br />

eines Iser (ab 1970), inzwischen zur traditionellen Produktionsästhetik<br />

ausgedünnt, folgte die empirische Rezeptionsanalyse<br />

eines Groeben (ab 1974). Dieser Wandel bedeutete<br />

die Akzentverlagerung von 'Literatur-' auf ' - W i s s e n s c h a f t ! ,<br />

von den Texten als Gegenstand zu den Methoden, von der Diachronie<br />

zur Synchronie. Grimms <strong>Theorie</strong> einer Rezeptionsgeschichte<br />

(ab 1977), die hier vermitteln wollte, stellte den<br />

logisch nächsten, dritten Schritt dar, machte in ihrer relativen<br />

Folgenlosigkeit aber vor allem deutlich, daß sich<br />

das Gros der Literaturwissenschaftler "abgehängt" hatte.<br />

Ende der 70er Jahre war die Groeben-Reihe Empirische Literaturwissenschaft<br />

(Tübingen: Narr) praktisch einziger Ausdruck<br />

der rezeptionsmäßigen Erneuerungsbemühungen. <strong>Das</strong> hat<br />

sich geändert. Mit der neuen Reihe Konzeption Empirische<br />

Literaturwissenschaft (Braunschweig: Vieweg) wird derzeit<br />

eine nunmehr vierte Entwicklungsphase eingeleitet, die sich<br />

erneut um "Literatur" und die Integration traditioneller<br />

Ästhetik und zeitgemäßer Wissenschaftstheorie bemüht - Ausdruck<br />

zugleich der Tendenz, die Diskussion wieder auf breiterer<br />

Basis zu führen, unter Einschluß nicht nur der Sozialwissenschaften,<br />

der Wissenschaftstheorie, der Leserpsychologie,<br />

sondern auch der Linguistik und der traditionellen<br />

Literaturwissenschaftler. In den ersten beiden Teilbänden<br />

hat S.J. Schmidt programmatisch einen "Grundriß der Empirischen<br />

Literaturwissenschaft" vorgestellt: eine "Empirische<br />

<strong>Theorie</strong> der Literatur" (Bd. 1) und deren konkrete Anwendung<br />

(Bd. 2). Es sei ausdrücklich angemerkt, daß die<br />

beiden Teile nicht isoliert voneinander gelesen werden<br />

sollten.<br />

Im 1. Teilband wird eine sogenannte "empirische" Literaturtheorie<br />

vorgestellt. In Anlehnung vor allem an Arbeiten<br />

von J.D. Sneed (ab 1971) geht Schmidt deduktiv vor, um einen<br />

"strukturell möglichst vollständigen Grundriß" vorzulegen<br />

(15). Ansatzpunkt sind entsprechend die "Voraussetzungen"<br />

der dann zu beschreibenden Literaturtheorie: zunächst<br />

die Grundzüge generell einer <strong>Theorie</strong> der Handlung (1. Kapitel);<br />

dann eine <strong>Theorie</strong> kommunikativen Handelns, mit Betonung<br />

der sprachlichen Kommunikationshandlung (2. Kapitel);<br />

schließlich eine <strong>Theorie</strong> ästhetischen kommunikativen Handelns,<br />

bei der das Augenmerk besonders auf die Funktion ästhetischer<br />

Kommunikation gerichtet ist (3. Kapitel). Nach<br />

diesen Prämissen und weitgehend davon abgeleitet wird sodann<br />

die eigentliche <strong>Theorie</strong> literarischen kommunikativen<br />

Handelns vorgestellt, zunächst als Gesamtsystem (4. Kapitel),<br />

dann gemäß den von Anfang an unterschiedenen vier<br />

verschiedenen Handlungsrollen in literarischer Kommunikation:<br />

als <strong>Theorie</strong> literarischer Produktions-, Vermittlungs-,<br />

Rezeptions- und Verarbeitungshandlungen (5. Kapitel).<br />

DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83


Literaturtheorie<br />

Dieser abstrakte theoretische Rahmen wird im 2. Teilband<br />

inhaltlich gefüllt und damit ebenso anschaulich wie diskutierbar.<br />

Im Gegensatz zu einer <strong>Theorie</strong>-Konstruktion geht es<br />

nun eher um eine Rekonstruktion traditionell literaturwissenschaftlicher<br />

Fragen im Rahmen dieser neuen <strong>Theorie</strong>; es<br />

soll gezeigt werden, daß und wié Literaturwissenschaft auch<br />

die bislang in zahlreichen Teildisziplinen "ausgelagerten"<br />

Problemstellungen autonom behandeln und lösen kann, statt<br />

sie weiterhin zu delegieren. Mit Mut zum "Dilettantismus im<br />

Detail" (11) widmet sich Schmidt zunächst dem seit Jauß<br />

wieder zentralen Problem: "Literaturgeschichte" als Ermittlung<br />

der Diachronie des Literatur-Systems (1. Kapitel), gewissermaßen<br />

als dem diachronen Aspekt des im 1. Teilband<br />

systematisch beschriebenen Systems. Dabei wird erneut auf<br />

die bekannten vier Handlungsrollen abgehoben. In einem<br />

zweiten Zugriff werden "literatur-soziologische" und "literatur-psychologische"<br />

' Fragestellungen eingeholt. Der<br />

Schriftsteller als gesellschaftliche Instanz und als Künstler,<br />

die Medien, der Leser, die Kritiker etc. - alle vormals<br />

soziologischen (2. Kapitel) und auch psychologischen<br />

Themenbereiche (3. Kapitel) werden als legitime Teile der<br />

Gesamtkonzeption von Literatur-in-Gesellschaft ausgewiesen.<br />

Der dritte und letzte Zugriff ist anwendungsorientiert. An<br />

den beiden Fällen Literaturkritik (4. Kapitel) und Literaturunterricht<br />

(5. Kapitel) werden Möglichkeiten der gewünschten<br />

Verbesserung des Literatur-Systems skizziert, wie<br />

sie aus dem skizzierten wissenschaftlichen Konzept begrün-,<br />

det werden könnten. <strong>Das</strong> reicht bis zu einer neuen Berufskonzeption<br />

im ersten und zu konkreten Lernzielen im zweiten<br />

Fall.<br />

Die beiden Bände sind ein riskanter Wurf, der dem Leser<br />

große Anstrengungen abnötigt. <strong>Das</strong> gilt vor allem <strong>für</strong> die<br />

Rezeption der hier ausdrücklich als notwendig postulierten<br />

Fachsprache. Um nur ein Beispiel zu nennen: Wenn Helmut<br />

Kreuzer pragmatisch Literatur definiert als das, was von<br />

den Menschen <strong>für</strong> Literatur gehalten wird, so steht bei<br />

Schmidt: "LKK ist ein Literarisches Kommunikat <strong>für</strong> einen<br />

Kommunikationsteilnehmer K in einer sprachlichen Kommunikationshandlung<br />

KH genau dann, wenn K eine sprachliche Kommunikationsbasis<br />

SKB, die ihm in einer Kommunikationssituation<br />

KSit präsentiert wird, durch eine Kommunikationshandlung<br />

KH als thematisches Kommunikat KK realisiert und bei<br />

KH die ÄLKO und PLKO befolgt und zur Bewertung von KK<br />

sprachbezogene Ästhetische Normen anwendet" (191). Exakte<br />

Definitionen tun not, aber sind die Formelspiele (z.B. auch<br />

176ff.) tatsächlich hilfreich? <strong>Das</strong> neue Konzept muß diskutiert<br />

werden. Kritische Fragen wären gewiß auch zum Grundaufbau<br />

zu stellen, etwa zu der doch eher traditionellen<br />

Einteilung in Produktion, Vermittlung etc. Kann man wirklich<br />

das produzierte vom vermittelten und rezipierten Werk<br />

trennen; gibt es z.B. den Roman ohne das Medium Buch, den<br />

Spielfilm ohne das Kino, das Fernsehspiel ohne Fernsehen?<br />

89<br />

DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83


90<br />

Sprach- und Literaturwissenschaft<br />

(Vgl. 1. Teilband, 85f.) Ist der Gegenstandsbereich der<br />

"neuen" Literaturwissenschaft nicht viel eher gerade die<br />

untrennbare Einheit der Glieder Produzent, Vermittler, Rezipient,<br />

Verarbeiter etwa im Sinne medienästhetischer Perspektive?<br />

Mit den beiden Bänden werden solche Diskussionen<br />

um Literaturwissenschaft als Ästhetik, als Geschichte, als<br />

Kritik, als Sozialwissenschaft auf einer anspruchsvollen<br />

Ebene zweifellos vorangetrieben. "Rezeptionsforschung" ist<br />

hier längst nicht mehr Modeerscheinung am Rande, sondern<br />

eher der <strong>Theorie</strong>kern zukünftiger wissenschaftlicher Bemühungen<br />

um Literatur. Werner Faulstich (Tübingen)<br />

Masini, Ferruccio: II suono di una sola mano. Lemmi critici<br />

e metacritici. Guida editori, Neapel 1982 (208 S., br.)<br />

Der Band enthält Notizen, Aphorismen und Einfälle desjenigen<br />

italienischen Literaturkritikers der jüngeren Generation,<br />

der sich vielleicht am intensivsten um eine Klärung<br />

des Spannungsfeldes zwischen Literatur und Politik bemüht<br />

hat. Er fragt weniger, was der in literarischen Formen<br />

transportierte soziale und politische Inhalt sei, als was<br />

diese Formen selbst sind, angesprochen als Inhalte. Diese<br />

Form der Vermittlung zerstört die Integrität der Sphären,<br />

sowohl die der Literatur wie die der Politik.<br />

<strong>Das</strong> Material und die Anstöße seiner Beobachtungen entstammen<br />

vorwiegend der deutschen literarischen Tradition.<br />

Der von ihm aufgespannte Rahmen reicht von Kleist, Musil,<br />

Nietzsche (den Masini übrigens übersetzte), Kraus, Brecht<br />

bis zu Benjamin (<strong>für</strong> Masini letzte Autorität); hinzu treten<br />

Figuren wie Bataille, Artaud, Robbe-Grillet. Im Mittelpunkt<br />

dieses sehr heterogenen Feldes steht der Begriff der Avantgarde,<br />

der in all diesen Autoren aufgesucht wird, ohne zu<br />

einer Synthese zu gelangen. Erst durch diesen gemeinsamen<br />

Nenner werden die verstreuten Notizen lesbar. Jede einzelne<br />

Erscheinung wird <strong>für</strong> Masini - ob zu recht oder nicht, ist<br />

nur im Einzelfall zu entscheiden - zum Modell einer "Dialektik<br />

der Avantgarde", die ihrerseits nur in Exempeln darstellbar<br />

ist: "Die gesamte Erfahrung der Avantgarde wurde<br />

schon vor ihrem Beginn vollständig vom nervösen Gestus des<br />

Cabarets durchlaufen. (...) Der Mikrokosmos des Cabarets<br />

gewinnt so dieselbe Ambivalenz, die wir schon im widersprüchlichen<br />

Verlauf der Avantgarde wahrnehmen konnten, die<br />

unfähig war, die Inkongruenz zwischen der Revolution der<br />

Sprache und der realen Emanzipation des Menschen zu überwinden,<br />

die das schwierigste und bedeutungsvollste Problem<br />

dieser nur potentiell revolutionären Bewegung aufwirft"<br />

(49). Auf diese Weise versucht Masini sich davon Rechenschaft<br />

zu geben, daß die artistische und die politische<br />

Tendenz der Avantgarde keineswegs immer konvergierten, am<br />

allerwenigsten in Italien, deren Avantgarde artistisch zwar<br />

vielleicht "transgressiv" (Masini), politisch aber unbezweifelbar<br />

"faschistisch" war.<br />

Masini bemüht sich weniger darum, diese "Dialektik" auf-<br />

DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83


Deutsche Literaturgeschichte<br />

zulösen, d.h. zu klären, wieweit sich die Herrschaftsstrukturen<br />

der bürgerlichen Gesellschaft in Termini wie "Logozentrismus",<br />

"Grammatikalismus" usw. ausreichend beschreiben<br />

lassen, und ob daher der Verstoß gegen diese logischen<br />

und grammatischen Konventionen wirklich jenen "transgressiven<br />

Akt" darstellt, als den er sich ausgibt, sondern um ihre<br />

Festschreibung als einer Art unausweichlicher Fatalität<br />

der Kunst, zumal der modernen. Diese Position erlaubt es<br />

Masini immerhin, allzu reduktive Einwände gegen die Avantgarde<br />

zurückzuweisen; über den Charakter ihrer Werke ist<br />

mit dem Hinweis auf ihre angeblich elitäre Leserschaft oder<br />

auf die soziologische Herkunft ihrer Autoren noch nichts<br />

entschieden. Jedoch wird in Masinis am Spätwerk Benjamins<br />

orientiertem Versuch, den politischen Index der Werke zunächst<br />

aus ihren formalen Verfahrensweisen zu begründen,<br />

die "Dialektik der Avantgarde" tautologisch. Die "Transgression"<br />

muß, um solche zu bleiben, sich auf den logischgrammatischen<br />

Bereich beschränken (vgl. 11-17). Masini<br />

fragt nicht, ob die Avantgarde den Logozentrismus, das<br />

Kunstritual usw. wirklich zerstörte, oder nicht vielmehr zu<br />

monopolisieren versuchte, ob also nicht, um mit Sanguineti<br />

zu sprechen, ihr "heroisches" und ihr "zynisches" Moment<br />

von vornherein identisch waren. Den Begriff der "Transgression"<br />

selber zieht Masini nirgends in Frage, hier<strong>für</strong> scheint<br />

mir seine Rezeption von Benjamins Spätschriften verantwortlich.<br />

Die "Bewegung", die die Avantgarde zu sein und auszulösen<br />

beanspruchte, konnte, wie Masini darstellt, nur "ephemer"<br />

sein (vgl. 61ff.). Ob eine "ephemere Bewegung" Protest<br />

oder Bestätigung einer unbewegten Substanz von Herrschaft<br />

ist und wie eine "bewegte Substanz" aussehen könnte,<br />

sind offene Fragen, die in diesem Buch nicht angegangen<br />

werden. Manfred Hinz (Brescia)<br />

Deutsche Literaturgeschichte<br />

Rosellini, Jay: Volker Braun. Autorenbücher Nr. 31. C.H.<br />

Beck'sehe Verlagsbuchh. & edition text + kritik,.München<br />

1983 (200 S., br.)<br />

Volker Braun wird nach wie vor in der wesentlichen Literaturwissenschaft<br />

und -kritik unterschätzt. Die bisherige<br />

Rezeption ist von vielfältigen Mißverständnissen und Vorurteilen<br />

geprägt, so daß von Rosellinis Monographie eine Korrektur<br />

des westlichen Braun-Bildes zu erhoffen war, doch<br />

dieser Erwartung wird das Buch nicht gerecht. Der wesentliche<br />

Mangel liegt in der Unterschlagung der ästhetischen<br />

Qualitäten zugunsten einer vordergründigen politisch-ideologischen<br />

Interpretation; der Vorzug besteht darin, daß<br />

"alle Werke Brauns - die bekannten und die eher unbekann-<br />

91<br />

DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83


92 Sprach- und Literaturwissenschaft<br />

ten, die veröffentlichten sowie die unveröffentlichten -"<br />

(7) behandelt werden.<br />

Bereits in der Einleitung, in der Rosellini u.a. versucht,<br />

den Entwicklungsweg Volker Brauns nachzuzeichnen,bezieht<br />

er bislang unveröffentlichte Essays ein (13f.), in<br />

denen sich Braun in programmatischer oder auch satirischer<br />

Weise mit aktuellen und grundlegenden Problemen der DDR-Gesellschaft<br />

auseinandersetzt. Gerade aufgrund der Kenntnis<br />

dieser Schriften ist eine differenzierte Darstellung der<br />

Position Brauns zu erwarten, doch Rosellini entwirft ein<br />

unscharfes, ja verzerrendes "Zwei-Phasen-Modell": "bis etwa<br />

1968 mehr oder weniger orthodoxer Marxismus-Leninismus, danach<br />

eine immer schärfere sozialistische Kritik am herrschenden<br />

System in Osteuropa" (16). Richtig ist, daß sich<br />

Brauns <strong>kritische</strong> Perspektive verändert hat: War zunächst<br />

die unterentwickelte sozialistische Demokratie ein Fixpunkt<br />

seiner Arbeit, so setzt er sich seit Beginn der siebziger<br />

Jahre verstärkt mit grundlegenden geschichtsphilosophischen<br />

Fragen auseinander, denn es geht ihm um die "Veränderung<br />

der politischen Schichtung" durch die "Umwälzung der ökonomischen<br />

Struktur" (Braun, 13). Verstehen läßt sich Brauns<br />

Arbeit an der immanenten Veränderung der Gesellschaft nur,<br />

wenn man z.B. der Dialektik des von Braun geäußerten Gedankens<br />

folgt, "daß es noch niemals so war, daß einer <strong>für</strong> eine<br />

Gesellschaft ist - und doch zugleich sie mit derselben<br />

Energie ändern will wie in alten Zeiten ..." (54).<br />

Rosellini folgt in seiner Besprechung der einzelnen Werke<br />

der Chronologie. Die "frühen Arbeiten" - die drei Stücke<br />

"Die Kipper", "Hinze und Kunze", "Freunde" und die ersten<br />

beiden Gedichtbände - werden zusammenfassend vorgestellt.<br />

Dabei beschäftigt sich Rosellini hauptsächlich mit den Themen,<br />

die als Kontinuum durch Brauns Gesamtwerk zu verfolgen<br />

sind. Unter anderem werden genannt "die Notwendigkeit der<br />

ständigen revolutionären Entwicklung" (30), der Mensch als<br />

"Produzent seiner eigenen Persönlichkeit, Produzent menschlicher<br />

Beziehungen" (33), das "Verhältnis Führer - Geführte"<br />

(35), der Internationalismus usw.<br />

Auch bei der Analyse der Gedichtzyklen bemüht sich der<br />

Verfasser um die Hervorhebung gemeinsamer und übergreifender<br />

Aspekte. Für den Gedichtband "Gegen die symmetrische<br />

Welt" wird die "Bestimmung des neuen Standorts zwischen<br />

Utopie und Gegenwart" (66) als eine zentrale Koordinate angenommen,<br />

und als "charakteristische Merkmale" des letzten<br />

Gedichtbandes "Training des aufrechten Gangs" nennt Rosellini:<br />

"die Suche nach dem 'Eigentlichen', die Rezeption der<br />

Klassik sowie der sozialistischen Lyrik, das Aufspüren der<br />

Geschichte in der Gegenwart, die 'Zerrissenheit' des lyrischen<br />

Ichs und die sehr persönliche Standortbestimmung des<br />

Dichters" (114).<br />

Während solche Ergebnisse durchaus hilfreich sind <strong>für</strong><br />

das Verständnis der Gedichte Brauns, sind die Interpretationen<br />

der Dramen, vor allem der zuletzt entstandenen, kaum<br />

DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83


Deutsche Literaturgeschichte 93<br />

mehr nachvollziehbar. Trotz der Kenntnis von Brauns Kommentaren<br />

z.B. zum Stück "Schmitten", stülpt er diesem Stück<br />

das gern verwendete dichotomische Bild vom glückverlangenden<br />

Individuum versus dem repressiven sozialistischen Staat<br />

über. Ein weiteres Beispiel: In "Dmitri", ein Stück nach<br />

Friedrich Schillers Fragment "Demetrius", wird die Frage<br />

nach der Legitimität von Herrschaft gestellt. Die hierarchischen<br />

gesellschaftlichen Verhältnisse werden vorgeführt<br />

als von den Unterdrückten gleichsam mitverantwortete. Rosellinis<br />

Ergebnis: "Die Lehre ist klar: wer sich in den Unterdrückungsapparat<br />

einschraubt, kann nicht hoffen, etwas<br />

zu ändern ..." (148). Nein, die Lehre ist nicht klar, sie<br />

existiert im Stück selber gar nicht. Brauns Schreibweise<br />

zielt auf den erkennend-handeInden Leser/Zuschauer; er<br />

schafft in seiner Literatur Leerstellen, die positiv von<br />

den Rezipienten zu füllen sind.<br />

Zum Teil unterlaufen dem Verfasser auch ungewollte Kalauer,<br />

die spätestens von den Lektoren hätten korrigiert<br />

werden müssen. (Beispiel: "Allerdings darf nicht außer acht<br />

gelassen werden, daß die in der DDR vorherrschenden Widersprüche<br />

nicht alle unbedingt neuartig sind, was man z.B. an<br />

einem von Braun ... verwendeten Stilmittel absehen kann"<br />

(54).) Überhaupt verliert Rosellini manchmal den Kunstcharakter<br />

der Literatur aus dem Auge, verwechselt literarische<br />

figuren mit authentischen DDR-Bürgern. (Über einen Parteisekretär<br />

aus dem Stück "Tinka" schreibt er: "Eigentlich<br />

sollten denkende Genossen wie Ludwig der Stolz der DDR<br />

sein" (77).) Ärgerlich aber ist vor allem, daß Rosellini<br />

meint, dem Schriftsteller Volker Braun gute Ratschläge geben<br />

zu müssen. (Aus dem Stück "Simplex Deutsch" solle er<br />

einfach einige "schwächere Szenen" (144) herausstreichen.)<br />

Fazit: Ein Buch, das unter dem Standard der Reihe "Autorenbücher"<br />

liegt und nur sehr bedingt als Gesamtdarstellung<br />

des literarischen Werks Volker Brauns zu gebrauchen ist.<br />

Rüdiger Mangel (Karlsruhe)<br />

Arnold, Heinz Ludwig (Hrsg.): Peter Weiss. Text und Kritik<br />

37. 2., völlig veränderte Aufl., München 1982 (136 S., br.)<br />

Während in der 1. Auflage (1973) noch die Beschäftigung<br />

mit dem dramatischen Werk dominierte, setzt sich die 2.<br />

Aufige mit dem ganzen künstlerischen Oeuvre von Weiss auseinander.<br />

Als "Werk der Grenzüberschreitung", wegen Weiss' Grenzenlosigkeit<br />

in Sprache, Heimatort und Malerei sieht Mayer<br />

Weiss' Schaffen. Auch in der Überwindung des Sprachverlusts<br />

liegt der produktive Imnpuls bei Weiss. Abgeleitet aus<br />

"Trotzki im Exil" wird das Leitmotiv von politischer (in<br />

der Figur Lenins) und künstlerischer (Surrealisten) Revolutionierung<br />

benannt als "zweifache Praxis der gesellschaftlichen<br />

Veränderung".<br />

Hiekisch ("Zwischen surrealistischem Protest und <strong>kritische</strong>m<br />

Engagement") untersucht die Spannung zwischen indivi-<br />

DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83


94 Sprach- und Literaturwissenschaft<br />

dueller Selbstbefreiung und sozialer Verantwortung in den<br />

surrealistischen Filmen und Bildern sowie in der frühen<br />

Prosa. Die Suche nach neuen Ausdrucksmitteln und das Experimentieren<br />

mit ihnen bilden die Entstehungsbedingung der<br />

frühen Prosawerke, wo Text neben Bild steht. Im Assoziationsverfahren<br />

(in "<strong>Das</strong> Gespräch der drei Gehenden") und in<br />

der collagierten Illustration kindlicher Allmachtsträume<br />

("Abschied von den Eltern") liegen die surrealen Komponenten<br />

des "subjektivistischen" Frühwerks, das sich mit der<br />

Gesellschaft auseinandersetzt "unter den ästhetischen Prämissen<br />

des Surrealismus und dem Blickwinkel der Selbstbefreiung"<br />

.<br />

Arnold ("Ihre Stimmen leben in mir") setzt sich mit<br />

Weiss* Elternbeziehung auseinander und arbeitet zwei Isolationsprozesse<br />

heraus: bedingt durch das Exil und die innere<br />

Isolation des jungen Weiss, der beherrscht ist durch die<br />

Figur der Mutter. Im exilierten Halbjuden Weiss deckt sich<br />

äußere und innere Isolation. In der Verarbeitung dieser<br />

Problematik liegt Weiss' künstlerische Produktivität.<br />

Mit der "Identitätssuche" im dramatischen Werk beschäftigt<br />

sich Jahnke ("Von der Revolute zur Revolution"). Als<br />

charakteristisches Merkmal der frühen Stücke bis zu "Marat/<br />

Sade" steht die "statische Grundstruktur" der Szenen und<br />

Bilder.<br />

Der Schwerpunkt des Bandes liegt in der Analyse der "Ästhetik<br />

des Widerstands". Mit den Begriffen "Ästhetik" und<br />

"roman d'essai" beschäftigt sich Jung ("Vom Programm einer<br />

kämpferischen Ästhetik"). Ästhetik als <strong>Theorie</strong> der sinnlichen<br />

Erkenntnis läßt antifaschistischen Widerstand erst<br />

wirksam werden. Da Jung nur auf der abstrakten Ebene ohne<br />

durchgehende textanalytische Verifizierung arbeitet, wird<br />

das Ästhetische am politischen Diskurs bei Weiss nicht<br />

greifbar.<br />

Schweikert ("Kunst als Widerstand, Widerstand als Kunst")<br />

arbeitet drei Erzählebenen heraus: den historischen Bericht,<br />

die Wirklichkeit der Kunst und das erzählte Ich, was Chiffre<br />

und Fluchtpunkt kollektiver Erfahrungen ist. Weiss' Begriff<br />

einer "kämpfenden Ästhetik" wird unspezifisch aufgelöst<br />

in der Gleichwertigkeit von Politik und Ästhetik als<br />

"Äußerungen eines universalen Erkenntnisprozesses". Während<br />

im 1. Band die "soziologische Deutung von Kunst" dominiert,<br />

so wandelt sich die Rezeption im 3. Band zur "Depersonalisierung<br />

der Kunst", begründet durch Weiss' Zweifel am Marxismus<br />

.<br />

Der umfangreichste Beitrag in diesem Heft von Vogt ("Wie<br />

könnte dies alles geschildert werden") analysiert präzis<br />

das Textmaterial und versucht im Rekurs auf das Frühwerk<br />

implizite Strukturen und Erzählformen im Roman herauszufinden.<br />

Die im Frühwerk thematisierte Problematik der "Unzugehörigkeit"<br />

erscheint im Roman <strong>für</strong> den "Ich - Erzähler in<br />

der Fiktion als lebenspraktisches Projekt" und "als Fiktion,<br />

Projekt des Autors". Proletarische Klassenidentität im "Wi-<br />

DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83


Deutsche Literaturgeschichte<br />

derstand" und die Entwicklung künstlerischer Identität als<br />

"Ästhetik" bilden zwei Ebenen der Identitätssuche. In der<br />

Dialogstruktur herrscht ein "Fluktuieren der Erzählfunktion"<br />

vor, die teilweise durch entpersonalisierte Perspektive<br />

den Diskussionsprozeß nicht im statischen Zustand -<br />

wie im frühen Drama -, sondern in einer "beweglichen Balance"<br />

hält. Weiss wie Brecht schreiben als Filme - sehender,<br />

womit - folgert Vogt weiter - die Erzählstruktur zur Erzählszenerie<br />

wird.<br />

Neben einer nützlichen Bibliographie, der Schilderung<br />

einer Theateraufführung in Honduras, einem vom 1. Text und<br />

Kritik-Band (1973) übernommenen Beitrag von Baumgart ("In<br />

die Moral entwischt") steht ein Artikel von Vormweg ("Der<br />

Autor als junger Künstler", vgl. <strong>Argument</strong> 132, 290ff.). Der<br />

Abdruck von Weiss' "Skizzen zu einem Stück Uber Rimbaud",<br />

und "Rimbaud. Ein Fragment" sind lobenswert,ebenso wie in<br />

Hiekischs Auswertung von bisher unveröffentlichtem Material<br />

und Vogts Beitrag wichtige Impulse zur Weiss-Forschung liegen.<br />

Erhard Mindermann (Berlin/West)<br />

Hoffmann, Ludwig u.a.: Exil in der Tschechoslowakei, in<br />

Großbritannien, Skandinavien und Palästina. Röderberg-Verlag<br />

Frankfurt/M. 1980 (747 S., br.)<br />

Der 5. Band der DDR-Exilreihe unternimmt den Versuch,<br />

das Exil in den bislang in der Forschung namenlos gebliebenen<br />

Ländern CSR, Großbritannien, Skandinavien und Palästina<br />

bekannt zu machen. Die Kombination dieser Länder ist nicht<br />

willkürlich: die CSR war oft der Ausgangspunkt <strong>für</strong> das Exil<br />

in einem der genannten Länder, Großbritannien und Schweden<br />

wiesen als nicht vom Hitlerfaschismus okkupierte Länder<br />

ähnliche Exilbedingungen auf, Palästina schließlich hat<br />

über die Mandatsträgerschaft mit britischer Geschichte zu<br />

tun. Um solche Zusammenhänge herauszuarbeiten, um in komprimierter<br />

Form Überblicke zu geben, wird der Beschreibung<br />

der historisch-politischen Situation dieser Exilländer<br />

breiter Raum gegeben. Dies geht auf Kosten der Analyse von<br />

Exilwerken, von ausführlichen biographischen Beschreibungen<br />

von Exilierten und hebt diesen Band - nicht unbedingt positiv<br />

- aus der Gesamtkonzeption der Reihe heraus.<br />

Auf die CSR, eine mehr oder minder funktionierende Demokraite,<br />

ergoß sich der Flüchtlingsstrom zuerst. Hansjörg<br />

Schneider nennt da<strong>für</strong> mehrere Gründe: der Grenzübertritt<br />

war einfach, es gab eine starke deutsche Bevölkerungsgruppe,<br />

deutschsprachige Zeitungen, Schulen, Theater und andere<br />

Einrichtungen. Im Vergleich zu anderen Staaten Europas waren<br />

die Exilbedingungen liberal, verschlechterten sich allerdings<br />

im Laufe der 30er Jahre rapide, vor allem durch<br />

den immer stärker werdenden Druck der Henlein-Faschisten<br />

und der tschechischen Faschisten.<br />

Dâs umfangreichste Kapitel ist der Vielzahl von Exilverlagen<br />

und -Zeitschriften gewidmet, die sich in Prag gründen:<br />

dem Malik-Verlag, der hier sein erstes Exil findet,<br />

95<br />

DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83


96 Sprach- und Literaturwissenschaft<br />

SPD-Exilorgan "Neuer Vorwärts", den "Neuen Deutschen Blättern",<br />

heausgegeben von W. Herzfelde, Anna Seghers, O.M.<br />

Graf und Jan Petersen, dem "Gegenangriff" mit Bruno Frei<br />

als Chefredakteur, schließlich der "Neuen Weltbühne" unter<br />

der Leitung von Hermann Budzislawski. Vor allem ihr Wirken<br />

im Zeichen der Volksfront, zur "Sammlung der Kräfte" analysiert<br />

Schneider. Deutlich davon abgehoben die "Welt im<br />

Wort", eine von Willy Haas herausgegebene Exilzeitschrift,<br />

"die den fragwürdigen Versuch unternahm, eine Herausforderung<br />

und Bedrohung, wie sie der Faschismus darstellte, mit<br />

Stillschweigen zu übergehen, an der Realität vorbeizupublizieren<br />

und angesichts des braunen Feldzugs gegen Kunst und<br />

Kultur eine Scheinwelt reiner unverletzter Poesie aufzubauen"<br />

( 51 ).<br />

Einen weiteren Schwerpunkt bildet die Tätigkeit der vielen<br />

in die CSR emigrierten Schriftsteller wie Graf, Scharrer,<br />

Fürnberg, Heym, Kisch, Weiskopf u.v.a. Hier hebt<br />

Schneider die Versuche der Fortführung der Arbeit von SDS<br />

und BPRS, die Zusammenarbeit mit dem tschechoslowakischen<br />

Schriftstellerverband hervor. Nach dem Münchner Abkommen<br />

verschlechtern sich die Arbeitsmöglichkeiten der Emigranten<br />

zusehends, antifaschistische Publikationen werden verboten.<br />

Der 'Anschluß' des Sudentenlandes an Deutschland beendet<br />

<strong>für</strong> viele die Emigration in der CSR, manche finden Asyl in<br />

England. Die Flüchtlingspolitik der englischen Regierung<br />

verhindert allerdings ein allzu rasches Ansteigen des Emigrantenstromes.<br />

Einreisen darf nur, wer eine Arbeitserlaubnis<br />

oder einen englischen Bürgen hat. Mit dem Kriegseintritt<br />

Englands werden die meisten Emigranten zu "feindlichen<br />

Ausländern" erklärt, die politisch aktivsten interniert.<br />

Den Mittelpunkt des antifaschistischen Kampfes bildet<br />

der "Freie Deutsche Kulturbund", gegründet 1938 in London<br />

als Sammelbecken aller antifaschistischen Deutschen: Kommunisten<br />

wie Kuczynski und Fladung gehören ihm ebenso an wie<br />

die Vertreter des bürgerlichen deutschen Kulturlebens Kerr,<br />

Kokoschka, Viertel und Stefan Zweig. Unterstützt von namhaften<br />

Schriftstellern wie Huxley und Priestley entfaltet<br />

der in Sektionen (Bildende Künste, Schauspieler, Musiker,<br />

Wissenschaftler) unterteilte Kulturbund eine umfangreiche<br />

Tätigkeit <strong>für</strong> das "andere Deutschland": Konzerte, Ausstellungen,<br />

Theater etc. In weiteren Kapiteln werden die Exiltätigkeit<br />

von Kokoschka, dem Dirigenten Fritz Busch, dem<br />

Choreographen Kurt Jooss, dem Musikwissenschaftler Ernst<br />

Meyer vorgestellt.<br />

In Skandinavien waren Dänemark und Schweden Schwerpunkte<br />

der Emigration, auch wenn auf Druck des faschistischen<br />

Deutschland die Zahl der Emigranten geringgehalten wurde.<br />

Zwei Hauptaktivitäten der Emigration heben L. Hoffmann und<br />

Curt Trepte hervor: die Theatertätigkeit deutscher Emigranten<br />

in Schweden und die Verlagstätigkeit der beiden Exilverlage<br />

Max Tau und Bermann Fischer, letzterer mit der Ver-<br />

DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83


Deutsche Literaturgeschichte 97<br />

öffentlichung des Gesamtwerkes von Schriftstellern wie Th.<br />

Mann, Werfel, Zuckmayer und Stefan Zweig einer der erfolgreichsten<br />

Exilverlage. Weitere Kapitel stellen emigrierte<br />

Schriftsteller wie Tucholsky, Hans Henny Jahn und Hans Tombrock<br />

vor. Am interessantesten hier das Kapitel Uber die<br />

wenig bekannte Margarete Steffin, proletarische Kinderbuchautorin<br />

und Mitarbeiterin Brechts.<br />

Der letzte Teil des Bandes stellt das Exil in Palästina<br />

vor. Die Exilbedingungen hier waren nicht einfach: erst ab<br />

1942 war es möglich, "Gedanken zu äußern, die mit der offiziellen<br />

zionistischen Ideologie nicht Ubereinstimmten"<br />

(578), zu diesem Zeitpunkt wurde auch das Verbot der Kommunistischen<br />

Partei Palästinas aufgehoben. Als wichtigste antifaschistische<br />

Aktivitäten nennt R. Hisch: die GrUndung<br />

der "Liga V" zur Unterstützung der Sowjetunion durch Arnold<br />

Zweig, die Arbeit der immer wieder von Zionisten angegriffenen<br />

Zeitschrift "Orient", der Buchklubs "Chug" und "Heute<br />

und Morgen", schließlich das Wirken der Künstler und<br />

Schriftsteller Arnold Zweig, Louis FUrnberg, Else Lasker-<br />

Schüler und Lea Grundig. Norbert Kortz (Tübingen)<br />

Koebner, Thomas (Hrsg.): Weimars Ende. Prognosen und Diagnosen<br />

in der deutschen Literatur und politischen Publizistik<br />

1930-1933. Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M. (434 S., br.)<br />

Ausgehend von Alfred Kerrs Diktum, die Intellektuellen<br />

hätten den Gang der Ereignisse nach 1933 sehr viel besser<br />

vorausgesehen als die Politiker, dokumentiert der Band anhand<br />

der Beiträge zum internationalen Symposion der Forschungsstelle<br />

Deutsche Literatur 1933-1945 in Wuppertal,<br />

"wie das linke, liberale, rechte Denken zu Beginn der dreißiger<br />

Jahre bei der Oberflächen- und Tiefendeutung der Zeit<br />

verfährt" (11). Ziel der Untersuchungen des Bandes ist jedoch<br />

nicht die Beantwortung der Frage, wer an Weimars Ende<br />

schuld gewesen sei, vielmehr sollen die Denkmuster, Verhaltensdispositionen<br />

und politischen Konzepte durchleuchtet<br />

werden, die - oft gegen ihre eigentliche Absicht - von der<br />

faschistischen Ideologie integriert werden konnten. Der<br />

Rückgriff der Intellektuellen auf alte Konflikt- und Abgrenzungsmuster<br />

wie Preußentum, Militarismus und Geistfeindlichkeit<br />

bot offensichtlich ebensowenig Widerstand dagegen<br />

wie die Schicksalsergebenheit des jüdisch-messianischen<br />

Denkmodells oder die polemische Abwertung Hitlers als<br />

"Harlekin" durch die Linke. Warum?<br />

Die Aufsätze von Heinz Abosch und Frank Trommler thematisieren<br />

die "kampflose Kapitulation der deutschen Arbeiterbewegung"<br />

(21) wie der Intelligenz: wurde das Vertrauen<br />

der SPD in die Unabänderlichkeit der Entwicklung zum Sozialismus<br />

(Breitscheid 1931) weder der Reorganisation der Mittelschichten<br />

durch den Faschismus gerecht noch seiner Aktivierung<br />

kleinbürgerlicher Wünsche und Sehnsüchte, so verfehlte<br />

die Sozialfaschismusthese der KPD ebenso den eigentlichen<br />

Gegner. Der Zusammenhang zwischen Parteidisziplin,<br />

DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83


98<br />

Sprach- und Literaturwissenschaft<br />

Apparat, Kampftraditionen und der Beibehaltung der mechanischen<br />

Maxime vom gesetzmäßigen Übergang zum Sozialismus<br />

wird von Abosch allerdings mehr gestreift als analysiert.<br />

Trommlers Aufsatz über das "Krisengefühl der Intelligenz um<br />

1930" thematisiert vor allem die Wirksamkeit der Denkfigur<br />

"Kulturkrise", als deren Konsequenz der Anbruch des Faschismus<br />

erscheinen mußte. In ihr konnten sowohl die ökonomische<br />

und soziale Bedrohung der Intelligenz als auch die<br />

"Entzweiung der kulturellen und technischen Eliten" (36)<br />

aufgehoben werden. Lebensphilosophie, Anknüpfung an das<br />

identitätsstiftende Erlebnis des Ersten Weltkrieges und<br />

Neubelebung von gemeinschaftsbildenden Mythen und Symbolen<br />

schlössen sich zu einem Selbstverständnis der Intelligenz<br />

zusammen, das "zwar als Selbstverwirklichung stilisiert<br />

werden (konnte), aber letztlich bloß den herrschenden<br />

Schichten zuarbeitete" (47) - so der Soziologe Hans Speier<br />

bereits 1929, allerdings ohne jegliche Handlungs- oder Widerstandsperspektive.<br />

Aber auch die kritisch-satirische Bestandsaufnahme der<br />

"Weltbühne" sieht in Hitler und seinen Parteigängern "alle<br />

traditionellen Horrorbilder der linksliberalen Satire" (59)<br />

vereinigt: "Zu einer Zeit, als schon so viele satirische<br />

Pfeile verschossen worden waren, tötete Lächerlichkeit<br />

nicht mehr; eher schaffte sie Publicity" (J. Radkau) (64).<br />

Selbst die Perspektive derjenigen, die - wie Toller und<br />

Mühsam - an den revolutionären Kämpfen seit 1918 beteiligt<br />

waren, blieb "imaginär und ohne praktischen Ansatz im politischen<br />

Alltag" (74).<br />

Neben der Untersuchung der verschiedenen liberalen Positionen<br />

in den Zeitschriften "<strong>Das</strong> Andere Deutschland" und<br />

"Deutsche Republik" ist vor allem Dietz Berings Aufsatz<br />

Uber die "Struktur politischer Perspektiven im 'Centrai-<br />

Verein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens'" aufschlußreich<br />

<strong>für</strong> den Zusammenhang von zeitgenössischen Erklärungsmodellen<br />

<strong>für</strong> den Faschismus, realen Handlungsmöglichkeiten<br />

und der Aktualisierung tradierter Denk- und Verhaltensmuster.<br />

Die Doppelstruktur von jüdischem Glauben und<br />

deutscher Gesinnung - Bering nennt sie in Anlehnung an Goethes<br />

Formel "geeinte Zwienatur" - dominiert noch weit bis<br />

in die 30er Jahre hinein das Denken des Vereins, der zunehmend<br />

die "Erinnerungsgemeinschaft" der Gläubigen (192) und<br />

die Idee des Ausharrens in der Not aktualisiert - und damit<br />

die "einzigartige Realitätsresistenz der Juden am Ende der<br />

Weimarer Republik" (198) untermauert.<br />

Teil III des Bandes fächert vor allem die Zeitdiagnosen<br />

von Schriftstellern auf: er behandelt Brecht/Wangenheim,<br />

Thomas Mann, Alfred Kerr, Alfred Döblin, Hofmannsthal und<br />

Landauer als Vertreter der anarchistischen und der konservativen<br />

Revolution, Spengler/Jünger sowie generell die Epochendarstellung<br />

in Zeit- und frühen Exilromanen. Besonders<br />

bemerkenswert ist Gert Sautermeisters Analyse von Thomas<br />

Manns Faschismuskritik: selbst vom Kulturkonservatismus und<br />

DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83


Deutsche Literaturgeschichte 99<br />

Ästhetizismus der Jahrhundertwende kommend, weist er in den<br />

großen Reden der Weimarer Zeit auf das humanistische Potential<br />

gerade der vom Faschismus am meisten beanspruchten<br />

Epoche, der Romantik, hin und deckt gleichzeitig die rationale<br />

Leistung der Freudschen Psychoanalyse auf. Ständig ist<br />

seine Rückeroberung der schon nationalistisch besetzten Bedürfnisse<br />

und Begriffe verknüpft mit ihrer Einbindung in<br />

einen demokratischen Parlamentarismus, als deren Vertreterin<br />

die SPD erscheint. So macht er eine "menschenwürdige<br />

SozialVerfassung von der Bewußtwerdung unbewußter Triebkräfte<br />

abhängig" (282) und kann so einen "Hauptweg faschistischer<br />

Strategie" (296) - die Ästhetisierung politischer<br />

Strategien - freilegen. Dagegen ließe sich die Haltung des<br />

Großteils auch der Literaten in Wulf Koepkes auf Döblin gerichtetem<br />

Urteil verdeutlichen: "Es wurden Pillen zur Heilung<br />

verlangt, und er bot eine neue <strong>Theorie</strong> Uber den Begriff<br />

Krankheit" (328). Wie sich diese Art von <strong>Theorie</strong>bildung<br />

einer "freischwebenden Intelligenz" (Karl Mannheim,<br />

1929) mit der Organisation intellektuellen Wissens in der<br />

Weimarer Republik verbindet, wäre allerdings noch einen eigenen<br />

Beitrag wert gewesen. Claudia Albert (Berlin/West)<br />

Marcus-Tar, Judith: Thomas Mann und Georg Lukâcs. Beziehung,<br />

Einfluß und "Repräsentative Gegensätzlichkeit". Bühlau<br />

Verlag, Köln-Wien 1982 (208 S., Ln.)<br />

Anhand dreier Schwerpunkte analysiert die Verfasserin<br />

mit unterschiedlicher Ausführlichkeit die Lukacs-Mann-Beziehung.<br />

Auf wenigen Seiten behandelt sie unter dem Titel<br />

"Die geistige Nähe: Darstellung eines Wechselverhältnisses"<br />

(27-40) die eine gemeinsame Problemstellung Manns wie auch<br />

des jungen Lukâcs, die Erhellung des Problematischen der<br />

Lage am Beginn des 20. Jahrhunderts (vgl. 29). Was bei<br />

Lukâcs essayistisch gestaltet wird, nimmt bei Thomas Mann<br />

die Form der Erzählung oder des Romans an, wobei feststeht,<br />

daß Mann aus seiner Lektüre von Lukâcs' Essayband "Die Seele<br />

und die Formen", woraus er sich eine Reihe von Exzerpten<br />

zusammenstellte, vielfältige Anregungen zog und konkrete<br />

Interessen an bestimmten Autoren, wie z.B. Ch.L. Philippe,<br />

entwickelte (vgl. 35ff.). Leider nur andeutungsweise spricht<br />

Marcus-Tar vom Einfluß der "<strong>Theorie</strong> des Romans" auf die<br />

Konzeption von Manns Zauberberg, der als die literarische<br />

Verwirklichung der von Lukâcs <strong>für</strong> den modernen Roman geforderten<br />

Programmatik anzusehen sei (vgl. 39). Ebenfalls<br />

knapp umreißt die Verfasserin im zweiten Kapitel der Arbeit<br />

(41-53) die persönliche Beziehung zwischen Lukâcs und Mann,<br />

die nach Durchsicht aller in Frage kommenden Dokumente unter<br />

das Leitmotiv "Achtung und Distanz" (41, vgl. auch<br />

52f.) gestellt wird. Näherhin kann man bei Lukâcs gegenüber<br />

Mann von einer "intellektuellen Liebesaffaire" (vgl. 42)<br />

sprechen, während Mann, mit einem Wort Lukâcs', eher ein<br />

"Unheimlichkeitsgefühl" (vgl. 48) gegenüber Lukâcs empfunden<br />

hatte. Ein Resümee ihrer Beziehung zog schließlich Mann<br />

DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83


100 Sprach- und Literaturwissenschaft<br />

in dem Text "Die Entstehung des Doktor Faustus", aus dem<br />

deutlich wird, daß Manns "hohe Meinung" "ausschließlich<br />

Lukâcs, dem Kritiker" galt (vgl. 51).<br />

Mit dem dritten und umfangreichsten Kapitel des Buches<br />

(54-157) ist nicht nur ein interessanter Beitrag zur Philologie<br />

des Zauberberg-Romans geleistet, sondern auch eine<br />

minutiös recherchierte Biographie Leo Naphtas, einschließlich<br />

der Vor- und Nachgeschichte(n) dieser Figur in anderen<br />

Mann-Erzählungen und Romanen, im Hinblick auf Lukâcssche<br />

Züge in ihr geliefert. Ausgehend von der mittlerweile zum<br />

Gemeinplatz gewordenen These des französischen Germanisten<br />

Pierre-Paul Sagave (und auch, wie Marcus-Tar gezeigt hat,<br />

vor diesem schon von Arthur Eloesser), daß Naphta identisch<br />

sei mit der Person Georg Lukâcs', was übrigens zeitlebens<br />

weder von Lukâcs noch von Mann ausdrücklich bestritten wurde,<br />

kommt die Verfasserin nach eingehender Diskussion der<br />

Vorgeschichte und des Werdegangs von Leo Naphta, seiner<br />

Physiognomie sowie seiner Persönlichkeit zu einem weit differenzierteren<br />

Urteil: zweifellos bestimmt Georg Lukâcs die<br />

Figur des Leo Naphta in etlichen markanten Zügen - interessant<br />

ist die Bemerkung von Marcus-Tar, daß die endgültige<br />

Gestalt der Naphta-Figur erst nach Manns Zusammentreffen<br />

mit Lukâcs 1922 zustandekam (vgl. 70) -, dennoch bildet die<br />

Figur insgesamt einen "Gipfel idealtypischer Gestaltung"<br />

(68) und stellt deren Biographie "ein Kompositum" (84) dar.<br />

Marcus-Tar gelangt zu dem Ergebnis, "daß die Kombination,<br />

die am Ende eine Gestalt und einen Typ wie Naphta ergab,<br />

keineswegs so kühn, ein- und erstmalig war, wie man es im<br />

allgemeinen annahm und Thomas Mann selbst glauben wollte"<br />

(121). In einer Hinsicht aber verkörpert Leo Naphta einen<br />

bedeutenden Zug, <strong>für</strong> den Georg Lukâcs sicherlich Pate gestanden<br />

hat und der darüber hinaus Sinnbild auch <strong>für</strong> die<br />

über alle "Achtung und Distanz" hinausgehende kühle Reserviertheit<br />

in der Beziehung von Mann zu Lukâcs seitens Thomas<br />

Manns ist: die Fremdheit. Naphta-Lukäcs ist <strong>für</strong> "den<br />

alteingesessenen Bürger" Mann (157) in eben dem Sinne ein<br />

Fremder, wie Georg Simmel, Lukâcs' bevorzugter Heidelberger<br />

Lehrer, diesen in seiner Soziologie charakterisiert hat als<br />

jemanden, der heute kommt und morgen bleibt. Immer bleibt<br />

der Fremde ein zweifelhafter Eindringling. "Er hat seine<br />

Rollen: die vornehmere davon ist die des Lehrers, des 'Vermittlers<br />

' ". In den Betrachtungen sprach Thomas Mann von<br />

sich als demjenigen, der sich "von seinem gelehrten Sohne"<br />

unterrichten ließ. Er meinte den jungen "ungarischen Essayisten<br />

Georg Lukâcs", der das "schöne Buch" Die Seele und<br />

die Formen schrieb. Gewisse innere Erfahrungen teilt man<br />

aber mit einem "Fremdling" nicht, und das schafft Distanz"<br />

(157). Werner Jung (Aachen)<br />

DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83


Deutsche Literaturgeschichte<br />

101<br />

Wagner, Nike: Geist und Geschlecht. Karl Kraus und die Erotik<br />

der Wiener Moderne. Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M. 1982<br />

(289 S., Ln.)<br />

Femme fatale und femme fragile sind die typischen Frauenbilder<br />

der Wiener Moderne. "Künstlerische Selbsttherapie"<br />

bezeichnet Nike Wagner in ihrer Studie über die Wiener Moderne<br />

die Dämonisierung der Frau zu einer männerverzehrenden<br />

Nymphomanin und die Idealisierung der Frau zu einer madonnenhaften<br />

Schönheit - in beiden "Transfigurationen" verschränken<br />

sich Faszination und Abwehr, Sexualekstase und<br />

Sexualangst. In drei Kapiteln - "Eros und Doxa", "Eros und<br />

Themis" und "Eros und Logos" - beschreibt Wagner den Kontext<br />

von Erotik und Sexualität, von Frauenhaß und Männlichkeitswahn<br />

der Wiener Moderne, der sich in den sexualkundlichen<br />

Schriften Krafft-Ebings und Otto Weinigers ebenso<br />

niederschlägt wie in der Malerei der Wiener Sezession und<br />

in den Werken Wedekinds und Dehmels - bis hin zu Leopold<br />

von Sacher-Masochs "Grausame Frauen" und Felix Saltens "Josefine<br />

Mutzenbacher". Zwischen Misogynie und hymnischer<br />

Verehrung oszilliert auch das Frauenbild von Karl Kraus.<br />

Wie Otto Weininger in seiner Schrift "Geschlecht und Charakter"<br />

verteidigt Kraus den Dualismus zwischen der Geschlechtlichkeit<br />

des "Weibes" und der "Geistigkeit" des<br />

Mannes. Im Gegensatz jedoch zu Weininger, wie Wagner in dem<br />

Kapitel "Eros und Logos" (132ff.) ausführt, sieht Kraus in<br />

der Beziehung der Geschlechter kein antagonistisches, sondern<br />

ein komplementäres Verhältnis. Kraus wird die Geschlechtlichkeit<br />

der Frau in der Prostituierten zur Komplizin<br />

im Kampf gegen die bürgerliche Doppelmoral. Die Prostituierte<br />

verteidigt er gegen die Diskriminierung durch die<br />

bürgerliche "Moraljustiz" und gegen die "Triebverdrängungsrache".<br />

Kraus, wie sein Weggefährte Peter Altenberg, opponiert<br />

als "Erotiker" gegen die leistungsorientierte Ökonomie<br />

des bürgerlichen Sexuallebens. "Ich bin nicht <strong>für</strong> die<br />

Frau, aber gegen die Männer" (177), schreibt Karl Kraus und<br />

polemisiert in der "Fackel" gegen den Bürger, der in der<br />

Prostituierten ein "notwendiges, aber verachtetes und<br />

drangsaliertes Korrelat zu den anständigen Frauen" sieht,<br />

worin sich die "Korruptheit des bürgerlichen Tugend- und<br />

Ehesystems auf deutlichste Weise" zeigt (209). Wagner folgert,<br />

daß die "aggressiv zur Schau gestellte Allianz" mit<br />

der Geschlechtlichkeit der Prostituierten mit der "Spracherotik"<br />

von Kraus korrespondiert. Es "tritt der Eros der<br />

Sprache an die Stelle des realen Liebesobjektes selbst. Nur<br />

schreibend-liebend ist Kraus glücklich. 'Geist und Geschlecht'<br />

sind Denkfiguren der Leidenschaft - eines leidenschaftlichen<br />

Denkens in Sprache" (213). Diese Folgerung erscheint<br />

im Rahmen der Arbeit Wagners durchaus konsequent,<br />

kann aber nicht mehr als eine Bedingung <strong>für</strong> das Werk von<br />

Kraus sein. Die Zusammenhänge jedoch, aus denen heraus der<br />

Antagonismus von "Geist" und "Geschlecht" in der Wiener Moderne<br />

erst erwachsen konnte, hat Wagner überzeugend dargestellt.<br />

Hansgeorg Schmidt-Bergmann (Amöneburg)<br />

DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83


102 Sprach- und Literaturwissenschaft<br />

Schorske, Carl E.: Wien* Geist und Gesellschaft im Fin de<br />

siècle. S. Fischer Verlag, Frankfurt/M. 1982 (366 S., Abb.,<br />

Ln.)<br />

Die sieben Essays Uber die Wiener Moderne, die "unabhängig<br />

voneinander gelesen werden" können (XIX), behandeln Literatur,<br />

Politik, Psychoanalyse, Architektur, Malerei und<br />

Musik der Jahrhundertwende. In der Wiener Moderne sieht<br />

Schorske eine Opposition gegen die "Werte des klassischen<br />

herrschenden Liberalismus", die Jahre zwischen 1860 und<br />

1900 sieht er geprägt von der "politischen Herrschaft der<br />

liberalen Mittelschicht" (XVIII). Die "politische Krise"<br />

des Liberalismus um die Jahrhundertwende ist <strong>für</strong> Schorske<br />

der Auslöser "einer Kultur empfindsamer Nerven, eines mißmutigen<br />

Hedonismus und einer oft rückhaltlosen Angst" (9).<br />

In dem Essay "Die Seele und die Politik: Schnitzler und<br />

Hofmannsthal" (3-21) versucht Schorske die "Selbstbespiegelung<br />

und die Hypertrophie des Gefühlslebens" in der Literatur<br />

der Jahrhundertwende näher zu bestimmen. "Die Schriftsteller<br />

der neunziger Jahre waren Kinder dieser bedrohten<br />

liberalen Kultur. Welche Werte hatten sie ererbt, mit denen<br />

sie jetzt der Krise begegnen mußten? Zwei Gruppen von Wertvorstellungen<br />

kann man in der liberalen Kultur der zweiten<br />

Jahrhunderthälfte einigermaßen unterscheiden: eine moralische<br />

und wissenschaftliche und eine andere ästhetische" (6).<br />

Auf diese "beiden Stränge" versucht Schorske das Werk<br />

Schnitzlers und Hofmannsthals zu beziehen, wobei ihm nicht<br />

mehr als eine grobe Skizzierung gelingen kann. Während<br />

Schnitzler keine "Lösung <strong>für</strong> das politische Problem" aufzeigen<br />

konnte, sieht Schorske bei Hofmannsthal schließlich<br />

eine Lösung durch die "Läuterung der Triebe durch die Politik"<br />

und eine Abkehr von einem narzißtischen Ästhetizismus<br />

- was von der Forschungsliteratur seit Alewyn schon präziser<br />

und ausführlicher dargestellt wurde.<br />

Den folgenden Essay "Die Ringstraße und die Idee der modernen<br />

Stadt" (23-109) kann man dagegen ohne Abstriche als<br />

gelungen bezeichnen. Schorske skizziert die Geschichte der<br />

Ringstraße, beschreibt die verschiedenen gesellschaftlichen<br />

Interessen an der Umgestaltung Wiens - von militärischen<br />

Erwägungen bis hin zum Verlangen "nach dem größten Gewinn"<br />

durch die Parzellierung der Gruppenzinshäuser in kleine<br />

Wohneinheiten. Den historischen Manierismus der Ringstraßenarchitektur<br />

deutet Schorske als den "optischen Ausdruck<br />

der Werte einer gesellschaftlichen Klasse": "Die Planung<br />

der Ringstraße wurde kontrolliert von den Berufsständen und<br />

den Wohlhabenden, <strong>für</strong> deren Behausung und Verherrlichung<br />

sie wesentlich entworfen wurde" (24f.). An den Gegenentwürfen<br />

Otto Wagners wird die zeitgenössische Kritik an dem historischen<br />

"Vermummen der Modernität" verdeutlicht (59).<br />

Durch zahlreiche Illustrationen und historische Fotografien<br />

kann Schorske seine Ausführungen auch optisch belegen.<br />

Diesem Essay folgen eine Darstellung der Herausbildung<br />

des österreichischen Antisemitismus und Ausführungen über<br />

DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83


Deutsche Literaturgeschichte 103<br />

"Politik und Vatermord in Freuds 'Traumdeutung'" (169-193)<br />

und Klimts Entwicklung von einem rebellischen Propheten einer<br />

sexuellen Befreiung zu einem begehrten, dekorativen Gesellschaftsmaler<br />

(195-264). Die zwei abschließenden Essays<br />

behandeln "Die Verwandlung des Gartens" (265i-303). Ausgehend<br />

von Stifters "Nachsommer" Uber das Werk des weithin<br />

vergessenen Ferdinand von Saars, bis hin zu Leopold von Andrian<br />

und Hugo von Hofmannsthal verfolgt Schorske die Veränderung<br />

des Topos, bis hin zur "Explosion im Garten: Kokoschka<br />

und Schönberg" (305-346). In ihrem Werk wird die<br />

"Wahrheit der Wildnis" (340), die schon unter dem morbiden<br />

Schein und der lustvollen Feier des Untergangs im Fin de<br />

siècle lauerte, nicht mehr verdrängt. Mit Kokoschka und<br />

Schönberg beginnt die pathetisch-expressionistische Darstellung<br />

von Chaos und Dissonanz - und ein neuer Abschnitt<br />

der Moderne. Hansgeorg Schmidt-Bergmann (Amöneburg)<br />

Unseld, Joachim: Franz Kafka. Ein Schriftstellerleben. Die<br />

Geschichte seiner Veröffentlichungen. Carl Hanser Verlag,<br />

MUnchen 1982 (316 S., br.)<br />

Erstmals wird in diesem Band der Versuch unternommen,<br />

Kafkas Publikationsgeschichte, das Verhältnis zu seinen<br />

Verlegern und seinen Standort im literarischen Leben ausführlich<br />

(z.T. anhand bisher unbekannten Materials aus dem<br />

Nachlaß Max Brods) zu untersuchen und damit die landläufige<br />

Legende von einem Kafka zu korrigieren, "der seine Texte<br />

lieber verbrannte als sie der Öffentlichkeit zugänglich zu<br />

machen" (14). Unseld betont demgegenüber gerade Kafkas Publikationswillen<br />

(Voraussetzung literarischer Anerkennung<br />

und der ersehnten Ablösung vom Angestelltendasein) und<br />

weist nach, daß Kafka "jeden von ihm abgeschlossenen Text"<br />

(11) bis zu viermal veröffentlichte. Daß es nicht zur Vollendung<br />

(und damit Veröffentlichung) insbesondere der drei<br />

großen Romane kam, daß Kafkas Versuch der literarischen<br />

Durchsetzung ein "unglücklicher Kampf" (111) blieb und in<br />

Resignation endete (kulminierend in der bekannten testamentarischen<br />

Verpflichtung an Brod, alle Manuskripte zu vernichten;<br />

die zu Lebzeiten selbst zum Druck gegebenen hatten<br />

alle nur geringe Resonanz gefunden), versteht Unseld zum<br />

einen als Konflikt zwischen Kafkas zurUckscheuender Persönlichkeitsstruktur<br />

und den Gegebenheiten eines rein durchsetzungsorientierten<br />

Literaturbetriebs (damit auch der<br />

"mehrschichtigen" (14) Rolle des in sie integrierten Max<br />

Brod), vor allem aber als Musterfall einer gescheiterten<br />

Autor-Verleger-Kommunikation, "bei der der Rückfluß und damit<br />

die notwendige Korrektur der verschiedenen Ansichten<br />

grundlegend gestört war" (183). Hier kommt Unseld zu einer<br />

neuen, nahezu vernichtenden Bewertung der Position Kurt<br />

Wolffs.<br />

In Kafkas Publikationsgeschichte unterscheidet Unseld<br />

sechs Phasen. Die erste (vor 1912) ist gekennzeichnet durch<br />

die Verheimlichung erster Schreibversuche, die (erfolglose)<br />

DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83


104 Sprach- und Literaturwissenschaft<br />

Teilnahme an einem literarischen Preisausschreiben ("Himmel<br />

in engen Gassen", 1906; verschollen) und die bereits unmittelbar<br />

danach einsetzenden, Kafka aber Uberfordernden Bemühungen<br />

Brods zur literarischen Durchsetzung des Freundes,<br />

auf die er ablehnend und ironisch reagiert (Kafka, "den Namen<br />

wird man vergessen müssen"; 22). Die ersten Veröffentlichungen<br />

(als frühes Rezeptionsdetail interessant Heymels<br />

Anfrage, "ob Kafka nicht etwa ein Pseudonym Robert Walsers<br />

sei", 26f.) bleiben spärlich und problematisch; erst der<br />

früheste Verlagskontakt (hier betont Unseld gegenüber Wolff<br />

die Rolle Ernst Rowohlts; 53ff., 72ff.) schafft ein gewisses<br />

Selbstvertrauen. Nach der Trennung Rowohlt/Wolff (1913)<br />

liest sich Unselds Darstellung nahezu als Chronik Wolffscher<br />

Fehlleistungen. Kafkas Bedürfnis nach Ermutigung<br />

(verständlich aus dem Status als "Teilzeitschriftsteller";<br />

185) wird durch Wolffs unpersönliche, "eher willkürliche<br />

als kontinuierliche" (136) Autorenbetreuung durchkreuzt;<br />

ebenso der mehrfach geäußerte Wunsch nach einem "großen"<br />

Buch ("Novellenband", Kafka) durch die drei Einzelveröffentlichungen<br />

im "Jüngsten Tag", die zudem Kafka in der Öffentlichkeit<br />

auf eine expressionistische Literaturposition<br />

festlegten (136ff.). Daß bei den sonstigen Enttäuschungen<br />

von Kafkas Schriftstellerexistenz (Musils zurückgenommene<br />

Einladung zur Mitarbeit an der "Neuen Rundschau" 1914; die<br />

eher peinliche Situation bei Sternheims "Weitergabe" des<br />

Fontane-Preises 1915; der Mißerfolg der Lesung 1916) bei<br />

gleichzeitig fehlendem Rückhalt durch den Verlag (kein persönlicher<br />

Briefkontakt Wolffs von Mai 1913 bis Juli 1917;<br />

160; Ablehnung der "Strafkolonie"; 138ff.) <strong>für</strong> Kafka die<br />

Dimension eines Kampfes "gegen den literarischen Betrieb"<br />

annehmen mußte, "der durch die Kriegsjahre geschwächt (...)<br />

war und in dem er (...) als Schriftsteller weiterhin eine<br />

Randersçheinung" (140) und ohne Erfolg blieb, erscheint<br />

verständlich. Unseld faßt zusammen, daß "in dem <strong>für</strong> den Autor<br />

existenzwichtigen Zeitraum kaum eine Bemühung stattgefunden<br />

hat, zwischen seinem Werk und der Öffentlichkeit die<br />

Chance einer Vermittlung zu finden" (191); ein Befund, der<br />

sich auch durch Kafkas späten Verlagswechsel ("Ein Hungerkünstler"<br />

im Verlag "Die Schmiede", 1924) nicht mehr wesentlich<br />

ändern konnte und nach 1917, endgültig nach 1922<br />

(Abbruch "Schloß") zur Selbstbeurteilung seines Schreibens<br />

wie vor 1912 zurückführte: auf "die Überzeugung der völligen<br />

Aussichtslosigkeit, mit seinen Werken im literarischen<br />

Betrieb etwas ausrichten zu können, und die gezielte Verweigerung<br />

der Publikation" (204). - Auch ohne expliziten<br />

methodischen Ehrgeiz ist die innere Vermittlung von Verlags-<br />

und Literaturgeschichte mit der Soziologie gesellschaftlicher<br />

Vermarktungsinstanzen des Schreibens in Unselds<br />

Arbeit exemplarisch; die klare Darstellung und das<br />

vielfältige Quellenmaterial machen sie künftig unverzichtbar.<br />

Der Anhang (300-306) enthält eine Bibliographie aller<br />

zu Lebzeiten erfolgten Drucke (u.a. mit einem bisher unbe-<br />

DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83


Deutsche Literaturgeschichte<br />

105<br />

kannten Einzeldruck von "Auf der Galerie").<br />

Thomas Bremer (Gießen)<br />

Anz, Thomas und Michael Stark (Hrsg.): Expressionismus. Manifeste<br />

und Dokumente zur deutschen Literatur 1910-1920.<br />

J.B. Metzler'sehe Verlagsbuchh., Stuttgart 1982 (766 S.,<br />

br.)<br />

Der Band "dokumentiert vorrangig eine literarische Randoder<br />

Gegenkultur mit ihren eigenen Zeitschriften, Verlagen,<br />

Kreisen, Clubs, Kabaretts und Cafés, die sich nur zögernd<br />

vom etablierten Kulturbetrieb vereinnahmen ließ. Was der<br />

Titel dieser Dokumentation als 'Expressionismus' bezeichnet,<br />

das war die Kunsttheorie und -praxis einer dem Alter<br />

oder doch zumindest der Einstellung nach betont jugendlichen<br />

Avantgarde ...; das war keine Literatur <strong>für</strong> alle, sondern<br />

hier schrieben Intellektuelle <strong>für</strong> Intellektuelle -"<br />

(XVI), was <strong>für</strong> jede Avantgarde gelten dürfte. Bei der Rekonstruktion<br />

der "Subkultur" - wozu Expressionisten, Dadaisten,<br />

Futuristen, Aktivisten etc. gleichermaßen gehören und die<br />

in dieser Sammlung nicht gesondert dokumentiert werden,<br />

sondern Ubergreifenden Themenkomplexen zugeordnet sind -<br />

beschränken sich die Herausgeber auf die Pamphlete, Manifeste<br />

und Dokumente, wobei dem Manifest entscheidende Bedeutung<br />

in den Jahren zwischen 1910 und 1920 zukommt: "In der<br />

Tat verselbständigte sich das Manifest damals zur eigenständigen<br />

literarischen Gattung. Mit seiner appellativen<br />

Rhetorik, seinen kämpferischen Provokationen und der programmatischen<br />

Eigenwerbung entsprach es dem heraufgesetzten<br />

Lärmniveau einer von Massenkommunikation und Reklametechniken<br />

neu geprägten Zeit ..., sie sind gleichzeitig auch ein<br />

"primärer" Bestandteil des damaligen literarischen Lebens"<br />

(XVIII). Den einzelnen Themenkomplexen sind Einleitungen<br />

vorangestellt, die die einzelnen Texte in einen allgemeineren<br />

sozio-kulturellen Kontext stellen, zusammen mit den Anmerkungen<br />

können diese Einführungen auch als kurze Forschungsberichte<br />

gelesen werden. Teil I "'Expressionismus'<br />

im zeitgenössischen Urteil" (3-112) enthält "Frühe Proklamationen"<br />

zur "jüngsten Kunst" und zum "Expressionismus",<br />

Definitionen und Charakterisierungen des literarischen Expressionismus,<br />

Distanzierungen etc., Teil II "Kulturkritik<br />

und Geist der Utopie" (115-351) dokumentiert die Reflexion<br />

über das sozial-kulturelle Ambiente, das "<strong>für</strong> das expressionistische<br />

Krisenbewußtsein konstitutiv wird" (115). Teil<br />

III "Aspekte des literarischen Lebens" (355-708) enthält<br />

Texte zur Boheme und Avantgarde, zum Kabarett und zur Aktionskunst,<br />

zum Verhältnis von Kunst und Öffentlichkeit und<br />

zur Zensur. Der abschließende Teil IV "Ästhetische und literarische<br />

Positionen" (543-708) gilt dem expressionistischen<br />

Pathos, den "nicht mehr schönen Künsten", der Spracherneuerung,<br />

der Poetik der literarischen Formen. Ein "Personen-<br />

und Werkregister" (mit biographischen Stichworten zu<br />

Autoren und Künstlern aus dem Umreis des Expressionismus),<br />

DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83


106<br />

Sprach- und Literaturwissenschaft<br />

beschließt die Anthologie, die nicht nur <strong>für</strong> die Expressionismusforschung<br />

unentbehrliches Material zur Verfügung<br />

stellt. Hansgeorg Schmidt (Amöneburg)<br />

Becker, Peter von (Hrsg.): Georg Büchner, Dantons Tod. Die<br />

Trauerarbeit im Schönen. Ein Theater-Lesebuch. Syndikat Autoren-<br />

und Verlagsgesellschaft, Frankfurt/M. 1980 (176 S.,<br />

br.)<br />

<strong>Das</strong> Buch ist im Zusammenhang mit der Neuinszenierung von<br />

"Dantons Tod" im Schauspiel Frankfurt (Regie Johannes<br />

Schaaf, Premiere November 1980) entstanden. Kernstück ist<br />

eine von Thomas Michael Mayer - ein Germanist, der in den<br />

letzten Jahren bisher unberücksichtigt gebliebenes Quellenmaterial<br />

zu Büchner präsentieren konnte - veranstaltete<br />

Ausgabe von Büchners Revolutionsdrama. Durch die Verwendung<br />

verschiedener Schriftarten und Zeichen ist es dem Leser<br />

möglich, verschiedene Fassungen des Manuskripts zu vergleichen.<br />

Auch findet er am Rand Vermerke über die Quellen, aus<br />

denen Büchner Anregungen <strong>für</strong> sein Drama bezogen hatte. Die<br />

Wahl der Schriftarten und Zeichen ist allerdings nicht immer<br />

glücklich. Wer sich dann aber der Mühe unterzieht, den<br />

Sinn der jeweiligen Hervorhebungen zu entziffern, erhält<br />

einen lohnenden Einblick in Büchners schriftstellerische<br />

Arbeit. Über dieser philologischen Entzifferungskunst geht<br />

dann aber leicht der Gesamteindruck des Dramas verloren,<br />

und es empfiehlt sich, im Anschluß an die text<strong>kritische</strong><br />

Lektüre einen der bisher zugänglichen Texte des Dramas zur<br />

Hand zu nehmen, um sich zügig das Ganze des Textes noch<br />

einmal vor Augen zu halten. Allerdings wird in Zukunft niemand<br />

mehr die text<strong>kritische</strong> Ausgabe Mayers vernachlässigen<br />

dürfen, wenn er sich wissenschaftlich mit Büchners dramatischem<br />

Werk befaßt.<br />

An den Text des Dramas schließen drei Aufsätze an. Peter<br />

von Becker behauptet in seinem Beitrag, daß Büchners Drama<br />

ebensosehr ein Stück über die Erotik wie über die Revolution<br />

sei. Er macht deutlich, daß der junge Büchner bereits<br />

vor Problemen stand und sie mit seinen Mitteln zu artikulieren<br />

verstand, wie sie später dann Marx und Freud erneut<br />

aufgriffen, von Becker bezeichnet Büchner als einen "sensualistischen<br />

Früh-Kommunisten" (83), der heute Denkweisen<br />

nahestehen würde, die den Versuch einer Synthese psychoanalytischer,<br />

anthropologischer und marxistisch materialistischer<br />

Ansätze unternehmen. Er legt sehr viel Wert darauf,<br />

daß neben Danton auch Robespierre im Auge behalten wird,<br />

daß das Stück Büchners "unter dem Vorzeichen 'Dantons und<br />

Robespierres Tod'" zu lesen sei (79). Er fordert auf, die<br />

Protagonisten als eine Persönlichkeit zu entziffern: "Kein<br />

anarchischer Aristokrat und Erotomane prallt auf einen plebejischen<br />

Sozialisten, sondern zwei Advokaten, Intellektuelle<br />

und Weltverbesserer, beide im Alter Mitte Dreissig,<br />

sind unter sich. Oder noch schärfer gefaßt: der bürgerliche<br />

Revolutionär ist in zwei Neurotikern mit sich allein" (83).<br />

DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83


Deutsche Literaturgeschichte<br />

107<br />

Als "Trauerarbeit im Schönen" - ein Begriff, der in Anlehnung<br />

an Freud gebildet wurde - bezeichnet von Becker Büchners<br />

Versuch, in einer Dichtung die Entfremdung einer Person<br />

aufzuheben, die scheinbar widersprüchlichen Bestandteile<br />

seiner Person, Verstand, Wille, Phantasie und Gefühl zu<br />

synthetisieren, von Becker versteht Büchners "Danton" dabei<br />

aber keineswegs als in sich abgeschlossene Einheit, sondern<br />

als Paradigma der deutschen und europäischen Geschichte,<br />

das bis heute seine Gültigkeit nicht verloren hat. Und inmitten<br />

dieser Trauerarbeit im Schönen habe Büchner zugleich<br />

Gegenbilder und Ahnungen unentfremdeter Menschen entworfen.<br />

Hier tritt die Erotik in den Vordergrund, werden wir auf<br />

die Frauen im Revolutionsdrama verwiesen. Diese Frauen hat<br />

Büchner nicht nach Vorlage gestaltet; sie sind seine eigenste<br />

Erfindung. Es schließt sich sinngemäß Dolf Oehler: "Liberté,<br />

Liberté Chérie" an, der sich mit der erotischen<br />

Freiheits-Allegorie befaßt. Oehler zeigt, wie sehr das Drama<br />

Büchners die Themen Sexualität und Freiheit in Zusammenhang<br />

bringt, zeigt zugleich, wie problematisch beide sind.<br />

Oehlers Abhandlung weitet sich zu einer Auseinandersetzung<br />

mit der Tradition der Freiheits-Allegorie, wobei er zu dem<br />

Ergebnis kommt, daß "deren Diskurs über die Revolution<br />

stets einen Diskurs Uber die Rolle der Frau und der Erotik in<br />

der neuen Gesellschaft enthält oder voraussetzt, und daß<br />

dieser letztere Diskurs psychoanalytisch gesehen stets regressiv<br />

und politisch gesehen stets mehr oder minder reaktionär<br />

ist, modelt er doch die Frau, die er Freiheit nennt,<br />

nach dem alten jüdisch-christlichen Männerbild von der Frau<br />

..." (97). Zu Recht verweist Oehler auf die Einsicht Fouriers,<br />

daß der Grad der Freiheit einer Gesellschaft sich<br />

nach dem Grad der Emanzipation ihrer Frauen bemißt. Offenbar<br />

will Oehler sagen, daß auch in Büchners Drama die "Männerphantasien<br />

über die Freiheit"(9l) noch keinen Platz lassen<br />

fUr eine genitale Organisation der Libido, <strong>für</strong> eine herrschaftslose<br />

Beziehung zwischen Mann und Frau. Oehler würde<br />

wohl von Beckers Behauptung, daß die Zukunft des Mannes die<br />

Frau sei, zustimmen, würde aber vorsichtiger sein, was die<br />

Behauptung einer Vorwegnahme dieser neuen Phantasien über<br />

die Frau in Büchners Frauengestalten betrifft.<br />

Hans-Thies Lehmann ("Dramatische Form und Revolution")<br />

vergleicht 'Dantons Tod' mit Heiner Müllers 'Der Auftrag'.<br />

Auch Lehmann thematisiert die Sexualität, die bei beiden<br />

Autoren eine Rolle spielt. Lehmann sieht in der "gezielten<br />

Einführung von Sex und Politics die formale Entsprechung zu<br />

dem Versuch ..., jenseits aller Idealismen und Selbsttäuschungen<br />

die unvermittelte Diskrepanz zu artikulieren zwischen<br />

der fatalen Maschinerie der Geschichte und dem Begehren<br />

des Körpers" (119).<br />

Der nächste, "Panorama" betitelte Teil des Buchs bringt<br />

Dokumente zur Französischen Revolution und der nachfolgenden<br />

Zeit bis zum 2. Kaiserreich. Victor Hugos Beschreibung<br />

des Konvent und der Pariser Straßen zur Revolutionszeit<br />

DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83


108 Sprach- und Literaturwissenschaft<br />

steht neben einem Brief Kleists, einem Auszug aus Heines<br />

"Französische Zustände", Camille Desmoulins letztem Schreiben<br />

aus dem Gefängnis, einer Darstellung des Historikers<br />

François Auguste Mignet und Teilen von Karl Marx' Schrift<br />

"Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte". Besonders<br />

aufschlußreich und immer noch unmittelbar ansprechend sind<br />

die von Wilhelm Schulz bereits 1851 veröffentlichten<br />

"Stichworte zur Französischen Revolution. Nachgelassene<br />

Schriften von G. Büchner". Es handelt sich hierbei um einen<br />

historisch-biographischen Aufsatz Schulz' über seinen<br />

Freund Büchner. <strong>Das</strong> Buch schließt mit Stichworten zur Französischen<br />

Revolution und einem Auszug aus der "Büchner-<br />

Chronik" von Thomas Michael Mayer.<br />

Thomas Kornbichler (Berlin/West)<br />

Brenner, Peter J.: Die Krise der Selbstbehauptung. Subjekt<br />

und Wirklichkeit im Roman der Aufklärung. Niemeyer Verlag,<br />

Tübingen 1981 (253 S., br.)<br />

Der Autor versucht, so etwas wie eine Physiognomie des<br />

Romans der Aufklärung zu geben; als zusammenhangstiftende<br />

Kategorie dient ihm, anknüpfend an Hans Blumenberg, der epochale<br />

Begriff der "Selbstbehauptung": Mit ihm wird eine<br />

spezifisch neuzeitliche, d.h. bürgerliche Auslegung der<br />

Welt bezeichnet, die von der Annahme einer Konstanz der<br />

Wirklichkeit ausgeht; sie unterstellt, daß die Realität<br />

einsichtigen und invariablen Prinzipien unterliegt, deren<br />

Kenntnis Natur und Geschichte gleichermaßen "kalkulabel"<br />

(ein Lieblingswort Brenners) und damit auch beherrschbar<br />

macht. Die Krise der Selbstbehauptung, die Brenner im Roman<br />

des 18. Jahrhunderts zunehmend sich artikulieren sieht, besteht<br />

nun darin, daß diese 'Kalkulabilität' die andere Seite<br />

der Selbstbehauptung, die von der Aufklärung reklamierte<br />

Autonomie des Subjekts, zusehends aufzehrt - das Subjekt<br />

muß sich dem 'Lauf der Welt', den es nicht zu beherrschen<br />

vermag, selbst unterwerfen, anstatt sich selbst zu behaupten;<br />

ein Vorgang, der in einem größeren geschichtsphilosophischen<br />

Rahmen als 'Dialektik der Aufklärung' von Horkheimer<br />

und Adorno beschrieben wurde, woran Brenners Untersuchungen<br />

gleichsam ihre Folie haben. Diese Entwicklung der<br />

scheiternden Autonomie wird ausführlich an Romanen und<br />

Dichtungstheorien der Zeit belegt. Zumal das 2. Kapitel zur<br />

Subjektdarstellung liefert hierzu einiges Material: Es<br />

zeigt, daß eine Versöhnung von Subjekt und Objekt nicht gelingt,<br />

sondern daß die prätendierte Autonomie immer durch<br />

Heteronomie vermittelt ist. Zwei wesentliche Formen der<br />

Subjektdarstellung markieren die Extreme: Der empfindsame<br />

Held, auch in seiner melancholischen, hypochondrischen und<br />

schwärmerischen Spielart auf der einen Seite und der Protagonist<br />

des Bildungsromans auf der anderen. Beide Formen demonstrieren<br />

das Scheitern der Selbstbehauptung. Die eine,<br />

repräsentiert durch Goethes 'Wilhelm Meister' zeigt die uneingestandene<br />

Anpassung an heteronome Zwänge - Brenner<br />

DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83


Deutsche Literaturgeschichte<br />

109<br />

setzt hier, gegenüber der üblichen Bildungsroman-Euphorie,<br />

deutlich negative Akzente -, die andere, vertreten durch<br />

Moritz' "Anton Reiser", zeigt die melancholische Resignation,<br />

die aber als Festhalten an der Idee einer seinerzeit<br />

nicht möglichen Autonomie interpretiert wird. Wenn der Roman<br />

auf der Ebene der Figurengestaltung ebenso wie auf der<br />

des Handlungsablaufs - den Brenner unter den Stichwörtern<br />

"Providenz, Rationalität und Komposition" im 3. Kapitel<br />

analysiert - nur das Scheitern der Selbstbehauptung exponiert,<br />

so zeigt das letzte Kapitel, daß die Idee der Subjektsautonomie<br />

im Roman durch den "persönlichen Erzähler"<br />

gerettet werden "soll. Der Autor interpretiert ihn als das<br />

"neuzeitliche Subjekt", das sich in der Welt des Romans als<br />

autonomes behaupten will, ohne es jedoch wirklich zu können<br />

- der "Erzähler" wird schon deshalb zum Ausdruck der "Krise<br />

der Selbstbehauptung", weil er erkennen läßt, daß Autonomie<br />

nur ästhetisch, aufgrund literarischer Konstruktion, und<br />

auch darin nur bedingt möglich ist. Unter der Vielzahl der<br />

behandelten Werke leidet die Intensität der Einzelinterpretationen.<br />

Doch gehts um die Romane selbst weniger: sie dienen<br />

wesentlich als Material <strong>für</strong> eine allgemeine Analyse der<br />

neuzeitlichen Subjekts- und Wirklichkeitsauffassung. Dabei<br />

ist es nur konsequent, wenn die Textbasis über die Romane<br />

hinaus ausgedehnt wird auf poetologische, philosophische<br />

und autobiographische Werke der Zeit. Im Detail baut Brenner<br />

auf der bisherigen Forschung auf; deren Ergebnisse werden<br />

jedoch aufgehoben durch ihre Einbettung in historische<br />

Konstellationen; dabei erscheinen viele vermeintlich bekannte<br />

ästhetische Phänomene - wie etwa der 'Erzähler' - in<br />

einem den geschichtlichen Gegebenheiten angemesseneren neuen<br />

Licht. Allerdings wird die reale Geschichte, auf die<br />

letzten Endes die Romane zurückbezogen werden sollen, allzusehr<br />

theoretisch verdünnt; als reale kommt sie nicht<br />

recht in den Blick. So wird etwa die Subjektdarstellung -<br />

unter Bezugnahme auf Marx - abstrakt aus "dem" Kapitalismus<br />

hergeleitet, ohne daß auf dessen konkrete Entwicklungsstufe<br />

im 18. Jahrhundert eingegangen würde. Historische Präzisierungen<br />

wären wünschenswert, die Brenners allzu spekulative<br />

- recte: pessimistische - Geschichtsphilosophie fundieren<br />

müßten. Aufgrund ihrer eigenen, in der Einleitung unter Berufung<br />

auf Hegel und Benjamin begründeten Darstellungstechnik<br />

sind die Untersuchungen wo nicht schwierig, so doch auf<br />

besondere Weise zu lesen. Sie folgen keiner systematischen<br />

Gliederung, sondern bewegen sich eher kreisförmig um immer<br />

wieder die gleichen Probleme, die dabei manchmal dem Schein<br />

nach in die Ferne rücken - der Leser wird jedenfalls vom<br />

Register und der ausführlichen Inhaltsübersicht im Anhang<br />

Gebrauch machen müssen, um den Zusammenhang nicht zu verlieren.<br />

Insgesamt liefert die Arbeit ganz wesentliche Anregungen<br />

sowohl <strong>für</strong> die Neubewertung einzelner Autoren und<br />

Werke als auch <strong>für</strong> die Interpretation der ganzen Epoche.<br />

Michael Schneider (St. Augustin)<br />

DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83


110 Sprach- und Literaturwissenschaft<br />

Klotz, Günther, Winfried Schröder und Peter Weber (Hrsg.):<br />

Literatur im Epochenbruch. Funktionen europäischer Literaturen<br />

im 18. und beginnenden 19. Jahrhundert. Aufbau Verlag<br />

Berlin-Weimar 1977 (714 S., Ln.)<br />

Die Verfasser legen keine Literaturgeschichte, sondern<br />

Problemstudien vor: Mit dem Bild von Individuum und Gesellschaft<br />

im Roman, politischer Operativität im Klassenkampf,<br />

der literaturtheoretischen Konstruktion der Kunstautonomie<br />

und dem Begriff Weltliteratur wählen sie <strong>für</strong> die Funktionen<br />

der Literatur im 18./19. Jahrhundert wesentliche Komplexe<br />

aus. In der Einleitung bestimmen die Herausgeber die Methode<br />

im Rahmen des historischen Materialismus als historischfunktional<br />

(8), als konsequent historisch (11). Schröder<br />

wendet sich in dem historische und systematische Grundlagen<br />

fixierenden Kapitel nicht nur gegen in der Komparatistik<br />

vorherrschende bürgerliche Varianten nationalistischer Borniertheit<br />

und kosmopolitischer Enthistorisierung (Weltliteratur<br />

als Kompendium von Meisterwerken), sondern auch gegen<br />

deren Erbschaft bei Marxisten, vor allem in teleologischund<br />

allgemeinmenschlich-ideologischen Konstruktionen, die<br />

unter den Titeln der 'Demokratie' und des (linearen) 'Fortschritts'<br />

die historisch neue Qualität des proletarischen<br />

Klassenkampfes und des Sozialismus zu verdecken geeignet<br />

sind (49). Generell kennzeichnet den Band die Tendenz, Fragen<br />

zu stellen, Selbstverständlichkeiten der wissenschaftlichen<br />

Diskussion zu öffnen. Die Verfasser polemisieren gegen<br />

scheinbar gesicherte Positionen, in denen Kontinuität<br />

bürgerlicher Kunstideologie nachgewiesen wird, wobei "Humanisten"<br />

wie Girnus, Weimann oder Dietze <strong>kritische</strong> Streiche<br />

einstecken. Es hätte noch produktiver sein können, wären<br />

die Differenzen zwischen den einzelnen Studien nicht geglättet<br />

worden (wie sie in der Einschätzung des "Sturm und<br />

Drang" oder überhaupt in der Anwendung "stilgeschichtlicher<br />

Verallgemeinerungen" auf der Hand liegen); dies setzte voraus<br />

die theoretische Fassung der Meinungsverschiedenheiten.<br />

Schröder präzisiert den Epochenumbruch (8) - Jahrzehnte<br />

vor und nach der Französischen Revolution - dahingehend,<br />

daß "nicht zuletzt durch das Übergreifen der industriellen<br />

Revolution auf den ganzen europäischen Kontinent ... die<br />

Französische Revolution ihre epochenbestimmende Funktion<br />

erhält" (66). Damit sind wesentliche aporetisch diskutierte<br />

Fragen angeschnitten, z.B. das Verhältnis von Französischer<br />

Revolution und Weimarer Klassik (64/65). Schröder visiert<br />

eine Lösung an durch seine Epochendefinition, die den sozialökonomischen<br />

Inhalt ins Zentrum stellt und mit der nur<br />

politischen Epochendefinition bricht (Französische als Musterrevolution),<br />

um stattdessen den Zusammenhang zwischen<br />

(englischer) industrieller und (französischer) politischer<br />

Revolution darin zu sehen, daß politisch Evolution, "Revolution<br />

von oben" möglich wurde - ein Konzept, das sich im<br />

Roman- und im Weltliteratur-Kapitel als nützlich erweist.<br />

Der Schlußabschnitt von Schröders Abhandlung stellt unter<br />

DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83


Deutsche Literaturgeschichte 111<br />

dem Aspekt des Epochenumbruchs knapp die ökonomischen, sozialen<br />

und politischen Verhältnisse in nahezu allen europäischen<br />

Staaten dar.<br />

Daß die Verfasser einen Beitrag zur Erbediskussion liefern<br />

wollen, zeigen nicht zuletzt die Bezugnahmen auf die<br />

Brecht-Lukacs-Debatte (58; 414/415). Gerade unter diesem<br />

Gesichtspunkt scheint das Verhältnis der zweiten Studie zu<br />

den übrigen problematisch. Der Ansatz steht im Zeichen des<br />

"Humanismus" der "Menschenbild"-Ästhetik, dem Paradefall<br />

einer linearen Erbekonzeption.<br />

Die Studie zur politischen Operativität der Literatur<br />

bestimmt diese als Orientierung auf "die Tagespolitik stimulierende<br />

Wirkung" (281) im Sinne der "praktischen Durchsetzung<br />

von Klasseninteressen" (283) durch die Umsetzung<br />

der "Trennung der 'bürgerlichen' von der 'politischen' Gesellschaft<br />

in direkte Verhaltens- und Handlungsmaximen"<br />

(282). Sich nur vage gegen eine zu enge und eine zu weite<br />

Fassung von Politik absetzend (284), formulieren die Verfasser<br />

dann doch defensiv: "Die relative Enge des literarischen<br />

Gefechtsstandes ist nicht die Folge mangelnder ästhetischer<br />

Fähigkeiten, sondern entspricht der operativen<br />

Funktionssetzung" (284). Positiv ist an allen Analysen zur<br />

französischen, deutschen und zu den slawischen Literaturen<br />

hervorzuheben die durchgängige Betonung des "dialektische(n)<br />

Verhältnis(ses) von Klassencharakter und Massenbasis" (290)<br />

in der bürgerlichen Revolution.<br />

Martin Fontius' beabsichtigte Provokation: "Die unaufgedeckte<br />

Abkunft der im 18. Jahrhundert entwickelten ästhetischen<br />

Kategorien und Begriffe bildet so noch immer eine<br />

Nährquelle idealistischer Literaturbetrachtung" (415),<br />

zielt auf die historisch-materialistische Erklärung des<br />

zentralen literaturtheoretischen Konzepts, der Kunstautonomie,<br />

sowie weshalb diese gerade in Deutschland um die Jahrhundertwende<br />

ausgearbeitet wurde. Konsequent Schröders Epochendefinition<br />

benutzend, wendet sich Fontius gegen die<br />

"Verabsolutierung der Kunstproduktion (...), der die Momente<br />

der Wirklichkeitsrelation und der Kunstrezeption weitgehend<br />

und <strong>für</strong> lange Zeit zum Opfer fallen sollten" (418),<br />

und damit zugleich auch gegen die in der DDR-Literaturwissenschaft<br />

gegebene "Verabsolutierung der sogenannten literarischen<br />

Hauptlinie Lessing - Sturm und Drang - Klassik",<br />

weil diese den literarischen Prozeß in der Weise simplifiziert,<br />

daß "die sozialen Widersprüche gewissermaßen nur<br />

noch in der Zeit, als Abfolge von literarischen Richtungen,<br />

aber nicht im Raum, als Gegensatz zwischen Parteiungen und<br />

Interessen erkennbar sind" (456). Als Erklärungsmomente <strong>für</strong><br />

die Kunstautonomie fungieren bei Fontius: erstens, "daß die<br />

Arbeit der Künstler der sich entwickelnden kapitalistischen<br />

Produktionsweise nicht integrierbar war" (432); zweitens<br />

die Subsumtion der mechanischen Künste unters Kapitalverhältnis,<br />

die die nun von diesen geschiedene freie zur wahren<br />

Kunst werden läßt, so daß "der Künstler", der weiterhin<br />

DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83


112 Sprach- und Literaturwissenschaft<br />

die Einheit von geistiger und körperlicher Arbeit verkörperte,<br />

"zum Modell des unzerstiickten, des ganzen Menschen<br />

werden"(432) konnte. An Batteux demonstriert Fontius die<br />

Versachlichung des Standesgegensatzes zum bürgerlichen Beruf<br />

sunterschied (438), an den Enzyklopädisten, daß dem<br />

"Primat von Wissenschaft und Technik ... Relativität und<br />

Partialität der Kunst" (444) entsprechen, an der anthrologisch<br />

ausgerichteten, auf Erziehung zielenden Kritik der<br />

Enzyklopädisten durch Herder, daß "die Vehemenz der Absolutismuskritik<br />

im Sturm und Drang einer weitgehenden Blindheit<br />

gegenüber der Bedeutung der Produktivkräfte entsprach"<br />

und die "Staatskritik der Folgezeit einem extremen Individualismus,<br />

der sich der englischen politischen Ökonomie bediente,<br />

um die Bürokratisierung als soziales Grundübel zu<br />

denunzieren" (468). Fontius zielt auf die Widersprüchlichkeit<br />

der deutschen bürgerlichen Humanitätsphilosophie<br />

(Herder, Humboldt, Forster, Schiller) als utopischer apolitischer<br />

Individualismus (487), bedenkenswert ist sein Vorschlag:<br />

"Wie sehr wir den abgrundtiefen Haß auf den Staat,<br />

der alle alten Bindungen zerreißt und alle menschlichen Tätigkeiten<br />

seinem System integrieren will, nachempfinden<br />

können, wir werden jene Äußerungen höherstellen, wo versucht<br />

wird, der historischen Gesetzmäßigkeit dieses Phänomens<br />

auf die Spur zu kommen und Kritik von Vorschlägen zur<br />

Veränderung begleitet ist" (471). Als drittes Erklärungsmoment<br />

benutzt Fontius die "Heteronomie", gegen deren "Druck<br />

sich der Gedanke der Autonomie überhaupt erst entwickeln<br />

konnte. Diese Heteronomie war der Marktmechanismus" (491).<br />

Vor allem am Markt wird gezeigt, wie die aus der literarischen<br />

Warenproduktion folgende "'Spaltung' des Kunstwerks<br />

'in nützliches Ding und Wertding'" (501) die "hermetische<br />

Absicherung des Kunstcharakters gegen alle ökonomischen<br />

Zwänge und Zusammenhänge" (521) forciert: "In dem Bestreben,<br />

das Kunstwerk als 'in sich Ganzes' bzw. 'in sich<br />

selbst Vollendetes' zu begreifen, um seinen inneren Wert<br />

hervorzuheben, durch den es sich von dem bloß nützlichen<br />

Produkte der mechanischen Künste unterscheidet, zeichnet<br />

sich die Entwicklung zur sogenannten romantischen Auffassung<br />

des o r g a n i s c h e n Kunstwerks deutlich ab"<br />

(502). Bedenklich scheint allerdings Fontius' These, daß<br />

"die <strong>für</strong> die ästhetische <strong>Theorie</strong> unmittelbar relevante Form<br />

der Buchvermittlung (...) in Deutschland die fortgeschrittenste<br />

in Europa" (518) gewesen sei.<br />

DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83<br />

Helmut Peitsch (Berlin/West)


SOZIOLOGIE<br />

Familiensoziologie<br />

113<br />

Wahl, Klaus, Michael-Sebastian Honig und Lerke Gravenhorst:<br />

Wissenschaftlichkeit und Interessen. Zur Herstellung subjektivitätsorientierter<br />

Sozialforschung. Suhrkamp Verlag,<br />

Frankfurt/M. 1982 (319 S., br.) zit. I<br />

Wahl, Klaus u.a.: Familien sind anders! Rowohlt Taschenbuch<br />

Verlag, Reinbek 1980 (260 S., br.) zit. II<br />

Arbeitsgruppe Elternarbeit/Arbeitsgruppe Frühkindliche Sozialisation:<br />

Orientierungsmaterialien <strong>für</strong> die Elternarbeit.<br />

Elternarbeit mit sozial benachteiligten Familien. Schriftenreihe<br />

des Bundesministeriums <strong>für</strong> Jugend, Familie und Gesundheit,<br />

Band 94 . Verlag W. Kohlhammer, Stuttgart 1981<br />

(406 S., br.) zit. III<br />

"Wissenschaftlichkeit und Interessen" entstand aus der<br />

Unzufriedenheit mit einem Forschungsvorhaben, das bereits<br />

zuvor in den Bänden I und II veröffentlicht worden war.<br />

Es ist nicht aus der Perspektive des Erfolgs, sondern eher<br />

aus der Perspektive der Schwierigkeiten und des potentiellen<br />

Scheiterns wissenschaftlicher Forschung geschrieben und<br />

repräsentiert so ein gewisses Maß an Ehrlichkeit und Selbstreflexion.<br />

Die Autoren begreifen ihre Arbeit als "Lerngeschichte"<br />

einer Untersuchung zum Erziehungsalltag in der<br />

Unterschicht, die durch einen Forschungsauftrag des Bundesministeriums<br />

<strong>für</strong> Jugend, Familie und Gesundheit initiiert<br />

wurde. Ihre Erfahrung der sehr reservierten Aufnahme der<br />

Arbeit durch das Ministerium und der aus Sicht der Forschungsgruppe<br />

oft mißverstandenen öffentlichen Rezeption,<br />

führte bei den Autoren zu einer Selbstkritik ihrer Arbeit<br />

(I, 220f.) und zum "Eingeständnis, daß ein pragmatischfunktionales<br />

Verständnis von Praxisrelevanz nicht nur methodologisch,<br />

sondern auch gesellschaftlich gescheitert<br />

ist" ( I , lOf. ). Man kann das Buch auch als eine Art Lehrbuch<br />

der wissenschaftlichen Praxis begreifen,und besonders<br />

hierin liegt seine Relevanz:es ist keine wissenschaftstheoretische<br />

'Anleitung' zum Forschen, sondern dokumentiert die<br />

wissenschaftliche Alltagsarbeit inclusive der Irrwege,<br />

Schwierigkeiten und des langsamen Herantastens an eine wissenschaftspraktische,<br />

d.h. dem Gegenstand und den Forscherinteressen<br />

adäquate Methode.<br />

Der Auftrag des Ministeriums zielte auf die Entwicklung<br />

von Programmen zur Elternbildung sozial benachteiligter Bevölkerungsgruppen,<br />

Programme, die diese Gruppen besser erreichen<br />

sollten als bisherige. Ideell folgte das Ministerium<br />

damit einem Konzept sozialstaatlicher Chancengleichheit,<br />

praktisch einem Interesse an Effektivität. Die hier<br />

angesprochene Forschungsgruppe aus dem Deutschen Jugendinstitut<br />

(DJI) Ubernahm daraus einen Teilauftrag zur genaueren<br />

Untersuchung des 'Erziehungsalltags in der Unterschicht'<br />

DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83


114 Soziologie<br />

und verwirklichte dies in einer qualitativ-empirischen Untersuchung<br />

an 34 Familien von Arbeitern und unteren Angestellten<br />

(vgl. II).<br />

In den methodologischen Überlegungen zu ihrem Forschungsprogramm<br />

gehen die Eigeninteressen der Forscher ('Parteilichkeit<br />

<strong>für</strong> die Betroffenen') mit den ministeriellen Vorgaben<br />

(Effektivität/Sozialstaatspostulat) eine widersprüchliche<br />

Verquickung unter dem Begriff 1 Betroffenenforschung'<br />

ein. Diese Widersprüchlichkeit (Ansatz bei den Interessen<br />

der Betroffenen, um sie dann besser zum Objekt staatlichen<br />

Handelns werden zu lassen) bedingt zugleich schon das relative<br />

Scheitern der Untersuchung. Wie schon bemerkt, gestehen<br />

die Forscher sich dieses ein, es fehlt aber eine präzise<br />

gesellschaftstheoretische Bestimmung dieses Scheiterns,<br />

was meines Erachtens die größte Schwäche des Buches ist.<br />

"Betroffenenforschung" bedeutet <strong>für</strong> die Autoren zweierlei:<br />

(1) die Betroffenen selbst zu Wort kommen zu lassen, ihre<br />

Sichtweise auf ihre Lebenssituation zu begreifen, "das Lebensgefühl<br />

und die Erfahrungen zu verstehen, aus denen heraus<br />

die Familien leben". So entstand "ein neuer Blick auf<br />

scheinbar Altbekanntes" (II, 7). (2) Zugleich verstehen sie<br />

darunter, eingreifend zu wirken, indem ihre "Forschungsinteraktion<br />

dem Prinzip der Selbstaufklärung und Selbstthematisierung<br />

der Betroffenen folgt" (I, 219). Ansatzpunkt wurde<br />

somit die 'Lebenswelt' der Betroffenen; ihr näherten<br />

sich die Forscher in diversen Gesprächen mit den einzelnen<br />

Familien anhand eines 'Drehbuches': "gestaltete Offenheit"<br />

(I, 93f.). Wie und mit welchen methodischen und individuellen<br />

Problemen diese Gespräche durchgeführt wurden, wird genau<br />

dargestellt (I, 98-145). Nach der Darstellung der Protokollierungsverfahren<br />

(I, 146-157) widmen sich die Autoren<br />

den praktischen und methodologischen Problemen der Auswertung,<br />

der Interpretation dieser Gespräche (I, 158-191). Sie<br />

reflektieren deren Interpretationsbedürftigkeit, um daraus<br />

Erkenntnis, d.h. Wissen über verallgemeinerungsfähige<br />

Strukturen des Gegenstandes abzuleiten.<br />

Problematisch ist, daß die Autoren von einer als folgenlos<br />

eingeschätzten "freien Wahl" der Erkenntnisinteressen<br />

ausgehen (I, 166ff.), z.B. Wahl zwischen "reiner Deskription<br />

einer fremden Subkultur" (I, 173) oder Ermittlung "der<br />

('objektiven') gesellschaftlichen Bedingungen solcher Subjektivitätsrepräsentanzen"<br />

(I, 172).Denndie 'reine Deskription'<br />

unterschlägt die gesellschaftliche Wirklichkeit von<br />

Subjektivität: ihre bestimmte Produktion unter konkret-historischen<br />

Gesellschaftsverhältnissen und läßt ihre Pseudokonkretheit<br />

als eigentliche (letzte) Wirklichkeit von Subjektivität<br />

erscheinen. Jedoch, so wie sich das dialektische<br />

Verhältnis von Subjektivität und Objektivität nicht ungestraft<br />

trennen läßt, ist auch eine solche Wahl der Erkenntnisinteressen<br />

ohne das Hervorbrigen "unterschiedlicher<br />

Wahrheit" nicht möglich.<br />

Diesem Problem kommen die Autoren in ihrer Selbstkritik<br />

DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83


Fcani liensozio logie<br />

insofern sehr nahe, als sie in ihrer Subjektivitätsorientierung<br />

ein "moralisch-empiristisch verkürztes Verständnis<br />

von Subjektivität" (I, 228) erkennen, ohne dieses durch ein<br />

theoretisches Konzept reflektieren zu können. Die "reine<br />

Deskription" der Lebenssituation brachte <strong>für</strong> die Autoren<br />

schon vordergründig den Mißerfolg mit sich, daß ihnen Beifall<br />

von der falschen Seite zuteil wurde und ihre Untersuchung<br />

auf der Basis herrschender Klischees mißinterpretiert<br />

wurde (I, 225-227).<br />

Die aufgezeigten Mängel - das Fehlen einer konkret-historischen<br />

Rekonstruktion, wie die herrschende gesellschaftliche<br />

Logik die Subjektivität strukturiert und welche Subjektivitätsrepräsentanzen<br />

welche historische Funktion und<br />

welche gesellschaftliche Basis haben - sollen aber nicht<br />

den eingeschränkten Wert der Arbeiten unterschlagen: Zu I:<br />

konkrete und nachvollziehbare, selbst<strong>kritische</strong> Darstellung<br />

qualitativer Forschungsarbeit in der Sozialwissenschaft. Zu<br />

II: Ermöglichung eines Einblicks in Denk- und Lebensweisen<br />

benachteiligter Familien und zwar durch exemplarische Wiedergabe<br />

von Gesprächen mit Betroffenen und durch den Aufweis<br />

von Gemeinsamkeiten ihres Lebens. Besonders wichtig<br />

erscheint mir dabei die Erkenntnis, daß der Erziehungsalltag<br />

dieser Menschen nicht durch pädagogische Defizite gekennzeichnet<br />

ist - wie frühere Untersuchungen nahelegen -,<br />

sondern daß es ihnen an "Erziehungskraft und -anstrengung<br />

nicht mangelt, ... eher an besseren Lebensbedingungen" (II,<br />

42). Diese Erkenntnis ist zum Leidwesen der Autoren häufig<br />

dahingehend verkürzt worden, daß man diesen Familien einfach<br />

durch Verbesserung der Wohnsituation und der finanziellen<br />

Zuwendungen helfen könnte (I, 226; 315). Die Autoren<br />

entwerfen dagegen ein Problemgeflecht, welches die konkreten<br />

Umstände der Familiengründung, die Rollenbeziehungen,<br />

die Arbeitsbedingungen, die Art staatlichen und sozialarbeiterlichen<br />

Handelns und eben die materiellen Bedingungen<br />

mit einschließt. Zu III: Hier werden die Forschungsergebnisse<br />

Uberschlagartig dargestellt und Empfehlungen <strong>für</strong><br />

die Elternarbeit entwickelt (III, 45-90). Die sonstigen Kapitel<br />

dieser Veröffentlichung beziehen sich auf den anderen<br />

Teilauftrag des Ministeriums, der von der Arbeitsgruppe Elternarbeit<br />

im Deutschen Jugendinstitut verwirklicht wurde.<br />

Insbesondere finden sich hier Empfehlungen <strong>für</strong> die Elternarbeit<br />

an außerfamilialen Betreuungseinrichtungen, an der<br />

Schule, in der Jugendhilfe, in Eltern-Kind-Initiativen sowie<br />

über Verbundsysteme in der Elternarbeit.<br />

US<br />

Ulf-H. Brockner (Köln)<br />

Bösel, Monika: Lebenswelt Familie. Ein Beitrag zur interpretativen<br />

Familiensoziologie. Campus Verlag, Frankfurt/M.-<br />

New York 1980 (165 S., br.)<br />

Die Verfasserin beginnt mit einer Kritik der <strong>Theorie</strong>entwicklung<br />

in der westdeutschen Familiensoziologie. Dem Vorwurf<br />

einer "mangelhaften Integration von Familienforschung<br />

DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83


116 Soziologie<br />

und Familientheorie" (11) oder des Fehlens "eines umfassenden<br />

<strong>Theorie</strong>- und <strong>Theorie</strong>entwicklungsprogramms" (10) ist<br />

(auch angesichts der Themengestaltung der beiden letzten<br />

Soziologentage) zuzustimmen. Ohne sich mit den Ursachen<br />

dieses Defizits näher zu beschäftigen, wird als Ausweg <strong>für</strong><br />

die Familiensoziologie ein Paradigmenwechsel empfohlen. Die<br />

bisherige Familienforschung sei bestimmt gewesen durch die<br />

empirisch-analytische Wissenschaftstheorie, die theoretischen<br />

Postulate des Strukturfunktionalismus und die Forschungsmethoden<br />

der empirischen Sozialforschung. Diesem<br />

Komplex an Vorstellungen, Regeln und Modellen werden die<br />

Tradition der verstehenden Soziologie, der Symbolische Interaktionismus/Lebensweltanalyse<br />

und die Möglichkeiten der<br />

qualitativen Methoden entgegengehalten. Die Autorin versteht<br />

ihre Arbeit als "Beitrag und Plädoyer <strong>für</strong> eine interpretative<br />

Familiensoziologie" (124). Der Gegenstand einer<br />

solchen Soziologie sei durch das Alltagshandeln der Individuen<br />

strukturiert und nicht durch abstrakte Systemgesetzlichkeiten<br />

zu erfassen. Die Alltagswelt wird zum "Ausgangspunkt<br />

und Prüfstein sozialwissenschaftlicher Erklärungen"<br />

(64). "Die verstehende Interpretation richtet sich dabei<br />

auf die intentionale Struktur menschlichen Handelns; sie<br />

versucht ausgehend von den Bedeutungen, die die Handelnden<br />

selbst typischerweise ihrem Handeln beimessen, die Sinnstruktur<br />

des Handlungszusammenhangs zu erfassen und theoretisch<br />

zu rekonstruieren" (65).<br />

Folgen wir dem <strong>Argument</strong>ationsgang: Er beginnt mit einer<br />

Kritik am Strukturfunktionalismus, dem im wesentlichen die<br />

Kritik von Habermas entgegengehalten wird. Die Methodenkritik<br />

wird exemplarisch an der Befragung, dem "Kernstück und<br />

'Königsweg' der Familienforschung" (29) durchgeführt. Dabei<br />

schließt sich Bösel fast völlig der <strong>Argument</strong>ation von Berger<br />

an, ohne wesentlich Uber dessen Position hinauszugehen.<br />

Der <strong>Theorie</strong>- und Methodenkritik folgt ihr Hauptteil, die<br />

methodologische Begründung einer "interpretativen Familiensoziologie".<br />

Der Symbolische Interaktionismus (hier dient<br />

der recht bekannte Aufsatz von H. Blumer als Referenztext)<br />

und die Phänomenologische Soziologie von A. Schütz dienen<br />

als philosophischer Hintergrund <strong>für</strong> die zu skizzierende<br />

Forschungsalternative. Die Verbindung zur Familiensoziologie<br />

gelingt durch Verweis auf die Tradition interaktionistischer<br />

und entwicklungstheoretischer Ansätze (Burgess,<br />

Waller, Hill & Hansen oder Rodgers).<br />

Der. zentrale und beste Teil der Arbeit ist überschrieben:<br />

"<strong>Das</strong> Lebensweltkonzept der Familie" (77-111); dort wird<br />

versucht, ein Kategorienschema zu entwickeln, mit dessen<br />

Hilfe es möglich sein soll, Familie als "Soziale Lebenswelt"<br />

zu erfassen. Mit der Konstruktion von Schlüsselelementen<br />

sollen vier Dimensionen erfaßt werden: (a) Prozesse<br />

der Sinnkonstitution, (b) Prozesse der Realitätsbewältigung,<br />

(c) Prozesse der Identitätsfindung und (d) Prozesse<br />

der Familienerfahrung. Anschaulich wird das Konzept durch<br />

DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83


Kritische <strong>Theorie</strong> 117<br />

Beispiele aus zwei nicht selbst durchgeführten Untersuchungen,<br />

an denen die Vorgehensweise zum Teil geprüft werden<br />

kann. Die Präsentation qualitativer Methoden und ihrer Möglichkeiten<br />

bei der Familienanalyse schließen den Hauptteil<br />

ab.<br />

Hat sich die Verfasserin zu Beginn von dem makro-soziologischen<br />

<strong>Theorie</strong>entwurf der Systemtheorie heftig distanziert,<br />

so öffnet sie ihr Konzept, <strong>für</strong> den Leser völlig<br />

überraschend, der Kritik einer "marxistischen Soziologie"<br />

(121). Bereiche wie "sozialer Wandel als Evolution von Gesamtgesellschaften",<br />

"strukturelle Bedingungen und die Entstehung<br />

von Konflikten" werden als notwendige Erweiterungen<br />

begriffen, ohne daß vorher das Angebot der abgelehnten Systemtheorie<br />

diskutiert worden wäre. Insgesamt hinterläßt<br />

der vorliegende Band einen recht zwiespältigen Eindruck.<br />

Positiv ist neben dem durchaus gelungen Teil zur "Familie<br />

als Lebenswelt" die Zusammenstellung der grundlegenden<br />

theoretischen Konstrukte zu bewerten. Die Ambivalenz wird<br />

allerdings an der gleichen Stelle deutlich: Die einzelnen<br />

Texte werden fast ausschließlich nur referiert. Da auf ihre<br />

Rezeptionsgeschichte nicht eingegangen wird, entsteht ein<br />

Bild, dessen Klarheit nur durch Weglassen zu erreichen ist.<br />

Der große Abstand zwischen Fertigstellung der Arbeit (1976<br />

als Dissertation) und der Veröffentlichung mag dazu beigetragen<br />

haben, daß einige Teile zwar als Einführung in die<br />

interpretative Familiensoziologie geeignet sind, allerdings<br />

den gerade in den letzten Jahren stark angewachsenen Wissensbestand<br />

zur interpretativen Forschung nicht reflektieren<br />

können. Manfred Herzer (Mainz)<br />

Kritische <strong>Theorie</strong><br />

Wilson, Michael: <strong>Das</strong> <strong>Institut</strong> <strong>für</strong> Sozialforschung und seine<br />

Faschismusanalysen. Campus Verlag, Frankf./M. - New York<br />

1982 (221 S., br.)<br />

Michael Wilson sieht die paradigmatische Bedeutung der<br />

kritisch-theoretischen Faschismusanalysen primär in ihrem<br />

komplexen und differenzierten methodischen Postulat, wie<br />

Max Horkheimer es 1931 unter dem Begriff von Sozialforschung<br />

programmatisch dargelegt hat. Diese Frankfurter Dissertation<br />

mißt die verschiedenen Faschismusanalysen des<br />

Kreises um Horkheimer aus den Jahren 1932-1942 theorie- und<br />

werkimmanent am eigenen Anspruch, Gesellschaft als Totalität<br />

zu analysieren, die sich durch wechselseitige Abhängigkeiten<br />

der Teilbereiche strukturiert und konstituiert und<br />

innerhalb derer soziale Teilerscheinungen nur aus dem Ganzen<br />

erklärt werden können.<br />

Bei der Analyse der politisch-ökonomischen Schriften des<br />

<strong>Institut</strong>s kann Wilson plausibel nachweisen, daß besonders<br />

DAS ARGUMENT-BEIHEFT '85


118 Soziologie<br />

Pollock und Horkheimer auf dem Hintergrund einer einfachen<br />

Identifizierung von "Basis" mit "Ökonomie" und "Überbau"<br />

mit "Politik", "Staat" und "Ideologie" argumentieren, wenngleich<br />

sie dem Programm der Differenzierung und Revision<br />

des Basis-Überbau-Schemas verpflichtet sind. Pollock entferne<br />

sich vollends vom methodischen Postulat des wechselseitigen<br />

Bezugs der verschiedenen gesellschaftlichen Teilbereiche,<br />

wenn er die politische Ökonomie des Faschismus<br />

auf nationalökonomische Fragen engführe und in dieser Engführung<br />

auch nur die Rolle des Staates betrachte. Wilson<br />

macht auch auf Pollocks und Horkheimers methodischen Fehler<br />

der Erhebung heuristischer Modelle, das sind die Idealtypen<br />

"Markt" und "Plan" als Kategorien <strong>für</strong> die Analyse wirtschaftstechnischer<br />

Alternativen der faschistischen Krisenpolitik,<br />

zu Kategorien von geschichtsphilosophischem Rang<br />

ohne hinreichende theoretische und empirische Prüfung aufmerksam.<br />

Die Integration der Psychoanalyse in die frühe<br />

Kritische <strong>Theorie</strong> analysiert Wilson im Rückgriff auf die<br />

Ergebnisse Dahmers, Horns, Lorenzers und Görlichs. Er<br />

zeichnet die Konzeption der Sozialpsychologie als Hilfsund<br />

Vermjttlungswissenschaft zur Klärung des Zusammenhangs<br />

von ökonomischen Strukturen, Prozessen mit Handlungen und<br />

der Gedanken- und Gefühlswelt nach und stellt die Kategorie<br />

des Charakters als zentral <strong>für</strong> Differenzierung und Operationalisierung<br />

der Frage nach den Triebfedern der gesellschaftlichen<br />

Dynamik heraus. Dabei weist er auf die vorschnelle<br />

Integration von Psychoanalyse und Soziologie in<br />

die materialistische Sozialpsychologie mittels der Gleichsetzung<br />

der Begriffe "sadomasochistischer" und "autoritärer<br />

Charakter" hin.<br />

Forschungsorganisation und <strong>Theorie</strong>bildung der Kritischen<br />

<strong>Theorie</strong> zeigen Wilson zufolge mangelnde Konkretisierung der<br />

Thesen, unzureichende Koordination und Kooperation untereinander<br />

und teilweise undialektisches Vorgehen: Er kritisiert,<br />

daß die verschiedenen Interpretations- und Forschungsansätze<br />

wie "Staatskapitalismus" (Pollocks <strong>kritische</strong><br />

Wendung des Leninschen Begriffs der Übergangsgesellschaft<br />

zur Hervorhebung der Rolle des Staates als Krisenüberwinder),<br />

"Autoritärer Staat" (Horkheimers Konzept des Totalitarismus^,<br />

"Primat der Politik" (Horkheimers und Pollocks<br />

Behauptung, der faschistische Staat habe die Ökonomie als<br />

Triebfeder der historischen Dynamik außer Kraft gesetzt,<br />

das faschistische System und damit die kapitalistische<br />

Wirtschaftsverfassung sei nur noch mit Mitteln der Politik<br />

aufrechtzuerhalten), "Totalitärer Monopolkapitalismus"<br />

(Neumanns und Gurlands Insistieren auf der Beibehaltung der<br />

ökonomischen Dynamik des Kapitalismus) und "Technologische<br />

Rationalität" (Marcuses und Gurlands These von der Durchsetzung<br />

eines neuen Rationalitätsprinzips im Faschismus)<br />

miteinander nicht kompatibel seien. Wilson selbst schlägt<br />

sich in der Kontroverse um die Einschätzung des Nationalsozialismus<br />

auf die Seite Neumanns und Gurlands. Sie orien-<br />

DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83


Kritische <strong>Theorie</strong> 119<br />

tierten sich an der Empirie/Realität, lösten also tendenziell<br />

den Anspruch der Sozialforschung ein und argumentierten<br />

auf dem Hintergrund der Kontinuitätsthese und entgingen<br />

damit dem verkürzten nationalökonomisch und staatspolitisch<br />

ausgerichteten Ökonomiebegriff.<br />

Wilsons Studie zufolge liegt das Scheitern dieses Teils<br />

der Linken der Weimarer Republik in ihrem Unvermögen, ihre<br />

programmatische empirische Forschung und theoretische Konstruktion<br />

praktisch einzulösen. <strong>Das</strong> kategoriale System zur<br />

Lösung der Fragen nach den strukturellen Zusammenhängen zwischen<br />

Einsetzung und Konsolidierung des nationalsozialistischen<br />

Herrschaftssystems und der kapitalistischen Wirtschaftsordnung<br />

stehe mit den Konzepten der Kontinuitätsthese,<br />

des totalitären Monopolkapitalismus und des autoritären<br />

Charakters bereit, es bedürfe nur noch der forschungspraktischen<br />

Realisierung. Karin Willen (Frankfurt/M.)<br />

Hansen, Klaus (Hrsg.): Frankfurter Schule und Liberalismus.<br />

Beiträge zum Dialog zwischen <strong>kritische</strong>r Gesellschaftstheorie<br />

und politischem Liberalismus. Nomos Verlagsgesellschaft<br />

Baden-Baden 1981 (211 S., br.)<br />

Der vorliegende Reader dokumentiert Referate einer Tagung<br />

von 1980 in der Theodor-Heuss-Akademie, bei der das<br />

Verhältnis des politischen Liberalismus in der Bundesrepublik<br />

zur <strong>kritische</strong>n <strong>Theorie</strong> diskutiert wurde. K. Hansen<br />

versucht im einleitenden Beitrag, den Nutzen der <strong>kritische</strong>n<br />

<strong>Theorie</strong> <strong>für</strong> Liberale zu bestimmen. Als gemeinsames zentrales<br />

Motiv wird die Freiheit des Individuums benannt, das<br />

hier als erkenntnisleitendes Interesse und dort als politisches<br />

Programm fungiert. Geht es der <strong>kritische</strong>n <strong>Theorie</strong> angesichts<br />

des Faschismus ursprünglich um den Nachweis der<br />

historischen Gründe, welche das Individuum daran hindern,<br />

nach den Prinzipien der Vernunft zu handeln, verhält sich<br />

der ältere Liberalismus eher als Forderungskatalog zur Beseitigung<br />

wirtschaftlicher Hemmnisse bei der Entfaltung des<br />

Wirtschaftssubjektes, später als gegen jeglichen Totalitarisme<br />

gerichteter Anwalt des politischen Bürgers. Hansen<br />

arbeitet klar heraus, daß <strong>kritische</strong> <strong>Theorie</strong> kein unmittelbarer<br />

Wegweiser <strong>für</strong> Liberale sein kann: "Die <strong>kritische</strong><br />

<strong>Theorie</strong> kann dem politischen Liberalismus eher <strong>kritische</strong>s<br />

Regulativ denn konstruktives Konzept sein" (25).<br />

Während sich der Beitrag von M. Wiggershaus auf eine immanente<br />

Darstellung der Geschichte der Frankfurter Schule<br />

beschränkt, wird in den folgenden Beiträgen das Spannungsverhältnis<br />

von <strong>kritische</strong>r <strong>Theorie</strong> und Liberalismus an ausgewählten<br />

und speziellen Problemfeldern diskutiert. Theo<br />

Schiller vergleicht die Positionen zur Frage der Freiheitdes<br />

Individuums und sieht neben unübersehbaren Differenzen<br />

auch eine <strong>kritische</strong> Öffnung des Liberalismus seit dem Freiburger<br />

Programm der FDP hin zu einer Problemstellung, die<br />

mit der <strong>kritische</strong>n <strong>Theorie</strong> geteilt wird: Es ginge um die<br />

Entwicklung einer "moralischen Ökonomie", die praktische<br />

DAS ARGUMENT-BEIHEFT '85


120 Soziologie<br />

Auswege aufzeigt, um die Entfremdung der Tauschgesellschaft<br />

zu überwinden, das Individuum dabei aber zu retten und<br />

nicht an anonyme Staatsbürokratien auszuliefern. M.T. Grevens<br />

Beitrag greift die Liberalismuskritik der frühen <strong>kritische</strong>n<br />

<strong>Theorie</strong> (überzeugend rekonstruiert in den Beiträgen<br />

von H. Dubiel und A. Söllner) auf und betont den Anachronismus<br />

des älteren Liberalismus, der den Funktionserfordernissen<br />

spätkapitalistischer Gesellschaften nicht mehr gerecht<br />

werde, so daß sich die Frage stellt, "ob sich der Liberalismus<br />

nicht eines Tages in der historischen Position<br />

des Anarchismus wiederfinden wird, und zwar als bloß noch<br />

utopisches Ideal der Freiheit eines Individuums, das schon<br />

längst zum bloßen 'Gehäuse der Hörigkeit' verkommen ist"<br />

(99).<br />

Der vorliegende Reader ist ein mutiger und anregender<br />

Versuch, Denkanstöße zu geben, um sich der philosophischen<br />

Grundlagen dessen zu versichern, was wir als 1 'Liberalität"<br />

zu bezeichnen pflegen: die vernunftbestimmte Autonomie<br />

des bürgerlichen Subjekts. Die Berührungspunkte zwischen<br />

Liberalismus und <strong>kritische</strong>r <strong>Theorie</strong> liegen denn auch weniger<br />

in der sich liberal nennenden Realpolitik der FDP, sondern<br />

in der Tradition einer politischen Philosophie der<br />

Emanzipation des Subjekts aus "selbstverschuldeter Unmündigkeit"<br />

(Kant), die in der Französischen Revolution ihren<br />

Ausgang nahm. Hans-Gerd Jaschke (Frankfurt/M.)<br />

Frankreich<br />

Schmidt, Bernhard: Frankreich-Lexikon. Schlüsselbegriffe zu<br />

Wirtschaft, Gesellschaft, Politik, Geschichte, Kultur,<br />

Presse- und Bildungswesen. Band I: Académie - Jours de<br />

France. Unter Mitarbeit von J. Doli, W. Fekl, E. Gerhards,<br />

U.S. Loewe. E. Schmidt Verlag, Berlin/West 1981 (372 S.,<br />

br.)<br />

Der Frankreich-Brockhaus. Namen, Daten, Fakten von A bis Z.<br />

F.A. Brockhaus, Wiesbaden 1982 (320 S., Ln.)<br />

<strong>Das</strong> "Frankreich-Lexikon" geht von französischsprachigen<br />

Stichworten aus und beschränkt sich auf die im Untertitel<br />

aufgezählten gesellschaftlichen Bereiche. Da anderweitig<br />

bereits verfügbar, wurden Literatur, Kunst, Musik ausgespart.<br />

Greifen wir zunächst das Comité d'entreprise heraus, so<br />

ist anzumerken, daß die umstandslose Ubersetzung als "Betriebsrat"<br />

einer weitverbreiteten Falschübersetzung Vorschub<br />

leistet und besser unterblieben wäre, da das CE im<br />

Unterschied zum Betriebsrat nicht allein von der Belegschaft<br />

gestellt wird, nur Befugnisse der technisch-ökonomisch-finanziellen<br />

Beratung der Betriebsleitung (die zudem<br />

den Vorsitz stellt) und nur im Bereich der betrieblichen<br />

DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83


Frankreich 121<br />

Sozialwerke Kontrollvollmachten besitzt. Diese Tatsachen<br />

sind dem Stichwort zwar zu entnehmen, aber eine "verfremdende"<br />

Übertragung - z.B. als "Unternehmenskomitee" - hätte<br />

wohl besser verdeutlicht, daß CE eben nicht einfach der<br />

französische Begriff <strong>für</strong> "Betriebsrat" ist. - Weiterhin<br />

reicht es hier - wie z.B. auch bei Conseil de prud'hommes<br />

- nicht aus, nur das Gründungsdatum anzumerken, ohne die<br />

geschichtliche Entwicklung und Veränderung mit aufzuzeigen:<br />

So wurde der erste Prud'hommesrat von Napoleon 1806 (und<br />

nicht 1801 ; 190) eingerichtet, jedoch mit vier Arbeitern<br />

und fünf Chefs ; erst nach der 48er Revolution führte die<br />

II. Republik die paritätische Besetzung ein. Und bereits 37<br />

Jahre vor dem politischen Wahlrecht, nämlich im Jahre 1907<br />

konnten Frauen im Betrieb wählen.<br />

<strong>Das</strong> Stichwort Dom-Tom informiert leider nur global über<br />

die äußerst verschiedenartigen französischen Überseedepartements<br />

und -gebiete, ohne auf deren jeweilige Spezifik näher<br />

einzugehen: Auf Martinique und Guadeloupe leben ethnische<br />

Gruppen mit eigener Sprache (Kreolisch), aufgrund der<br />

organisierten Arbeitskräftewanderung in die Metropole lebt<br />

jedoch schätzungsweise ein Drittel der beiden Völker in<br />

Frankreich, weswegen Aimé Césaire von der Parti Progressiste<br />

Martiniquais (und nicht Parti Populaire; 230) von "Ethnozid<br />

durch Substitution" spricht. - In diesem Zusammenhang<br />

hätte sich auch ein Stichwort Immigrés angeboten, das über<br />

die Situation der über 4 Millionen Immigranten in Frankreich<br />

informiert. Äußerst informativ sind Beiträge wie<br />

Grandes écoles, wo deren Auslesecharakter knapp und einleuchtend<br />

verdeutlicht wird: nur 2 Prozent der Studenten<br />

stammen aus Arbeiter- und Angestellten-Familien, weniger<br />

als 5 Prozent der IngenieurStudenten sind Frauen (335).<br />

Die Stichworte schließen mit Literaturangaben, ggf.<br />

Adresse, Anlaufstellen, Öffnungszeiten (z.B. Centre Beaubourg).<br />

Insgesamt betrachtet bietet das Lexikon - neben einigen<br />

eher feuilletonistischen Beiträgen (Autogestion; <strong>Institut</strong><br />

de Recherches Marxistes) - sorgfältig fundierte<br />

Kenntnisse, die weit über die vergleichbarer Werke hinausragen.<br />

So finden sich im II. Band, der die Ereignisse seit<br />

dem Machtwechsel im Mai 81 berücksichtigt, zehn Seiten Informationen<br />

Uber Mai 68 (wobei das GewerkschaftsVerständnis<br />

einen plakativen Eindruck macht, da die alte These von der<br />

Führung, die die Basis mühevoll unter Kontrolle halten<br />

will, wieder aufgewärmt wird).<br />

Der Frankreich-Brockhaus stellt einen Auszug der Stichworte<br />

zu Frankreich aus dem Großen Brockhaus in 12 Bänden,<br />

18. Auflage, dar, die geringfügig "ergänzt und aktualisiert"<br />

wurden. Einen Hauptteil dieses Nachschlagewerks machen<br />

die "großen Persönlichkeiten" aus, Uber die allerdings<br />

nur äußerst grobe und knappe Kurzinfos zu erhalten sind:<br />

Die Reihe der Ludwigs ist vorhanden, über Aragon gibt es<br />

ganze vier einspaltige Zeilen, Uber Brassens ebensowenig,<br />

Jacques Tati gar nur zwei Zeilen. Die Auswahl ist zudem oft<br />

DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83


122 Soziologie<br />

willkürlich, es fehlen der Soziologe Bourdieu, Ariane<br />

Mnouchkine vom Théâtre du Soleil, Louise Michel, Regis Debray,<br />

Benoit Frachon und populäre Chansonsänger/innen wie<br />

Barbara, Jean Ferrat oder Leo Ferré (hingegen hat sich das<br />

Stichwort Monacco hineinverirrt). Selbst als Personenléxikon<br />

ist der Brockhaus also nur begrenzt brauchbar. - Die<br />

Ereignisse des Mai 68 werden Uberhaupt nicht erwähnt, nicht<br />

einmal unter "Französische Geschichte". Ähnlich niederschmetterndes<br />

Ergebnis bei dem Stichwort CGT: Während das<br />

Lexikon von Schmidt u.a. diese größte französische Gewerkschaft<br />

fünf Seiten lang darstellt, finden sich im Brockhaus<br />

ganze fünf Zeilen und die auch nur unter dem Stichwort<br />

"Französische Gewerkschaften". Für Frankreich-Interessierte<br />

ergibt sich damit, nach welchem Lexikon er/sie greift.<br />

Wolfgang Kowalsky (Berlin/West)<br />

Debray, Régis: "Voltaire verhaftet man nicht". Die Intellektuellen<br />

und die Macht in Frankreich. Hohenheim Verlag,<br />

Köln 1981 (292 S., br.)<br />

<strong>Das</strong> Buch wird vorgestellt als erster Teil einer geplanten<br />

mehrbändigen Studie zur "Mediologie" (7), die den Zusammenhang<br />

von bürgerlicher Herrschaft, Staat, Massenmedien<br />

und Intellektuellen untersuchen soll. - Bürgerliche Herrschaft<br />

ist heute, so Debray, Herrschaft mittels Massenmedien,<br />

ist Mediokratie (8), denn diejenigen, die in der Regierung<br />

sitzen, besäßen das Monopol auf Meinungssteuerung<br />

(8). Der Informationsapparat habe innerhalb des gesellschaftlichen<br />

Machtsystems die beherrschende Stelle vor politischen,<br />

gewerkschaftlichen und pädagogischen Apparaten<br />

eingenommen (94). Es gelte Schluß zu machen mit dem nichtssagenden<br />

Ritual der begrifflichen Unterscheidung von Staat<br />

und bürgerlicher Gesellschaft, die nur den tatsächlichen<br />

Machthabern in den Beherrschungsapparaten, den Intellektuellen,<br />

zu einem zynischen Alibi verhelfe (8).<br />

Debray will den "begrifflichen Rahmen der modernen französischen<br />

Intelligentsia" (7) herausarbeiten. Er unterscheidet<br />

mehrere Kopfarbeitertypen. Ärzte, Anwälte, Ingenieure,<br />

hohe Beamte, FUhrungskräfte in der Armee, im Klerus<br />

usw. seien zwar intellektuelle Arbeiter, jedoch keine professionellen<br />

Intellektuelle. "Intelligentsia", das sei die<br />

intellektuelle Aristokratie, die sich zu den intellektuellen<br />

Arbeitern verhält wie die Erfinder zu den Anwendern<br />

(30); Debray nennt Maler, Bildhauer, Schriftsteller, Hochschullehrer,<br />

Journalisten. Er unterscheidet hohe und niedrige<br />

"Intelligentsia"; je nachdem, ob sie das Recht haben,<br />

sich der Massenkommunikationsmittel zu bedienen (41). Unerläßliche<br />

Bedingung <strong>für</strong> den privilegierten Zugang zu den<br />

Massenmedien sei die Zugehörigkeit zum intellektuellen Milieu<br />

(Universität, Verlagswesen, Massenmedien), dessen verschiedene<br />

in ihm geprägte Haltungen Debray beschreibt<br />

(116f.). Der organische Intellektuelle modernen Typs vereinige<br />

Spitzenpositionen dieser drei Bereiche in sich, eine<br />

DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83


Sexualerziehung 123<br />

Position bei den Medien sei dabei die Krönung der Karriere<br />

(120). Der Ort der Macht befinde sich, wo die Asymmetrie<br />

zwischen Sender und Empfänger am größten ist, dort seien<br />

die großen Intellektuellen des Augenblicks anzutreffen,<br />

denn nicht das Ausbildungsniveau mache den Intellektuellen,<br />

sondern das Vorhaben, Menschen zu beeinflussen (148). Dies<br />

bringe sie "reflexmäßig" (165) auf die Seite derer, die<br />

über die Medien verfügen. In einer Gesellschaft, i n der sich<br />

gleicher Lebensstandard nach und nach allen ihren Mitgliedern<br />

aufdränge, bedürfe es nicht länger der Bestechung<br />

durch Geldmittel. "Etwas sein" heiße heute: <strong>für</strong> andere zählen,<br />

wenig sein <strong>für</strong> einige, viel sein <strong>für</strong> viele andere<br />

(169). Daher reiche es aus, wenn die Bourgeoisie die Herrschaftsmittel<br />

Zeitungspapier und elektronische Medien einsetzt.<br />

Die Organisierung von Zustimmung zur bürgerlichen<br />

Klassenherrschaft schrumpft in Debrays Vorstellung zur<br />

"Lenkung der Köpfe" (8, s.a. 140, 223). Die Herrschenden<br />

senden, die Beherrschten empfangen, und "wo das große Medium<br />

ankommt, wächst der militante Revolutionär nicht mehr<br />

nach" (174).<br />

Debrays Reduktion des modernen organischen Intellektuellen<br />

auf ein vom "Ehrgeiz" nach Beeinflussung der Massen gepacktes<br />

Individuum, das der Verlockung, am Ort mit der besten<br />

"Akustik" zu sprechen, nicht entsagen kann, ist aufgrund<br />

des Instrumentalismus ein Rückfall hinter Gramscis<br />

Funktionsbestimmungen der Intellektuellen. Zu einer <strong>Theorie</strong><br />

des Ideologischen, speziell zur Frage, wie ideologische<br />

Vergesellschaftung von Intellektuellen durch Intellektuelle<br />

zu begreifen ist, vermag dieses Buch wenig beizutragen. Es<br />

ist aus çiem verkürzten Blickwinkel einer Anklage der Beeinflussungsapparatur<br />

des herrschenden Blocks unter Giscard d 1<br />

Estaing geschrieben. Die neuen politischen Ereignisse - Regierungswechsel<br />

, Debray avanciert zum Präsidentenberater<br />

Mitterands, ist nun also selbst "Intelligentsia" und "Mediokrat"<br />

- übersteigen den theoretischen Horizont dieses<br />

1979 in Frankreich erschienen Buches.<br />

Jörg Tuguntke (Berlin/West)<br />

ERZIEHUNGSWISSENSCHAFT<br />

Sexualerziehung<br />

Amendt, Günter: <strong>Das</strong> Sexbuch. Weltkreis-Verlag, Dortmund<br />

1979 (252 S., br.)<br />

Cousins, Jane: Make it Happy. Rowohlt Verlag, Reinbek 1980<br />

(206 S., br.)<br />

Jaeggi, Eva: Auch Fummeln muß man lernen. Bund-Verlag, Köln<br />

1980 (76 S., br.)<br />

DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83


124 Erziehungswissenschaft<br />

Kentier, Helmut: Eltern lernen Sexualerziehung. Rowohlt<br />

Verlag, Reinbek 1981 (152 S., br.)<br />

Kunstmann, Antje: Mädchen. Sexualaufklärung emanzipatorisch.<br />

Weismann Verlag, München 1976 (96 S., br.)<br />

Make it happy - Auch Fummeln muß man lernen - Sexbuch -<br />

Mädchen, Sexualaufklärung emanzipatorisch - Eltern lernen<br />

Sexualerziehung - Sexualinformation <strong>für</strong> Jugendliche<br />

Beim ersten Sichten und Durchblättern der Aufklärungsbücher<br />

spüre ich widersprüchliche Gefühle bezüglich der Offenheit<br />

und Deutlichkeit, mit der Liebende in den verschiedensten<br />

Stellungen, beim Vor- und beim Nachspiel, beim Petting und<br />

beim Onanieren gezeigt werden; Querschnitte durch innere<br />

und äußere Geschlechtsorgane von Frauen und Männern; Verhütungsmittel;<br />

Großaufnahmen, wie Pessare eingeführt werden.<br />

Hätte ich mir meine Aufklärung damals in dieser Direktheit<br />

gewünscht?<br />

Ich denke zurück an meine Kindheit, in der es ein heißbegehrtes<br />

Buch, das Gesundheitsbuch meiner Mutter, gab. <strong>Das</strong><br />

einzige in der Familie, das Darstellungen von nackten Männer-<br />

und Frauenkörpern enthielt. Es war, statt wie die anderen<br />

Bücher im Bücherschrank zu stehen, im Wäscheschrank<br />

im Elternschlafzimmer versteckt. Unausgesprochen, aber dennoch<br />

klar, war es <strong>für</strong> uns Kinder verboten, darin zu schmökern.<br />

Deshalb war es besonders anziehend. Oder die Zeitschrift<br />

"Stern". Die war ebenfalls <strong>für</strong> uns Kinder nicht zugänglich;<br />

da wurde angeblich zuviel "Fleischbeschau" betrieben.<br />

Grund genug, um neugierig zu werden. Ich merke,<br />

wie ich die widersprüchlichen Gefühle nach der Seite der<br />

Zustimmung aufzulösen beginne. Endlich Schluß mit der Prüderie<br />

und Geheimniskrämerei.<br />

Was wollen die Sexualaufklärer? - Zunächst Sexualität<br />

befreien. - Sie setzen dabei unterschiedliche Schwerpunkte.<br />

Die einen vermitteln vor allem Wissen über den Körper, über<br />

die Entwicklung zum Geschlechtskörper und die damit verbundenen<br />

Funktionsfähigkeiten, über Verhütungsmöglichkeiten,<br />

Abtreibung, über verschiedene sexuelle Praxen (Selbstbefriedigung;<br />

Homo-, Hetero-, Bisexualität). Andere stellen<br />

die Notwendigkeit in den Vordergrund, sexuelle Erlebnisfähigkeit<br />

zu lernen. Dazu thematisieren sie Gefühle, Wünsche,<br />

Hoffnungen, die wir mit Sexualität verbinden; die Ängste<br />

vor dem "ersten Mal" oder die Angst vor dem sexuellen Versagen.<br />

Es geht außerdem um Lust und Freude sowie um den Genuß<br />

des eigenen und fremden Körpers. Die Bücher fungieren<br />

als praktische Ratgeber, sie vermitteln Techniken. Sexualität<br />

soll enttabuisiert werden. Obwohl ich es "irgendwie"<br />

richtig finde, was in den Aufklärungsbüchern steht, kann<br />

ich meine widersprüchlichen Gefühle doch nicht ganz nach<br />

der Seite der Zustimmung auflösen. Es bleiben Vorbehalte<br />

gegen die vorgeführte "Aufgeklärtheit". Was hindert mich an<br />

begeisterter Zustimmung? Vermutlich die eigene Erfahrung,'<br />

daß meine Gefühle der Scham, meine Ängste und Unsicherheiten<br />

bei der Suche nach "der" sexuellen Identität, sehr viel<br />

tiefer sitzen, hartnäckiger sind, als daß sie allein durch<br />

DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83


Sexualerziehung 125<br />

Vermittlung von Wissen vertrieben werden könnten.<br />

Zum Beispiel die Onanie. - Eva Jaeggi schreibt: "Wenn<br />

auch sexuelle Gefühle schon vielen Jungen im Vorschulalter<br />

bekannt sind - die meisten beginnen erst mit 10, 11 Jahren<br />

sich selbst zu .befriedigen. Von der späten Pubertät an tun<br />

es so gut wie alle. Allerdings mit unterschiedlich gutem<br />

oder schlechtem Gewissen. Obwohl das Onanieren Spaß macht<br />

und keinem schadet" (11). Jaeggi klärt uns auf, Onanie ist<br />

normal, natürlich, alle tun es. Zunächst sind alle Jungen<br />

gemeint. Mit der Versicherung der Normalität arbeitet sie<br />

gegen Schuldgefühle. Problematisch bleibt das Imaginäre des<br />

Sozialen in der Onanie und damit die Be<strong>für</strong>chtung, es möchten<br />

die Schuldgefühle so nicht auflösbar sein, das Verbot<br />

nicht ihre einzige Quelle.<br />

Ein wenig verwirrend fand ich auch die Andeutung von Gefährlichkeit<br />

bei der Onanie durch Versicherung des Gegenteils<br />

mit Verweis auf die Kraft der Jugend: "Macht euch<br />

keine Sorgen darüber, daß Onanieren euch selbst schaden<br />

könnte. Ein junger Organismus ist dadurch nicht umzuwerfen"<br />

(11). "Mancher meint, er sei 'pervers', wenn er mal vor dem<br />

Spiegel onaniert. Oder auch homosexuelle Phantasien hat.<br />

<strong>Das</strong> alles tun aber viele Jugendliche, die später völlig<br />

normale und befriedigende Beziehungen zu Mädchen haben. In<br />

jedem Menschen ist eben auch ein Stück Homosexualität versteckt.<br />

Und im Grunde ist es ganz gut, dies auch mal zu erleben.<br />

Es bewahrt vor dummen Vorurteilen gegenüber der Homosexualität"<br />

(llff.).<br />

Jaeggi vermittelt: Onanie und homosexuelle Phantasien<br />

brauchen nicht beängstigend zu sein, da sie <strong>für</strong> viele<br />

Durchgangsstadium sind. Denn zum Glück werden die meisten<br />

später doch "normal" und leben dann auch "befriedigend"?<br />

Jugendliche sind <strong>für</strong> die Autorin offensichtlich nur Jungen.<br />

Jaeggi benutzt hier die "Perversion" und bestimmt dadurch<br />

Normalität. Die in den Zitaten versteckte Zustimmung zur<br />

Normalität zeigt selbst eine Fragwürdigkeit der rein rationalen<br />

Aufklärung, die das Entstehen der Gefühle nicht mituntersucht:<br />

Diese Gefühle sind so sehr Teil der Persönliqhkeit<br />

geworden, daß die Aufklärende noch in ihren aufklärenden<br />

Worten von ihnen bestimmt ist.<br />

Jaeggi empfiehlt, Ängste vor sexueller Leistungsfähigkeit,<br />

vor möglichem sexuellen Versagen, vor Orgasmusschwierigkeiten<br />

zu artikulieren und sich dadurch den Druck der<br />

Perfektion zu nehmen. Dazu eine knappe Einschätzung der Ursachen<br />

der Angst: "Angst entsteht meistens aus einem zu hohen<br />

Leistungsdruck. Wir bilden uns ein, beim Bumsen müßten<br />

wir genauso funktionieren wie bei der Arbeit. <strong>Das</strong> eine hat<br />

aber mit dem anderen nichts zu tun" (18ff.). "Man muß nicht<br />

immer und jederzeit 'perfekt' bumsen können. Seht das alles<br />

ein wenig einfacher. Vielleicht wie einen langsamen vergnüglichen<br />

Spaziergang" (18). "Wenn der Geschlechtsverkehr<br />

nicht gleich gelingt, sprecht darüber ... Denkt daran: ihr<br />

habt noch viel Zeit bis es 'ganz richtig' klappt" (18).<br />

DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83


126<br />

Erziehungswissenschaft<br />

Empfohlen wird die entspannte Haltung des Spaziergängers,<br />

dessen Entspannung allerdings vorgeschrieben wird. Sie soll<br />

von der Anspannung ablenken, um dann die richtige Entspannung<br />

erreichen zu können. Es muß "richtig sein", aber die<br />

Anstrengung, das "Richtige" zu erreichen, muß entspannt geschehen.<br />

So wird dem Druck, das Richtige zu tun, der Druck<br />

hinzugefügt, keinen Druck zu empfinden 1 .<br />

<strong>Das</strong> Reden über sexuelle Wünsche oder Probleme erinnert<br />

an Gebrauchsanweisungen <strong>für</strong> elektrische Geräte. Die Genauigkeit<br />

der Beschreibung soll die richtige Bedienung garantieren<br />

und Störfaktoren ausschalten. Die Aufforderung, über<br />

alles zu reden, um größtmögliche sexuelle Befriedigung zu<br />

erfahren, macht die einzelnen individuell da<strong>für</strong> verantwortlich<br />

, ob und wie sie diesen Glücksanspruch einzulösen in<br />

der Lage sind.<br />

Genuß. - Zentrale, im sexuellen Bereich handlungsanleitende<br />

Kategorie, ist der individuelle Genuß. Damit Sexualität<br />

Lust und Spaß macht, ist alles erlaubt, was beiden gefällt.<br />

Lediglich eine Einschränkung gilt es zu beachten: Es<br />

darf keinem schaden. Wo bei Wojtyla (vgl. das Kapitel "Kirche<br />

und Sexualität", in: Frigga Haug, Hrsg.: Sexualisierung<br />

der Körper. <strong>Argument</strong> Sonderband 90, Berlin/West 1983) die<br />

Liebespartner durch die wohlwollende Liebe verbunden sind,<br />

und bei Kentier die Sexualität ein Mittel darstellt, den<br />

anderen Menschen zu "erkennen" und selbst "erkannt zu werden"<br />

(14ff.) sind <strong>für</strong> Jaeggi, Cousins und Kunstmann in Liebesbeziehungen<br />

Regelungen vorhanden, die einem Vertrag ähneln.<br />

Die Autoren scheinen anzunehmen, daß zwei Menschen,<br />

die sich kennenlernen, kein anderes Interesse aneinander<br />

haben, als die Befriedigung ihrer individuellen sexuellen<br />

Lust. Dieses Interesse bringt sie zudem in einen Gegensatz<br />

zueinander. Also muß es Regeln geben, damit beide nicht<br />

übereinander herfallen. Die Regeln bestehen darin, jeweils<br />

die eigenen Bedürfnisse zu äußern und dem/der anderen Grenzen<br />

zu_setzen. Als letzte Ethik haben wir ein wechselseitiges<br />

Obligationsverhältnis. Im Kapitel Sklavin (in: Haug<br />

1983 a.a. 0.) haben wir den Begriff diskutiert, der die Fähigkeiten<br />

bezeichnet, solche Regelungen zu kennen und sich<br />

in ihnen zu bewegen: Soziale Kompetenz. Eine Seite der sozialen<br />

Kompetenz war dort die Kenntnis der Grenzen zwischen<br />

sexuell und nichtsexuell aufreizend. Hier, bei den liberalen<br />

Sexualerzieherfji, kommt der Liebespartner als Grenze<br />

vor, die man respektiert, dem man keinen Schaden zufügt.<br />

Die einzige Gemeinsamkeit zwischen Liebenden scheint die zu<br />

sein, sich gegenseitig als Grenze seiner ungezügelten Lust<br />

anzuerkennen.<br />

Auch Helmut Kentier will Aufklärung in Form von Wissen<br />

gegen die komplizierten Zusammenhänge setzen, in denen unsere<br />

Gefühle von Scham, Angst und Ekel entstanden sind und<br />

uns fesseln. Jedoch reduziert er Sexualität nicht auf einfache<br />

Techniken, sondern versucht sie als Lebensform zu begreifen,<br />

in der wir körperlichen Genuß mit emotionaler Be-<br />

DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83


Sexualerziehung 127<br />

reicherung verbinden können. Weder die Ehe noch heterosexuelle<br />

Liebesbeziehungen bleiben bei Kentier die Norm. Die<br />

Perspektive <strong>für</strong> glückliche Liebesbeziehungen liegt <strong>für</strong> ihn<br />

dennoch in langdauernden, monogamen Beziehungen: "Gegenseitiges<br />

Verstehen und Liebe gelten als Voraussetzung <strong>für</strong> die<br />

Aufnahme ernstgemeinter sexueller Beziehungen, dauernde gegenseitige<br />

Treue wird als Hochform eines sexuellen Verhältnisses<br />

angesehen ..." (15).<br />

Nun muß man nicht <strong>für</strong> Promiskuität sein, um diese Aussagen<br />

problematisch zu finden. <strong>Das</strong> Problem liegt auch hier<br />

wieder nicht in dem Vorschlag selbst, sondern in dem selbstverständlichen<br />

Akzeptieren, daß Sexualität in einer monogamen<br />

Beziehung zu leben sei. Ein Ausbrechen aus dieser Konstruktion<br />

würde es ermöglichen, die Frage der Monogamie<br />

ganz anders zu stellen: Welche Lüste und Genüsse wollen wir<br />

in welchen Beziehungen leben? Welche wollen wir in größeren<br />

Kollektiven leben, welche andere Art von Genuß ist das Leben<br />

einer langdauernden Zweierbeziehung? Um Mißverständnissen<br />

vorzubeugen: Ich will an dieser Stelle nicht einer<br />

Trennung in schnelle, kurze, oberflächliche Sex-Beziehungen<br />

und der langdauernden "eigentlichen" Liebe das Wort reden.<br />

Es geht um die Reduktion aller Emotionen zwischen Menschen<br />

auf die zwischen zwei sich sexuell Betätigenden.<br />

Zum Geschlechterverhältnis. - Sexualität wurde uns von<br />

Sexualerziehern als ein oder besser der Bereich vorgestellt,<br />

in dem Glück gesucht wird und erringbar ist. Wie steht es<br />

um das Glück der Frau, wie wird ihre Sexualität vorgestellt?<br />

Die Herrschaft in den Geschlechterbeziehungen ist das Thema,<br />

das die Sexualerzieher hier behandeln müßten.<br />

Günter Amendt stellt beispielsweise fest, daß die meisten<br />

Mädchen später mit der Masturbation beginnen als die<br />

Jungen, manchmal erst als erwachsene Frauen. In der sexuellen<br />

Beziehung zu einem Mann benötigen Frauen ebenfalls mehr<br />

Zeit, ihre sexuelle Erregung verlaufe langsamer. Unterschiede<br />

zwischen männlicher und weiblicher Sexualität führt<br />

der Autor quantitativ vor, die Zeit wird zum Maßstab: früher/später,<br />

langsamer/schneller. Irigarays Behauptung, das<br />

"Männliche" sei der Maßstab <strong>für</strong> das "Weibliche", finden wir<br />

hier bestätigt. Wechseln wir das Subjekt, müßte es etwa<br />

lauten: die Männer brauchen zuwenig Zeit. <strong>Das</strong> zu erreichende<br />

Ziel wäre demnach, beide sollten gleich schnell sein.<br />

Der Ungleichheit der Geschlechter, ihren unterschiedlichen<br />

Geschwindigkeiten, läge die unterschiedliche Erziehung zugrunde:<br />

Nicht die "weibliche Natur", sondern die "lustfeindliche<br />

Erziehung der Mädchen" und die "falsche" "...<br />

Vorstellung, die auch heute noch manche Mutter an ihre<br />

Tochter weitergibt, daß weibliche Sexualität <strong>für</strong> den Mann<br />

dazusein habe" (18). Die "Gleichheit" der Geschlechter wäre<br />

dann durch gleiche Erziehung zu erreichen. Was können die<br />

Frauen nun tun? Sie _können versuchen, "zurückzubiegen", was<br />

in ihrer Erziehung "verbogen" wurde oder um Rücksicht bitten.<br />

DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83


128 Erziehungswissenschaft<br />

An anderer Stelle spricht Amendt von "FrauenunterdrUkkung":<br />

"Im Verhältnis der Geschlechter ist Gewalt gegen<br />

Frauen angelegt" (174). Die sexuellen Praxen zwischen Mann<br />

und Frau vergleicht er mit einem "Ringkampf". Aber: Alltagserfahrungen<br />

würden nicht ausreichen, um die "wirklichen<br />

gesellschaftlichen Ursachen" der Frauenunterdrückung zu erklären<br />

(170). Und er fragt, ob man die Männer schon heute<br />

ändern könne, ohne die Produktionsverhältnisse geändert zu<br />

haben (164). Viele Männer würden im Orgasmus der Frau die<br />

Bestätigung ihrer Potenz sehen, und das führe zu psychischem<br />

Druck und Orgasmusschwierigkeiten der Frauen (83). Nicht<br />

nur die sexuelle Erregung der Frauen verlaufe langsamer,<br />

auch brauchten sie "... einen Zustand von Ruhe und Gelassenheit,<br />

um sich auf einen Sexualpartner einzustellen"<br />

(68f.). Sollen wir daraus schließen, daß die Unterdrückung<br />

der Frau daraus resultiert, daß die Geschlechter unterschiedliche<br />

Geschwindigkeiten haben? Weil die Frauen "langsamer"<br />

sind, besteht die Gefahr, daß die Männer sie unter<br />

Druck setzen, Gewalt anwenden? Die Geschlechterfrage wird<br />

so zu einem Problem der Gleichzeitigkeit oder Ungleichzeitigkeit.<br />

Andere Autoren, wie z.B. Eva Jaeggi, gehen Uber zeitliche<br />

Differenzen zwischen den Geschlechtern hinaus. Fast alle<br />

Jungen befriedigten sich selbst, es mache Spaß und schaffe<br />

ein kleines Stück Freiheit <strong>für</strong> den einzelnen. Dem Kapitel<br />

"Onanie bei Jungen" läßt sie die Selbstbefriedigung der<br />

Mädchen folgen unter der Überschrift: "Leid mit der Lust".<br />

Was hat es mit dem "Leid" der Mädchen auf sich? Nur ungefähr<br />

50 Prozent würden onanieren, zum einen weil sie sich<br />

nicht trauten, d.h. Angst hätten (wovor?), zum anderen<br />

"konzentrieren sich beim Mädchen sexuelle Gefühle nicht so<br />

deutlich auf die Geschlechtsorgane" (13). Die Autorin<br />

schreibt weiter: "Mädchen, die früh onanieren und sich daran<br />

gewöhnen, einen Orgasmus zu haben, haben später weniger<br />

Schwierigkeiten bei Männern" (13). Was den Jungen Lust,<br />

Spaß und ein Stückchen "Freiheit" verschafft, tritt bei den<br />

Mädchen als Gewöhnung an einen Orgasmus auf. Was bei den<br />

Jungen schon das "Eigentliche" ist, ist es bei den Mädchen<br />

noch nicht. Der augenblickliche Genuß steht nicht im Vordergrund,<br />

sondern die Einübung in das spätere Zusammensein<br />

mit einem Mann. Aber dieser spätere, eigentliche Genuß der<br />

Mädchen ist auch gebrochen, da die Autorin von "weniger<br />

Schwierigkeiten" spricht. Weibliche Lust und Leid hängen<br />

hier unmittelbar zusammen, sind ineinander verwoben. Aber<br />

was ist das Leidvolle? Warum geht Jaeggi überhaupt davon<br />

aus, daß es "Schwierigkeiten" geben wird? Und welcher Art<br />

sind sie? Welche Erklärungen bietet uns die Autorin? "<strong>Das</strong><br />

Onanieren ist gerade <strong>für</strong> Frauen mit ihrem etwas komplizierten<br />

Sexualleben eine 'gute Übung' <strong>für</strong> den Orgasmus. Er tritt<br />

anfangs beim Onanieren etwas leichter ein als beim Verkehr<br />

mit dem Mann. <strong>Das</strong> ist aber gut so, weil Frauen dadurch lernen,<br />

sich ihren sexuellen Gefühlen hinzugeben" (13f.).<br />

DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83


Sexualerziehung 129<br />

Selbstbefriedigung wird angeboten als eine gute Übung bzw.<br />

Vorbereitung auf die spätere heterosexuelle Praxis. Frauen<br />

sollen Hingabe lernen - warum ist das "gut"?<br />

<strong>Das</strong> "Komplizierte" lebt von seinem Gegenbegriff, dem<br />

"Einfachen". Was ist einfaches, was kompliziertes Sexualleben?<br />

Welchen Maßstab legt Jaeggi an, nach welchen Kriterien<br />

beurteilt sie und woher nimmt sie diese Kriterien? Man<br />

könnte doch auch sagen, der Mann habe ein kompliziertes Sexualleben,<br />

weil er die Frau nicht so gut befriedige. Auch<br />

Jaeggi spricht vom Standpunkt des Männlichen. Indem von<br />

"etwas kompliziert" die Rede ist, findet zum einen eine Abwertung<br />

der weiblichen Sexualität statt - sie funktioniert<br />

nicht so richtig, wie es sein sollte. Zum anderen wird sie<br />

aufgewertet, sie erfordert Kennenlernen, Übung, sie hebt<br />

sich ab vom Einfachen, Unkomplizierten, dem Männlichen. Eine<br />

Mystifizierung findet statt; man weiß nicht, was das andere,<br />

das Komplizierte ausmacht. <strong>Das</strong> erinnert an die Vorstellung,<br />

jede Frau habe etwas Geheimnisvolles, Unergründliches,<br />

von dem die Männer nicht wissen, was es ist, und<br />

die Frauen selbst meist auch nicht. Jaeggi wertet die Verschiedenheit<br />

der Geschlechter als Mangel der Frau. Ihre Angebote<br />

sind biologisch-technische: übt Selbstbefriedigung.<br />

<strong>Das</strong> Herrschaftsverhältnis wird so bestätigt, ohne daß es<br />

benannt wird.<br />

Antje Kunstmann wendet sich mit ihrem Buch direkt an die<br />

Mädchen: "In der Schule, im Beruf, in der Öffentlichkeit:<br />

überall wirkt sich die Tatsache, daß du eine Frau bist,<br />

wertmindernd aus, werden dir die <strong>für</strong> Männer und Jungen<br />

selbstverständliche Frechheiten verwehrt, gilt eine andere,<br />

strengere Moral <strong>für</strong> dich als <strong>für</strong> den Mann." Die gesellschaftliche<br />

Stellung der Frauen sieht sie wesentlich durchs<br />

(biologische) Geschlecht bestimmt, das Frausein sei nicht<br />

nur eine "sexuelle Angelegenheit" (11). Als Ursache benennt<br />

sie, ebenso wie Amendt, die Erziehung der Mädchen.<br />

Ein Problem sieht die Autorin darin, daß der "gesellschaftliche<br />

Druck" so stark sei, daß Frauen oft ihre "ureigensten<br />

Bedürfnisse" (12) nicht kennen würden. Sie fordert<br />

die Mädchen dazu auf, sich ihre Wünsche einzugestehen, sie<br />

hätten ein Recht darauf. "Wichtig dabei ist nur, daß es<br />

beiden gefällt. Beiden! Wir Mädchen neigen nämlich durchaus<br />

dazu, gegenüber den Jungen zurückzustecken und sind oft<br />

schon zufrieden, wenn nur er recht glücklich dabei ist. <strong>Das</strong><br />

ist verkehrt. Fordere, daß er auf dich eingeht. Du hast ein<br />

Recht darauf. Ganz abgesehen davon, daß Unbefriedigtsein<br />

dich nervös macht und eure ganze Beziehung zerstören kann"<br />

(3). Hier wird ein Kampf angedeutet, aber nicht weiter vorgeführt.<br />

Gemeint sind die zwischen Männern und Frauen existierenden<br />

unterschiedlichen Wünsche, Bedürfnisse, Formen<br />

der Durchsetzung der eigenen Interessen. So ist es sicher<br />

ein Fortschritt <strong>für</strong> Frauen, sich in sexuellen Beziehungen<br />

nicht nur <strong>für</strong>sorglich zu verhalten, dem anderen wohlzuwollen,<br />

die eigenen Bedürfnisse dabei zurückzustellen, sondern<br />

DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83


130 Erziehungswissenschaft<br />

die eigenen Lüste zu entdecken und sie auch zu leben versuchen.<br />

Führt Kunstmann <strong>für</strong> den "öffentlichen" Bereich noch<br />

die Benachteiligung der Frau an und ihre Unterordnung, die<br />

dem Wohl des Mannes diene, gilt das <strong>für</strong> den privaten Bereich<br />

der gegengeschlechtlichen Liebe nicht mehr: Hier wird<br />

die Lust oder Unlust zur entscheidender^ Frage.<br />

Jane Cousins schreibt: '"Sex ist der Preis, den Frauen<br />

<strong>für</strong> die Ehe zu zahlen haben, und die Ehe ist der Preis, den<br />

Männer <strong>für</strong> den Sex zu zahlen haben', war einer von den dummen<br />

Sprüchen, die damals ziemlich üblich waren. Auch heute<br />

noch denken viele Menschen, daß Mädchen oder Frauen weniger<br />

sexuelle Bedürfnisse haben als Männer. Aber Sexualität ist<br />

nicht etwas, das <strong>für</strong> Männer und Frauen völlig gegensätzlich<br />

und unterschiedlich ist. <strong>Das</strong> Wichtigste ist, daß jeder von<br />

uns, gleichgültig ob Junge oder Mädchen, <strong>für</strong> sich herausfindet,<br />

was er gern mag" (73). Cousins sieht keine grundsätzlichen<br />

Unterschiede zwischen weiblicher und männlicher<br />

Sexualität. <strong>Das</strong> Geschlechterverhältnis erscheint bei ihr<br />

als bestimmt durch gesellschaftliche Rollenzuweisungen, die<br />

sie als "unfair" bezeichnet.<br />

Auch und gerade durch die sexuelle Anordnung wird das<br />

Unterdrückungsverhältnis zwischen den Geschlechtern gelebt<br />

und spitzt sich in besonderer Weise zu. Mit Verwunderung<br />

stellten wir fest, daß die Autor/inn/en das Problem nicht<br />

verhandeln. Sie gehen zwar auf die unterschiedliche Sexualerziehung<br />

von Jungen und Mädchen ein, auf unterschiedliche<br />

Gefühle und Wünsche. Aber das Geschlechterverhältnis ist<br />

bei ihnen ein Problem des biologischen Unterschieds, nicht<br />

dagegen ein gesellschaftliches Unterdrückungsverhältnis.<br />

Ein positiver Aspekt in den Sexualaufklärungsbüchern ist,<br />

daß die Autoren sich darum bemühen, die Frauen nicht als<br />

passive Wesen zu verhandeln, die nichts zu fordern hätten.<br />

Die liberalen Sexualerzieher stimmen darin überein, daß<br />

die Andersartigkeit der Frau gesellschaftliche Ursachen habe,<br />

sie sei ein Resultat der Erziehung. <strong>Das</strong> Unterdrückungsverhältnis<br />

in den gegengeschlechtlichen Beziehungen transformieren<br />

sie in eine Frage der Ungleichheit. <strong>Das</strong> Glück<br />

oder Unglück ist in die Hände der einzelnen gelegt, es ist<br />

erlangbar über die Kenntnis und Anwendung technischer Regeln.<br />

Was in der Gesellschaft nicht möglich ist, scheint in<br />

der Privatheit erreichbar: die Gleichheit. Die Handlungsanweisungen<br />

der Sexualerzieher: Entdeckt Eure Bedürfnisse,<br />

sprecht darüber mit Eurem Partner, nehmt Euch Zeit zum<br />

Üben, und Ihr könnt glücklich sein. <strong>Das</strong> Herrschaftsverhältnis<br />

zwischen Mann und Frau wird zu einem äußerlichen Verhältnis,<br />

aus dem man aussteigen kann, wenn man nur genug<br />

Willen hat und fleißig übt. <strong>Das</strong> Geschlechterverhältnis reduziert<br />

sich auf mögliche Mißverständnisse, die durch Reden<br />

und Technik behoben werden können. <strong>Das</strong> Glück ist abhängig<br />

von der Lust bzw. Befriedigung der Lust, und Lust ist die<br />

eine Lust, vereindeutigt auf genitale Praxen. Die Perspek-<br />

DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83


Sexualerziehung 131<br />

tive, das Glück tragen wir quasi schon in uns, es gibt keinen<br />

Kampf mehr, wenig, um das noch gerungen werden muß.<br />

Ursula Lang (Berlin/West) und Erika Niehoff (Hamburg)<br />

Fehrmann, Helma, Jürgen Flügge und Holger Franke: Was heißt<br />

hier Liebe? Ein Spiel um Liebe und Sexualität <strong>für</strong> Leute in<br />

und nach der Pubertät. Kinder- und Jugendtheater Rote Grütze.<br />

Weismann Verlag, München 1977, 1981 (100 S., br.)<br />

<strong>Das</strong> Büch ist ein soziales Ereignis auf wenigstens vier<br />

Ebenen: Als Buch ist es im vierten Jahr in der siebten Auflage<br />

(23.000 Exemplare). Als pädagogisches Lehrstück wurde<br />

es in der BRD in vielen Städten und Jugendheimen aufgeführt.<br />

Die Begutachtungskommission des Theaters <strong>für</strong> Schulen<br />

in Westberlin gab dem Stück das Prädikat "pädagogisch sehr<br />

empfehlenswert"; und schließlich löste es, wo es gespielt<br />

wurde, heftige Diskussionen aus, die teilweise abgedruckt<br />

sind; Flugblätter gegen Sittenverfall und sexuelle Enthemmung<br />

begleiten die Auftritte.<br />

Dabei ist der Inhalt selber denkbar bescheiden. Zwei<br />

fünfzehnjährige Jugendliche mögen einander. Bis sie zusammen<br />

schlafen, gibt es einige Hindernisse, die aus dem Weg<br />

geräumt werden müssen: Verbote der Eltern sind zu umgehen;<br />

ein Ort muß gefunden werden; Unwissenheit und Schüchternheit<br />

werden überwunden. Ein Satz Helmut Kentiers, daß sexuelle<br />

Schwierigkeiten soziale Ursachen haben, bestimmt das<br />

Stück und wird so verstanden: alles ist "normal" und "natürlich",<br />

von der Onanie über gleichgeschlechtliche Liebe<br />

bis hin zur krönenden Vereinigung von Junge und Mädchen. Scham,<br />

Scheu und Angst können leicht überwunden werden, wenn man<br />

nur alles offen ausspricht und gemeinsam handelt. Die beiden<br />

sollen Verhütungsmittel nehmen, zärtlich sein und den<br />

ganzen Körper lieben. Gut gelingt die Verballhornung des<br />

schulischen Sexualkundeunterrichts, aus dem alles Soziale<br />

zugunsten von Funktionsweisen getilgt ist. Die von solchen<br />

Richtlinien gepeinigten Lehrer werden sicher dankbar nach<br />

dem Stück greifen. Dabei könnte man ärgerlich werden angesichts<br />

der Sorglosigkeit, mit der Schulprobleme auf ein<br />

schlechtes Mutter-Sohn-Verhältnis heruntergespielt werden<br />

und Eltern als die Zwingburg gegen die sexuelle Entfaltung<br />

der Kinder erscheinen. Und schließlich beunruhigt die fröhliche<br />

Art, mit der nicht nur alle sonstigen Probleme unter<br />

den Teppich gekehrt werden, sondern in der auch die sexuellen<br />

Praxen selber wie ein angenehmer Sonntagsspaziergang<br />

anmuten, hat man nur die richtige Einstellung. Solche Kritik<br />

trifft das Buch <strong>für</strong> sich genommen. Betrachtet man es in<br />

seinem Wirkungsfeld, werden seine Mängel sicher noch <strong>für</strong><br />

einige Zeit das kleinere Übel sein. Die Szene ist immer<br />

noch bestimmt durch kirchliche Moralvorstellungen, in denen<br />

Jungfräulichkeit, Wert, Sinn und Achtung in einem Atemzug<br />

genannt werden und vorführen, wie Vergesellschaftung auf<br />

dem Sexualtabu auch aufbaut. Durchkreuzt werden diese<br />

Kraftlinien von einer Enttabuisierung, in der hauptsächlich<br />

DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83


132 Medizin<br />

alles einmal ausgesprochen wird, entgeheimnist und banalisiert<br />

zur Funktionskunde im Sexualkundeunterricht. Diese<br />

pädagogischen Versuche spielen vor einem Hintergrund ständigen<br />

sexuellen Reizes durch Werbung, Film, Medien. In diesem<br />

Kontext hat das Buch das Verdienst, einige Schwierigkeiten<br />

von Jugendlichen aufzugreifen und Diskussionen zu<br />

initiieren, die Lösungen vorbereiten können. Die Gängelung<br />

der Gesellschaftsmitglieder durch die Reglementierung des<br />

Sexuellen scheint vorüber durch solche Überführung von Sexualität<br />

in den "angstfreien" Raum des Normalen, Alltäglichen.<br />

Falls das Fundament einer solchen Vergesellschaftung<br />

allerdings in der Isolierung der sexuellen Praxis von allen<br />

anderen sozialen Praxen der Menschen lag, handelt es sich<br />

nur um eine Verschiebung. Frigga Haug (Berlin/West)<br />

MEDIZIN<br />

Frau und Gesundheit<br />

Pinding, Maria und Herrmann Fischer-Harriehausen: Hauskrankenpflege<br />

und Hauspflege in zwei <strong>Berliner</strong> Bezirken. Eine<br />

Untersuchung zum Praxisfeld ambulante Versorgung. <strong>Institut</strong><br />

<strong>für</strong> Sozialmedizin und Epidemiologie, Berichte des Bundesgesundheitsamtes.<br />

Dietrich Reimer Verlag, Berlin/West 1982<br />

(64 S., br.)<br />

Auf Grund des Krankenhausfinanzierungsgesetzes vom 29.6.<br />

1972, dessen Anspruch es ist, die Krankenhäuser zu entlasten,<br />

wurde vom Senat von Berlin in Zusammenarbeit mit den<br />

Verbänden der freien Wohlfahrtspflege das Projekt Modellversuch<br />

Hauskrankenpflege vom September 1978 bis Dezember<br />

1980 durchgeführt. Es sollte damit überprüft werden, ob<br />

dieser Spareffekt durch das Angebot an qualifizierter häuslicher<br />

Pflege erreichbar ist. Qualifiziert bedeutet hier<br />

Hauskrankenpflege, die Grundpflege (Betten, Lagern, Körperpflege)<br />

und Behandlungspflege (z.B. Injektionen, Verbandwechsel,<br />

Spülungen) beinhaltet. Die hier vorliegende wissenschaftliche<br />

Begleituntersuchung wurde im Auftrag des Senators<br />

<strong>für</strong> Gesundheit und Umweltschutz vom Bundesgesundheitsamt<br />

durchgeführt. Folgende Frage werden untersucht: 1.<br />

Wie sieht die Tätigkeit der Pflegekräfte aus? 2. Wovon hängen<br />

Angebot und Nachfrage in der Hauskrankenpflege ab? 3.<br />

Wird Krankenhausaufenthalt hierdurch verkürzt oder vermieden?<br />

Rahmenbedingungen, rechtliche und Finanzierungsfragen,<br />

sowie Qualifikation der Pflegekräfte und die Organisation<br />

des Modellversuchs werden ausführlich dargestellt.<br />

Die von den Krankenpflegekräften in der ersten Phase geführten<br />

Èrhebungsbôgen werden nach folgenden Aspekten aufgegliedert<br />

und die Daten in Statistiken und Diagrammen dar-<br />

jDAS ARGUMENT-BEIHEFT '83


Frau und Gesundheit 133<br />

gestellt: Anzahl der Personen, Alter, Geschlecht, soziales<br />

Umfeld, Krankheit, Art der Behandlungspflege, Anzahl der<br />

Leistungen, Anforderung, Dauer der Pflegezeit, Grund der<br />

Beendigung und Kostenträger. Im Ergebnisteil werden die im<br />

Modell und im Standard gepflegten Fälle miteinander verglichen.<br />

Modell bedeutet: durch eigens <strong>für</strong> den Modellversuch<br />

eingestellte examinierte Krankenschwestern ausgeführte Tätigkeiten;<br />

Standard heißt: Betreuung durch die übrigen<br />

Pflegekräfte. Dies sind zum größten Teil Hauspflegerinnen,<br />

die leichte Pflege und Haushaltstätigkeiten durchführen.<br />

Wir erfahren: Die Nachfrage im Modell ist durch medizinische<br />

Indikation bestimmt, die Pflege ist intensiver, im<br />

Standard führen überwiegend soziale Probleme zur Anforderung<br />

der Hauspflegerin. Während die Krankenschwestern überwiegend<br />

pflegerisch tätig sind, sind die Hauspflegerinnen<br />

vorwiegend mit Haushaltstätigkeit beschäftigt. Wir erfahren,<br />

daß die AOK der größte Finanzträger ist, und daß ältere<br />

und alleinstehende Menschen besonders der Hilfe bedürfen.<br />

In der Mehrzahl werden ältere Frauen gepflegt. In bezug<br />

auf Entlastung der Krankenhäuser, also die zentrale<br />

Fragestellung und Anlaß der Untersuchung, kommt die Studie<br />

zu dem Ergebnis, daß hier<strong>für</strong> die Anzahl der gepflegten Fälle<br />

im Modell mit 156 zu gering ist, um Aussagen darüber zu<br />

machen. Die Autoren vermuten, daß fehlendes Vertrauen von<br />

niedergelassenen Ärzten, Krankenhäusern und Patienten dieser<br />

neuen Einrichtung gegenüber die Ursache <strong>für</strong> die geringe<br />

Inanspruchnahme ist. Meiner Meinung nach hing die geringe<br />

Anzahl der Gepflegten überwiegend an der schlechten personellen<br />

Besetzung und der mangelnden Koordination der Einsatzstellen.<br />

Der Modellversuch wurde in Wilmersdorf und<br />

Neukölln von je fünf Wohlfahrtsverbänden durchgeführt. Bei<br />

nur zwei halbtagsarbeitenden Krankenschwestern pro Einsatzstelle<br />

war die Übernahme von Tätigkeiten am Abend, an Wochenenden<br />

und in der Urlaubszeit problematisch. Ein Versuch<br />

der Krankenschwestern, im Interesse der Versorgung der<br />

Patienten die Zusammenarbeit der verschiedenen Verbände zu<br />

bewirken, verlief ergebnislos.<br />

Dieser wissenschaftliche Forschungsbericht sollte als<br />

Planungsgrundlage <strong>für</strong> die Einrichtung der flächendeckenden<br />

Hauskrankenpflege (Sozialstationen) in Berlin (West) dienen<br />

(20). Patienten und Krankenpflegekräfte sind weder in die<br />

Planung und Formulierung der Zielsetzung der Untersuchung<br />

einbezogen worden noch wurden sie in irgendeiner Phase befragt.<br />

Deshalb sind Fragestellungen, die <strong>für</strong> mich interessant<br />

gewesen wären (ich war als Krankenschwester an diesem<br />

Modellversuch beteiligt) nicht enthalten: z.B. die Frage<br />

nach einer umfassenden, am Wohl des Patienten orientierten<br />

psychosozialen Versorgung. Die <strong>für</strong> uns wichtige Leistung<br />

"psychische Kontaktpflege", die uns die Möglichkeit gab,<br />

mit den häufig isoliert lebenden Patienten längere Gespräche<br />

zu führen, Kontakte zur Außenwelt herzustellen und materielle<br />

Hilfen zu vermitteln, wird als "nur sehr ungenau<br />

DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83


134 Medizin<br />

abgrenzbar" (12) abgetan, und ist als Leistung nicht in das<br />

Konzept der Sozialstationen übernommen worden. Auch nach<br />

den Arbeitsbedingungen bzw. den Befindlichkeiten der Krankenpflegekräfte,<br />

es fand während des Modellversuchs eine<br />

starke Fluktuation statt, wird nicht gefragt. Ich kenne<br />

mehrere Krankenschwestern, die hier eine Möglichkeit sahen,<br />

in ihren Beruf zurückzukehren, doch wfegen der schlechten<br />

Arbeitsbedingungen und der unzureichenden Organisation die<br />

Tätigkeit nach kurzer Zeit wieder aufgaben. Ferner wird<br />

nicht nach der Qualität der medizinischen Versorgung, nach<br />

der technischen Ausstattung und nach der Bereitschaft der<br />

niedergelassenen Ärzte, Hausbesuche zu machen, gefragt.<br />

Deshalb dient diese Untersuchung auch nicht als Grundlage<br />

besserer Versorgung der Menschen, sondern zur Durchführung<br />

von Sparmaßnahmen: So wird inzwischen die am häufigsten angeforderte<br />

Leistung, die Grundpflege, nur noch in Ausnahmefällen<br />

finanziert. Ursula Czock (Berlin/West)<br />

Maschewsky, Werner und Ulrike Schneider: Soziale Ursachen<br />

des Herzinfarkts. Campus Verlag, Frankfurt/M. 1982 (252 S.,<br />

br. )<br />

Der Herzinfarkt ist eine typische Männerkrankheit, insofern<br />

als er bei Männern sowohl häufiger als auch in einem<br />

früheren Lebensabschnitt auftritt als bei Frauen. Untersuchungen<br />

zur Pathogenese des Herzinfarkts werden deshalb<br />

sehr oft ausschließlich an Männerpopulationen ausgeführt.<br />

<strong>Das</strong> gilt insbesondere <strong>für</strong> retrospektive Studien, d.h. <strong>für</strong><br />

Untersuchungen an bereits Erkrankten. Dieser Forschungsansatz<br />

wurde auch in der vorliegenden Studie gewählt, ursprünglich<br />

war auch geplant, nur männliche Arbeiter in die<br />

Untersuchungspopulation aufzunehmen. Aber "durch verschiedene<br />

erhebungstechnische Prozesse bedingt, ergab es sich,<br />

daß eine Fallzahl von n=166 Frauen in der Gesamtuntersuchung<br />

(Männer n=515, S.B.) erhoben wurde" (133). Die erhebungstechnischen<br />

Prozesse werden nicht näher erläutert.<br />

Bemerkenswert wird das Buch u.a. dadurch, daß die Ergebnisse<br />

bei den Arbeiterinnen gesondert analysiert und nicht<br />

wie in sozialmedizinischen Untersuchungen üblich, einfach<br />

nur als statistisch-biologische Kategorie (148) neben die<br />

Ergebnisse der Männer gestellt werden. Die Auswertung der<br />

Männer-Daten nimmt in der vorliegenden Arbeit von der Anlage<br />

her bedingt mehr als doppelt soviel Raum ein wie die der<br />

Frauen-Daten. Hier allerdings soll nur die Frauenperspektive<br />

berücksichtigt werden.<br />

Ausgehend von der Feststellung, daß die "Streß- und Infarktforschung<br />

im engeren Sinne sich fast ausschließlich<br />

auf männliche Untersuchungsgruppen orientieren" (134) wird<br />

die Datenlage zu Herz-Kreislaufkrankheiten von Frauen detailliert<br />

untersucht. Weder <strong>für</strong> die BRD noch <strong>für</strong> die USA<br />

lassen sich eindeutige Morbiditätstendenzen feststellen;<br />

insbesondere <strong>für</strong> die BRD gilt, daß auch vorhandene Daten<br />

kaum nach frauenspezifischen Gesichtspunkten erhoben oder<br />

jDAS ARGUMENT-BEIHEFT '83


Frau und Gesundheit 135<br />

ausgewertet wurden. Aus den vorliegenden Mängeln werden<br />

"Leitlinien einer frauenspezifischen Gesundheitsforschung"<br />

(147) abgeleitet, die sich auf die im Grunde meines Erachtens<br />

banale Forderung reduzieren lassen, es müßten Untersuchungskonzepte<br />

entwickelt werden, die "Krankheit auf dem<br />

Hintergrund der sozialen Lebensbedingungen der Betroffenen<br />

begreifen" (149). r Diese sozialen Lebensbedingungen <strong>für</strong><br />

Frauen werden kurz Eingedeutet und spezifische methodologisch-inhaltliche<br />

Konsequenzen aufgeführt. Dennoch müssen<br />

u.a. sowohl Kumulation von Belastungen aus Erwerbs- und Familienarbeit<br />

als auch Widersprüche in den Anforderungsstrukturen,<br />

sowie Verschränkungen der Berufs- und Familienbiographie<br />

untersucht werden. An der Aufzählung der lebenslagenspezifischen<br />

Probleme und den daraus zu ziehenden Konsequenzen<br />

wird deutlich, daß sie in der traditionellen Belastungsforschung<br />

entweder gar nicht oder nur am Rande vorkommen<br />

.<br />

Die Auswertung der vorliegenden Daten kann nur sehr beschränkt<br />

den vorher postulierten Leitlinien folgen, weil<br />

die Untersuchung <strong>für</strong> Männer konzipiert war, die Fragen an<br />

männlichen Berufsbiographien und männlichen Industriearbeitsplätzen<br />

orientiert waren. Dennoch läßt sich auch bei<br />

den Arbeiterinnen die Hypothese der Arbeitsbedingtheit des<br />

Infarkts bestätigen. Ausgliederungs- und Abqualifikationsprozesse,<br />

"die ganz zu Lasten der betroffenen Frauen und<br />

ihrer'Gesundheit gehen, werden sichtbar" (179). Die aus gesundheitlichen<br />

Gründen dequalifizierten Arbeiterinnen kommen<br />

in der Regel aber nicht auf "Schonarbeitsplätze","sondern<br />

- sofern sie im Erwerbsleben verbleiben - gelangen sie<br />

auf Arbeitsplätze mit starker körperlicher Beanspruchung;<br />

z.B. Reinigungsberufe" (181). Ältere Frauen erweisen sich<br />

generell als stark gesundheitlich beeinträchtigt, unabhängig<br />

davon, ob sie bereits einen Infarkt hatten oder nicht.<br />

<strong>Das</strong> Infarktgeschehen wird nur als "Gipfel eines Eisbergs"<br />

(182) bezeichnet.<br />

Die Schlußfolgerungen aus den Ergebnissen im Hinblick<br />

auf präventive Strategien gipfeln in der Forderung nach<br />

Veränderung der sozialen Lage der Frauen, nach Gleichberechtigung,<br />

die sich nicht von alleine einfindet: "Solange<br />

Frauen nicht lernen und in die Lage versetzt werden, die<br />

Durchsetzung ihrer Interessen selbst in die Hand zu nehmen,<br />

wird sich ihre Lebenssituation und damit auch ihre gesundheitliche<br />

Situation nicht ändern" (182).<br />

In dieser Studie war zunächst die Auswertung der Frauen-<br />

Daten nicht geplant gewesen. Nur durch einen Zufall und<br />

persönliche Beziehungen konnte Ulrike Schneider im Rahmen<br />

eines kleineren Auftrags die bereits erhobenen Daten frauenspezifisch<br />

analysieren. Der Teil über die Männer wurde<br />

von ihrem Mann bearbeitet. In der Sozialmedizin als typischer<br />

Disziplin, die von Männern an Männerpopulationen entwickelt<br />

wurde, können Frauen offenbar nur annähernd angemessen<br />

berücksichtigt werden, wenn Wissenschaftierinnen ihr<br />

DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83


136 Medizin<br />

persönliches Interesse ein- und durchsetzen.<br />

Die Bedeutung dieser frauenspezifischen Analyse liegt<br />

meines Erachtens weniger in ihren speziellen Ergebnissen,<br />

weil sie wenig erbringen können aufgrund des männerorientierten<br />

Untersuchungsdesigns. Ihre Bedeutung liegt vielmehr<br />

darin, daß es sie Uberhaupt gibt und daß aus ihrem Anlaß<br />

Defizite und Perspektiven einer frauenspezifischen Gesundheitsforschung<br />

aufgezeigt werden.<br />

Der Band als Ganzes stellt eine theoretisch sehr ausführlich<br />

und fundiert begründete retrospektive Untersuchung<br />

zu Arbeitsbelastungen im Zusammenhang mit dem Auftreten eines<br />

Herzinfarkts bei Arbeitern und Arbeiterinnen dar, deren<br />

sozialwissenschaftlicher Charakter sich wohltuend von stärker<br />

medizinisch orientierten Studien ähnlicher Art abhebt.<br />

Dennoch kann die vorliegende Arbeit leider nur wenige Antworten<br />

auf die vielen von ihr gestellten Fragen und Forderungen<br />

geben. Sabine Bartholomeyczik (Berlin/West)<br />

Asmus, Gesine (Hrsg.): Hinterhof, Keller und Mansarde. Einblicke<br />

in <strong>Berliner</strong> Wohnungselend 1901-1920. Rowohlt Taschenbuch<br />

Verlag, Reinbek 1982 (302 S., br.)<br />

175 Photographien, die das massenhafte Wohnungselend in<br />

Berlin zu Anfang des Jahrhunderts im Bild festhalten, stehen<br />

- auch umfangmäßig - im Mittelpunkt dieses Buches. Die<br />

Photos sind Teil der Wohnungs-Enquête, die die <strong>Berliner</strong><br />

Ortskrankenkasse Uber einen Zeitraum von 19 Jahren erhoben<br />

und jeweils jährlich einer breiten Öffentlichkeit zugänglich<br />

gemacht hatte. Ziel dieser Dokumentation war es, die<br />

miserable Wohnungssituation zu verändern und damit deren<br />

Krankheitsfolgen zu verringern; sie setzte daher an den unmittelbaren<br />

Interessen der kranken (und der beitragszahlenden)<br />

Kassenmitglieder an. Verantwortlich zeichnete der damalige<br />

Geschäftsführer der AOK Berlin, Albert Kohn. Dieser<br />

hatte den Mut, auch nachdem ein jahrelanger Rechtsstreit<br />

mit dem Preußischen Haus- und Grundbesitzer-Verein im Jahr<br />

1908 mit der Feststellung der Rechtswidrigkeit derartiger<br />

Publikationen endete, diese Enqueten weiterhin Jahr <strong>für</strong><br />

Jahr, quasi "illegal" zu veröffentlichen.<br />

Diese Photographien als Ausgangspunkt und Anschauungsmaterial<br />

benutzend, wird in jeweils einem Textbeitrag Stand<br />

und Entwicklung der damaligen Politik und die sozialen Umbrüche<br />

infolge der Industriellen Revolution (Dießenbacher),<br />

der Sozialversicherung und der Krankenkassenbewegung (Sachße,<br />

Tennstedt) sowie der photographischen Möglichkeiten<br />

(Asmus) dargestellt. In einem vierten Beitrag, auf den ich<br />

näher eingehe, stellt Rosmarie Beier den Alltag der <strong>Berliner</strong><br />

Unterschicht vor.<br />

FUr Beier ist die Photodokumentation Anlaß, die miserable<br />

Lage der Unterschichtsfrauen unter dem Aspekt der Haus-,<br />

Familien- und Heimarbeit zu beleuchten und die daraus resultierenden<br />

(Gesundheits-)Belastungen aufzuzeigen. Bevor<br />

sie die Bilder unter der Fragestellung: "Was können wir aus<br />

jDAS ARGUMENT-BEIHEFT '83


Frau und Gesundheit 137<br />

ihnen zur Arbeitssituation der Frauen erfahren?" (254) betrachtet,<br />

beschreibt sie den engen finanziellen Rahmen, mit<br />

dem die Arbeiterinnen tagtäglich konfrontiert werden. Über<br />

die exemplarische, sehr detaillierte Auflistung der jährlichen<br />

Ausgaben flir Nahrungsmittel und Kleidung kommt sie<br />

mittels der Kleiderfrage sehr anschaulich zum gesellschaftlichen<br />

Verhältnis von Mann und Frau: Männerhaben, so schwer<br />

ihr Erwerbsleben auch sein mag, Freizeit und Möglichkeiten,<br />

an gesellschaftlichen Aktivitäten teilzunehmen und benötigen<br />

daher einen.Anzug. Frauen dagegen sind durch Haushalt,<br />

Heimarbeit und Kinder an die Wohnung gefesselt, benötigen<br />

also - mangels Gelegenheit - kein Ausgeh-Kleid.<br />

Die so begründete gegensätzliche Bedeutung der Wohnung<br />

wird am besten mit folgendem Zitat charakterisiert: "Aber<br />

ein 'Heim' zu haben, bedeutet <strong>für</strong> Mann und Frau durchaus<br />

Unterschiedliches. Die Erholung des Mannes zu Hause, seine<br />

Freizeit, das war die Arbeit der Frau" (253).<br />

Auf diesem Hintergrund stellt Beier fest, daß anders als<br />

bei der entlohnten Heimarbeit auf keinem der Photos eine<br />

Frau bei der Hausarbeit dargestellt ist, was ihren gesellschaftlichen<br />

Stellen(un)wert charakterisiert. Beier macht<br />

auch deutlich, daß die heute geltenden Vorstellungen und<br />

Normen von Hausarbeit nicht auf die Jahrhundertwende Ubertragbar<br />

sind, daß das Ideal eines sauberen, aufgeräumten<br />

und geschmückten Heims damals den BUrgerfrauen vorbehalten<br />

war und sich erst allmählich auch in der Arbeiterschaft<br />

durchsetzte. Nach der sehr anschaulichen Darstellung des<br />

Arbeitsablaufs beim Wäsche-Wäschen und Einkaufen wird der<br />

Leserin klar, daß die Belastungen und der Zeitaufwand fUr<br />

die unumgängliche Hausarbeit unter den städtebaulichen Gegebenheiten<br />

Berlins keinen Raum/Kraft/Zeit <strong>für</strong> "schmückende<br />

" Tätigkeiten mehr ließ.<br />

Weil die Arbeiterfrau die alleinige Zuständigkeit <strong>für</strong><br />

den gesamten häuslichen Bereich hatte, beschränkte sich deren<br />

Erwerbstätigkeit, insbesondere die der Mütter, auf Arbeiten,<br />

die gar keine oder nur stundenweise Abwesenheit von<br />

der Wohnung und den Kindern erforderte, so daß Fabrikarbeit<br />

<strong>für</strong> sie die Ausnahme war,und sie zu großen Teilen schlechtbezahlte<br />

und gesundheitsschädliche Heimarbeiten verrichteten.<br />

Auch die Kinderarbeit trennte Jungen und Mädchen nach<br />

unterschiedlichen Arbeitsbereichen, womit die geschlechtsspezifische<br />

Konditionierung schon vorgegeben war: "Gemeinsam<br />

ist all diesen (den Mädchen übertragenen, C.L.) Aufgaben<br />

das Sorgen <strong>für</strong> die unmittelbaren alltäglichen Bedürfnisse<br />

der Familie. Demgegenüber arbeiteten die Jungen mehr<br />

als die Mädchen <strong>für</strong> Geld" (262).<br />

Die räumliche Einteilung der <strong>Berliner</strong> Mietskasernen<br />

(Vorderhaus "belle étage" - Mensch.en erster Klasse; nach<br />

oben, unten und hinten abnehmender Sozialstatus - Menschen<br />

zweiter Klasse) beschreibt Beier als Spiegel der Klassengesellschaft,<br />

in der der Bürger durch die Nähe der unüberseh-<br />

DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83


138 Medizin<br />

baren (lästigen) Not der Arbeiterschaft, sich des Wohnungselends<br />

annahm und dieses zur "Wohnungsfrage" erhob.<br />

Abschließend erwähnt Beier das solidarische Handeln der<br />

Schwachen untereinander, das durch die gewachsenen Sozialstrukturen<br />

ermöglicht wurde, sie kritisiert die langjährige<br />

destruktive Sanierungsweise des <strong>Berliner</strong> Senats und<br />

hofft, daß die erst wieder von den Hausbesetzern an die Öffentlichkeit<br />

gebrachte Kritik daran zu einer verbesserten,<br />

betroffenennahen Wohnungspolitik führen werde.<br />

Es ist erfreulich, daß die immer noch als Randgebiet behandelte<br />

Lage der Frau in diesem Buch einen Schwerpunkt erhalten<br />

hat, den man zunächst nicht erwartete. Wer denkt<br />

schon beim Betrachten von Wohnungsaufnahmen an die Haus-,<br />

Familien- und Heimarbeit sowie an deren Belastungen <strong>für</strong> die<br />

Frau. Diese Arbeitsbereiche umfassend und nicht isoliert<br />

dargestellt, und damit einen Aspekt der Gesundheitssicherung<br />

von Frauen aus der Wohnungssituation abgeleitet zu haben,<br />

ist ein besonderes Verdienst von Beier.<br />

Nach nochmaligem Lesen der anderen Beiträge hätte ich<br />

mir gewünscht, daß in ihnen die unterschiedlichen Auswirkungen<br />

der jeweils dargestellten gesellschaftlichen oder<br />

technischen Veränderungen auf Mann und Frau überhaupt bzw.<br />

stärker herausgearbeitet sein sollten. Empfehlenswert sind<br />

diese Beiträge allemal und meines Erachtens unerläßlich, um<br />

das Entstehen dieser Bilder zu begreifen; dies im doppelten<br />

Sinn: die Entstehung des auf den Photos sich widerspiegelnden<br />

Massenelends und die Entstehung der Wohnungs-Enquête<br />

als politische Dokumentation. Verschüttete Alternativen der<br />

Gesundheitsbewegung aufgespürt, das offensive, unorthodoxe<br />

Vorgehen einer Ortskrankenkasse bei der Aufdeckung von Mißständen<br />

im Lebensbereich ihrer Versicherten dargestellt zu<br />

haben, macht das relativ preiswerte Buch alleine schon lesenswert.<br />

Nicht nur, daß die sozial-hygienische Forschung<br />

der Jahrhundertwende völlig In Vergessenheit geraten ist,<br />

sondern auch ihr Vorgehen, pathogène Arbeits- und Lebensbedingungen<br />

aufzudecken und zu bekämpfen, hat (leider) bis<br />

heute nichts an Aktualität verloren.<br />

Christa Leibing (Berlin/West)<br />

Amendt, Gerhard: Die Gynäkologen. Konkret Literatur Verlag,<br />

Hamburg 1982 (246 S., br.)<br />

Gerhard Amendt, Hochschullehrer <strong>für</strong> Sozialpädagogik und<br />

Vorsitzender des Pro-Familia-Beratungszentrums Bremen, wagt<br />

sich mit seinem Buch "Die Gynäkologen" sozusagen in die<br />

vordersten Linien der "Kampfstätte zwischen Männer und<br />

Frauen" (11) - die Gynäkologenpraxis. "Allein, daß Männer<br />

sich Gynäkologen nennen und Frauen sich Patientinnen, kann<br />

keinen Frieden schaffen und die Zwangsverhältnisse zwischen<br />

beiden beheben ..." Er will die besonders "humanisierungsbedürftige"<br />

deutsche Gynäkologie u.a. dadurch verändern<br />

helfen, daß das Verhältnis weiblicher Patientinnen zu männlichen<br />

Gynäkologen in seinen Verflechtungen durchschaubarer<br />

jDAS ARGUMENT-BEIHEFT '83


Frau und Gesundheit 139<br />

wird, damit es so veränderbar wird. Der Gynäkologe übernimmt<br />

nach Ansicht des Autors als Bevölkerungspolitiker,<br />

als Standesvertreter der Ärzteschaft und vor allem als Mann<br />

eine gesellschaftliche Kontroll- und Machtfunktion. Diese<br />

will er ebenso vor sich und seiner Patientin verbergen, wie<br />

die latente Sexualität in diesem spezifischen Arzt-Patientenverhältnis.<br />

Seine männliche Macht in der ihm übertragenen<br />

Kontrollfunktion muß undurchschaubar bleiben. So sind<br />

diese Gewaltverhältnisse verschleiert, und das angeblich<br />

vertrauensvolle Verhältnis begründet sich nur auf Schweigepflichten.<br />

Charakteristisch <strong>für</strong> standesinterne Zwangsbedingungen<br />

wird von Amendt auch die Bitte der Ärzte um Nichtnennung<br />

der Namen der Informanten eingeschätzt. Während der<br />

Gynäkologe die Frau auf die "Gebärmutter" reduziert, unterstützen<br />

viele Frauen den Gynäkologen in seinem Machtanspruch,<br />

indem sie von ihm die Lösung <strong>für</strong> ihre Lebensprobleme<br />

erwarten. Diese Allmachtfunktion übernimmt der Gynäkologe<br />

gern, denn seine Berufsentscheidung als Mann beinhaltet<br />

das Bedürfnis nach Macht über Mütter, Mutterschaft und<br />

weibliche Sexualität. Solange es ohne Ärzte keine Legalität<br />

gibt, haben sie die Macht, nach eigenen moralischen Wertmaßstäben<br />

über Verhütung, Abbruch und Sterilisation, über<br />

ihre Formen als Belohnung und Strafe <strong>für</strong> erfüllte oder<br />

nichterfüllte "Familienplanungsprogramme" zu urteilen. Gynäkologen<br />

degradieren Frauen zur Passivität. Amendt belegt,<br />

daß sie ihnen kein eigenverantwortliches planvolles Handeln<br />

zutrauen. Sie <strong>für</strong>chten sich als Männer mehr vor dem "Gefummel<br />

mit dem Pessar" als als Ärzte vor den Nebenwirkungen<br />

von Pille und Spirale. Kein Verhütungsmittel an sich kann<br />

sicher sein. Es kann nur durch die richtige Handhabung seinen<br />

Zweck erfüllen, wenn sie nicht durch einen latenten<br />

Kinderwunsch beeinflußt wird. Sexuelle Lust ohne Kinderwunsch<br />

ist von Gynäkologen jedoch <strong>für</strong> Frauen nicht vorgesehen.<br />

Sie verordnen Pillen gegen die schlimme Krankheit der<br />

Gesellschaft: die Absicht der Frau, sich durch Abbruch über<br />

die Normalität (=Kinderwunsch) hinwegzusetzen. Sie entscheiden,<br />

ob mit oder ohne Schmerz geboren wird. Spätestens<br />

der Schmerz legitimiert sie zum Übergriff. Wo er nicht entstehen<br />

muß, induzieren sie ihn mit Prostaglandinen. Sie bestimmen,<br />

wie zu gebären, daß zu gebären und daß es das Problem<br />

unerwünschter Kinder wegen Mutter- und Brutpflegeinstinkten<br />

nicht gibt. Eigentlich sind die Gynäkologen überfordert,<br />

denn sie sind nur Männer. Sie können die Frau mit<br />

ihren Lebensproblemen nicht stärken. <strong>Das</strong> müssen die Frauen<br />

schon selbst machen, indem sie sich über ihre eigenen Wertvorstellungen<br />

und Wertmaßstäbe bewußt werden und sich Lebensbereiche<br />

zurückerobern, die von der Gynäkologie gleich<br />

einem riesigen Geschwür überwuchert werden: Die Gynäkologie<br />

ist die negative Lobby der Fraueninteressen, wie sie sich<br />

darstellt in Illustrierten bis zum Bundestag. Jeder kann<br />

bessere Verhütungsberatung durchführen als Gynäkologen,<br />

weil sie eine besondere soziale Distanz zu den Frauen haben.<br />

DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83


140 Medizin<br />

Deshalb schlägt Amendt vor, den Ansätzen der sozialistischen<br />

Ärzte der Weimarer Republik, der Hausärzte und Allgemeinmediziner<br />

anderer Länder zu folgen, und Bereiche wie<br />

die Verhütungsberatung aus der institutionalisierten Medizin<br />

auszulagern, wie es Pro Familia macht. Die Gegner sind<br />

bekannt: niedergelassene Gynäkologen, Pharma- und Geräteindustrie<br />

sowie vor allem die Vertreter der herrschenden Sexmoral,<br />

die Ejakulation und Erektion als Männerpflicht, Hingabe<br />

der Frauen ans andere Geschlecht und Gebärfunktion als<br />

Frauenleben verteidigen; sie sind sich einig in der Reduktion<br />

der Sexualität als Fortpflanzungsfunktion.<br />

Besonders gut fand i-ch Rückblicke auf die inhumane Tradition<br />

der deutschen Gynäkologie, auch wenn sie mehr nebenbei<br />

als explizit aufgeführt werden: Nirgendwo als in der<br />

deutschen Gynäkologie wurde mit solcher Rigidität die Natur<br />

der Frau, der "Inbegriff ihrer Weiblichkeit", die "Erfüllung<br />

des Muttertriebes" durchgesetzt. Die übertriebene Moralität<br />

deutscher Gynäkologen im Kampf gegen den § 218 ist<br />

zu verstehen aus dem Wunsch, die Geschichte der Ärzteschaft<br />

bezüglich der Vernichtung lebensunwerten Lebens und der<br />

Zwangssterilisation ungeschehen zu machen. Die Absicht<br />

zielt sehr viel weniger auf den Schutz des ungeborenen Lebens<br />

als auf die Rettung der natürlichen Mutterschaft - die<br />

Rettung eines vermeintlich positiven Mutterideals, gegen<br />

das Frauen opponieren, die Uber die Frage, gebären oder<br />

nicht, selbst entscheiden wollen und die sich Familienidealen,<br />

Familienvätern und Männernnicht unterordnen wollen.<br />

Viele Erfahrungsberichte von Frauen, aber auch von Gynäkologen<br />

verdeutlichen anschaulich die geschilderten Herrschafts-<br />

und Unterdrückungsverhältnisse. Amendts Buch hat<br />

das Ziel, die Aktivität der Frauen zu fordern. Sie müssen<br />

den Entstehungsursachen ihrer Probleme selber nachgehen und<br />

Antworten nicht beim Gynäkologen suchen. Sie müssen ihre<br />

eigenen Wertmaßstäbe und Widerstandsformen entwickeln. <strong>Das</strong><br />

zu lernen braucht es allerdings mehr Initiativen als die<br />

Pro Familia, und es ist bedauerlich, daß die Vielfältigkeit<br />

der Widerstandsformen und alternativen Projekte der Frauenbewegung<br />

unberücksichtigt bleibt. Weder werden Frauenhäuser<br />

genannt noch die Initiativen "Gewalt gegen Frauen" mit ihren<br />

Notrufeinrichtungen. Weder taucht die Möglichkeit einer<br />

nicht auf Männer orientierten Sexualität von Frauen auf<br />

noch die Frage, ob die Rückeroberung der männlichen Domäne<br />

Gynäkologie durch weibliche Frauenärzte ein Bestandteil der<br />

zu erkämpfenden Alternativen sein muß. Insofern scheint mir<br />

die Sicht des Schreibers zwar einfühlsam, aber in diesen<br />

Punkten eben doch männlich eingeengt.<br />

Insgesamt fand ich das Buch, das das Schweigen Uber Geheimnisse<br />

von Arzt-Patientinnen-Verhältnissen bricht und Bedeutungen<br />

und historische Zusammenhänge (sexual-)moralischer<br />

Haltungen bewußt macht, sehr nützlich, um mit Schuldgefühlen<br />

von Frauen aufzuräumen, die sich z.B. durch einen<br />

Abbruch gegen die herrschende Moral gestellt haben, und um<br />

jDAS ARGUMENT-BEIHEFT '83


Frau und Gesundheit<br />

141<br />

genug Wut als Kraft <strong>für</strong> Veränderungen zu bekommen.<br />

Marion Ciaren (Berlin/West)<br />

Nohke, Anke und Karl Oeter: Der Schwangerschaftsabbruch.<br />

Gründe, Legitimationen, Alternativen. Schriftenreihe des<br />

Bundesministeriums <strong>für</strong> Jugend, Familie und Gesundheit.<br />

Kohlhammer-Verlag, Stuttgart 1982 (240 S., br.)<br />

Gegenüber dem weitverbreiteten Vorurteil, ungewollte<br />

Schwangerschaften seien lediglich als "Schlamperei" der Betroffenen<br />

anzusehen, liegt mit dieser Untersuchung fundiertes<br />

empirisches Material vor, das auf die wirkliche Not von<br />

Frauen hinzuweisen in der Lage ist - auf die Not von Frauen<br />

in einer Situation, in der sie im allgemeinen alleingelassen<br />

sind - oder sogar noch unter einen ungehörigen wie ungeheuren<br />

Druck ihrer Lebensgefährten, Ehemänner oder Freunde<br />

gestellt werden. Daß hier erst einmal hinzuhören ist<br />

auf das, was Frauen zu sich und dem werdenden Kind in ihrem<br />

Bauch zu sagen haben, bevor Urteile oder gar Verurteilungen<br />

ausgesprochen werden, ist einer der Ausgangspunkte der Studie:<br />

Es wurden Intensiv-Interviews mit betroffenen Frauen<br />

geführt, die teilweise (in längeren Auszügen) im Buch abgedruckt<br />

sind, und es meines Erachtens gerade auch <strong>für</strong> selbstbetroffene<br />

Frauen und Nicht-Wissenschaftlerinnen interessant<br />

machen. Zusätzlich zu diesen Interviews, die die Entscheidungen<br />

<strong>für</strong> einen Schwangerschaftsabbruch verständlich<br />

machen und auf die gesellschaftlichen Hintergründe verweisen,<br />

die eine ungewollte Schwangerschaft zu einer Konfliktsituation<br />

machen ("Egoismus" der Partner, ökonomische Zwänge,<br />

enge Wohnungen, berufliche Situation etc.), wurde per<br />

Fragebogen-Erhebung eine Untersuchung zum selben Problembereich<br />

durchgeführt, die ergänzendes Material liefert und<br />

zusammen mit den Gesprächen aufgeschlüsselt wird. Die Fragebogen-Erhebung<br />

dient vor allem der Sicherung der Repräsentativität<br />

der Studie und der Beantwortung der Frage, ob<br />

und inwiefern sich die Durchführung von Schwangerschaftsabbrüchen<br />

in holländischen und bundesdeutschen Kliniken unterscheiden.<br />

Ein interessantes Buch <strong>für</strong> jede Frau, wie auch<br />

<strong>für</strong> diejenigen, die beruflich mit Schwangerschaftsabbrüchen<br />

beschäftigt sind; die Studie ist zu empfehlen. - (Eine sehr<br />

kurze Fassung in Form eines Vortrages, in dem allerdings<br />

die Interviews nicht enthalten sind, ist kostenlos erhältlich<br />

beim Ludwig-Boltzmann-<strong>Institut</strong> <strong>für</strong> Medizinsoziologie<br />

beim <strong>Institut</strong> <strong>für</strong> Höhere Studien, Stumpergasse 56, 1060<br />

Wien.) Margarete Maurer (Wien)<br />

Palazzoli, Mara Selvini: Magersucht. Von der Behandlung<br />

einzelner zur Familientherapie. Klett-Cotta Verlagsgemeinschaft,<br />

Stuttgart 1982 (332 S., br.)<br />

In ihrer bis heute etwa zwanzigjährigen Arbeit mit magersüchtigen<br />

Patientinnen hat die Autorin eine radikale Abwehr<br />

von stark psychoanalytisch orientierten Einzelbehandlungen<br />

hin zu einer systemisch (s.u.) orientierten Fami-<br />

DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83


142 Medizin<br />

liensichtweise und -therapie vollzogen. Dies regulierte den<br />

Aufbau der erweiterten Fassung, die um ein neueres Kapitel<br />

zur Familientherapie ergänzt wurde; in diesem stellt Palazzoli<br />

einige vorläufige Ergebnisse ihrer Arbeit am Mailänder<br />

Zentrum <strong>für</strong> Familienforschung (im Team mit Boscolö, Cecchin<br />

und Prata) vor und begründet die Notwendigkéit weiterer und<br />

erweiterter Familienforschung. Ich möchte der Akzentuierung<br />

der Autorin folgen und mich hauptsächlich mit diesem neueren<br />

Teil auseinandersetzen.<br />

Palazzoli beginnt mit einem historischen Rückblick, demzufolge<br />

Magersucht erstmals von Morton 1689 mit dem Terminus<br />

"nervöse Atrophie" detailliert beschrieben wurde; weitere<br />

Versuche, die Krankheit zu identifizieren, folgten.<br />

Interessant dabei die Information, daß Janet 1903 vermutete,<br />

die Magersüchtige weigere sich, die weibliche Geschlechts-<br />

"rolle" zu übernehmen; eine Vermutung, die heute von vielen<br />

einverständig als Tatsache betrachtet wird. Ab diesem Zeitpunkt<br />

habe sich auch das Bemühen verstärkt, die Psychogenese<br />

der Magersucht zu rekonstruieren und damit einhergehend<br />

eine angemessene therapeutische Einstellung zu suchen. In<br />

diesem Zusammenhang sei die Arbeit Bruchs (1952-1971) zentral<br />

.<br />

Nach einer Beschreibung des Krankheitsbildes und klinischer<br />

Aspekte betont Palazzoli, daß der Begriff "Aneroxia<br />

nervosa" eher unangemessen sei. "Anorexis" (gr.) heiße<br />

"fehlendes Verlangen". Die Mädchen hätten aber das bewußte<br />

Verlangen, abzunehmen. Der Begriff der Pubertätsmagersucht<br />

scheint ihr wesentlich angemessener. Sie widerspricht energisch<br />

der Vorstellung, Magersüchtige wollten in die Kindheit<br />

zurückkehren und ihre Weiblichkeit ablehnen. <strong>Das</strong> Gegenteil<br />

sei der Fall: Sie hätten den zwar verzerrten, aber<br />

starken Wunsch, eine selbständige Erwachsene zu werden, indem<br />

sie "jene Aspekte der weiblichen Körperlichkeit ablehnen,<br />

die die erschreckende Aussicht heraufbeschwören, sie<br />

könnten sich in einen Succubus, ein passives Gefäß verwandeln"<br />

(92). Hauptziele der Magersüchtigen seien Macht und<br />

Sicherheit; weitere wichtige Motive das Streben nach Freiheit,<br />

die Ästhetik der Schlankheit (und der damit verknüpften<br />

"Werte" wie Echtheit, Offenheit, Schlichtheit), Intelligenz<br />

bzw. intellektuelle Macht einschließlich des Sieges<br />

des Geistes Uber den Körper. Über vielfältige psychogenetische<br />

Erklärungsvorschläge sowie sehr plastischer Fallbeschreibungen,<br />

in denen sie auch ehemalige Patientinnen selber<br />

sprechen läßt, führt Palazzoli die Leserin fast unmerklich<br />

zu ihrer heutigen familiendynamischen Sichtweise. Auch<br />

im Buch vollzieht sich dabei die Verwandlung psychiatrischer<br />

Störungen von Einzelpersonen zu Interaktionsstörungen<br />

zwischen Mitgliedern eines Systems wie z.B. der Familie.<br />

Kurz führt sie die systemische Sichtweise vor: Ein System<br />

(wie die Familie) kennzeichne sich durch Ganzheit in dem<br />

Sinne, daß es nicht nur mehr als die Summe seiner Teile<br />

jDAS ARGUMENT-BEIHEFT '83


Frau und Gesundheit 143<br />

sei, sondern auch unabhängig von diesen. Es unterliege kybernetischen<br />

Prozessen (Selbstregulation) mit starker Tendenz<br />

zur Konstanz. Widerstand gegen Veränderung werde in<br />

Regeln gefaßt, innerhalb derer die Regel der Regeln laute:<br />

Über Regeln wird nicht kommuniziert, und sie werden nicht<br />

kommentiert.<br />

Palazzolis Untersuchungen der letzten Zeit richteten<br />

sich auf die Frage, ob die Familien Magersüchtiger ein typisches<br />

System darstelle. Angeregt dazu hätten die Untersuchungen<br />

Haleys zu Familien Schizophrener. Durch die psychotherapeutische<br />

Untersuchung von 12 Familien mit magersüchtigen<br />

Mitgliedern stellte sie vorläufig eine Spezifik fest,<br />

die sich besonders auf die Ablehnung als Kommunikationscharakteristikum<br />

bezieht. Jedes Familienmitglied lehne die<br />

Botschaften anderer Mitglieder stark und häufig ab, sowohl<br />

bezüglich der inhaltlichen als auch der Beziehungsebene.<br />

Diese Ablehnung fände ihre Entsprechung in der Ablehnung<br />

von Nahrung durch die designierte Patientin. Ein weiteres<br />

zentrales Problem dieser Familien sei auch das Problem der<br />

Bündnisse. Bündnisse innerhalb der Familie gegen einen<br />

Dritten seien streng verboten, tabu und existierten dennoch.<br />

Diese Bündnisse seien gleichzeitig die geheimste<br />

Grundlage aller Regeln in der Familie.<br />

Neben der Untersuchung der Familien griff das Team auch<br />

therapeutisch ein. Es seien sehr erfolgreich paradoxe Interventionen<br />

erprobt worden, ebenso wie die Verordnung von<br />

Familienritualen und die Verordnung des Symptoms. Aus diesen<br />

double-bind-Situationen könne die Patientin nur entrinnen,<br />

indem sie sich gegen die Therapeuten auflehne und ihr<br />

Symptom aufgebe. Hier reduziert Palazzoli meines Erachtens<br />

das Kriterium <strong>für</strong> Erfolg einer Therapie auf die Aufgabe des<br />

Symptoms. Auch wenn Magersucht eine lebensbedrohende Krankheit<br />

ist, müßte doch geklärt werden, welche anderen Therapieziele<br />

verfolgt werden. Sie beschreibt oft die Notwendigkeit<br />

der Trennung der Töchter von ihren Familien, verbunden<br />

mit dem Ziel größerer Selbständigkeit. Was aber heißt das<br />

und wie ging sie therapeutisch vor, um den Patientinnen zu<br />

mehr "Selbständigkeit" zu verhelfen?<br />

Palazzoli richtet ihren Blick in einem Schlußkapitel auf<br />

die Bedeutung der sich wandelnden sozialen Umwelt <strong>für</strong> Familien<br />

von Magersüchtigen. Alle 12 untersuchten Familien hätten<br />

ein gemeinsames Merkmal: Sie versuchten, ländlich-patriarchalische<br />

Werte, Rollen, Regeln und Tabus in einer<br />

städtisch-industriellen Umgebung aufrechtzuerhalten. Dabei<br />

sei der höchste aller Werte die Selbstaufopferung. Hier<br />

finde ich es bedauerlich, daß Palazzoli das ihr zur Verfügung<br />

gestellte Material nicht besser nutze, um sich der interessanten<br />

Frage zu nähern, warum gerade Frauen/Mädchen<br />

magersüchtig werden. Heißt "Selbstaufopferung" <strong>für</strong> Männer<br />

und Frauen nicht Unterschiedliches? In einem kurzen geschichtlichen<br />

Rückblick zeigt sie, daß das Auftreten von<br />

Magersucht mit sich wandelnden sozialen Anforderungen/Be-<br />

DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83


144 Geschichte<br />

dingungen und also auch der sich wandelnden Stellung der<br />

Frau zusammehänge: Die ersten klinisch unangreifbaren Berichte<br />

Uber die typisch weibliche Krankheit der Magersucht<br />

erschienen 1873 in London (Gull), zu einer Zeit großer kultureller<br />

Krisen durch Industrialisierung, einhergehend mit<br />

einer Frauenbewegung.<br />

Dieser Zusammenhang müßte meines Erachtens ebenfalls<br />

präziser betrachtet werden. Warum werden Frauen zu Zeiten,<br />

da sich Anforderungen an sie ändern, magersüchtig und nicht<br />

gynäkologisch krank? Welche Bedeutung hat die Klassenzugehörigkeit<br />

<strong>für</strong> diese Krankheit(en)? Sie schlägt vor, die Familientherapie<br />

als Ausgangspunkt zur Erforschung immer größerer<br />

gesellschaftlicher Einheiten zu nutzen. Familie wird<br />

hier meines Erachtens als eine vieler beliebiger Möglichkeiten/Existenzweisen<br />

von den (o.g.) Systemen begriffen.<br />

Ist aber nicht die Form der Familie eine spezifische, Frausein<br />

in der Familie nicht etwas "Besonderes"? Befremdend<br />

wirkte auf mich, daß trotz minutiöser Leidensbeschreibungen<br />

in und aus der Familie diese als Form nicht befragt wird.<br />

Ich denke, daß Palazzoli <strong>für</strong> die praktische klinische<br />

Arbeit sehr wertvolles Material, sehr bedenkenswerte Sichtweisen<br />

und Gedankenanstöße liefert. Praktische klinische<br />

Arbeit darf aber meines Erachtens nicht heißen, beispielsweise<br />

der Geschlechterfrage kaum Beachtung zu schenken oder<br />

der Klassenfrage oder der Frage, warum gerade diese Krankheit.<br />

Insofern spiegelt das Buch ein vorherrschendes Praxisverständnis<br />

wider. Anknüpfend an Palazzoli sollten weitere<br />

Forschungen angestellt werden, die Materialfülle noch<br />

besser ausgenutzt werden. Insgesamt hätte ich mir das Buch<br />

straffer gewünscht, zu oft entsteht "lückenhafte Redundanz".<br />

Beispielsweise wird ihr Entscheidungsprozeß <strong>für</strong> die familiendynamische<br />

Sichtweise nicht deutlich, die Beschreibung<br />

der Eltern z.B. zu oft quasi wiederholt.<br />

Birgit Jansen (Marburg)<br />

GESCHICHTE<br />

Arbeiterbewegung und Arbeiterkultur<br />

Achten, Udo und Siegfried Krupke (Hrsg.): An Alle! Lesen!<br />

Weitergeben ! Flugblätter der Arbeiterbewegung von 1848 bis<br />

1933. Verlag Dietz, Bonn 1982 (256 S., br.)<br />

Eine sehr schöne und nützliche (aber leider auch recht<br />

teure) Sammlung von Flugblättern der Arbeiterbewegung von<br />

der Zeit der bürgerlichen Resolution bis 1933, der Zeit des<br />

Nationalsozialismus, liegt mit diesem Buch vor. In der Einleitung<br />

geben die Herausgeber eine kurze politisch-historische<br />

Einführung zum Flugblatt bzw. zur Flugschrift. Schon<br />

DAS ARGUMENT-BEIHEFT >R7,


Arbeiterbewegung und Arbeiterkultur 145<br />

im Mittelalter (Bauernkrieg) habe es Flugblätter gegeben,<br />

die von da an bis zur Gegenwart ein wesentlicher Bestandteil<br />

zur Schaffung von 'Gegenöffentlichkeit' und 'wirklicher<br />

Öffentlichkeit' (1) gewesen seien. Flugblätter seien<br />

relativ billig in der Herstellung gewesen, waren weniger<br />

bedroht von Zensur als beispielsweise Zeitschriften und<br />

hätten dadurch Kommunikation schaffen können auch "von unten<br />

nach oben" (1). Flugblätter sollten zur Agitation dienen<br />

(damals wie heute) und dokumentierten, "wie die jeweiligen<br />

gesellschaftlichen Verhältnisse von ihren Herausgebern gesehen<br />

wurden oder wie sie wollten, daß sie von den Lesern<br />

gesehen werden sollten" (5). Mit ihrem Band und der Auswahl<br />

der Flugblätter wollen Achten/Krupke versuchen, "die Aspekte<br />

von legaler und illegaler (beispielsweise während Inkrafttreten<br />

des Sozialistengesetzes, S.A.) Arbeit" (5) in der<br />

Arbeiterbewegung zu berücksichtigen.<br />

Der Band ist aufgeteilt in vier historische Abschnitte:<br />

die Entstehung und Entwicklung der Arbeiterbewegung/Nationalismus,<br />

Krieg und Frieden/Novemberrevolution und Konterrevolution/Die<br />

Weimarer Republik - eine Hoffnung und ihre<br />

Zerstörung. Jedem Zeitabschnitt voran steht ein sehr kurzer<br />

historischer Einführungsteil, der sich beschränkt auf die<br />

wesentlichen historischen Daten und die Hauptkontroversen<br />

der entsprechenden Zeit. Im letzten Teil wird beispielsweise<br />

der Frage nachgegangen, was die 'Machtergreifung' der<br />

Nationalsozialisten ermöglichte bzw. was einen Widerstand<br />

auf der Seite der Arbeiterbewegung dagegen verhinderte. Neben<br />

wirtschaftlichen Begründungen wird die Spaltung in der<br />

Arbeiterbewegung als ein Grund mit angegeben <strong>für</strong> die Schwäche<br />

der damaligen Arbeiterbewegung. "Die Sozialfaschismusthese<br />

der KPD einerseits, die die Sozialdemokraten als 'soziale<br />

Faschisten' bezeichnete, und die Gleichsetzung der<br />

Kommunisten mit den Faschisten als 'gemeinsame Feinde der<br />

Demokratie' durch die SPD andererseits, vertieften die<br />

Spaltung der Arbeiterklasse. Beide Positionen erwiesen sich<br />

als falsch und verhinderten eine geschlossene Front gegen<br />

den Faschismus" (113). Deutlich wird an diesem Zitat auch,<br />

daß das Buch <strong>für</strong> jedermann und jederfrau fast voraussetzungslos<br />

verständlich ist. Zwar sind die Informationen zu<br />

den jeweiligen Zeitabschnitten nicht sehr ausführlich - dadurch<br />

können viele kontroverse und umkämpfte Positionen<br />

rund um die (Geschichte) der Arbeiterbewegung auch nicht<br />

aufgenommen werden - das Buch enthält jedoch ausreichend<br />

Informationen, um die Flugblätter historisch grob einordnen<br />

zu können. Punkte, die den Leser/die Leserin besonders interessieren,<br />

müssen notfalls mit anderem historischen Material<br />

ergänzt werden.<br />

Weitaus wichtiger als die Kommentare sind die Flugblätter<br />

selbst. Dies entspricht auch der Intention der Herausgeber.<br />

Die ca. 200 Flugblätter, die meist in Originalgröße<br />

und -aufmachung abgedruckt sind, stellen schon einen optischen<br />

Genuß dar. Die Herausgeber haben darauf verzichtet,<br />

DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83


146 Geschichte<br />

jedes einzelne Blatt zu kommentieren; es gibt einen ausführlichen<br />

Anhang, der Angaben zum Erscheinungsdatum, Herausgeber<br />

etc. des jeweiligen Blattes enthält. Achten und<br />

Krupke selbst verfolgen nicht den Anspruch, mit ihrem Buch<br />

eine neue Art der Geschichtsschreibung zu liefern, sie verstehen<br />

die Flugblattsammlung als eine "sinnvolle Ergänzung<br />

zur wissenschaftlichen Geschichtsschreibung und Korrektiv<br />

mündlicher Überlieferung" (7) und schlagen vor, das Buch<br />

als solches zu nutzen. Die Vielfalt der Arbeitsmöglichkeiten<br />

mag auch daran deutlich werden, wie wir in einem Hamburger<br />

Frauenseminar mit dem Buch arbeiteten. Wir beschäftigten<br />

uns mit unterschiedlichen Formen, in/mit denen verschiedene<br />

politische Inhalte vermittelt werden können. In<br />

einer Arbeitsgruppe versuchten wir herauszuarbeiten, welche<br />

Schritte notwendig sind, um ein gutes, d.h. ansprechendes<br />

und informatives Flugblatt zu machen. Wir suchten uns<br />

ein Flugblatt aus dem vorliegenden Band aus, das uns besonders<br />

gefiel und analysierten es auf Aufbau, Machart etc.,<br />

und machten ein eigenes Blatt in Anlehnung daran. Unter anderem<br />

stellten wir bei dieser Arbeit fest, daß sich die<br />

'Machart' von Flugblättern im Laufe der Zeit nicht besonders<br />

verändert hat, daß die Inhalte sich wandeln, die Formen<br />

aber ähnliche bleiben. Dies nur als eine Möglichkeit,<br />

mit diesem Sammelband zu arbeiten. Jedem/r Historiker/in<br />

mag das Buch als Ergänzung zu seinem anderen Material dienen.<br />

Entsprechend der Rolle der Frauen in der Arbeiterbewegung<br />

gibt es nur sehr wenige Flugblätter, in denen die besonderen<br />

Belange der Frauen berücksichtigt werden. Wenn,<br />

werden die Frauen angerufen als Mütter oder Arbeiterinnen,<br />

die sich den Kommunisten oder Sozialdemokraten anschließen<br />

sollen, damit sie Brot <strong>für</strong> ihre Familien haben. Auch mit<br />

diesem 'Nichtvorkommen' der Frauen in diesem Band kann gearbeitet<br />

werden, zumal das ja nicht etwa dem Band angelastet<br />

werden kann, sondern der damaligen (wie heutigen?)<br />

praktischen Politik. Sünne Andresen (Hamburg)<br />

van der Will, Wilfried und Rob Burns: Arbeiterkulturbewegung<br />

in der Weimarer Republik. Eine historisch-theoretische<br />

Analyse der kulturellen Bestrebungen der sozialdemokratisch<br />

organisierten Arbeiterschaft. Ullstein Verlag, Frankfurt-<br />

Berlin-Wien 1982 (272 S., br.)<br />

Dies.: Arbeiterkulturbewegung in der Weimarer Republik.<br />

Texte - Dokumente - Bilder. Ullstein Verlag, Frankfurt-Berlin-Wien<br />

1982 (280 S., Abb., br.)<br />

Während die Erforschung der Arbeiterkulturgeschichte bis<br />

1914 - wie die Geschichte der Arbeiterbewegung überhaupt -<br />

in befriedigend großem Umfang geleistet wurde, gilt dies<br />

nicht <strong>für</strong> die Zeit der Weimarer Republik. Die Lücke betrifft<br />

insbesondere die Geschichte der Sozialdemokratie,<br />

der Gewerkschaften sowie deren Kulturorganisationen. Unter<br />

dem Primat einer angeblich nur im Umfeld der KPD zu finden-<br />

DAS ARGUMENT-BEIHEFT >R7,


Arbeiterbewegung und Arbeiterkultur 147<br />

den sozialistischen Kulturtradition wird etwa die sozialdemokratische<br />

"Arbeiterdichtung" (Bröger, Schönlank, etc.)<br />

nahezu überall als "kleinbürgerlich-reformistisch", wenn<br />

nicht gar als "präfaschistisch" bezeichnet. Dokumentation<br />

und Untersuchung von Will/Burns setzen sich zum Ziel, "die<br />

relative historische Gewichtung der sozialdemokratischen<br />

Kulturorganisationen und deren künstlerische Aktivitäten<br />

gegenüber den heute bevorzugt untersuchten kommunistischen<br />

einer gerechteren historischen Beurteilung zuzuführen" ( ! )<br />

(11).<br />

Die Arbeit versteht sich dabei nicht nur in der Themenwahl,<br />

sondern auch im Untersuchungsansatz als wegweisend:<br />

ausgehend von einem Kulturbegriff, der Kultur als Gestaltung<br />

des gesellschaftlichen Lebens und der Natur begreift,<br />

will sie vor allem am Material des Sprechchors als spezifisch<br />

proletarischer Kunstform das Zusammenwirken von materieller<br />

Lage der Arbeiterklasse, ihrer Kulturtheorie und<br />

ihren Vereinen und Organisationen analysieren. Dazu greifen<br />

die Autoren auch auf bislang nur schwer zugängliches Material<br />

zurück, z.B. die nur noch in wenigen Exemplaren vorhandenen<br />

Zeitschriften "Kulturwille", "Sozialistische Bildung"<br />

oder "Arbeiter-Turnzeitung" sowie die selten in Bibliotheken<br />

zu findenden Sprechchöre Bruno Schönlanks. Mit<br />

der erstmals ausführlichen Darstellung dieser Sprechchoreinrichtung<br />

kann die weitverbreitete These widerlegt werden,<br />

das sozialdemokratische Arbeitertheater habe "keine<br />

eigenständige Kunstform entwickelt" (G.A. Ritter/C. Rülcker).<br />

Dennoch "soll die These von der hervorragenden Bedeutung<br />

des kommunistischen Theaters" von den Verfassern "eher qualifiziert<br />

als radikal in Frage gestellt werden" (122). Solches<br />

Sowohl-als-auch rührt von einer tendenziell verabsolutierten<br />

Bestimmung der Arbeiterkultur im Kontext der "erweiterten<br />

Subsumtion der Arbeit" (12ff.). Diese Sichtweise<br />

verhindert letztlich die angekündigten "theoretisch-methodologischen<br />

Neuansätze" (10). Trotz eines in der Abgrenzung<br />

zu semiologischen, idealistischen und marxistischen Strukturalisten<br />

(Barthes, Lévi-Strauss, Althusser) (!) gewonnenen<br />

Kulturbegriffs, der nicht nur "Spitzenproduktionen<br />

schöpferischer Gestaltung" ( 10) erfassen will, gelingt es<br />

den Autoren nicht, den entscheidenden Unterschied zwischen<br />

bürgerlicher und Arbeiterkultur herauszuarbeiten, wie ihn<br />

etwa die nicht berücksichtigten Kulturtheoretiker R. Williams<br />

oder E.P. Thompson beschreiben. Deren weiter, prozeßhafter<br />

Kulturbegriff scheint aber gerade in der neueren<br />

Diskussion zur Arbeiterkultur kaum verzichtbar zu sein. Der<br />

Ansatz der "erweiterten Subsumtion" läßt bei Will/Burns dagegen<br />

sogar die "zweite Kultur" als teilweise im Dienst<br />

ideologische Zustimmung sichernder Strategien des Kapitals<br />

erscheinen (vgl. 18). <strong>Das</strong> Dilemma dieses Ansatzes wird offenkundig,<br />

wenn man Versuche der sozialdemokratischen Kulturarbeit,<br />

sich die humanistischen Potentiale der klassischen<br />

bürgerlichen Kulturarbeit anzueignen, als "geborg-<br />

DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83


148 Geschichte<br />

te(s) Werkzeug aus bürgerlichen Verseschmieden" bezeichnet,<br />

aber im gleichen Satz konzediert werden muß, daß auch dies<br />

"bereits ein kleiner Sieg ist, insofern die Arbeiter" in<br />

der Arbeiterfestkultur "nicht mehr unmittelbar dem Kommando<br />

des Kapitalherrn unterstehen" (26). Schwerer noch fällt es<br />

den Autoren, in dem mit der Geselligkeit bei der Festkultur<br />

zum Ausdruck kommenden Gemeinschafts- und Reproduktionsbedürfnis<br />

der Arbeiter mehr als nur "kompensatorische Momente<br />

kapitalistischer Ausbeutung" (45) zu sehen, obwohl sie eingestehen,<br />

daß die "Befriedigung bestimmter realer menschlicher<br />

Bedürfnisse (...) von der Arbeiterbewegung sonst weitgehend<br />

vernachlässigt worden" (151) sei.<br />

Die Untersuchung ist also ständig gezwungen, die behandelte<br />

Literatur gegen die Vorwürfe zu verteidigen, die aus<br />

ihrem verabsolutierten Ansatz der erweiterten Subsumtion<br />

herrühren. Dieser verhindert aber, daß die Autoren den Entwicklungsprozeß<br />

der sozialdemokratischen Arbeiterkultur<br />

adäquat erfassen und führt notwendig dazu, die kulturellen<br />

Leistungen der Arbeiterschaft nur nach dem Grad ihrer Distanzierung<br />

vom Kapital zu werten. Damit kommen sie aber<br />

nicht über eine graduelle Verschiebung altbekannter Reformismus-Revisionismus-Vorwürfe<br />

hinaus. So erklären sich die<br />

an sich unnötigen Beteuerungen, die "hervorragende Bedeutung"<br />

kommunistischer Arbeiterkultur nicht schmälern zu<br />

wollen. Dort finden die Autoren denn auch, was <strong>für</strong> die<br />

"Kultursozialisten" in der SPD zwar auch - aber eben nur<br />

<strong>für</strong> sie - als vorhanden bewiesen wurde: das Konzept einer<br />

"operativen Kulturtheorie (...), die eine Funktionalisierung<br />

der Kunst und Kultur zum Nutzen der Partei anstrebte",<br />

wohingegen die offizielle Linie der SPD solches Ansinnen<br />

angeblich zurückwies (237) und der KPD damit den "Bereich<br />

der proletarischen Klassenkultur" überließ (240).<br />

Aber nicht nur methodologische Unzulänglichkeiten und<br />

eine "edukationistisch" verstandene Instrumentalisierung<br />

von Kultur lassen die Autoren zu letztlich bekannten und<br />

weiterhin fraglichen Ergebnissen kommen; eine trotz der benutzten<br />

entlegenen Quellen ungenügende Materialbasis und<br />

ihre oberflächliche Auswertung tun ein übriges: z.B. findet<br />

keines der in die Hunderte gehenden Stücke des Arbeiterlaientheaters<br />

(etwa aus dem Arbeiterjugendverlag oder aus dem<br />

Arbeitertheaterverlag Jahn) Berücksichtigung; der Arbsiterjugendbewegung,<br />

dem Hauptträger und -publikum (74) der sozialdemokratischen<br />

Arbeiterkulturbewegung, werden nur wenige<br />

Zeilen eingeräumt. Dem entspricht ein weiterer Mangel an<br />

wissenschaftlicher Seriosität: unvollständiges und allzu<br />

häufiges, in vielfacher Hinsicht fehlerhaftes oder gar<br />

sinnentstellendes Zitieren. Dieses setzt sich fort im Materialienband,<br />

der knappe Textauszüge zur Arbeiterkulturtheorie,<br />

zu Arbeitersport, -musik, -theater und zur Fest- und<br />

Feierkultur sowie fünf Sprechchöre von Eisner, Toller,<br />

Schönlank und das "Wanderlied" von Hermann Claudius enthält.<br />

Weder sind die in den Texten vorgenommenen Kürzungen kennt-<br />

DAS ARGUMENT-BEIHEFT >R7,


Arbeiterbewegung und Arbeiterkultur<br />

149<br />

lieh gemacht, noch sind beispielsweise die Sprechchöre repräsentativ<br />

ausgewählt; sie dokumentieren einen Minimalausschnitt<br />

noch heute bekannter Autoren und vernachlässigen<br />

die Vielzahl heute unbekannterer, aber gerade deswegen interessanter<br />

Texte. Dokumentarisch geradezu unbrauchbar ist<br />

das vielfach unleserliche und schlecht reproduzierte Bildmaterial.<br />

Die selten zu sehenden programmatischen Titelbilder<br />

und -texte des "Kulturwillen" werden so zu nichtssagenden<br />

Illustrationen degradiert (bes. 26 ff.).<br />

Claudia Albert (Berlin/West) und Uwe Hornauer (Tübingen)<br />

Kaiser, Jochen-Christoph: Arbeiterbewegung und organisierte<br />

Religionskritik. Klett-Cotta Verlagsgemeinschaft, Stuttgart<br />

1981 (380 S., Ln.)<br />

Die These, daß die Arbeiter sich im ausgehenden 19.<br />

Jahrhundert von der Kirche "entfernt" hätten, gehört bereits<br />

zu den zum Allgemeingut herabgesunkenen Anschauungen<br />

über das Verhältnis von Kirche und Arbeiterbewegung. Sie<br />

suggeriert, daß es die Arbeiter waren, die sich von der<br />

Kirche losgesagt hätten, daß sie also der aktive Teil des<br />

Trennungsprozesses von Kirche und Arbeiterschaft gewesen<br />

wären. Damit verstellt sich aber gerade der Blick auf das<br />

eigentliche Subjekt dieses Entfremdungsprozesses und auf<br />

den Charakter der damaligen Kirche. Es war das landesherrlich<br />

organisierte, mit dem preußischen wie mit dem wilhelminischen<br />

Kaiserreich amalgamierte Kirchentum, das die Arbeiter,<br />

wenn Uberhaupt, dann doch immer nur zum Objekt<br />

seelsorgerischer Zuwendung und kirchlicher Fürsorge herabwürdigte,<br />

unmündig hielt und so aus der Kirche trieb. Diese<br />

Kirche mußte zwangsläufig Loslösungsversuche provozieren.<br />

Wie dies auf religiös-kirchlichem Gebiet zur Gründung von<br />

Arbeiterfreidenkervereinen führte, so machte die Enttäuschung<br />

der Arbeiterschaft Uber die Kirche einen Faktor aus,<br />

der zum Auszug der Arbeiter aus den kulturellen Bindungen<br />

der bürgerlichen Gesellschaft Uberhaupt und zum Aufbau einer<br />

eigenen Arbeiterkultur fUhrt. Die Kirche erschien als<br />

Hauptstütze des Klassenstaats, gleichzeitig mußte der Inhalt<br />

ihrer VerkUndigung notwendig auf diesem Hintergrund<br />

gedeutet werden. Aus der Kritik an der Kirche erwuchs die<br />

Kritik der Religion, wie aus dieser die Kritik an der Kirche.<br />

Es existiert bereits eine Reihe von Untersuchungen über<br />

den Problemkomplex 'Kirche und soziale Frage 1 . Kaiser wirft<br />

aus der bisher kaum eingenommenen Perspektive der Arbeiterbewegung<br />

Licht auf das Verhältnis des Proletariats zur Religion.<br />

Kaiser wendet sich in seiner Untersuchung den proletarischen<br />

Freidenkerverbänden zu, die die Kritik an Kirche<br />

und Religion in vereinsmäßig organisierter Gestalt artikulierten.<br />

Er hat dabei als erster die Quellen aufgearbeitet<br />

und eine umfassende Organisationsgeschichte des proletarischen<br />

Freidenkertums vorgelegt, die dem "politischen<br />

Stellenwert dieser Religionsgeschichte von links" (19)<br />

DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83


152 Geschichte<br />

gilt. Aus dem Umstand, daß dieses Problemfeld nach seiner<br />

Quellenlage noch kaum bearbeitet ist, rechtfertigt sich die<br />

organisationsgeschichtliche Annäherung an das Thema. "Über<br />

Wirkung und 'Erfolg' der sozialistischen Freidenkerverbände<br />

wird man nur urteilen können, wenn die Organisationen<br />

selbst in ihrer Struktur und den darin handelnden Personen<br />

dargestellt werden" (19). Organisationsgeschichte und Geschichte<br />

der 'eigentlichen Arbeiterbewegung' (vgl. <strong>Argument</strong><br />

106, S. 860ff.) müssen also keine Alternativen sein, diese<br />

kann nur unter Mithilfe jener geschrieben werden. "Als Einstieg<br />

in ein bislang nicht aufgearbeitetes Thema behält die<br />

Organisationsgeschichte ihren Wert" (21).<br />

Zu einer der wichtigsten Aufgaben des Freidenkertums gehörte<br />

seit Anfang des 20. Jahrhunderts die Propagierung des<br />

Kirchenaustritts. Daneben wurde von den Freidenkern die<br />

Forderung nach der Feuerbestattung, ein Gestus freidenkerischer<br />

Gesinnung seit der Französischen Revolution, aufgegriffen.<br />

Kirchenaustrittsbewegung und Feuerbestattung hängen<br />

eng mit der Entwicklung der proletarischen Freidenkerverbände<br />

zusammen. Durch sie erlebten die Verbände nach dem<br />

ersten Weltkrieg einen Aufschwung an öffentlicher Bedeutung,<br />

sie zeigen aber auch die Schwierigkeiten, denen die<br />

Freidenkerverbände ausgesetzt waren. Kaiser ordnet dem<br />

Hauptteil seiner Untersuchung, der "Organisationsgeschichte<br />

der proletarischen Freidenkerverbände zwischen 1905/08 und<br />

1933" (81-278), ein Kapitel über "Kirchenaustritt als Paradigma<br />

freigeistiger Aktion" und "Feuerbestattung und Freidenkertum"<br />

vor. Die proletarischen Freidenkerverbände, die<br />

sich 1908 vom 'Deutschen Freidenkerbund' gelöst hatten und<br />

den 'Zentralverband deutscher Freidenkervereine' (ab 1911<br />

'Zentralverband proletarischer Freidenker Deutschlands')<br />

gegründet hatten, erlebten erst nach dem ersten Weltkrieg,<br />

mit dem Ende des Bündnisses von Thron und Altar, einen Zuwachs<br />

an Mitgliedern. Nach dem Wegfall des landesherrlichen<br />

Kirchenregiments (der Landesherr ist nach diesem Modell<br />

auch der oberste Kirchenherr) war eine zur Konvention erstarrte<br />

Kirchlichkeit obsolet geworden, die Zahl der Kirchenaustritte<br />

nahm stark zu. Andererseits war der Sozialdemokratie<br />

nicht mehr an einer feindlichen Beziehung zur Kirche<br />

gelegen, in weltanschaulichen Fragen legte sie sich<br />

Zurückhaltung auf. Die Freidenkerverbände lagen nun im<br />

Spannungsfeld zwischen der durch die Kirchenaustrittsbewegung<br />

begünstigten Entwicklung ihrer Vereine und der Zurückhaltung<br />

der Sozialdemokratie, an die sie sich doch immer<br />

angelehnt hatten. Politischen Rückhalt fanden die Kirchenaustrittsbewegung<br />

und mit ihr die Freidenkerverbände<br />

schließlich nur noch bei der USPD und der KPD. Eingepaßt in<br />

die Klassenkampfstrategie der KPD verlor sie jedoch ihr eigenes<br />

Profil. Die KPD versuchte Freidenkerverbände <strong>für</strong> die<br />

Politisierung der Arbeiter gegen die Sozialdemokratie zu<br />

benutzen, in der das freidenkerische Ansinnen nur noch Vehikel<br />

der Strategie war. Die Sozialdemokratie bestätigte<br />

DAS ARGUMENT-BEIHEFT >R7,


Arbeiterbewegung und Arbeiterkultur<br />

151<br />

hingegen auf dem Kieler Parteitag 1927 ihre auch bisher geübte<br />

Abstinenz in weltanschaulichen fragen. Der Kampf <strong>für</strong><br />

den Sozialismus sei von weltanschaulichen Fragen abhängig.<br />

Ende der zwanziger Jahre kam es schließlich zu einer Trennung<br />

von sozialdemokratisch orientierten und kommunistischen<br />

Freidenkerverbänden, dem entsprach die Spaltung der<br />

Internationalen Freidenkerverbände 1930. Der Herausbildung<br />

der kommunistischen Opposition innerhalb der deutschen<br />

Freidenkerverbände und dem internationalen Freidenkerzusammenschluß<br />

widmet Kaiser je ein eigenes Kapitel. Die Frage<br />

der Feuerbestattung beleuchtet ein zweite Schwierigkeit,<br />

mit der die Freidenkerverbände zu tun hatten. Triebkraft<br />

des Aufschwunges der Feuerbestattung nach dem ersten Weltkrieg<br />

war nicht die freigeistige Weltanschauung, sondern<br />

die "wirtschaftliche Not einkommensschwacher Bevölkerungsgruppen"<br />

(78). Der 1905 in Berlin gegründete 'Verein der<br />

Freidenker <strong>für</strong> Feuerbestattung' verstand sich, wie er die<br />

Bezeichnung 'proletarisch' schon nicht im Titel führte,<br />

nicht als ein ausgesprochen weltanschaulicher Verband, sondern<br />

als eine Form der Bestattungsversicherung. 1933 wurde<br />

der Verein der 'Neuen deutschen Bestattungsklasse 1 eingegliedert,<br />

ohne daß viele seiner Mitglieder an den Austritt<br />

dachten. Dies zeigt, wie neben dem geringen Stellenwert,<br />

der der kulturellen Revolutionierung der Gesellschaft auf<br />

dem Gebiet der organisierten Religionskritik in den politischen<br />

Strategien der Parteien zukam - nach der Revolution<br />

würde sich die Religion sowieso auflösen -, auch das religions<strong>kritische</strong><br />

Anliegen von der Arbeiterbewegung selbst<br />

kaum aufgenommen wurde. Der politische Anspruch der Freidenker<br />

"hätte von denen angenommen und in ihre politische<br />

Konzeption integriert werden müssen, denen das 'Angebot'<br />

des proletarischen Freidenkertums galt: der organisierten<br />

Arbeiterbewegung" (338).<br />

Ralph Möllers und Joachim von Soosten (Marburg)<br />

Henkel, Martin und Rolf Taubert: Maschinenstürmer. Ein Kapitel<br />

aus der Sozialgeschichte des technischen Fortschritts.<br />

Syndikat Autoren- und Verlagsgesellschaft, Frankfurt/M.<br />

1979 (263 S., br.)<br />

Während die Geschichte der organisierten Arbeiterbewegung<br />

seit vielen Jahren in der Geschichtswissenschaft einen<br />

mittlerweile recht breiten Raum einnimmt, erlangt die Erforschung<br />

des Lebens und der sozialen Kämpfe der unteren<br />

sozialen Schichten oder Klassen in Deutschland noch kaum<br />

jene Aufmerksamkeit, wie sie ihr etwa in der französischen<br />

oder angelsächsischen Historiographie zuteil wird. Die lesenswerte<br />

Studie von Henkel/Taubert gibt in der Kritik vorherrschender<br />

Perspektiven bei der Erforschung der Geschichte<br />

der unteren Klassen Gründe <strong>für</strong> die weitgehende wissenschaftliche<br />

Vernachlässigung der sozialen Verhaltensmuster,<br />

Normen, Widerstandsformen, Lebens- und Arbeitsweisen: Sowohl<br />

die marxistisch-leninistische Geschichtswissenschaft<br />

DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83


152 Geschichte<br />

wie die "bürgerliche" zeichnen sich nach ihrer Ansicht<br />

durch einen mehr oder minder ausgeprägten Fortschrittsoptimismus<br />

aus, der bewußt oder unbewußt als Maßstab <strong>für</strong> die<br />

Qualifizierung des Verhaltens sozialer Gruppen dient. Soziales<br />

Verhalten (etwa "zünftierisches" oder technikfeindliches)<br />

wird dann als "rückwärtsgewandt" u.ä. apostrophiert,<br />

wenn es dem Aufrechterhalten der sozialen Ordnung einer<br />

"vergangenen" Epoche dient, andere Verhaltensmuster und Bewußtseinsstrukturen<br />

gelten dann als "fortschrittlich", als<br />

"bewußt", wenn sie als Indiz einer Überwindung oder Ablösung<br />

eben jener früheren Stadien erscheinen, als "Keimformen"<br />

oder "Vorläufer" nachfolgender Bewußtseinsstufen oder<br />

Organisationsentwicklungen diagnostiziert werden können.<br />

Solche Perspektiven sind Henkel/Taubert zufolge Geschichtsmythologien,<br />

die dem Legitimationsbedürfnis veränderter Gesellschaftsformationen<br />

dienen, aber den wirklichen Interessen<br />

der unterdrückten und ausgebeuteten Menschen Gewalt antun.<br />

Henkel/Taubert werden sich damit gegen eine Betrachtungsweise<br />

aus der Vogelperspektive: "Historiker, welcher<br />

politisch-wissenschaftlicher Provenienz auch immer, pflegen,<br />

bevor sie sich an Teiluntersuchungen machen, ein mehr<br />

oder weniger festes Bild von den großen historischen Epochen<br />

zu haben, denen sich die Ergebnisse der spezielleren<br />

Forschungen anpassen müssen, was sich denn auch regelmäßig<br />

mit der größten Leichtigkeit ergibt. Bestimmte ökonomische,<br />

geistes- oder sozialgeschichtliche Zusammenhänge werden zu<br />

übergeordneten Größen hypostasiert, deren Höhepunkte beliebteste<br />

Objekte des Forscherfleißes sind; was vorher und<br />

nachher geschah, was daneben vielleicht sonst noch passierte<br />

, wird dann von diesen Höhepunkten her und auf sie hininterpretiert"<br />

(10).<br />

Die vorliegende Arbeit zielt in ihren methodischen und<br />

materialen Erörterungen primär auf eine Kritik der teleologischen<br />

Geschichtsbetrachtung - die entsprechenden Partien<br />

dieser Arbeit zeichnen sich allerdings durch eine beträchtliche<br />

Redundanz aus. In dem Versuch einer strukturanalytischen<br />

Darstellung gesellschaftlicher Subsysteme (30) eines<br />

bestimmten Zeitraumes wollen die Autoren zeigen, wie eine<br />

"hoffentlich vorurteilsfreie sozialgeschichtliche Darstellung<br />

aussehen müßte" (29). Gegenstand der Studie sind zwei<br />

in der historischen Forschung schon wiederholt aufgegriffene<br />

"Vorfälle": Der größere Abschnitt von Martin Henkel befaßt<br />

sich mit der Entstehung, dem Verlauf und den Folgen<br />

der Zerstörung einer Schermaschine in der von der Textilindustrie<br />

geprägten Industriestadt Eupen im Jahr 1821, der<br />

kleinere von Rolf Taubert mit einem Streik von Solinger<br />

Schleifern 1826, bei dem es zentral um die Wiedereinführung<br />

von Entlohnungsformen des Zunftsystems ging. Den Autoren<br />

geht es dabei vor allem darum, das Verhalten der Arbeiter<br />

aus ihren konkreten Interessenslagen heraus verständlich zu<br />

machen, um damit auch einer vorschnellen Bewertung des Ar-<br />

DAS ARGUMENT-BEIHEFT >R7,


Faschismus und Widerstand 153<br />

beiterverhaltens aus epochenübergreifenden "Ubergeordneten"<br />

Perspektiven entgegenzutreten. Die "Maschinenstürmer" werden<br />

hier nicht zu technik- oder fortschrittsfeindlichen Individuen,<br />

sondern zu Menschen, die sich ihrer Interessen<br />

wohl bewußt waren und gezielt ihnen geeignete Maßnahmen zur<br />

Sicherung ihrer Arbeitsplätze ergriffen hatten.<br />

Bei der Rekonstruktion der Geschichte der sozialen Kämpfe<br />

der Arbeiter - die auch durch die breite, detaillierte<br />

Dokumentation zeitgenössischen Materials fUr den Leser anschaulich<br />

und nachprüfbar geleistet wird - geht es den Autoren<br />

aber auch zugleich um eine regionalgeschichtliche<br />

Einbettung der Klassenkämpfe in die wirtschaftliche und politische<br />

Situation der Industrieregionen Eupen und Solingen.<br />

Insofern wird der Anspruch eines sozialgeschichtlichen<br />

Verfahrens Uberzeugend eingelöst. Die Informationen Uber<br />

das alltägliche Verhalten der Arbeiter werden allerdings<br />

aus Berichten und Dokumentationen der politisch Herrschenden<br />

herausgefiltert. Trotz des behutsamen quellen<strong>kritische</strong>n<br />

Umgangs mit diesen Texten gelingt den Autoren nur gelegentlich<br />

eine authentische Rekonstruktion des Alltäglichen -<br />

zumal eben nicht alles, was fUr die Arbeiter bedrückend und<br />

wichtig war, auch in den Regierungsakten steht. Über den<br />

Alkoholismus der Arbeiter etwa, von dem auch Henkel und<br />

Taubert behaupten, sie würden ihn nicht ignorieren, erfährt<br />

man nichts in diesem Buch. Die quellen- und ideologie<strong>kritische</strong><br />

Reinigung von regierungsamtlichen Verlautbarungen u.<br />

ä. reicht allein nicht <strong>für</strong> eine Darstellung des alltäglichen<br />

Lebens der Unterschichten aus. - Ein anderes Problem<br />

dieser Studie liegt darin, daß die Autoren über das von ihnen<br />

verwendete methodische und begriffliche Arsenal kaum<br />

Aufschluß geben. Zwar lehnen sie in ihrer Kritik zumal marxistisch-leninistischer<br />

Forschungsarbeiten deren zentrale<br />

Klassifikationen ab, hantieren aber gleichwohl selbst mit<br />

dem begrifflichen Instrumentarium der Marxschen Klassenanalyse,<br />

dessen Produktivität sich dabei recht aufschlußreich<br />

erweist. Hartmann Wunderer (Gronau)<br />

Faschismus und Widerstand<br />

Hübner, Irene: Unser Widerstand. Deutsche Frauen und Männer<br />

berichten über ihren Kampf gegen die Nazis. Röderberg Verlag,<br />

Frankfurt/M. 1982 (235 S., br.)<br />

Der Titel des Buches signalisiert einen Zusammenhang,<br />

der hierzulande, im Unterschied etwa zu Frankreich oder<br />

Italien, alles andere als selbstverständlich ist: das, worüber<br />

die von Irene Hübner befragten Menschen berichten,<br />

ist deren antifaschistischer Kampf gewesen, der unser politisches<br />

und kulturelles Erbe ist. Erbe ist tot, solange<br />

nicht die Anstrengung unternommen wird, es anzueignen. Ein<br />

DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83


154 Geschichte<br />

Stück zu dieser Aneignung beizutragen, ist die Absicht der<br />

vorliegenden Veröffentlichung. Gerade vor dem Hintergrund<br />

der offiziellen Geschichtsschreibung des antifaschistischen<br />

Widerstandes, die sich vor allem dadurch auszeichnet, wenn<br />

nicht totzuschweigen, dann jedenfalls zu klittern, in antikommunistischer<br />

Manier zu dividieren in 'guten' und<br />

'schlechten' Widerstand, erscheint das von Hübner gewählte<br />

Rekonstruktionsverfahren, die Subjekte des antifaschistischen<br />

Kampfes selbst sprechen zu lassen, nur zu vernünftig.<br />

Hübner hat sich bei der Auswahl der Interviewpersonen<br />

von dem der Oral History eigenen Prinzip leiten lassen, die<br />

Befragten nicht danach auszuwählen, ob sie irgendeiner statistischen<br />

Regel entsprechen, sondern danach, ob sie in der<br />

Lage sind, bestimmte historische Prozesse exemplarisch zu<br />

verdeutlichen. Damit ist nicht nur der Aspekt historischer<br />

Rekonstruktion, sondern zugleich der der Didaktik, der Hilfestellung<br />

zur Aneignung, hier des antifaschistischen Erbes,<br />

ins Licht gerückt. Rekonstruktions- und Didaktikaspekt<br />

sind innerhalb der Oral History ernstlich nicht zu trennen.<br />

Hübner hat diesen inneren Zusammenhang bei der Anlage und<br />

Aufbereitung des Buches wohl bedacht und ein Buch 'komponiert'<br />

, das als ein Kapitel dokumentarischer Literatur mit<br />

operativen Intentionen, unterbliebene Aneignung des antifaschistischen<br />

Widerstandes nachholen zu helfen, gelesen werden<br />

kann. Hübner stellt in den Mittelpunkt themen-, ereignis-<br />

und prozeßbezogene Erinnerungen "aktiver antifaschistischer<br />

Zeugen" (230). Aber sie reiht nicht einfach die<br />

bandprotokollierten 'mündlichen Überlieferungen' aneinander,<br />

sondern greift strukturierend ein. Schon die Auswahl<br />

der Befragten und Anlage der Interviews erfolgen im Zeichen<br />

theoretischer Bezugspunkte, so daß Oral History hier nicht<br />

zu beliebigem Herumstochern in privaten Erinnerunge denaturiert.<br />

"Grundlage <strong>für</strong> die Gespräche mit aktiven Antifaschisten<br />

waren die Ergebnisse der Widerstandsforschung, auch<br />

der regional—räumlichen" (230). Es dürfte der Mentalität<br />

der befragten Antifaschisten entsprochen haben, die subjektiv<br />

erinnerten Tätigkeiten, Erlebnisse, Ereignisse und Folgen<br />

sozial und politisch zu perspektivieren. Und so lesen<br />

sich denn die dokumentierten Erinnerungen weder wie privatförmige,<br />

intimisierte Autobiographien noch wie privatförmig<br />

organisierte Memoirenwelten. Daß weder Leidenspathographien<br />

noch historische Kammerdiener- oder Prominentenanekdoten<br />

präsentiert werden, verdankt sich natürlich wesentlich den<br />

Biographien der befragten Zeitzeugen selbst. Sie sind bis<br />

zum Zeitpunkt der Befragung politische Subjekte geblieben,<br />

in deren Erinnerungs- und Erzählweise selbst der soziale<br />

Prozeß- und Strukturzusammenhang zwischen antifaschistischem<br />

Widerstand und aktuellen politischen Kampffeldern und<br />

-aufgaben mit gesetzt ist. An diese ausdrücklich gesellschaftliche<br />

Erfahrungs- und Erzählform, der Einheit von Rekonstruktion<br />

und Didaktik, knüpft Hübner in der Präsentationsform<br />

des Buches an. Sie strukturiert die erinnerten<br />

DAS ARGUMENT-BEIHEFT >R7,


Faschismus und Widerstand 155<br />

Berichte der antifaschistischen Zeitzeugen zum einen nach<br />

chronologischen Gesichtspunkten der Geschichte des Widerstandes,<br />

zum anderen sind die subjektiven Berichte nach<br />

Maßgabe typischer Kristallisationsformen des deutschen antifaschistischen<br />

Widerstandes geordnet. Darin liegt kein<br />

Willkürakt derjenigen, die mündliche Überlieferung dokumentiert<br />

hat, sondern es entspricht der Strukturierungsform<br />

wesentlicher Partien des antifaschistischen Kampfes selbst.<br />

Seine Kristallisationsform ist eben vornehmlich der "organisierte<br />

Widerstand" (230) gewesen, was die Erinnerungen<br />

eindeutig belegen. Von hier aus rückt, und auch dies geben<br />

die subjektiven Berichte zu erkennen, der "Alltagswiderstand"<br />

ins historische Licht. Beides sind unterschiedliche<br />

Momente innerhalb der gesamten antifaschistischen Kraftentfaltung;<br />

Hübner hat sich auf den "organisierten Widerstand"<br />

- und dies in seinen abdifferenzierten Erscheinungsformen<br />

und Positionen - konzentriert. Dieser Differenziertheit<br />

entsprechend hat sie auch die einzelnen Kapitel geordnet,<br />

ohne unsinnige Schnitte 'telefonbuchpolitologischer' Art zu<br />

machen. Der antifaschistische Widerstand ist, dies veranschaulichen<br />

die Berichte, eine - wenn auch nicht konfliktfreie<br />

und problemlose - Kampffront Uber politisch-weltanschauliche<br />

Positionsgrenzen hinweg gewesen. Was die Lektüre<br />

der vorliegenden Berichte so aufschlußreich macht, ist gerade<br />

das Sichtbarwerden der im Zuge antifaschistischer Tätigkeit<br />

gewonnenen Erfahrung und Einsicht, daß ohne praktische<br />

Bündnis-Bildung wenig oder gar nichts geht. Dies sprechen<br />

die Befragten, die heute noch teilhaben an den politischen<br />

Auseinandersetzungen, im Verlauf ihrer Erinnerungen<br />

in die Gegenwart hinein.<br />

Es verdankt sich schließlich auch dem kollektiven Charakter<br />

des Widerstandes, daß in den Erinnerungen an keiner<br />

Stelle eine Neigung zur Hagiographie oder Heldenlegende zu<br />

spüren ist. Der phrasenlose, lakonische Erzählstil tut das<br />

seinige dazu. Dies kommt einer praxismotivierenden Aneignung<br />

des antifaschistischen Erbes ebenso zugute, wie das<br />

von HUbner folgerichtig verwendete Darstellungsprinzip. Sie<br />

stellt die erzählten Erinnerungen jeweils in einen interpretierten<br />

historisch-politischen Verweisungszusammenhang;<br />

dieser wird verdeutlicht durch zeitgenössisches dokumentarisches<br />

Material, Tabellen, Fotos, Aktennotizen und literarische<br />

Texte. Vervollständigt wird das Ensemble der Veranschaulichungsmittel,<br />

die der Rekonstruktion wie der Didaktik<br />

dienlich sind, durch instruktive sozio-individuelle<br />

Kurzviten der befragten Antifaschisten.<br />

Was Hübner vorgelegt hat? Ein Kapitel aus dem Alltag des<br />

organisierten Widerstandes und seiner Umsphäre, dessen Lektüre<br />

insbesondere dadurch spannend wird, daß in den Erzählungen<br />

subjektive Motivierung und Entwicklung von Fähigkeiten<br />

anschaulich werden. Daß diese Fähigkeiten alles andere<br />

als gering gewesen sind, davon zeugen nicht zuletzt die Akten<br />

der faschistischen Verfolgungsbehörden.<br />

Friedhelm Kröll (Nürnberg)<br />

DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83


156 Geschichte<br />

Adolph, Walter: Geheime Aufzeichnungen aus dem nationalsozialistischen<br />

Kirchenkampf 1935-1943. Bearb. von Ulrich v.<br />

Hehl. Veröffentlichungen der Kommission <strong>für</strong> Zeitgeschichte.<br />

Band 28. Matthias-Grünewald-Verlag, Mainz 1980 (XLII, 304<br />

S., Abb., Ln.)<br />

In aller Regel wird von kirchlicher Seite die Haltung<br />

der katholischen Bischöfe und anderer führender Geistlicher<br />

gegenüber der Naziherrschaft in rosigem Lichte dargestellt.<br />

Vor allem - so heißt es - wären sie den Angriffen auf die<br />

katholische Kirche, der Einschränkung ihrer Tätigkeit und<br />

der Verfolgung der Seelsorger - gemeinhin als Kirchenkampf<br />

bezeichnet - energisch begegnet. In ebensolchem Sinne hätten<br />

sie sich zu den brennenden Fragen der Zeit geäußert.<br />

Auch Adolph beteiligte sich daran, dieses Bild zu verklären<br />

und <strong>kritische</strong>n Betrachtungen, Einwänden und Darstellungen<br />

zu parieren. In einer seiner Schriften wandte er sich 1963<br />

unter dem Titel "Verfälschte Geschichte" gegen Rolf Hochhuths<br />

Drama "Der Stellvertreter". In anderen Publikationen<br />

zitierte er des längeren mit gleicher Absicht aus seinen<br />

zeitgenössischen Aufzeichnungen. In ihnen hielt er die ihm<br />

zufließenden Kenntnisse und Eindrücke fest. Denn als Ratgeber,<br />

Sendbote und Vertrauter des <strong>Berliner</strong> Bischofs Konrad<br />

Graf von Preysing kannte Adolph intim die kirchenpolitische<br />

Szenerie jener Jahre. Auch war er damals <strong>für</strong> die katholischen<br />

Zeitungen in Berlin und darüber hinaus zuständig, da<br />

Preysing als der <strong>für</strong> die Pressearbeit verantwortliche deutsche<br />

katholische Würdenträger fungierte.<br />

Aus der - laut dem Bearbeiter - vollständigen Veröffentlichung<br />

von Adolphs damaligen Notizen gehen neben schon bekannten<br />

Details über Nazivorstöße das Zögern und die Zurückhaltung<br />

des Vorsitzenden der Bischofskonferenz, Adolf<br />

Kardinal Bertram, hervor. Ebenso fixieren sie Gerüchte, der<br />

Leiter der Polizeiabteilung im preußischen Innenministerium,<br />

Erich Klausener, hätte sich am Staatsstreich des 20.<br />

Juli 1932 beteiligt. Vor allem jedoch sind Adolphs Bemerkungen<br />

Uber den päpstlichen Vertreter in Berlin, eine Reihe<br />

von Bischöfen und deren enge Mitarbeiter beachtenswert, die<br />

ihre Haltung anders als in den eingangs erwähnten Publikationen<br />

erscheinen lassen. Über den Nuntius Cesare Orsenigo<br />

meinte er beispielsweise, "daß er im Innersten Faschist sei<br />

und bei der Ähnlichkeit der beiden politischen Systeme von<br />

vornherein <strong>für</strong> eine günstige Beurteilung des Nationalsozialismus<br />

disponiert war" (28). In solchem Licht muß Orsenigos<br />

vom Verfasser mehrfach vermerktes Zurückweichen vor<br />

Naziangriffen gesehen werden. Über den Bischof von Münster,<br />

Clemens August Graf von Galen, später von kirchlicher Seite<br />

immer wieder als ihre große Widerstandsfigur herausgestellt,<br />

notierte Adolph unter anderem, "daß er letzten Endes doch<br />

mit dem nationalsozialistischen System sympathisiere" (201).<br />

Ursachen seien Haß gegen den Parlamentarismus und den Marxismus<br />

sowie Autoritätsbewußtsein gewesen (22 und 229). An<br />

anderer Stelle notierte der zeitgenössische Betrachter:<br />

DAS ARGUMENT-BEIHEFT >R7,


Faschismus und Widerstand<br />

157<br />

"Clemens von Galen, Conrad (Gröber - K.D.) von Freiburg,<br />

Albert Coppenrath (<strong>Berliner</strong> Pfarrer - K.D.) und Erich Klausener<br />

waren aber Freunde des Regimes in seinem Beginn" (57).<br />

Selbst von Preysing, dessen Versuche, einen anderen Ton anzuschlagen,<br />

sein Vertrauter ständig heraushob, hielt er die<br />

Äußerung fest, die Nazis hätten die Religion und Sittlichkeit<br />

gefährdende Agitation des Sozialismus und Kommunismus<br />

beseitigt (46).<br />

Eine solche Stelle verband Adolph mit dem Gedanken, eine<br />

künftige Geschichtsschreibung müsse "genau klarlegen", warum<br />

und in welchem Maße sich Katholiken dem Naziregime zur<br />

Verfügung gestellt hätten (57). Diese Anregung, zu der auch<br />

seine Aufzeichnungen beitragen könnten, wurde freilich von<br />

ihm selbst später nicht befolgt und noch weniger in den<br />

apologetischen Schriften aus mancher katholischer Feder<br />

aufgenommen. Klaus Drobisch (Berlin/DDR)<br />

Peukert, Detlev: Die Edelweißpiraten. Protestbewegungen jugendlicher<br />

Arbeiter im Dritten Reich. Bund-Verlag, Köln<br />

1980 (240 S., br.)<br />

Die Geschichte des Widerstandes junger Leute gegen den<br />

NS-Staat, der jugendlichen Opposition gegen die Hitlerjugend,<br />

gehört bis heute zu den besonders vernachlässigten<br />

Kapiteln der wissenschaftlichen Aufarbeitung der deutschen<br />

Erfahrungen mit dem Faschismus. Die Weiße Rose gilt auch in<br />

der Fachliteratur hierzulande vielleicht noch als die nahezu<br />

absolute Ausnahme, die die Regel der jugendlichen Zustimmung<br />

zum Dritten Reich zu bestätigen scheint. Dieser<br />

Version im westdeutschen Geschichtsbewußtsein steht eine<br />

andere in der DDR-Geschichtsschreibung gegenüber, die immerhin<br />

(verdienstvollerweise) den Widerstand organisierter<br />

junger Kommunisten und Sozialisten würdigt, dabei allerdings<br />

einer Blickverengung unterliegt: als Jugendopposition<br />

gegen den etablierten Faschismus wird hier allzu einseitig<br />

nur die unmittelbar politische, an die traditionellen Organisationen<br />

der Arbeiterbewegung anknüpfende Aktivität begriffen.<br />

Der historischen Realität entspricht auch diese<br />

Version nicht. Tatsächlich war nämlich die illegale Fortsetzung<br />

kommunistischer oder sozialistischer Jugendgruppen<br />

herkömmlichen Stils ab 1935 auf wenige Restbestände reduziert;<br />

die terroristische Zerschlagung auch der jugendlichen<br />

Kader durch die NS-Organe war zu nachhaltig und die in<br />

der kommunistisch-sozialistischen Illegalität zunächst vorherrschende<br />

Konzeption von der Weiterführung der Jugendverbände<br />

im Untergrund zu wirklichkeitsfern, als daß breitere<br />

und längerfristige Erfolge denkbar gewesen wären. Völlig zu<br />

Recht vermuteten freilich die Leitungen der KPD und der SAP<br />

und etlicher kleinerer sozialistischer Organisationen in<br />

der Emigration ab etwa 1936, daß sich unter dem deutschen<br />

Faschismus eine neuartige und spontane Form der Jugendopposition<br />

herausbilden werde und daß diese ihren sozialen Boden<br />

vor allem in der Arbeiterjugend finden könne.<br />

DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83


158 Geschichte<br />

Diese (organisationstraditionell kaum zu definierende)<br />

Ausformung jugendlichen Protestverhaitens gegen den NS-<br />

Staat und gegen die HJ hat nun mit dem Buch von Peukert eine<br />

erste gründliche Darstellung gefunden. In einer kommentierten<br />

Dokumentation vor allem aus Unterlagen und internen<br />

Materialien der Gestapo, der Justiz und der NS-Reichsjugendführung<br />

wird jener bedeutende Zweig der spontanen Jugendopposition<br />

vorgestellt, der unter dem Namen "Edelweißpiraten"<br />

im Rhein-Ruhrgebiet in den Kriegsjahren Dimensionen<br />

annahm, die den Herrschaftsanspruch der NS-Staatsjugend<br />

massiv in Frage stellten. Junge Leute aus den Arbeiterquartieren<br />

an Ruhr und Rhein entzogen sich in diesen Gruppen in<br />

großer Zahl dem Zugriff der HJ-Sozialisation, entwickelten<br />

im Rückgriff auf Lebens- und Gruppenformen der bündischen<br />

Jugend ein attraktives und "ansteckendes" subkulturelles<br />

Milieu, das nicht nur Verweigerung, sondern auch offenen<br />

Protest bedeutete. Die Organe des NS-Staates sahen in'dieser<br />

spontanen neuen Jugendbewegung vor allem deshalb eine<br />

Gefahr, weil hier in einem wichtigen Teil der nachwachsenden<br />

Generation sich eine ganz eindeutige Ablehnung von<br />

Kriegsdienst, vormilitärischer Erziehung und Rüstungsarbeit<br />

bzw. Kriegshilfseinsatz ausbreitete, also der Folgebereitschaft<br />

der Jugend <strong>für</strong> den faschistischen Krieg der Boden<br />

entzogen wurde. Peukert arbeitet plausibel heraus, daß es<br />

vor allem drei Eigenschaften waren, die "wilde Jugendgruppen"<br />

vom Typ der Edelweißpiraten zum Risiko <strong>für</strong> den NS-<br />

Staat werden ließen: Hier sammelten sich Jugendliche, die<br />

nicht die 1933 verbotenen Organisationen fortführten, sondern<br />

- schon unter dem NS "erzogen" - eigenen, neuen Impulsen<br />

folgten; diese Gruppen waren formell kaum organisiert,<br />

von daher schwer faßbar; die in den "wilden Gruppen" lebenden<br />

Jugendlichen hatten <strong>für</strong> die (weit über den NS hinaus<br />

und längst vor ihm wirksamen) "heroischen", auf Arbeitsund<br />

Kriegsdisziplin fixierten "Nationaltugenden" nur noch<br />

Spott übrig, sie waren nicht mehr erreichbar <strong>für</strong> jene überkommene<br />

Moral, mit deren Ansprüchen sich mancher politische<br />

Gegner des NS in der älteren Generation der Arbeiterschaft<br />

trotz allem identifizierte. Bezeichnend hier<strong>für</strong> ist auch<br />

das freiere Verständnis von Liebe und Sexualität bei den<br />

"Edelweißpiraten".<br />

Für die Geschichte des antifaschistischen Widerstandes<br />

liefert Peukerts Buch einen wichtigen, längst fälligen Beitrag.<br />

Möglicherweise hätte das Thema darüber hinaus Einsichten<br />

in noch kaum entdeckte Entwicklungslinien einer Sozialgeschichte<br />

der Jugend mit sich bringen können, wenn<br />

Peukert die Edelweißpiraten intensiver auf ihren widerspruchsvollen,<br />

dennoch engen Zusammenhang mit der Jugendbewegung<br />

vor 1933 hin untersucht hätte.<br />

Arno Klönne (Paderborn)<br />

DAS ARGUMENT-BEIHEFT >R7,


Faschismus und Widerstand 159<br />

Sozialistische Erziehung contra Nazi-Verführung. Ergebnisse<br />

15. Ergebnisse-Verlag, Hamburg 1981 (124 S., br.)<br />

Der Titel des Heftes ist irreführend. Es handelt sich<br />

nicht um eine integrierend-vergleichende Analyse von sozialistischer<br />

und faschistischer Erziehung, sondern um zwei<br />

nicht aufeinander bezogene Einzelaufsätze über sozialistische<br />

Kindererziehung in der Zeitschrift "Die Gleichheit"<br />

von 1905 bis 1913 (Ulrike Krauth) und Uber die Mädchendisziplinierung<br />

durch den "Bund Deutscher Mädel" (BDM) nach<br />

1933 (Helga Braun). Lediglich die kurze Einführung versucht<br />

beide Untersuchungsbereiche in einen Gesamtzusammenhang von<br />

Frauen-, Kindheits- und Zeitgeschichte zu stellen, gibt jedoch<br />

ziemlich unvollständige Hinweise auf entsprechende Literatur<br />

(Bodo von Borries).<br />

Die beiden Hauptaufsätze sind ideologiegeschichtliche<br />

Studien, die sich im wesentlichen auf eine Auswertung offizieller<br />

Darstellung beschränken: die von Clara Zetkin geleitete<br />

sozialistische Frauenzeitschrift "Die Gleichheit"<br />

einerseits und BDM-Publikationen sowie Veröffentlichungen<br />

von NS-Ideologen andererseits. Kaum werden das propagierte<br />

Mutter-Kind-Bild und die Erziehungspostulate an der gesellschaftlichen<br />

Realität gemessen. Welches sind die Resultate<br />

dieser Erziehungsratschläge und Anweisungen? Wie sah die<br />

pädagogische Praxis in einem Arbeiterhaushalt, in der Kinder-<br />

oder Jugendgruppe, in Schule und Freizeit aus? Solche<br />

Fragen werden ansatzweise erörtert, kaum jedoch beantwortet.<br />

Dazu wären weitere methodische Zugriffe notwendig: empirische<br />

Untersuchungen von Schule und Alltag, vergleichende<br />

Analysen der bürgerlichen Jugenderziehung usw. Von diesem<br />

Hauptmangel, der auch einem unterentwickelten Forschungsstand<br />

geschuldet ist, abgesehen sind die Arbeiten<br />

von Krauth und Braun informative und wertvolle Beiträge zur<br />

Geschichte der Sozialisation von Frauen und zur Geschichte<br />

der Kinder- und Jugenderziehung in Deutschland vor 1945. -<br />

Die längere Arbeit von Krauth weist nach, wie sich Clara<br />

Zetkin zusammen mit Käthe Duncker, Heinrich Schulz, Otto<br />

Rühle und Edwin Hoernle um den Aufbau einer neuen proletarischen<br />

Familienerziehung bemühte. In der sozialdemokratischen<br />

Modellfamilie von 1907 "findet (der Vater) nach der<br />

Arbelt Zeit und Kraft zu optimistischen politisch-erzieherischen<br />

Gesprächen im Familienkreis; die Mutter ist nicht<br />

... behaftet mit religiösen Vorurteilen, die ein ernstes<br />

Hindernis im Proletarierhaus bildet" (27). Wenn auch der<br />

Mutter die Hauptaufgabe der Erziehung zugesprochen wurde,<br />

sollte sie dennoch einer außerhäusliehen Berufstätigkeit<br />

nachgehen können. <strong>Das</strong> erforderte einen massiven Ausbau des<br />

Arbeiterinnenschutzes, die Reduzierung der Arbeitszeit fUr<br />

beide Elternteile und kommunale Einrichtungen (Kinderkrippen<br />

und -gärten, Schulspeisung, Schulärzte). Clara Zetkin<br />

vollzog in dieser Frage einen interessanten Meinungswandel.<br />

Hatte sie noch in den neunziger Jahren der Arbeiterbewegung<br />

jegliche Möglichkeit, die Kinder selbst zu erziehen, abge-<br />

DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83


160 Geschichte<br />

sprochen, so forderte sie nun, daß gerade die Erwerbstätigkeit<br />

der Ehefrau sie zur Erziehung befähige. Diese müsse<br />

vom "einseitigen Mutterwerk zum gemeinsamen Elternwerk"<br />

werden. Voraussetzung da<strong>für</strong> sei allerdings das gleichberechtigte<br />

Zusammenleben von Mann und Frau. Der/die heutige<br />

Leser/in kann anhand von Zetkins Erziehungsgrundsätzen<br />

selbst überprüfen, wieweit die Fortschritte in den letzten<br />

80 Jahren gediehen sind: Mitwirkung des Mannes bei der Erziehung/Erziehung<br />

ohne Prügel/Doppelrolle der Mutter als<br />

Vorbild und Freundin/Keine Militärspielzeuge/Erziehung<br />

durch produktive Arbeit/Abbau der geschlechtsspezifischen<br />

Rollenbestimmung unter Geschwistern/Förderung des gemeinschaftlichen<br />

Spiels und des Solidaritätsgefühls/Kritische<br />

Begleitung der Schule (Aufgabenhilfe).<br />

In vermeintlicher Annäherung an sozialistische Vorstellungen<br />

und in Abgrenzung zur "liberalistisch erzogenen"<br />

Frau der Weimarer Zeit projizierten Nazi-Ideologen das Bild<br />

der "mobilen Allround-Frau" (94), die nicht nur im Haushalt,<br />

sondern bei Bedarf in der Produktion, bei staatlichen<br />

Wohlfahrtsarbeiten und im Kriege einsetzbar sei. Brauns Untersuchung<br />

zeigt die Rolle des BDM bei der Eingliederung<br />

der Frau in die rassische Volks- und Wehrgemeinschaft.<br />

Weibliche Tugenden waren neben Zucht, Abhärtung, Leistungswillen<br />

ein "Höchstmaß an Ertragenkönnen" und eine "Gleichgültigkeit<br />

gegen körperliche Bedürfnisse und Schmerzen"<br />

(102). Körperlich, geistig und sozial Schwaches wurde verachtet<br />

- ebenso wie Sinnlichkeit und Sexualität, der "Inbegriff<br />

'jüdischer' und 'feministischer Zersetzung'" (103).<br />

Der traditionellen Familie mit ihrer Betonung der Privatsphäre<br />

und der Individualität wurde die Ehe als "Produktionskameradschaft"<br />

zur Erzeugung neuer Arbeitskräfte gegenübergestellt.<br />

Nach "völkischer Sexualethik" war es keine<br />

Schande, außerhalb der Ehe sexuelle Kontakte zu haben, vorausgesetzt,<br />

sie dienten dem Ziel, dem Führer "rassenreine"<br />

Nachkommen zu schenken. Bemerkenswert bleibt, daß sich auch<br />

unter dieser antihumanistisch-autoritären Erziehungsideologie<br />

bei vielen BDM-Mädchen emanzipatorische Tendenzen entwickeln<br />

konnten (108f.). Urs Rauber (Zürich)<br />

Naumann, Uwe (Hrsg.): Lidice - ein böhmisches Dorf. Röderberg<br />

Verlag, Frankfurt/M. 1983 (160 S., Abb., Ln.)<br />

Mit überwältigender marktwirtschaftlicher Konsequenz<br />

wird in diesem Jahr in den Medien der Bundesrepublik der<br />

Machtübergabe an die Nazis gedacht. Alleine in der Fülle<br />

von Gedrucktem ist es schwierig, diejenigen Bücher herauszufinden,<br />

die dazu beitragen, Faschismus und Antifaschismus<br />

erweitert begreifen zu lernen. "Lidice - ein böhmisches<br />

Dorf" ist ein solches Buch. Traurig und erschreckend genug:<br />

es ist das erste Lidice-Buch, das überhaupt in jenem Land<br />

erscheint, in dem das Erbe der Täter vornehmlich verwaltet<br />

wird: 41 Jahre nach dem historischen Massaker.<br />

<strong>Das</strong> Buch hinterläßt starke Eindrücke: Es schildert nicht<br />

DAS ARGUMENT-BEIHEFT >R7,


Faschismus und Widerstand 161<br />

nur in vielen Facetten, was der faschistische Massenmord<br />

und die Vernichtung des Dorfes <strong>für</strong> die Nazis bedeuteten,<br />

wie sie beides mit perfider Akribie und deutscher Gründlichkeit<br />

durchführten und bis zur Ausbeutung der Leichen<br />

verwalteten. Es dokumentiert vor allem auch die weltweite<br />

Solidarität, das Mitleiden, das Anklagen, das Gedenken und<br />

die Aktivierung, die das unglaubliche Gewaltverbrechen 1942<br />

und in der Folge auslöste, in Peru zum Beispiel oder in<br />

Brasilien, den USA oder England, Kuba oder Panama. Die Bundesrepublik<br />

kommt hierbei mit sichtbaren Aktivitäten kaum<br />

vor. Da<strong>für</strong> ist sie in anderer Hinsicht reichlich präsent:<br />

als alte und neue Heimat eines Teils der Täter, die sich<br />

recht wohlig wieder in ihr einrichten konnten.<br />

Eindrucksvoll ist das Buch aber vor allem auch durch die<br />

Methode, mit der hier Geschichte verarbeitet und vermittelt<br />

wird. Naumann läßt die Betroffenen sehr direkt zu Wort und<br />

auch ins Bild kommen. Stellvertretend <strong>für</strong> die vielen Opfer<br />

erinnern sich vier Frauen aus Lidice an die Nazi-Verbrechen<br />

gegen die Menschlichkeit, an die Ermordung der Männer des<br />

Dorfes, an die Deportationen in die Konzentrationslager, an<br />

die Verschleppung der Kinder, von denen nur wenige überlebten.<br />

In zwei Fotoblöcken unter den Überschriften "Ein Dorf<br />

in Böhmen" und "... ist dem Erdboden gleichzumachen", ist<br />

die Situation des Dorfes vor und nach der Durchführung des<br />

Massakers hinterelnandermontiert. Der Eindruck der Bilder<br />

wird durch die bewußt spärlich kommentierenden Unterschriften<br />

eher noch verstärkt. Und auch in dem Kernstück des Buches,<br />

der umfangreichen Sammlung von literarischen und publizistischen<br />

Texten zu Lidice, die Naumann ausgegraben und<br />

zusammengestellt hat, kommt durchweg das Entsetzen und die<br />

Betroffenheit der Autoren deutlich zum Ausdruck: in den<br />

Auszügen aus der Rede, die Thomas Mann über den damaligen<br />

"Feindsender" BBC an die Weltöffentlichkeit richtete, ebenso<br />

wie in der Entlarvung des NS-Rechtsverständnisses als<br />

Unrecht in höchster Potenz, die Robert Jungk 1942 unter<br />

Pseudonym <strong>für</strong> die Schweizer "Weltwoche" verfaßte, in den<br />

Texten von Alexander Abusch, Alfred Kantorowicz, Heinrich<br />

Mann, Bruno Frei, Bertolt Brecht, aber auch von bei uns unbekannteren<br />

Autoren wie Cecil Day Lewis oder Edna St. Vincent<br />

Millay, die mit ihren lyrischen Beiträgen zu einer<br />

Lidice-Anthologie vertreten sind, die das internationale<br />

Zentrum des P.E.N. erstmals 1944 in London veröffentlichte.<br />

Ein eigenes Kapitel ist den Solidaritätsaktionen der<br />

britischen Gewerkschafter gewidmet, die unter dem Slogan<br />

"Lidice shall live!" zu einer wahren Volksbewegung in England<br />

wurde, nicht zuletzt auf dem Hintergrund bitterer Erfahrungen<br />

der eigenen Betroffenheit durch die faschistische<br />

Aggression. Besonders markanter Ausdruck dieser Bewegung:<br />

Die Bewohner des walisischen Dorfes Cwmgiedd spielten damals<br />

das Schicksal Lidices aus ihrer Sicht vor der Filmkamera<br />

nach. Mit dem 36minütigen Streifen "The Silent Village"<br />

entstand das wohl eindrucksvollste Dokument der in-<br />

DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83


162 Geschichte<br />

ternationalen Lidice-Solidarität.<br />

Bildende Künstler sind mit Fotos ihrer Arbeiter vertreten,<br />

Willi Sitte etwa, Joseph Beuys, Wolf Vostell, H.P. Alvermann;<br />

Journalisten, Schriftsteller und Filmemacher erinnern<br />

sich daran, wann und wie sie zum ersten Mal konfrontiert<br />

wurden mit diesem Symbol <strong>für</strong> die mörderische Gewaltherrschaft<br />

der Nazis; Bilder und Texte schildern den<br />

schwierigen Wiederaufbau des Dorfes und die Arbeit seiner<br />

noch lebenden und neuen Bewohner an der Auseinandersetzung<br />

mit der Geschichte. Jedes Dokument drückt komprimiert ein<br />

Stück Geschichte des Dorfes und des Faschismus, aber auch<br />

seiner Gegner aus. Erfahrbar wird dabei auf den verschiedensten<br />

Ebenen, daß Historie von Menschen erlebt, erlitten<br />

und gemeistert wird. - Lidice konkretisiert zu haben, es<br />

als geschichtliche Erfahrung vor allem auch den Nachgeborenen<br />

anschaulich zur Verfügung gestellt zu haben, ist das<br />

große Verdienst dieses Buches. Die Erinnerungsarbeit der<br />

einen verschmilzt mit dem Appell der anderen, "Lidice shall<br />

live!", dessen Realisierung auch heute noch nicht weniger<br />

Anstrengung bedarf. In seinem "telegram" von 1980 hat Robert<br />

Jungk diesen Zusammenhang in Sprache gefaßt: "auch<br />

lidice und mylai/wurden dem erdboden/gleichgemacht/wehe den<br />

gleichmachern". Siegfried Zielinski (Berlin/West)<br />

Frauen suchen ihre Geschichte<br />

Honegger, Claudia und Bettina Heintz (Hrsg.): Listen der<br />

Ohnmacht. Zur Sozialgeschichte weiblicher Widerstandsformen.<br />

Europäische Verlagsanstalt, Frankfurt/M. 1981 (454 S.,<br />

br.) •<br />

C. Honegger und B. Heintz präsentieren dem deutschen Publikum<br />

neueste Aufsätze aus Amerika, England und Frankreich<br />

zur Sozialgeschichte der Frauen. <strong>Das</strong> Verdienstvolle dieser<br />

Edition besteht nicht nur darin, daß der Schwerpunkt aller<br />

Beiträge auf dem besonders vernachlässigten Gebiet der<br />

nichtorganisierten Frauen liegt und vielschichtige Voraussetzungen<br />

und Konsequenzen der Verdrängung von Frauen aus<br />

dem "öffentlichen Leben" behandelt werden, sondern auch<br />

darin, daß differierende Ansätze und Methoden ein breites<br />

Spektrum von <strong>für</strong> die heutige Frauenforschung wichtigen Fragestellungen<br />

bieten. Der zeitliche Rahrrten ist weit und<br />

reicht von der Französischen Revolution bis zum 20. Jahrhundert.<br />

Als Ordnungsprinzip obsiegte eine Zweiteilung, indem<br />

zunächst auf die mit der Industrialisierung einhergehende<br />

Verdrängung der Frauen und ihren vielfältigen Oppositionsformen<br />

eingegangen und in einem zweiten Komplex beispielhaft<br />

gezeigt wird, wie sich Frauen mit der gesellschaftlich<br />

streng reglementierten Frauenrolle abfanden, wie<br />

sie resignierten oder ohnmächtig rebellierten. In einer umfangreichen<br />

Einleitung stellen die Herausgeberinnen diese<br />

DAS ARGUMENT-BEIHEFT >R7,


Frauen suchen ihre Geschichte 163<br />

z.T. recht disparaten Beiträge kritisch vor, sie vermitteln<br />

der Leserschaft aber darüber hinaus noch einen eigenen feministischen<br />

Erklärungsansatz, indem sie vor allem auf die<br />

sozialen, psychischen wie physischen Konsequenzen abheben,<br />

die Festigung und Dominanz der bürgerlichen Familie <strong>für</strong> die<br />

Masse der Frauen gehabt hätten. Die Fülle der thematisierten<br />

Aspekte läßt es angezeigt erscheinen, in der folgenden<br />

Besprechung auf alle 15 Beiträge kurz einzugehen.<br />

Der erste Komplex Widerspenstigkeit und Ausschluß wird<br />

mit einem Essay von M. Perrot eingeleitet, der den "rebellischen<br />

Weibern", den Frauen aus den französischen Städten<br />

des 19. Jahrhunderts gewidmet ist. Welche gesellschaftliche<br />

Bedeutung Hausfrauen zunächst noch besaßen (Verwaltung des<br />

Lohns, Teilnahme an sog. Brotunruhen, Kampf gegen Mietwucher<br />

und den Neueinsatz von Maschinen), welche Rolle dabei<br />

das Waschhaus spielte, diese traditionelle Bastion der<br />

Frauen, - darauf wird eingegangen, bevor die Konsequenzen<br />

der Industrialisierung, der Trennung von Wohn- und Arbeitsplatz<br />

<strong>für</strong> die Geschlechter und insbesondere <strong>für</strong> die Lage<br />

der Frauen erläutert werden: Die Entwicklung habe in der<br />

weitgehenden Verbannung der Frauen aus dem öffentlichen Leben<br />

und ihrer Fixierung auf Haushalt und Mutterschaft gegipfelt.<br />

Nur schade, daß in dieser Interpretation soziale<br />

Differenzen ebenso wenig Eingang fanden wie veränderte ökonomische<br />

und politische Konstellationen.<br />

J.W. Scott und L.A. Tilly setzen sich in ihrem komparatistisch<br />

angelegten Beitrag zu Familienökonomie und Industrialisierung<br />

im Europa des 19. Jahrhunderts mit der These<br />

auseinander, daß eine neue individualistische Ideologie die<br />

Arbeit von Frauen der Arbeiterklasse gefördert und verbreitet<br />

habe. Demgegenüber vertreten die Verfasserinnen die<br />

These, daß gerade vorindustrielle Wertvorstellungen sowie<br />

die Kontinuität traditioneller Verhaltensweisen und die <strong>Institut</strong>ion<br />

der Familie selbst fördernd auf die Berufstätigkeit<br />

von Frauen gewirkt hätten, ohne dadurch zur Emanzipation<br />

beizutragen. Tatsächlich seien dadurch die alten Verhältnisse<br />

stabilisiert worden; eine These, die von den neuen<br />

sozialen Erfahrungen der Frauen abstrahiert, die sie als<br />

Arbeiterinnen, getrennt von familiären Verbindungen,zwangsläufig<br />

machten: "Ob sie außer Hause arbeiten oder nicht,<br />

verheiratete Frauen definierten ihre Rolle innerhalb des<br />

Rahmens der Familienökonomie. Arbeiterfrauen scheinen in<br />

der Tat so etwas wie die Bewahrerinnen vorindustrieller<br />

Werte gewesen zu sein" (122).<br />

0. Hufton beschränkt ihren Beitrag auf werktätige Frauen<br />

in der Französischen Revolution: Dem Sansculotten stellt<br />

sie das weibliche Pendant gegenüber. Obwohl ihre Ausführungen<br />

über Bedingungen, Aktionsformen und die Spezifik des<br />

Engagements von Frauen in den ersten Revolutionsjähren sehr<br />

instruktiv sind, ist doch unübersehbar, daß die Dokumentationsschwierigkeiten<br />

bei der Rekonstruktion des weiblichen<br />

Teils der Volksbewegung noch größer sind als bei dem männ-<br />

DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83


164<br />

Geschichte<br />

liehen. Insofern sind ihre letzten Bemerkungen Uber eine<br />

1795 zu verzeichnende sehr weitreichende Religiosität gerade<br />

unter den Sansculottinnen, die Hufton mehr aus Hunger,<br />

Krankheit, Not und Leiden als aus bewußt anti- oder konterrevolutionärem<br />

Engagement erklärt, sehr wenig abgesichert<br />

und ihre wenigen Beispiele erlauben keine Verallgemeinerungen.<br />

D. Thompsons "Spurensicherung" deckt auf, in welchem Maß<br />

Frauen zunächst die chartistische Bewegung in England mittrugen.<br />

Allerdings wurden sie um die Jahrhundertmitte weitgehend<br />

aus den Vertretungsorganen und den öffentlichen Versammlungen<br />

verdrängt, was die Verfasserin ziemlich pauschal<br />

und ungenau auf eine "Formalisierung" und "Modernisierung"<br />

"der Politik" zurückführt, die der Industriekapitalismus<br />

auch den Gewerkschaften aufgezwungen hätte.<br />

Welche Auswirkungen die weitgehende Ausschaltung aus dem<br />

öffentlichen Leben auf den Alltag englischer Arbeiterfrauen<br />

von 1890 bis 1914 hatte, untersucht P.N. Stearns: Gerade in<br />

dieser Phase hätten sie weitere gesellschaftliche und private<br />

Einbußen hinnehmen müssen, insbesondere den weitgehenden<br />

Verlust der Kontrolle Uber das Haushaltsgeld, worauf<br />

sie mit wachsender Resignation und steigendem Desinteresse<br />

an der Haushaltsführung reagiert hätten; mit einem Verhalten<br />

also, das in seiner individuellen Passivität nur als<br />

hilflos charakterisiert werden kann.<br />

In einer sehr interessanten Fallstudie analysiert E.<br />

Jameson schließlich das Spannungsverhältnis zwischen Klassenbewußtsein<br />

und bürgerlicher Familienideologie in der<br />

amerikanischen Bergbaustadt Cipple Creek um die Jahrhundertwende,<br />

als die große einflußreiche, klassenkämpferische<br />

Bergwerksgewerkschaft nach mehreren Streiks zerschlagen<br />

wurde. Die Frauen der Arbeiterklasse, zu denen neben den<br />

Lohnarbeiterinnen und den Prostituierten auch die weiblichen<br />

Mitglieder der Arbeiterfamilien gerechnet werden, hätten<br />

diesen Kampf der organisierten Arbeiterschaft nach Ansicht<br />

der Verfasserin wirkungsvoller unterstützen können,<br />

wenn sie bei der Formulierung der Klassenziele mitgewirkt<br />

und die Arbeitsteilung innerhalb der Familie nicht als eine<br />

natürliche, sondern als eine historische, d.h. veränderbare<br />

begriffen hätten. Dann wären sie nicht ausschließlich auf<br />

karitative Bereiche festgelegt gewesen.<br />

Die folgenden acht Aufsätze stehen unter dem Motto Sanfte<br />

Subversion und Gegenwelten und stellen Handlungsspielräume<br />

von Frauen dar, deren Rolle als Hausfrau und Mutter<br />

weitgehend reglementiert war. E. Showalter liest aus "Bestseller-Listen"<br />

des viktorianischen Englands heraus, wie<br />

groß unter bürgerlichen Frauen das Interesse <strong>für</strong> Ehebruch,<br />

Mord und Bigamie gewesen sein muß, wie hoch das Potential<br />

von nichteingelösten "Ausbruchsphantasien". C. Smith-Rosenberg<br />

beleuchtet den engen Zusammenhang zwischen der besonders<br />

unter Frauen des Bürgertums im 19. Jahrhundert verbreiteten<br />

Hysterie und der unbefriedigenden, strapaziösen<br />

DAS ARGUMENT-BEIHEFT >R7,


Frauen suchen ihre Geschichte<br />

165<br />

und psychisch belastenden Rolle als Hausfrau und Mutter,<br />

der sie sich vielfach auf diese selbstzerstörerische Weise<br />

entzogen. Die Krankheit ermöglichte ihnen nicht allein,<br />

sich der verhaßten und gesellschaftlich nicht sonderlich<br />

hoch bewerteten Pflichten zu entledigen, sie verlieh ihnen<br />

zugleich die ohnmächtige Macht von Kranken. Innerhalb der<br />

Geschlechterbeziehungen scheinen sich aber gewisse Veränderungen<br />

im 19. Jahrhundert zugunsten der Frauen vollzogen zu<br />

haben, wie es D. Scott Smith an der Geburtenbeschränkung<br />

und Sexualkontrolle im 'viktorianischen Amerika' abliest:<br />

Der Rückgang der Geburten signalisiere neben engeren emotionalen<br />

Beziehungen zu den Kindern einen Machtzuwachs der<br />

Frauen, die familiäre Sexualität zu regulieren. Langfristig<br />

hätte dieser Einfluß den Frauen Freiräume <strong>für</strong> anderweitige<br />

gesellschaftliche Tätigkeiten erschlossen. Formen dieses<br />

typisch weiblichen und von der amerikanischen Gesellschaft<br />

tolerierten und geförderten Engagements behandelt B. Welter,<br />

die <strong>für</strong> den Zeitraum 1800-1860 geradezu eine "Feminisierung<br />

der Religion" feststellt, wobei sie auf den wachsenden Einfluß<br />

von Frauen auf die Gemeindearbeit der zahlreichen protestantischen<br />

Sekten Amerikas abhebt. Ein anderes Betätigungsfeld,<br />

auf das sich Frauen mit großem Eifer und Geschick<br />

kaprizierten, war das Gebiet der öffentlichen Moral:<br />

Insbesondere Familienmütter engagierten sich als Wächterinnen<br />

über Sitte und Anstand. Welchen Einfluß derartige Moralisierungskampagnen<br />

erlangen konnten, zeigt M.P. Ryan am<br />

Beispiel von Utica. Zugleich aber wird deutlich, wie ambivalent<br />

derartige Aktivitäten tatsächlich waren: Denn mit<br />

dem Erfolg ihrer Bemühungen trugen die Frauen nur zur Verfestigung<br />

einer besonders die Frauen benachteiligenden repressiven<br />

Sexualmoral bei.<br />

Neben einem öffentlichen Engagement in genau festgelegten<br />

Bereichen tolerierte die Gesellschaft in ihrer scharfen<br />

Trennung von Frauen- und Männerwelt auch das Entstehen von<br />

Frauenfreundschaften. Auf der Basis der Korrespondenz von<br />

dreißig ausgewählten Familien weist C. Smith-Rosenberg nach,<br />

wie verbreitet derartige Beziehungen waren und wie intensiv<br />

und dauerhaft solche Freundschaften sein konnten. Nicht<br />

selten überdauerten sie sogar spätere heterosexuelle Verbindungen.<br />

Der letzte Beitrag beschäftigt sich mit dem interessanten<br />

Phänomen einer New Yorker Frauengewerkschaft,<br />

in der <strong>für</strong> kurze Zeit lohnabhängige Frauen mit Frauen aus<br />

dem Bürgertum zusammenarbeiteten. N. Schrom Pye zeigt auf,<br />

daß aber das Konfliktpotential zwischen Klassen- und Geschlechtssolidarität<br />

zu groß gewesen sei, als daß dieses<br />

außergewöhnliche Bündnis längerfristige Perspektiven besessen<br />

hätte.<br />

Der breite zeitliche Rahmen, in dem diese sozialgeschichtlichen<br />

Beiträge angesiedelt sind, die Unterschiede<br />

der nationalen Entwicklungen in ökonomischer, sozialer und<br />

politischer Hinsicht hätten es ebenso wie die Fülle der<br />

thematisierten Aspekte und die differierenden Standpunkte<br />

DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83


166 Geschichte<br />

und Methoden wünschenswert gemacht, in der Einleitung mehr<br />

Hintergrundinformationen zu vermitteln. Zumindest wäre ein<br />

stärkeres Eingehen auf die wichtigsten Thesen und Fragestellungen<br />

<strong>für</strong> die weitere Forschung sicherlich sinnvoller<br />

gewesen als der von den Herausgeberinnen gewählte Weg, sich<br />

in einem recht abgehobenen Beitrag auf die Konsequenzen der<br />

bürgerlichen Familie <strong>für</strong> die Frauen zu konzentrieren.<br />

Die Auswahlkriterien <strong>für</strong> die insgesamt lobenswert umfangreiche<br />

Bibliographie, in der viele neue Studien vor allem<br />

aus dem angelsächsischen Bereich aufgeführt werden,<br />

hätten genannt werden sollen, da nicht nur neueste Forschung<br />

Berücksichtigung fand, sondern auch sehr allgemeine<br />

Titel, wodurch ein Eindruck von Unvollständigkeit, insbesondere<br />

im französischen, aber auch im deutschen Bereich<br />

entsteht. Bedauerlich ist es, daß das bislang fünfbändige<br />

Werk von Jürgen Kuczynski, Geschichte des Alltags des Deutschen<br />

Volkes, Köln 1980-1982, nicht erwähnt wird, das umfangreiche<br />

Kapitel zur Lage der Frauen enthält. Schließlich<br />

wäre es interessant gewesen, mehr Uber die Autorinnen zu<br />

erfahren, über ihre Biographie ebenso wie über ihre bisherige<br />

und künftige wissenschaftlichen Arbeit. Gewinnbringend<br />

ist aber die Lektüre dieser Aufsätze allemal, insbesondere<br />

deshalb, weil sie sich in ihren Aspekten und Ansätzen ergänzen,<br />

widersprechen und zur weiteren Forschung anregen.<br />

Susanne Petersen (Hamburg)<br />

Hausen, Karin (Hrsg.): Frauen suchen ihre Geschichte. C.H.<br />

Beck 1 sehe Verlagsbuchhandlung, MUnchen 1983 (279 S., br.)<br />

Zwei große Forschungsstränge - in unterschiedlichen Ländern<br />

verankert - ziehen sich durch die feministische historische<br />

Forschung: eine "eher" strukturalistische, diskursanalytische,<br />

in Frankreich betriebene und Arbeiten, die<br />

sich mit dem "Sichtbarmachen" von Frauenleben auseinandersetzen,<br />

hervorgegangen aus den "women studies" in den USA.<br />

Um die letzte Forschungsweise geht es in dem vorliegenden<br />

Buch. Karin Hausen will, "daß Frauen in wichtigen Bereichen<br />

ihres Lebens sichtbar werden und die gleitenden Übergänge<br />

zwischen den nur scheinbar getrennten privaten und öffentlichen<br />

Handlungsfeldern von Frauen deutlich zutage treten"<br />

(12). Wie dann das "Zutagegetretene" nützlich - z.B. politisch<br />

- verwendet werden kann, sagt sie nicht. Für mich<br />

gliederte sich das Buch in zwei Teile: in eine theoretische<br />

Formulierung der Aufgaben und einen "Durchführungsteil".<br />

Gisela Bock gibt zu Anfang einen ausgezeichneten problemorientierten<br />

LiteraturUberblick, indem sie die Anforderungen<br />

an die historische Frauenforschung im Spannungsfeld von<br />

"historischen Einzelproblemen" und der Behandlung von<br />

"grundsätzlichen Fragen" begreift (26). Vieles sei ins Wanken<br />

geraten: Die Kategorien "Männer" und "Frauen" erwiesen<br />

sich in ihrer sozialen Konstruierthèit als falsche und zu<br />

bezweifelnde Selbstverständlichkeiten. Bei ihrer Verhandlung<br />

des Problems "Biologie und Geschichte", das sich als<br />

DAS ARGUMENT-BEIHEFT >R7,


Frauen suchen ihre Geschichte<br />

167<br />

"Dichotomie zwischen 'weiblicher' Biologie und 'männlicher'<br />

Kultur" (42) herausstellt, kommt sie zu einer - gerade <strong>für</strong><br />

Frauen - bedenkenswerten Kritik: Biologismus und seine Indienstnahme<br />

<strong>für</strong> "soziale Interventionen im Sinn einer manipulierbaren<br />

Zukunft" müsse als "genuine 'lebensgesetzliche'<br />

Sozialtheorie verstanden werden, als Realität und 'Mythos<br />

des 20. Jahrhunderts': als Sexismus und Rassismus, bzw. Andro-<br />

und Ethnozentrismus" (42f.). Vielleicht sind das<br />

Aspekte, unter denen die neueren Versuche von Genmanipulationen<br />

(sogenannte "Retortenbaby-Diskussion") begriffen<br />

werden können.<br />

Was so theoretisch bestechend formuliert wurde, kann in<br />

den folgenden Werkstattpapieren - nichts anderes sind die<br />

Aufsätze - nicht eingehalten werden. Durchweg sind es noch<br />

erste "Ausgrabungsarbeiten", die beweisen (?) sollen, daß<br />

es Frauen gab, daß sie lebten und arbeiteten, glücklich und<br />

gehindert waren.<br />

Gudrun Schwarz beschreibt die wissenschaftliche Konstituierung<br />

des Gegenstands homosexuelle Frau ("Mannweiber" in<br />

Männertheorien). Eine Frau, die "aus freiem Antrieb in der<br />

Irrenabteilung" Hilfe sucht, da sie ihre Freundin "einmal<br />

ordentlich herzen und küssen" wollte (Zitate sind Materialstücke),<br />

bildet den "Fall", aus dem beschreibend die Kriterien<br />

<strong>für</strong> "frauenliebende Frauen" gewonnen werden. Die Ergebnisse<br />

bildeten die "Grundlage der Forschung über lesbische<br />

Frauen und homosexuelle Männer in den folgenden 50<br />

Jahren" (62). Die Autorin leistet hier die Konkretisierung<br />

des schon feministisch aufgedeckten Dualismus-Denkens: Etwas,<br />

was nicht wirklich weiblich ist, muß männlich sein.<br />

Anneliese Bergmann arbeitete die "Gebärstreikdebatte der<br />

SPD im Jahre 1913" auf - sehr materialreich, aber ohne Auswertung.<br />

Und am Ende kommt sie unvermittelt mit dem "Uterusneid"<br />

der Männer als Erklärung <strong>für</strong> ihr fehlendes Engagement<br />

in der Diskussion um die Geburtenkontrolle. <strong>Das</strong> erzeugt<br />

auch Gefühle des Absurden, wenn in der Verschiebung<br />

vom Penisneid jetzt der Uterusneid zur Triebkraft der Geschichte<br />

erklärt wird. Im Kapitel "Arbeit ohne Feierabend"<br />

werden Bauernmägde, Frauen in der Jutespinnerei, Beamtenfrauen<br />

ins "Licht" gerückt, manchmal mit ermüdenden Details<br />

(wie genau wurde die Wäsche gewaschen, wie lag das Eßbesteck<br />

auf dem Tisch usw.).<br />

Die Unlust, den Autorinnen zu folgen - die sich bei mir<br />

einstellte - hängt wohl mit dem Fehlen von Fragestellungen<br />

zusammen, die Leserin erfährt unterwegs nicht, wo es hingehen<br />

soll und die vielen unausgewerteten Materialstücke (in<br />

Form von Biographien, Gesetzestexten, Organisationsgeschichten<br />

usw.) fügen sich nicht zu einem neuen Entwurf der<br />

weiblichen oder gar Menschheitsgeschichte. <strong>Das</strong> gleiche gilt<br />

<strong>für</strong> die Untersuchungen der "Organisation und Politik" der<br />

Frauen. Alle Texte behandeln die Zeit Ende des 19. Jahrhunderts<br />

bis zur Weimarer Republik. Auf dem Weg, die Klassenund<br />

Geschlechterfrage zusammen historisch zu begreifen, ih-<br />

DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83


168 Geschichte<br />

re Überlagerungen zu fassen und sie <strong>für</strong> heutige Kämpfe in<br />

nützliches Wissen umzuformulieren, gibt es noch viel zu<br />

tun. Dieses Buch belegt zumindest, daß es eine sehr gut<br />

durchgearbeitete Fragestellung braucht, sonst droht das Ertrinken<br />

im Material. Kornelia Hauser (Hamburg)<br />

Borneman« Ernest (Hrsg.): Arbeiterbewegung und Feminismus.<br />

Berichte aus vierzehn Länder. Ullstein Verlag, Frankfurt-<br />

Berlin-Wien 1982 (259 S., br.)<br />

Die Beiträge dieses Buches sind die Veröffentlichungen<br />

der Referate von der '14. Internationalen Tagung der Historiker<br />

in Linz'. Sie verfolgen den Integrationsprozeß von<br />

Frauen in die Arbeiterbewegung und deren Kämpfe <strong>für</strong> die<br />

Frauenbefreiung am Beispiel von 12 europäischen Ländern,<br />

der UdSSR und Japan. In den meisten Beiträgen findet sich<br />

eine Aneinanderreihung von geschichtlichen Fakten: Wieviele<br />

Frauen waren wann wie organisiert, an welchen Kämpfen nahmen<br />

sie teil, welche Unterstützung bekamen sie von Seiten<br />

der Männer innerhalb der Organisationen ... Warum sich die<br />

Beiträge zur Erforschung der damaligen Frauenkämpfe (z.B.<br />

um das Wahlrecht, um das Recht auf Bildung) auf die Frauen<br />

der Arbeiterbewegung konzentrieren und die Kämpfe der<br />

nichtsozialistischen Frauenbewegung außer acht gelassen<br />

werden, wird in dem Vorwort von Ernest Borneman begründet.<br />

Er untersucht die Trennung der bürgerlichen von der proletarischen<br />

Frauenbewegung, da "die heutigen Differenzen zwischen<br />

einander befehdenden Frauengruppen" nur auf dieser<br />

Grundlage zu verstehen seien (9). Dabei geht er - unter Berufung<br />

auf die Klassiker Engels und Bebel - von der These<br />

aus, daß "die Befreiung der Frau von der Diktatur des Mannes<br />

... nur in der Form der Befreiung beider Geschlechter<br />

von der Diktatur der einen Klasse über die andere möglich"<br />

sei (20). Auf dieser Grundlage befragt er die Kämpfe der<br />

Frauen, ob sie den Klassenkampf unterstützen oder nicht und<br />

kommt so zu der häufig wiederholten Aussage, daß nichtsozialistische<br />

Feministinnen nicht zur Lösung der Frauenfrage<br />

beitrugen/beitragen, weil sie eben keinen Klassenkampf<br />

führten/führen (z.B. 29 und 36). Will Borneman auf all<br />

diese Frauen und ihre Befreiungskämpfe verzichten? Damit<br />

negierte er die Vielfältigkeit der Herrschaftsstrukturen,<br />

deren Überlagerungen und Verschränkungen. Er behauptet eine<br />

Universallösung, wo mehrfachbestimmte Kämpfe notwendig<br />

sind. Nach seiner Meinung braucht man nicht nach den Befreiungskämpfen<br />

dieser Feministinnen zu fragen, da die<br />

Frauen aus unterschiedlichen Klassen "kaum noch als Mitglieder<br />

des gleichen Geschlechtes zu fassen" seien (27),<br />

bzw. die Unterdrückung der Frau richte sich nicht gegen die<br />

Frauen, sondern gegen das Proletariat (32).<br />

Die Bearbeitung unserer Geschichte ist notwendig und<br />

wichtig, um Veränderungen und damit Veränderbares begreifen<br />

zu können. Leider fehlt den meisten Beiträgen dieses Buches<br />

ein Zugriff auf das historische Material. Ohne eine Frage-<br />

DAS ARGUMENT-BEIHEFT >R7,


Frauen suchen ihre Geschichte<br />

169<br />

Stellung, z.B. was uns das Wissen über unsere Vergangenheit<br />

heute nützt, verführt diese Materialanhäufung dazu, daß man<br />

sich nach der "geschichtlichen Wahrheit" fragt: Ist es<br />

richtig, was Borneman am Beispiel von' Österreich um die<br />

Jahrhundertwende behauptet, "es gab nicht einmal Konflikte<br />

(zwischen den Frauen aus beiden Bewegungen, M.W.) - es gab<br />

überhaupt kein gemeinsames Gesprächsthema" (22), oder hat<br />

die österreichische Referentin recht, "die Beziehungen zur<br />

bürgerlichen, fortschrittlichen Frauenbewegung waren im übrigen<br />

positiv und durchaus von Kontakten begleitet" (83)?<br />

Die feministische Politik und ihre Fehlschläge beruhen<br />

nach Ernest Borneman darauf, daß diese Frauen "nicht klug<br />

und nicht konsequent genug" seien (34). Im Gegensatz zu<br />

dieser Annahme steht die Untersuchung von Atina Grossmann<br />

und Elisabeth Meyer-Renschhausen, einer der wenigen nützlichen<br />

Beiträge dieses Buches. Sie belegen die andersartigen<br />

Politikformen von Frauen mit deren Lebensweise und den im<br />

privaten Bereich der Familie angesiedelten Problemen. Die<br />

Handlungen von Frauen seien bewußt andere, was aber nicht<br />

bedeute, daß Frauen sich aus den Arbeitskämpfen heraushielten,<br />

sondern daß in diesem Bereich nicht ihr alleiniger<br />

Schwerpunkt läge (58). Damit stellen sie auch einen Politikbegriff<br />

infrage, der sich nur an "Organisationen orientiert<br />

und lediglich die <strong>für</strong> das Kapital profitbringende<br />

Produktionssphäre sieht" (55). - Leider fehlen den meisten<br />

Beiträgen und den darin vorgeführten Materialansammlungen<br />

die Quellenangaben. Dieser Mangel ist hinderlich <strong>für</strong> jede<br />

weitere Bearbeitung. Margret Wolfrum (Hamburg)<br />

Warner, Marina: Maria - Geburt, Triumph, Niedergang. Rückkehr<br />

eines Mythos? Trikont-Dianus Verlag, München 1982 (483<br />

S., Abb., br.)<br />

"Für alle fünfzig- bis sechzigjährigen Frauen gibt es im<br />

christlichen Götterhimmel keine verwirrendere Gestalt als<br />

die Jungfrau Maria", so eröffnete 1976 die US-Autorin Francine<br />

du Plessix Gray die Besprechung des Buches ihrer englischen<br />

Kollegin Marina Warner "Alone of all her Sex". Und<br />

sie fährt fort, wie hätten wir als katholische Schulmädchen<br />

- einst knieend die Himmelskönigin preisend - ahnen können,<br />

daß das edelste Objekt unserer Verehrung bald zum widersprüchlichen<br />

Symbol des christlichen Glaubens werden sollte?<br />

Man bedenke den Widersinn: Es gibt kein überwältigenderes<br />

urweibliches und gleichzeitig ergötzlicheres Idol <strong>für</strong><br />

radikale Feministinnen als eine Große Mutter, die ein Kind<br />

zur Welt bringt, ohne es von einem Mann empfangen zu haben.<br />

Und: Wo immer sich das Christentum ausbreitete, brachte es<br />

den tödlichen Keim des Antifeminismus mit sich (Elisabeth<br />

G. Davis 1971).<br />

Die Engländerin Marina Warner schreibt in ihrem Buch<br />

zwar auch aus einer progressiven Perspektive, aber sie wägt<br />

klug und vorsichtig die <strong>Argument</strong>e. Sie kritisiert scharf<br />

jede Verzerrung des Demutideals in der Mariengestalt zu<br />

DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83


170 Geschichte<br />

weiblicher Unterwürfigkeit und Versklavung der Frau. Die<br />

Fülle des ausgebreiteten Materials ist so groß wie die Liebe<br />

zum Detail und zum Gegenstand der einstigen kindlichen<br />

Verehrung. In fünf breit gegliederten Abschnitten über die<br />

Jungfrau, die Königin, die Braut und dann die Mutter und<br />

schließlich die Fürsprecherin zeigt die Verfasserin die<br />

grenzenlosen Kombinationen der matriarchalischen Kraft der<br />

Maria mit archaisch und ursprünglich Erfahrbarem in ihrer<br />

Verschmelzung und Verkehrung mit patriarchalischen Zwangsvorstellungen<br />

wie den Verdrängungen der unerlösten Phantasien<br />

ihrer zölibatären Väter. Der Teufelskreis religiöser<br />

Ängste, in den die gläubigen Christen eingezwungen und<br />

durch männliche Blindheit <strong>für</strong> liebende Hingabe zu Opfern<br />

patriarchaler Machtverhältnisse geworden waren, wurde vor<br />

allem zu einem patriarchalen Gefängnis <strong>für</strong> die Frauen.<br />

"Eva, zum Kindergebären verflucht ..., wurde mit der Natur<br />

identifiziert, eine Form niederer Materie, die die Seele<br />

des Mannes die geistige Leiter hinunterzerrt. In Fäkalien<br />

und Urin der Geburt - so Augustinus' Ausspruch - zeigt<br />

sich die Nähe der Frau zu allem, was niedrig, gemein, verderbt<br />

und körperlich ist, in konzentrierter Form; der<br />

'Fluch' der Menstruation machte sie den Tieren ähnlich; die<br />

Verlockungen ihrer Schönheit waren nichts als ein Aspekt<br />

des Todes, den ihre Verführung Adams mit sich gebracht hatte"<br />

(89). Doch die unversehrte und reine Jungfräulichkeit<br />

Mariens sollte die Gegenwart Gottes beweisen und zum Schlüssel<br />

der orthodoxen Christologie werden. Die Frühkirche bot<br />

den Frauen noch brüderliche Gleichberechtigung an, solange<br />

sie den christlichen Kodex akzeptierten und die darin enthaltene<br />

Ansicht über Sexualität und Geburt hinnahmen.<br />

Als engagierte Kunsthistorikerin stößt Marina Warner auf<br />

eine Unzahl von Illustrationen zu ihrem Text, die sie dem<br />

Buch beigibt. Eins ihrer interessantesten Kapitel widmet<br />

sie in der bebilderten Untersuchung dem Bedeutungswandel<br />

der Muttermilch heidnischer Göttinnen und der Jungfrau der<br />

katholischen Kirche, gleichsam als "komprimierte Geschichte<br />

der Haltungen, die die Christen zum weiblichen Körper eingenommen<br />

haben" (229f.). Marias Muttermilch wird - in später<br />

Nachdichtung jahrtausendealter heidnischer Symbolik<br />

himmlischer Nahrung - zu immerwährender Gnadennahrung der<br />

Kirche. Die Bilder zeigen, wie mit fortschreitender Renaissance<br />

die Darstellungen der säugenden Jungfrau in der Kunst<br />

verblassen; die Nacktheit weiblicher Schönheit in der Renaissance<br />

wird im 16. Jahrhundert von wiederbelebter Askese<br />

als Gotteslästerung bekämpft: Papst Paul IV. bekleidet die<br />

Nackten in der Sixtinischen Kapelle.<br />

"Der Mythos ist die Geschichte seiner Schöpfer, nicht<br />

seiner Objekte", er stellt das Leben der Völker dar, die<br />

diesen Mythos hervorbringen, lautet ein Vorspruch, den die<br />

Autorin zitiert. In ihren mythischen Gestalten stellen die<br />

Menschen Geschichte dar, in der sie leiden oder triumphieren.<br />

Beides finden wir in Warners vielschichtigem Buch. Die<br />

DAS ARGUMENT-BEIHEFT >R7,


Frauen suchen ihre Geschichte 171<br />

Crux der Geschichte der Maria liegt - nach Warner (385) -<br />

in der Herauslösung ihres Symbolgehalts aus jeglichem "soziologischen<br />

und kulturellen Kontext". Maria sei kein aus<br />

natürlicher Veranlagung entstandener Archetypus des Weiblichen,<br />

kein fleischgewordener Traum, wenn Empfängnisverhütung<br />

und Unterwerfung der Frau unter den Mann postuliert<br />

würden; sie sei das Instrument in der starken Beweisführung<br />

der katholischen Kirche über eine Gesellschaftsstruktur,<br />

die diese Kirche als gottgegebenes Gesetz ausgebe. Sie war<br />

eine Gestalt, die die Menschen in Entzücken versetzte und<br />

in ihnen die edelsten Gefühle des Mitleids, der Ehrfurcht<br />

und der Liebe erweckt, und deren Verehrung wir erhabenste<br />

Kunstwerke verdanken. Jetzt sei sie gerade dabei, Vergangenheit,<br />

Geschichte zu werden, eine Legende lyrischer Gefühlskraft,<br />

doch bar jeder moralischen Bedeutung und realer<br />

Macht Uber das Wohl und Wehe der Gläubigen.<br />

Wenn dreitausend Jahre Männerherrschaft die Weltgeschichte<br />

bis zur tausendfachen Overkill-Bedrohung in unverhüllter<br />

Todesverehrung und Selbsthaß wie im größenwahnsinnigen<br />

Gotteskomplex (H.E. Richter) <strong>für</strong> sich alleine reklamiert,<br />

dann sollte man ihr schon aus dem fast zweitausendfach<br />

älteren Erbe weiblicher Dominanz in fünf Millionen<br />

Jahren Menschheitsentwicklung einige Erlösungshilfen zur<br />

gemeinsamen Rettung wünschen. Deshalb kann ich die Bitte,<br />

die der Dianus-Trikont Verlag diesem Buch mit auf den Weg<br />

schickt, nur unterstreichen: "Auch die lobenden Ansätze der<br />

neuen Frauenspiritualität laufen die Gefahr, sich zu erschöpfen,<br />

wenn die Frauen sich die Urbilder, die in unseren<br />

Kulturen noch lebendig sind, nicht vertraut machen und in<br />

ihnen nicht den Versuch wagen, sich wiederzuerkennen."<br />

Gewünscht hätte ich dazu dem Buch noch einen hinweisenden<br />

Anhang mit weiterführender Literatur, die in deutschen<br />

Buchläden greifbar ist, wie etwa E. Borneman, <strong>Das</strong> Patriarchat;<br />

Mary Daly, Gyn/Ökologie; Otfried Eberz, Vom Aufgang<br />

und Niedergang des männliches Weltalters, und Sophia-Logos<br />

und der Widersacher; R. Fester u.a., Weib und Macht; Heide<br />

Göttner-Abendroth, Die Göttin und ihr Heros; E.G. Davis, Am<br />

anfang war die Frau; Ester Harding, Frauen-Mysterien einst<br />

und jetzt; R. Hochhuth, Frauen und Mütter, in Lysistrata<br />

und die Nato; L. Kofier, Der asketische Eros; T. Moser,<br />

Gottesvergiftung; Christa Mulack, Die Weiblichkeit Gottes;<br />

H.E. Richter, Der Gotteskomplex; Josefine Schreier, Göttinnen;<br />

Zeitschrift "Feministische Studien" Heft 1/83.<br />

Hans-Joachim Koch (Leverkusen)<br />

DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83


172<br />

ÖKONOMIE<br />

Hausarbeit - Lohnarbeit<br />

Kittler, Gertraude: Hausarbeit. Zur Geschichte einer "Natur-Ressource".<br />

Verlag Frauenoffensive, München 1980 (202<br />

S., br.)<br />

Getraude Kittler schreibt zum Zusammenhang von Hausarbeit<br />

und Ökonomie. Ihre Fragestellung ist sozialistisch-feministisch:<br />

Wie können wir Hausarbeit (oder "private Reproduktionsarbeit")<br />

begreifen als ein besonderes Produktionsverhältnis<br />

innerhalb der kapitalistischen Produktionsweise?<br />

In der deutschen Frauenbewegung war diese Problemstellung<br />

bis dahin ungewöhnlich (Anke Wolf-Graaf, Frauenarbeit im<br />

Abseits, ist erst 1981 erschienen).<br />

Im ersten historischen Teil verfolgt Kittler die Entstehung<br />

des bürgerlichen und des proletarischen Haushalts als<br />

getrennte Wege. Hausarbeit als Hausfrauenarbeit im heutigen<br />

Sinn habe es "vor dem 20. Jahrhundert nicht gegeben" (25).<br />

Wie in einer "regelrechten Kampagne zur Umstrukturierung<br />

der weiblichen Persönlichkeit" (16) protestantischer Mutterschaftskult,<br />

Medizin, Philosophie und literarische Massenkultur<br />

zusammenarbeiten, referiert sie kurz mit dem Ergebnis<br />

der Trennung der Bereiche in öffentliches Leben und<br />

Berufsarbeit des bürgerlichen Mannes sowie einen um- und<br />

aufgewerteten Bereich des Heims, der Innenwelt, worin die<br />

Frau <strong>für</strong> die Bürgerfamilie Müßiggang repräsentierte. <strong>Das</strong><br />

ging einher mit einer strikten Trennung von Handarbeit, die<br />

tabuisiert war, und Haushaltsführung (17). Fürs Grobe hatten<br />

sie Dienstboten, Dienstmädchen vor allem. Der proletarische<br />

Haushalt mit seiner "Organisierung des täglichen<br />

Elends" stellte einen "Anti-Typ" dar. Wie kam es zur Verallgemeinerung?<br />

Wie und warum die Arbeiterfamilie die Bürgerfamilie<br />

"adoptiert", bleibt offen, wenngleich Kittler<br />

einige mehr oder minder bekannte Hinweise gibt: Dienstmädchen<br />

finden in Fabrikarbeit eine Alternative zur Haus(hand)<br />

arbeit ("Fabrikluft macht frei") und gründen eigene Haushalte.<br />

Mit gestiegenem Realeinkommen imitieren Arbeiter den<br />

bürgerlichen Lebensstil ("Meine Frau braucht nicht zu arbeiten").<br />

Dieses "Zugeständnis" an die Lohnarbeiter, nämlich<br />

eine Hausarbeiterin <strong>für</strong> ihre Reproduktion zu haben,<br />

sei eine Form der Lösung der "sozialen Frage" gewesen (23).<br />

<strong>Das</strong> sieht Getraude Kittler in ihren abschließenden Überlegungen<br />

als Aussöhnung zwischen Kapital und männlicher Arbeiterklasse<br />

- die "Domestizierung der Frau" als "Ersatz<br />

<strong>für</strong> die Besitzlosigkeit an Produktionsmitteln" (136). In<br />

den Worten des US-amerikanischen Wirtschaftstheoretikers<br />

Galbraith war die massenhafte Abstellung weiblicher Arbeitskraft<br />

<strong>für</strong> die persönlichen Dienste am Mann "eine ökonomische<br />

Leistung ersten Ranges".<br />

Wie griff damals die Frauenbewegung ein? Statt die im<br />

DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83


Hausarbeit-Lohnarbeit 173<br />

folgenden dargestellten Konzepte der Frauenbewegung zu Beginn<br />

dieses Jahrhunderts und in den 20er Jahren (Einküchenbewegung,<br />

Lohn-<strong>für</strong>-Hausarbeit, Rationalisierung der Hausarbeit<br />

und Anerkennung der Hausarbeit als Beruf) im Zusammenhang<br />

mit der Verallgemeinerung der Hausfrauenarbeit zu untersuchen,<br />

breitet Kittler das Material über viele Seiten<br />

einfach aus. Gleichwohl wird deutlich: Mit dem Großhaushalt<br />

(Einküchenbewegung) sollte die "Reinheit" des Familienlebens<br />

durch eine Art Wiederholung des bürgerlichen Modells,<br />

hier der Trennung von (kollektiver) Hausarbeitszeit und<br />

(familiärer) Freizeit gefördert werden. Mit der Rationalisierung<br />

und Ökonomisierung der Hausarbeit (nach Taylor)<br />

wurden Prinzipien der Lohnarbeit hereingeholt und zugleich<br />

die Hausarbeit durch Umwandlung des "Heims" in eine "Werkstatt<br />

der Frau" (Idee des Architekten Taut) attraktiver gemacht<br />

(61ff.). In der Schwierigkeit, "den emanzipativen Gehalt<br />

der Rationalisierungsbestrebungen" einzuschätzen, hält<br />

Gertraude Kittler die "Erfordernisse des sich formierenden<br />

Spätkapitalismus" <strong>für</strong> maßgebend (77). <strong>Das</strong> scheint mir, gemessen<br />

an den eigenen Absichten und Anstrengungen, ein sehr<br />

reduzierter Schluß zu sein. Hier müßte unbedingt weitergearbeitet<br />

werden darüber, wie Arbeiter- und wie Frauenbewegung<br />

in ihren Politiken oder als Effekt derselben diese<br />

verallgemeinerte Hausarbeit als Hausfrauenarbeit im Kontext<br />

der Familie historisch und aktuell mit herstellen. In diesem<br />

Band findet sich da<strong>für</strong> mehr Material als ausgewertet<br />

ist.<br />

Die Auseinandersetzungen mit neueren <strong>Theorie</strong>n zur Hausarbeit<br />

fand ich sehr instruktiv: Fast alle arbeiten mit Kategorien<br />

von Marx. Allen weist Kitler ungenaue Rezeptionen<br />

nach. Einfache Übertragung z.B. der "produktiven Arbeit"<br />

auf die Hausarbeit führt sie als Analogien ohne Erkenntnisgewinn<br />

vor. Gegen die in der Frauenbewegung verbreitete Gebrauchswertkategorie<br />

(Hausarbeit sei eine andere Ökonomie,<br />

bedürfnisorientiert, empathisch usw.) argumentiert sie mit<br />

Marx zugleich politisch: Es gibt keinen Gebrauchswert ohne<br />

Tauschwert, die Begriffe sind nur im widersprüchlichen Zusammenhang<br />

kapitalistischer Warenproduktion von analytischem<br />

Wert - und Hausarbeit bildet keinen außerökonomischen<br />

Raum. Kittler selbst schlägt vor, Marx im 3. Band des "Kapital"<br />

über die'Grundrente neu zu lesen und vom Begriff der<br />

"Gesamtarbeit der Arbeiterklasse" auszugehen (128). Eine<br />

<strong>Theorie</strong> der Hausarbeit im Rahmen der Politischen Ökonomie<br />

müsse aber zugleich den Fehler von Marx vermeiden, Ökonomie<br />

und geschlechtsspezifische Arbeitsteilung zu trennen. Anknüpfend<br />

an Heidi Hartmann will sie Hausarbeit im Rahmen<br />

kapitalistischer und patriarchalischer Verhältnisse untersucht<br />

wissen. Für die Frage nach der "inneren Beziehung"<br />

(134) schlägt sie zwei zentrale Komplexe vor: "erstens die<br />

Bedeutung der häuslichen Frauenarbeit <strong>für</strong> den Mann im Kontext<br />

der Lösung der 'sozialen Frage' und zweitens die unmittelbaren<br />

ökonomischen Vorteile, die das Kapital aus der<br />

DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83


174 Ökonomie<br />

<strong>Institut</strong>ionalisierung dieser Arbeit zieht" (135). Auch hier<br />

fand ich wichtige Vorstöße wie die These der Transformation<br />

der Mutter-Kind-Beziehung auf das Reproduktionsverhältnis<br />

zwischen Frau und Mann sowie die Aufforderung, in Dokumenten<br />

der Arbeiterbewegung über die "Alleinzuständigkeit der<br />

Frau <strong>für</strong> die Glücksproduktion der männlichen Massen" nachzulesen<br />

(136). Aber es bleibt doch mehr eine Aufforderung.<br />

Die Begriffe bewegen sich immer wieder eng an der von ihr<br />

selbst skizzierten Gefahr des Reduktionistischen entlang,<br />

"das Kapitel" ist allzu globale Handlungsmacht (nach seinem<br />

Bedarf gehen die Frauen in die Erwerbsarbeit und wieder<br />

heraus, 146).<br />

Viele gute Analysen, Forschungseinrichtungen, offene<br />

Fragen - der Band fordert zur Beteiligung an dem auf, was<br />

Gertraude Kittler am Ende als Aufgaben stellt: eine "Realanalyse"<br />

der Hausarbeit (147) zu erstellen und eine sozialistische<br />

Perspektive zu erarbeiten (sie nennt es eine "gesamtgesellschaftliche")<br />

<strong>für</strong> Frauen und Männer, <strong>für</strong> Produktion<br />

und Reproduktion (152). Hannelore May (Berlin/West)<br />

Meyer, Sibylle: <strong>Das</strong> Theater mit der Hausarbeit. Campus Verlag,<br />

Frankfurt/M. 1982 (176 S., br.)<br />

Untätige Salondamen, die alle hauswirtschaftlichen Arbeiten<br />

delegierten und lediglich die Dienstboten kontrollierten<br />

- dieses Bild über das Leben bürgerlicher Frauen um<br />

die Jahrhundertwende vermutet die Autorin in unseren Köpfen.<br />

Mit dem Buch will sie diesem "Mythos vom Müßiggang<br />

bürgerlicher Frauen" (10) entgegentreten. Es läßt sich einreihen<br />

in die Bemühungen, die "wahre" Geschichte der Frauen<br />

auszugraben, Licht in das Dunkel unserer weiblichen Vergangenheit<br />

zu bringen. Sie untersucht Wohnungspläne, Benimmbücher<br />

und Frauenseiten aus Familienzeitschriften als Quellen,<br />

um die Geschichtslüge durch die Rekonstruktion des<br />

Alltags der Frauen, "ihrer Arbeits- und Lebensbedingungen"<br />

zu widerlegen. Anhand der Quellen deckt sie auf, daß die<br />

Frauen in den weniger bemittelten bürgerlichen Familien -<br />

sie nimmt vor allem Beamten- und Offiziersfamilien - aufwendige<br />

Arbeiten leisten mußten und daß sie gleichzeitig<br />

dazu gezwungen waren, ihre Arbeiten zu verschleiern. Diesen<br />

"Zwang" zur Verschleierung der Hausarbeit stellt die Autorin<br />

in Zusammenhang mit den Aufstiegschancen der Männer.<br />

Sie führt vor, daß das Dienstverhältnis der Beamten nicht<br />

nur die unmittelbare Arbeit umfaßte, sondern seine ganze<br />

Person, sein ganzes Leben durchdrang. Für seine berufliche<br />

Qualifikation war der Mann selbst zuständig. Die Produktion<br />

und Sicherung des "standesgemäßen Lebens" gehörte zu den<br />

Aufgaben der Ehefrau. Standesgemäßheit bedeutete in diesem<br />

Sinne nach außen hin reich zu wirken und die Etikette einzuhalten,<br />

um die Zugehörigkeit zur bürgerlichen Klasse immer<br />

wieder nachzuweisen und Zugang zu den "sozialen Kreisen"<br />

des Bürgertums zu finden und zu behalten. "Die offizielle<br />

Aufgabe der Ehefrau war es, den guten Ruf ihres Man-<br />

DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83


Hausarbeit-Lohnarbeit 175<br />

nes durch ihr Auftreten zu bestärken und seinen sozialen<br />

Status im Rahmen der Gesellschaft zu festigen. Sie hatte zu<br />

repräsentieren und zu glänzen und verlieh so ihrem Mann<br />

nicht nur den Hintergrund von Wohlanständigkeit, sondern<br />

auch von ökonomischer Potenz" (21). Dieser Aufgabe konnte<br />

sie nur gerecht werden, indem sie ihre Arbeit verschleierte<br />

und gegenüber der Öffentlichkeit Müßiggang als Zeichen <strong>für</strong><br />

Wohlstand repräsentierte. Verborgen bleiben damit ihre Arbeiten,<br />

die ein "standesgemäßes" Auftreten in der Öffentlichkeit<br />

erst möglich machten. Die Tätigkeiten der Frauen<br />

reichten von der Herstellung des repräsentativen Salonschmucks<br />

über das Nähen von Kleidern bis zur Vorbereitung<br />

des Festessens, täglichem Saubermachen und Aufräumen des<br />

<strong>für</strong> die Öffentlichkeit zugänglichen Teils der Wohnung. Kompetenzen<br />

aneignen mußten sich die Frauen auch im Umgang mit<br />

sozial gleichrangigen und höhergestellten Personen. Dabei<br />

ging es um die Einhaltung der "Gesetze des 'guten Tons'"<br />

(47). "Vorstellungen über vollendete Höflichkeit bezogen<br />

sich nicht nur auf Verhaltensregeln und sprachliche Wendungen,<br />

sondern schlössen Vorschriften der Körperhaltung, des<br />

Tons, Blicks mit ein" (48). Dies alles nennt S. Meyer die<br />

Arbeit "vor den Kulissen". Daß die Repräsentation eines<br />

nicht vorhandenen Reichtums eine Kehrseite "hinter den Kulissen"<br />

hat, führt die Autorin im weiteren vor. Sie sieht<br />

den bürgerlichen Lebensstil dadurch gekennzeichnet, daß die<br />

"Trennung von Öffentlichkeit und Privatheit ... einerseits<br />

ein repräsentatives, standesgemäßes Auftreten nach außen<br />

und andererseits ein sparsames karges Auskommen nach innen<br />

erzwang" (11). Gerade weil es auf den Pfennig ankam, sollten<br />

die Hausfrauen selbst die Verantwortung übernehmen <strong>für</strong><br />

billige Einkäufe, wohlschmeckende, wenig kostspielige und<br />

gesunde Ernährung und <strong>für</strong> die Vorratshaltung. Alles in allem<br />

sei dies "die Versorgung als tägliche Pflicht" der Frau<br />

gewesen (125ff.).<br />

Was haben wir gewonnen, wenn wir wissen, daß die Beamtenfrauen<br />

hart arbeiteten und ihre Arbeit auch noch verschleiern<br />

mußten? Sibylle Meyer betont im wesentlichen, daß<br />

die Verschleierung der Hausarbeit von ihrer Unterbewertung<br />

begleitet sei, die "ihre Fortsetzung in der Einschätzung<br />

heutiger Hausarbeit findet" (11). Dabei bleibt mir das Ziel<br />

der Autorin unklar. Vorhandene Ansätze in der feministischen<br />

Literatur zur Hausarbeitsdebatte gehen implizit in<br />

ihre Bewertungen ein. Sie arbeitet aber nicht explizit mit<br />

ihnen. Den hergestellten Zusammenhang zwischen sozialem<br />

Aufstieg und der Hausfrauenarbeit finde ich am interessantesten.<br />

Leider beleuchtet sie nur die eine Seite dieses<br />

Prozesses: Die Unterstellung des Mannes unter den Staat<br />

"zwänge" die Frau zu endlosen Arbeiten und zur Verschleierung<br />

derselben. Nichts wird darüber gesagt, welche Effekte<br />

die geschlechtsspezifischen Arbeitsteilungen z.B. <strong>für</strong> das<br />

Verhältnis der Geschlechter hatte.<br />

<strong>Das</strong> Anliegen der Autorin, den Alltag der Frauen durch<br />

DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83


176 Ökonomie<br />

die Vorführung vielfältigen Materials zu rekonstruieren,<br />

finde ich nützlich. Durchgängig habe ich aber das Problem,<br />

daß das Material häufig nicht theoretisiert wird, bzw. unausgewertet<br />

bleibt und hauptsächlich vorgeführt wird, um<br />

die Leitthese zu belegen. Dort, wo die Autorin über das Material<br />

hinausgeht, sind ihre Thesen oft nicht begründet<br />

oder belegt. So z.B. in ihrer Behauptung, daß das Versprechen,<br />

die Hausarbeit könne durch Technisierung reduziert<br />

werden, "lediglich eine neue Form der Verschleierung" (98)<br />

darstelle. Hier fände ich anstelle der Verkündung von<br />

"Wahrheiten" Forschungsfragen interessanter.<br />

Gisela Heinrich (Hamburg)<br />

Pust, Carola, Petra Reichert, Anne Wenzel u.a.: Frauen in<br />

der BRD. Beruf, Familie, Gewerkschaften, Frauenbewegung.<br />

VSA-Verlag, Hamburg 1983 (224 S., br.)<br />

Die Autorinnen der Sozialistischen Studiengruppen (SÖST)<br />

wollen mit ihrem Buch eine Bilanz ziehen, "wie sich die Situation<br />

von Frauen in diesem Land in den letzten 30 Jahren<br />

in Erwerbstätigkeit, Ausbildung, Alter, Familie, Gewerkschaft,<br />

Politik und Frauenbewegung entwickelt und verändert<br />

hat" (9). In ihrer die Untersuchung leitenden These gehen<br />

sie davon aus, daß die Situation der bundesdeutschen Frauen<br />

"durch einen eigentümlichen Widerspruch charakterisiert"<br />

(7) ist: Auf der einen Seite gebe es Frauendiskriminierung,<br />

auf der anderen Seite habe sich die Situation der Frauen in<br />

den letzten 30 Jahren erheblich verändert, gleich verbessert.<br />

Diese Verbesserungen der gesellschaftlichen Situation<br />

der Frau sollen anhand empirischer Daten aufgezeigt werden.<br />

Da die Autorinnen davon ausgehen, daß "Frauenarbeit Lohnarbeit<br />

ist" (12) und die "Berufstätigkeit von Frauen weitgehend<br />

gesellschaftlich anerkannt ist" (10) beziehen sie ihre<br />

Untersuchung nicht auf die generelle Arbeitssituation von<br />

Frauen in Hausarbeit und Lohnarbeit, sondern lediglich auf<br />

ihre Situation in der Erwerbsarbeit, zu der sich ihre Arbeit<br />

in Haus und Familie als "Doppelbelastung" addiert. Die<br />

Leserin/der Leser findet denn auch im 1.-3. Kapitel reichlich<br />

empirisches Material (Statistiken, Umfrageergebnisse)<br />

über die Entwicklung der Erwerbspersonen, der Erwerbsstruktur,<br />

der Qualifikations- und Einkommensstruktur und über<br />

die Situation alter Menschen/Frauen. <strong>Das</strong> vorgestellte Material,<br />

auch in dieser Zusammenstellung, ist bekannt und findet<br />

sich sogar in einer Broschüre des Bundesfamilienministeriums<br />

"Frauen '80" (1980). Problematisch ist die Interpretation<br />

des empirischen Materials durch die Autorinnen;<br />

dies will ich anhand des Kapitels 1.4. Lohndiskriminierung<br />

aufzeigen: Anscheinend ungeprüft werden Üntersuchungsergebnisse<br />

von J. Langkau (Lohn- und Gehaltsdiskriminierungen<br />

von Arbeitnehmerinnen in der Bundesrepublik Deutschland,<br />

Bonn 1979) übernommen. Dieser behauptet, daß die Einkommensdiskriminierung<br />

von Frauen um 66% (1976) geringer wäre,<br />

würden Frauen eine genauso lange Wochenarbeitszeit haben<br />

DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83


Hausarbeit-Lohnarbeit 177<br />

wie Männer. Dies klingt zwar plausibel, kann jedoch nicht<br />

die Lohndiskriminierung in den Bruttostundenlöhnen erklären,<br />

da in den bundesdeutschen Statistiken nur Vollzeitbeschäftigte<br />

berücksichtigt werden, d.h. unterschiedliche Arbeitszeiten<br />

in die Berechnungen nicht miteinfließen. Desweiteren<br />

führen die Autorinnen vereint mit J. Langkau die<br />

Lohndiskriminierung auf die mangelnde Qualifikation von<br />

Frauen zurück. Auch diese These ist nicht haltbar, denn mit<br />

steigender Qualifikation nimmt die Lohndiskriminierung der<br />

Frauen zu, wie auch das hier angeführte statistische Material<br />

(46, Tab. 8) zeigt.<br />

Der Versuch der Autorinnen, nur noch Reste von Diskriminierungen<br />

im Erwerbsleben zu erklären, kann als gescheitert<br />

bezeichnet werden: Carola Pust u.a. unternehmen hier nicht<br />

einmal den Versuch, die in den letzten Jahren innerhalb der<br />

sozialistisch-feministischen bzw. feministischen Bewegung<br />

entwickelten Thesen zu den Ursachen der Frauenunterdrückung<br />

zur Kenntnis zu nehmen oder sie, wenn auch ablehnend, aufzuarbeiten.<br />

Für die Autorinnen reduzieren sich die Erfolge<br />

der autonomen Frauenbewegung (das sei "bürgerliche Frauenbewegung"<br />

, wie anhand der Leserinnenumfrage von Emma und<br />

Courage "belegt" wird) auf ein gewandeltes Körperbewußtsein:<br />

"Jazz-Gymnastik, Jogging, Aerobic und verschiedenste<br />

Diätvorschläge sind die sichtbarsten Äußerungen eines gewandelten<br />

Körperbewußtseins" (195). Die Auseinandersetzung<br />

der Frauen um selbstbestimmte Sexualität und Verhütung und<br />

um die Sexualisierung der Körper auf "Brigitte-Rezeptvorschläge"<br />

zu reduzieren, muß als Unverschämtheit zurückgewiesen<br />

werden. Es reicht den SOST-Autorinnen aus, auf die<br />

Thesen von Marx, Engels und Zetkin zurückzugreifen: Frauendiskriminierung<br />

ist der Nebenwiderspruch zum Hauptwiderspruch<br />

von Kapitel und Arbeit. Die notwendige Analyse der<br />

gesellschaftlichen Arbeitsteilung unter den Bedingungen der<br />

geschlechtsspezifischen Diskriminierung der Frauen reduziert<br />

sich <strong>für</strong> die SOST-Frauen auf eine Untersuchung der<br />

Doppelbelastung der Frauen. Diese existiert aus der Sicht<br />

dr SÖST nur deshalb noch, weil die kapitalistische Gesellschaft<br />

nicht genug Einrichtungen wie z.B. Kindergärten zur<br />

Verfügung gestellt hat, um die berufstätige Frau zu entlasten.<br />

Daß die erwerbstätige Frau doppelbelastet ist, weil<br />

der Ehe-Mann keine bzw. fast keine Hausarbeit erledigt,<br />

bleibt unerwähnt. Gleichzeitig kommen die Autorinnen zum<br />

Ergebnis, daß sich die Doppelbelastung in den letzten Jahren<br />

erheblich verringert hat, da die Familie an Bedeutung<br />

verloren (Single- und Wohngemeinschaftsbewegung) und die<br />

Technisierung des Haushalts die Hausarbeit verkürzt habe.<br />

Tätigkeiten wie Kochen und Wohnungsherrichtung hätten von<br />

daher eine neue Dimension bekommen: "Der Wunsch, sich ein<br />

'Zuhause' zu schaffen, das man sich nach seinem Geschmack<br />

und den eigenen Bedürfnissen einrichten, und wo man sich<br />

wohlfühlen kann, ist Ausdruck der entwickelteren Persönlichkeit"<br />

der Frau (141). Der Zusammenhang von Frauendis-<br />

DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83


178<br />

Ökonomie<br />

kriminierung und Sexualität wird von den Autorinnen auf<br />

diesen Satz reduziert: "Der hohe Anteil von Vergewaltigungen<br />

und ihre Verharmlosung, von sexueller Gewalt auch in<br />

der Ehe, sowie 'Bewältigungsversuche ', die irl körperlicher<br />

und seelischer Mißhandlung ihren Ausdruck finden, sind Fakten,<br />

über deren Verbreitung nur unsichere Vermutungen bestehen,<br />

die aber in ihrer Ausbreitung nicht geringgeschätzt<br />

werden dürfen" (151). Was tut Frau also, um "noch" vorhandene<br />

Diskriminierung abzubauen? Sie geht lohnarbeiten und<br />

kämpft in den Gewerkschaften um die Abschaffung des Hauptund<br />

Nebenwiderspruchs.<br />

<strong>Das</strong> Buch ist all denen zu "empfehlen", die die Erkenntnisse<br />

und Diskussionen der feministischen und sozialistischen<br />

Frauenbewegung nicht zur Kenntnis nehmen oder die<br />

sich wieder einmal richtig ärgern wollen.<br />

Sigrid Pohl (Berlin/West)<br />

Eckert, Roland (Hrsg.): Geschlechtsrollen und Arbeitsteilung.<br />

Mann und Frau in soziologischer Sicht. C.H. Beck'sehe<br />

Verlagsbuchh., München 1979 (308 S., br.)<br />

Die vorliegende, laut Untertitel "soziologische" Sammlung<br />

von Einzelbeiträgen steht im Zusammenhang mit zwei<br />

weiteren Sammelbänden, die biologische und psychologische<br />

Forschungsschwerpunkte einer Studiengruppe "Geschlechtsrollen"<br />

im Rahmen der Werner-Reimers-Stiftung dokumentieren.<br />

Hier sollen nur die im engeren Sinne soziologisch-psychologisch<br />

argumentierenden Beiträge besprochen werden.<br />

Welche Aussagen zum Stellenwert der Geschlechterrollen<br />

und zu deren Begründung - sowohl in der gesamtgesellschaftlichen<br />

als auch in der familiären Arbeitsteilung - tragen<br />

nun zur Analyse von Frauendiskriminierung bei oder weisen<br />

darüber hinaus Wege zur politischen und sozialen "Befreiung"?<br />

Einschränkend muß noch der relativ veraltete Diskussionsstand<br />

in diesem Sammelband (1979) angemerkt werden,<br />

der die inzwischen verstärkt eingetretenen Restriktionen<br />

auf politischer und finanzieller Ebene noch nicht mitreflektieren<br />

kann. Von entgegengesetzten Positionen hinsichtlich<br />

der Geschlechtsrollen gehen R. Eckert (Geschlechtsrollen<br />

im Wandel gesellschaftlicher Arbeitsteilung) und E.<br />

Beck-Gernsheim (Männerrolle, Frauenrolle ...) aus, um paradoxerweise<br />

am Ende zu den gleichen Ergebnissen zu kommen.<br />

Für R. Eckert ist die gesellschaftliche Arbeitsteilung<br />

Grundlage auch <strong>für</strong> die geschlechtsspezifischen Normen in<br />

Beruf und Familie. Geschlechtsrollen wiederum lassen sich<br />

aus seiner Sicht letztlich immer auf die auf biologischen<br />

Voraussetzungen beruhenden Produktions- und Reproduktionsaufgaben<br />

reduzieren und mithin auch nicht aufheben. Zum<br />

Problem wird ihm aber das Phänomen des Abbaus geschlechtsspezifischer<br />

Rollenvorgaben, der zunehmenden Individualisierung<br />

bei den privilegierten Klassenfraktionen und die<br />

damit verbundenen Unsicherheiten und Risiken <strong>für</strong> die Gültigkeit<br />

des gesellschaftlichen Normensystems. Seine Vermu-<br />

DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83


Hausarbeit-Lohnarbeit 179<br />

tung, daß die durchschnittliche Orientierung an den traditionellen<br />

Geschlechterrollen wegen des relativ hohen Niveaus<br />

dieser Veränderungsprozesse nicht tangiert werde,<br />

veranlaßt R. Eckert zu der Folgerung, daß insofern eine<br />

langfristige und dauerhafte Änderung des Wertesystems auch<br />

nicht zu erwarten sei. Im Unterschied dazu stellt E. Beck-<br />

Gernsheim fest, daß durch die seit den 60er Jahren ins Wanken<br />

geratenen Rollendefinitionen im Phänomen der Aussteiger,<br />

der angestiegenen Scheidungsziffern auf Betreiben der<br />

Frauen, der Eroberung gehobener Berufspositionen von Frauen<br />

das Modell geschlechtlicher Rollendifferenzierung nicht<br />

mehr durchgängig aufrechtzuerhalten sei. Die geschlechtsspezifische<br />

Arbeitsteilung aber ist es, die nach E. Beck-<br />

Gernsheim letztlich eher eine Zementierung als weniger eine<br />

Auflösung der traditionellen Geschlechterrollen bewirke -<br />

womit sie zum gleichen Schluß wie R. Eckert kommt. Hinsichtlich<br />

einer differenzierenden Analyse des Begriffs "Geschlechterrolle"<br />

auf Basis funktionierender Stereotype im<br />

Sinne von reflexiven Vorverständnis widmet sich B. Neuendorff-Bub<br />

den Themen "Biographie, intellektuelles Lösungsverhalten,<br />

kommunikatives Verhalten, soziales Handeln" und<br />

weist hier interessante Details nach. Die <strong>kritische</strong> Auseinandersetzung<br />

mit dem funktionalistischen Konzept geschlechtstypischer<br />

Arbeitsteilung nach Parsons und Bales (1966) von<br />

B. Zahlmann-Willenbacher bestätigt nur die in diesem Band<br />

so oft festgestellte Unveränderlichkeit der Geschlechterstereotype<br />

auf Basis der Lebensbedingungen westlicher Industriegesellschaften.<br />

Ihre Kritik an der Einteilung in die<br />

expressive (=weibliche) und instrumentelle (=männliche)<br />

Rolle macht sie lediglich an den empirisch nicht so schematisch<br />

aufteilbaren Verhältnissen in Familie und Beruf und<br />

im kulturellen Vergleich fest, ohne aber das Rollenmodell<br />

als solches selbst anzugreifen.<br />

Außer beobachtbaren Abgrenzungen und Überschneidungen<br />

von weiblicher Hausarbeit mit Erwerbsarbeit kommen explizite<br />

Konzepte zum Thema "Arbeitsteilung" eigentlich in allen<br />

hier betrachteten Beiträgen nicht vor; es werden zwar subjektiv-individuelle<br />

Bewußtseinsprozesse analysiert, deren<br />

Konkretisierung im Arbeitsvollzug erscheint aber auf diesem<br />

Hintergrund nur mehr als Folgewirkung, weniger aber als integrativer<br />

Bestandteil der wissenschaftlichen Verarbeitung<br />

selbst. Lediglich B. Neuendorff-Bub führt aus (94-96), daß<br />

der wachsende politisch-ökonomische Druck auf dem Arbeitsmarkt,<br />

die gering qualifizierende Schul- und Berufsausbildung<br />

und die von ihnen wenig getragenen Betrieb^- und Interessenvertretungen<br />

die Frauen weiter benachteiligen wird;<br />

wenigstens hier werden die bestehenden Bedingungen der Erwerbsarbeit<br />

<strong>für</strong> Frauen beim Namen genannt und von dieser<br />

Ebene her mit den spezifisch weiblichen Sozialisationsmustern<br />

verknüpfbar.<br />

Insgesamt gesehen ist dieser Sammelband geeignet zum<br />

Studium der angesprochenen Themen in der psychologisch aus-<br />

DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83


180 Ökonomie<br />

gerichteten Sozialisationsforschung, weniger aber kann er<br />

als Orientierungshilfe gelesen werden, die Frauen in ihrem<br />

täglichen Kampf um persönliche und berufliche Identität gebrauchen<br />

können. Gisela Hartwieg (Berlin/West)<br />

Beck-Gernsheim, Elisabeth: Der geschlechtsspezifische Arbeitsmarkt.<br />

Zur Ideologie und Realität von Frauenberufen.<br />

Campus Verlag, Frankfurt/M. 2 1981 (182 S., br.)<br />

Während die Autorin in ihrem letzten Buch "<strong>Das</strong> halbierte<br />

Leben" (1980, rez. in: "<strong>Das</strong> <strong>Argument</strong>", Beiheft 82) sich und<br />

den Frauen die persönlich-politische Frage stellte: Was<br />

bringt uns der Beruf - was nimmt er uns? (12), so geht sie<br />

in der hier in 2. Auflage vorliegenden Untersuchung in eher<br />

definitorischer Absicht dem Thema des weiblichen Arbeitsvermögens<br />

generell, seiner Konstitution (Kap. II), seinen<br />

beruflichen Charakteristika (Kap. III, 1) und seiner gesellschaftlichen<br />

Struktur (Kap. III, 2) nach. Elisabeth<br />

Beck-Gernsheim sucht einen neuen Erklärungsansatz <strong>für</strong> Inhalte<br />

und Besonderheiten des weiblichen Arbeitsvermögens,<br />

indem sie von der Diskrepanz formaler gesellschaftlicher<br />

Gleichheit bei faktisch bestehender sozialer Diskriminierung<br />

ausgeht. In vier Thesen (9-12) wird das Grundkonzept<br />

der vorliegenden Studie umrissen: 1. Nicht die Sozialisationsprozesse,<br />

sondern die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung<br />

ist Ursache <strong>für</strong> die sekundäre Bedeutung der weiblichen<br />

Berufsarbeit; 2. geschlechtsspezifische Orientierungen<br />

und Dispositionen bestimmen die berufliche Situation der<br />

Frau; 3. die gegensätzlichen Anforderungen von beruflichem<br />

Aufstiegs- und Karrieremuster und familiär-privaten Bedürfnissen<br />

führen zu Konflikten der Frau in Berufs- und Hausarbeit;<br />

4. und zentrale These: "Frauen ... besitzen ... stärker<br />

als Männer ein Engagement zu arbeitsinhaltlicher Aufgabenerfüllung,<br />

daß sie deshalb weniger als Männer über Fähigkeiten<br />

verfügen, Einkommens-, Status- und Karriereinteressen<br />

durchzusetzen. <strong>Das</strong> hieße: Gerade die Bereitschaft und<br />

Fähigkeit der Frauen, andere Personen und ihre Bedürfnisse<br />

wahrzunehmen und ihre Arbeit daran auszurichten, führt -<br />

über ihre betriebliche Nutzung und berufliche Einpassung -<br />

zu den zahlreichen Formen ihrer beruflichen Unterprivilegierung"<br />

(11-12).<br />

Diesen Thesen folgt der Aufbau der Untersuchung: <strong>Das</strong><br />

weibliche Arbeitsvermögen als vorrangig reproduktionsbezogenes,<br />

weniger aber als berufsorientiertes Ergebnis der Sozialisation<br />

in Familie und Schule (Kap. II) findet seinen<br />

Ausdruck in typischen Formen der Berufsauffassung und Berufspraxis<br />

von Frauen (Kap. III, 1). Daraus leiten sich<br />

wiederum typische Strukturmerkmale von Frauenberufen ab;<br />

Fähigkeiten wie Personenbezogenheit, Hilfsbereitschaft und<br />

Mitmenschlichkeit werden von der Autorin als inhaltliche<br />

Momente herausgearbeitet, deren sozialer Stellenwert mit<br />

Begriffen wie "geschäftsfördernde Fassade" (138) und "Festschreibung<br />

einer geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung<br />

DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83


Hausarbeit-Lohnarbeit 181<br />

zwischen anordnenden und ausführenden Funktionen" (139) bewertet<br />

werden. Die eigentlich gesellschaftliche Ebene ihres<br />

Themas erreicht die Autorin erst mit den Kap. III, 2,' 2<br />

(Sozialstatus von Frauenberufen) und Kap. III, 3 ("Geschlechtswandel"<br />

von Berufen): Hier stellt sie eine Parallelität<br />

von beruflicher Hierarchisierung und geschlechtsspezifischer<br />

Verteilung im Bereich des beruflichen Spektrums<br />

fest. Ursachen dieser Phänomene glaubt sie im Vorrang<br />

inhaltlicher Aufgabenbearbeitung vor berufsständischer Interessenvertretung<br />

zu erkennen. Bei der Frage nach den Ursachen<br />

beruflicher Diskriminierung macht sich m.A. nach das<br />

überwiegende sozialisationstheoretische Erkenntnisinteresse<br />

der Autorin bemerkbar; sie führt die geringere Disposition<br />

der Frauen zu organisierter und subjektiver Interessenvertretung<br />

hauptsächlich auf die Sozialisationsmerkmale weiblicher<br />

Arbeit (vgl. Kap. II) zurück. Im gleichen Maße hätte<br />

hier aber vom gesellschaftlichen Interesse an einer primären<br />

Festlegung der Frau auf die Reproduktionsfunktionen und<br />

am Charakter beruflicher Frauenarbeit als billige und verschiebbare<br />

"Reservearmee" die Rede sein müssen, die sich<br />

aus den Verwertungszwängen kapitalistischer Produktionsweise<br />

ergibt und die sich als ständige Revolutionierung der<br />

Produktionsmittel, als Absorption und Repulsion von Arbeitskräften<br />

und als entsprechend veränderte Anforderungen<br />

auch auf das weibliche Arbeitsvermögen niederschlagen. Zwar<br />

benennt die Autorin an mehreren Stellen den geringen<br />

Tauschwert des weiblichen Arbeitsvermögens und sieht ihn<br />

auch als wesentliches Merkmal der gesellschaftlichen Bewertung<br />

von Frauenarbeit an, hat ihn aber merkwürdigerweise<br />

auf der Ebene beruflicher Bedeutung von Frauenarbeit wieder<br />

aus den Augen verloren und schon gar nicht mehr im Blick<br />

hinsichtlich seiner politischen Konsequenzen (Frauen in<br />

Parteien, Gewerkschaften, Verbänden, Selbsthilfe?). Seinerzeit<br />

(1976) neu und heute noch lohnend <strong>für</strong> genauere Ausarbeitung<br />

sind die Überlegungen der Autorin zum "Geschlechtswandel"<br />

von Berufen (Kap. III, 3) im Zusammenhang mit veränderten<br />

Berufsinhalten und entsprechend auf- bzw. abgewertetem<br />

Sozialstatus von Frauen: Die familiär-reproduktionsbezogenen<br />

Berufe wie Krankenpflege, Schul- und Bibliotheksdienst<br />

werden in ihrem Sozialstatus dann angehoben, wenn<br />

eine "Maskulinisierung" stattfindet, ebenso wie sich bei<br />

der Einführung neuer Technologien in Verwaltungsberufen<br />

(Post, Bank) der dequalifizierte Teil zu einer "weiblichen",<br />

der höher qualifizierte Teil zu einer "männlichen" Tätigkeit<br />

entwickelt. Leider fehlt hier der Versuch, die beschriebenen<br />

Phänomene auch auf ihre ökonomischen Ursachen<br />

hin zurückzuführen, sondern die Darstellung verbleibt auf<br />

der Erklärungsebene von männlich-weiblichen Dispositionen<br />

oder karrierebezogenen-berufsinhaltlichen Strukturbeschreibungen<br />

.<br />

Wenn auch von der politischen und ökonomischen Seite her<br />

manches offen bleibt, so eröffnet diese erste Untersuchung<br />

DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83


182<br />

Ökonomie<br />

von Elisabeth Beck-Gernsheim doch einen sozialisationstheoretisch<br />

begründeten und empirisch fundierten Zugang zum<br />

weiblichen Arbeitsvermögen. Gisela Hartwieg (Berlin/West)<br />

Yohalem, Alice M. (Hrsg.): Die Rückkehr von Frauen in den<br />

Beruf. Maßnahmen und Entwicklungen in fünf Ländern. Verlag<br />

Neue Gesellschaft, Bonn 1982 (262 S., br.)<br />

Eine interessante, vergleichende Studie über die Rückkehr(-möglichkeiten)<br />

von Frauen ins Erwerbsleben in Frankreich,<br />

Großbritannien, Schweden, der Bundesrepublik Deutschland<br />

und den USA. Die die Untersuchung leitende These ist,<br />

daß sich die Rolle der Frau in den entwickelten Industriestaaten<br />

im letzten Jahrzehnt gewandelt hat und die Frauen<br />

deshalb nach einer Phase der Nichterwerbstätigkeit - die<br />

häufig mit der Eheschließung oder spätestens mit der Geburt<br />

des ersten Kindes beginnt - verstärkt ins Erwerbsleben zurückkehren<br />

oder erstmals den Arbeitsmarkt betreten wollen.<br />

Diese These knüpft an das von A. Myrdal und V. Klein in den<br />

50er Jahren entwickelte 1 Drei-Phasen-Modell 1 an. Mit Ausnahme<br />

der schwedischen Autorinnen wird in den Aufsätzen die<br />

gesellschaftliche Zuweisung der Frau auf die Hausarbeit und<br />

Kindererziehung weder thematisiert noch als Diskriminierung<br />

der Frau kritisiert. Es geht den anderen Autor (en) innen um<br />

eine Untersuchung und um Vorschläge, wie die spezifische<br />

Situation von Frauen - Hausarbeit und Erwerbsarbeit miteinander<br />

verbinden zu wollen - verbessert werden kann.<br />

Die Autorinnen gehen davon aus, daß eine international<br />

vergleichende Studie nur dann erfolgreich sein kann, wenn<br />

einerseits gleiche Fragen und Probleme erörtert, andererseits<br />

aber auch die nationalen Besonderheiten herausgearbeitet<br />

werden. Um dies zu gewährleisten, wurden neben der<br />

Auswertung von statistischem und institutionellem Material<br />

auch Interviews durchgeführt und in die Untersuchung mit<br />

einbezogen.<br />

In den fünf Aufsätzen werden folgende Komplexe untersucht:<br />

"- Ausmaß des Ausscheidens von weiblicher Arbeitskraft<br />

aus dem Erwerbsleben sowie des Wiedereintritts und<br />

Neueintritts von Frauen ins Erwerbsleben, - spezielle Probleme,<br />

auf die die verschiedenen Gruppen der Rückkehrerinnen<br />

stoßen, - programmatische Reaktionen spezifischer Art<br />

innerhalb des Rahmens der nationalen Beschäftigungspolitiken<br />

als Antwort auf diese Probleme und - Empfehlungen mit<br />

dem Ziel, die Rückkehr in den Beruf zu fördern" (5).<br />

Aus dem vorgestellten umfangreichen empirischen Material<br />

läßt sich jedoch nur sehr bedingt eine Bestätigung der Arbeitsthese<br />

herauslesen: Während in den USA und Großbritannien<br />

die Frauen ihr Leben tatsächlich nach dem 'Drei-Phasen-Modell'<br />

zu organisieren versuchen (die Erwerbsquote der<br />

25-35jährigen Frauen sinkt um ca. 15%punkte (um 1975) und<br />

steigt wiederum 13-15%punkte bei den über 35jährigen Frauen),<br />

gibt es <strong>für</strong> die BRD, Schweden und Frankreich keine Bestätigung<br />

der These. In diesen drei Ländern gilt, daß die<br />

DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83


Hausarbeit-Lohnarbeit 183<br />

Zahl der Frauen, die ihre Erwerbsarbeit mit der Eheschließung<br />

bzw. der Geburt des ersten Kindes aufgeben, abnimmt<br />

und daher die Erwerbsquote von Frauen auf einem relativ hohen<br />

Niveau (Schweden 19,77 um 75%, BRD 1976 um 52%, Frankreich<br />

1975 um 50% - neueres Zahlenmaterial, was angesichts<br />

der steigenden Arbeitslosigkeit in all diesen Ländern interessant<br />

wäre, wird nicht geboten -) verbleibt und dann<br />

mit zunehmendem Alter der Frauen (35 und. älter) langsam<br />

sinkt.<br />

trotz dieser, von der Untersuchung ungenügend beachteten<br />

Differenzierung der Ergebnisse, ist es <strong>für</strong> frau interessant<br />

zu erfahren, welche familien- und arbeitsmarktpolitischen<br />

Maßnahmen in anderen Ländern ergriffen werden, um die Erwerbsarbeit<br />

von Frauen zu fördern bzw. welche Forderungen<br />

in diesen Ländern von Frauen erhoben werden. Mit Ausnahme<br />

von Schweden gilt <strong>für</strong> alle untersuchten Länder, daß sich<br />

die Arbeitsmarktpolitik an den Bedürfnissen der (jungen)<br />

Männer orientiert; daß es kaum oder keine spezifischen Fördermaßnahmen<br />

<strong>für</strong> Frauen gibt, ja daß die vorhandenen Maßnahmen<br />

sich teilweise gegen die Frauen richten (z.B. das<br />

Arbeitsförderungsgesetz in der BRD, nach dem nur diejenigen<br />

gefördert werden, die direkt vor der Förderung erwerbstätig<br />

waren, also Hausfrauen nicht). Ganz anders in Schweden:<br />

Dort wird die Erwerbsarbeit von Frauen z.B. durch Quotenregelungen<br />

und Subventionspolitik, aber auch durch familienpolitische<br />

Maßnahmen wie Elternurlaub, Kampf der geschlechtsspezifischen<br />

Arbeitsteilung und Erziehung gefördert,<br />

was jedoch nicht heißt - wie die Autorinnen deutlich<br />

machen -, daß es in Schweden keine geschlechtsspezifische<br />

(Arbeitsmarkt-)Diskriminierung mehr gibt.<br />

<strong>Das</strong> Buch gibt eine Menge Anregungen und Hinweise <strong>für</strong><br />

mögliche, die Diskriminierung von Frauen angehende Politikforderungen<br />

- z.B. Arbeitslosenhilfe <strong>für</strong> alle, die eine Erwerbsarbeit<br />

suchen, d.h. auch <strong>für</strong> Hausfrauen. Diese erwerben<br />

ihren Anspruch auf Arbeitslosenhilfe durch ihre Hausarbeitsleistung<br />

-, was <strong>für</strong> uns in der gegenwärtigen "Wende"-<br />

Situation von besonderem Interesse ist.<br />

Sigrid Pohl (Berlin/West)<br />

Kurbjuhn, Maria und Carola Pust: Emanzipation durch Lohnarbeit?<br />

Eine Untersuchung über Frauenarbeit im öffentlichen<br />

Dienst. Berlin Verlag Arno Spitz, Berlin/West 1983 (278 S.,<br />

br. )<br />

Die vorliegende Studie trägt zwar einen Titel in Frageform,<br />

entpuppt sich dann aber als ein eher affirmativ wirkendes<br />

Werk zum Thema Bewußtseins-Konstituierung aus den<br />

Sozialistischen Studiengruppen (SÖST), diesmal variiert in<br />

der Tonart "Frauen": <strong>Das</strong> Gesellschaftsbewußtsein der Lohnabhängigen<br />

insgesamt reflektiert den kapitalistischen Widerspruch<br />

zwischen den restriktiven Arbeitsbedingungen einerseits<br />

und den entwickelten Möglichkeiten der menschlichen<br />

Persönlichkeit andererseits, hier "modifiziert" um die<br />

DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83


184<br />

Ökonomie<br />

Tatsache, daß die besonderen Verhaltensweisen und Wahrnehmungsstrukturen<br />

der lohnarbeitenden Frauen noch um ein<br />

Vielfaches widersprüchlicher erscheinen und ein besonderes<br />

Spannungsverhältnis bilden. Frauen sehen ihre Doppelbelastung<br />

durch Familie und Beruf, ihre Benachteiligung bei<br />

Aufstieg und Karriere, ihr Defizit an wirklicher Freizeit<br />

und persönlichen Interessen, sie erkennen ihre gesellschaftliche<br />

Passivität, ohne daß daraus Engagement <strong>für</strong> die<br />

kollektive Interessenvertretung und <strong>für</strong> politisches Handeln<br />

entsteht. Welche Erklärungen können die Autorinnen zu diesen<br />

Phänomenen beitragen, die sie hier als empirische Untersuchung<br />

vorgelegt haben? Welche Ergebnisse lassen sich<br />

aus den Antworten ablesen, die auf ca. 70 Interviewfragen<br />

von 104 weiblichen Angestellten der Vergütungsgruppen BAT<br />

VIII-Vc im <strong>Berliner</strong> öffentlichen Verwaltungsdienst gegeben<br />

wurden?<br />

Nach der Lektüre der "theoretischen Vorbemerkungen" ahnt<br />

man/frau es schon: verblüffend wenige. Schon der grundlegende<br />

Gedankengang verheißt nichts Gutes: "FUr die weiblichen<br />

Lohnabhängigen ergeben sich darüber hinaus (über das<br />

widersprüchliche Gesellschaftsbewußtsein hinaus, G.H.) spezifische<br />

Modifikationen ihrer sozialen Lage, da sie die Berufstätigkeit<br />

unter anderen Voraussetzungen als die männlichen<br />

Lohnabhängigen verrichten" (29). Also nur von der<br />

männlichen Normalität her lassen sich die weiblichen "Modifikationen"<br />

in ihrem systematischen Zusammenhang erkennen?<br />

Die Frau - ein "abgeleiteter" Mann? - Schnell weiter zum<br />

empirischen Teil. Die hier herausgearbeiteten Differenzierungen<br />

zwischen Verwaltungsangestellten einerseits und<br />

Schreibkräften andererseits entlang der Linie: qualifiziertere<br />

Ausbildung/Berufstätigkeit - weniger traditionelle<br />

Vorurteile, weniger Familienfixiertheit, mehr persönliche<br />

und berufliche Motivation und Flexibilität führen zum Ergebnis,<br />

daß das gesellschaftspolitische Engagement (hier<br />

gemeint: Aktivitäten in Gewerkschaften und Frauenbewegung)<br />

fast durchweg nicht vorhanden ist. Trotzdem insistieren die<br />

Autorinnen auf einem umfassenden gewerkschaftlichen Forderungskatalog<br />

zum Ausweg <strong>für</strong> die Frauen aus dieser Misere<br />

(232ff.): bessere Ausbildungs- und Aufstiegbedingungen,<br />

mehr soziale Leistungen, Teilzeitarbeit, Mischarbeit, frauengerechte<br />

Tarifpolitik. So dringend diese Forderungen auch<br />

zu stellen wären, so wenig ist doch eine derartige Politik<br />

dann durchsetzbar, wenn lohnarbeitende Frauen als Betroffene<br />

offenbar eine aktive Mitarbeit in der Gewerkschaft <strong>für</strong><br />

sich selbst ablehnen, wie es in den Interviewantworten herauskommt.<br />

Hier hätten die Untersuchenden ihre Voreingenommenheit<br />

<strong>für</strong> gewerkschaftliche Lösungen selbst hinterfragen<br />

können: Setzen die Frauen im öffentlichen Dienst ihre Interessen<br />

am Arbeitsplatz nicht auf ganz andere Weise durch?<br />

Zum Beispiel durch inoffizielle bedürfnisgerechte Arbeitseinteilung<br />

und Vertretung auf Kollegenebene, durch Beeinflussung<br />

der Personalratsarbeit (die in der Untersuchung<br />

DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83


Hausarbeit-Lohnarbeit 185<br />

völlig ignoriert wird), durch Intrigen und Tricks auf allen<br />

im öffentlichen Dienst zwanghaft gehüteten Hierarchie-Ebenen?<br />

Egal, wie diese (Überlebens-)Strategien am Arbeitsplatz<br />

auch persönlich und politisch zu bewerten sein mögen,<br />

den etwas grobmaschigen Fragen der Untersuchung sind hier<br />

viele interessante Tatsachen zum Thema Gesellschaftsbewußtsein<br />

entgangen.<br />

Leider ist auch die erhobene Spannungs- und Widerspruchsstruktur<br />

der Aussagen zu Beruf und Familie allzusehr<br />

mechanisch nur als ein "Einerseits-andererseits" interpretiert,<br />

ohne daß überhaupt einmal der Versuch einer Rekonstruktion<br />

von Zusammenhängen gemacht worden wäre. Es fehlt<br />

so ganz die systematische Verweisung auf sozialisationsbedingte<br />

Wahrnehmungsweisen und Charakterstrukturen, auf das<br />

Vorhandensein emotionaler Bedürfnisse oder auch auf die besonderen<br />

Arten weiblicher Konfliktbewältigung, die eben das<br />

immer wieder beschworene "Widersprüchliche" der getrennten<br />

Lebenssphären . als zusammengehörig und kohärent <strong>für</strong> die<br />

Frauen erscheinen läßt. Mögen diese vielleicht typisch<br />

weiblichen Bewußtseinsstrukturen auch als "widersprüchlich"<br />

klassifizierbar sein, so scheinen sie doch eher geeignet,<br />

einen angemesseneren Zugang zu den Interview-Aussagen zu<br />

eröffnen, als es die im anderen Zusammenhang erarbeiteten<br />

Bewußtseinstheorien des SÖST vermöchten. Mögliche Ergebnisse<br />

im Sinne weiblicher Spezifität des Wahrnehmens und Denkens<br />

wurden eher verstellt, denn es kommt im empirischen<br />

Teil nichts anderes heraus als das, was nach den "theoretischen<br />

Vorbemerkungen" nicht schon hätte gewußt werden können.<br />

Schade! eine weniger "patriarchalisch" argumentierende<br />

Untersuchung wäre dem interesanten Thema angemessener gewesen.<br />

Gisela Hartwieg (Berlin/West)<br />

Thomas, Carmen (Hrsg.): Die Hausfrauengruppe oder Wie elf<br />

Frauen sich selbst helfen. Frauen aktuell, Rowohlt Taschenbuch<br />

Verlag, Reinbek 1983 (156 S., br.)<br />

<strong>Das</strong> Buch ist schon in vierter Auflage erschienen, in<br />

33 000 Exemplaren. Es gibt also einen großen Bedarf, vielleicht<br />

nicht nur, aber vermutlich doch auch, von Hausfrauen,<br />

sich miteinander zu organisieren. In dèt^ elf Berichten<br />

der Frauen dieser Gruppe erzählen sie allé, daß es ihr<br />

Wunsch war, aus ihrem engen familiären Kreis herauszutreten<br />

und neue Erfahrungen zu machen. Dabei ist es gleichgültig,<br />

ob sie studiert haben (die wenigsten) oder nach der Hauptschule<br />

eine Berufsausbildung machten (die meisten). Ihr Leben,<br />

wie sie es beschreiben, hat einen sehr gemeinsamen<br />

Verlauf: In Kleinfamilien groß geworden (ausnahmsweise nur<br />

bei der Mutter), meist ein Geschwisterkind, verunsichernde<br />

Schulzeit, meist lustlos, von Vater oder Mutter zur Berufsausbildung<br />

gedrängt, meist gegen den eigenen Berufswunsch<br />

- dann irgendwann, früher oder später, meist Mitte 20, lernen<br />

sie "ihren Mann" kennen. Irgendwie war das immer schön,<br />

großes Glück und Erfüllung von Träumen. Meist "kommt" nach<br />

DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83


186 Ökonomie<br />

wenigen Jahren das erste Kind und scheint zunächst das<br />

Glück vollkommen. Ist es dann aber nicht, wird schnell Gewohnheit,<br />

einsam, langweilig, immer dasselbe. Fast alle beschreiben<br />

selbstkritisch, wie sie nur noch ein Thema haben,<br />

den Mann langweilen, sich unterfordert fühlen.<br />

Kindererziehung ist das Thema. Einige Frauen treten darüber<br />

nach draußen, schulen sich in Mütterfortbildungskursen,<br />

beraten sich mit anderen Müttern, lesen Bücher, engagieren<br />

sich im Elternbeirat des Kindergartens. Gegen das<br />

Gefühl der Unterforderung und Langeweile suchen die meisten<br />

wieder Erwerbsarbeit, finden aber nicht den ersehnten Anschluß<br />

an andere. "Es blieb oberflächlich." Die Frauengruppe<br />

wird als Wende beschrieben, als Vorstoß, wirklich etwas<br />

zu tun, über den "Hausfrauentratsch" hinauszukommen.<br />

Nur eine der Frauen sagt, sie komme aus der Arbeiterklasse.<br />

Sie ist zugleich die einzige, die die Reaktionen<br />

des Mannes auf die Frauengruppe als ablehnend beschreibt.<br />

Bei den anderen scheinen die Männer mehr oder weniger aufgeschlossen,<br />

loben gar die Veränderung, welche die Frau in<br />

der Gruppe durchmache, als förderlich <strong>für</strong> interessantere<br />

Gespräche und eine gleichberechtigtere Partnerschaft. Die<br />

Frauen räumen den Männern in ihrem Buch Platz <strong>für</strong> Stellungnahmen<br />

ein, fünf nutzen das. Sie bestätigen die Partnerschaftsförderung<br />

durch die Frauengruppe. <strong>Das</strong> Lob von Louis<br />

sagt vielleicht nicht nur etwas über Männererwartungen ein<br />

die Frauenbewegung, sondern auch über die Zahmheit dieses<br />

Konzeptes hier: "Die Hausfrauengruppe als neue Tanzschule<br />

der Nation ist wichtig: Erst Lernschritte miteinander in<br />

der Gruppe und dann Lernschritte zueineinder in der jeweiligen<br />

Partnerschaft: ein Pas de deux der Befreiung" (113).<br />

Katharinas Bericht hat mir am besten gefallen. Sie<br />

schreibt streng gegen sich selbst und in einer <strong>für</strong> Frauenpolitik<br />

ungeheuer ermutigenden, spontan-gesellschaftlichen<br />

Weise. Als sie ihre zwei behinderten Töchter (sie können<br />

nicht sprechen und nicht gehen) in ein Heim gibt, fällt sie<br />

in ein "Loch". "Ich wollte in dem Gefühl der Belastung verharren,<br />

weil es mir so vertraut war, und weil ich glaubte,<br />

es meinen Kindern schuldig zu sein" (52). "Ich kann nur sagen,<br />

daß es keinen Zweck hat, sich in seine Wohnung zu verkriechen<br />

und über die eigenen Probleme zu grübeln ... Es<br />

hat auch keinen Zweck, ständig die Gesellschaft anzuklagen<br />

und Hilfe zu fordern" (54). In der Frauengruppe ist <strong>für</strong> sie<br />

das Problem, daß sie nicht wußte, "wohin mit Händen und<br />

Füßen, und ich wünschte mir dauernd einen schönen großen<br />

Tisch" (52). <strong>Das</strong> Rollenspiel, welches im Zentrum der Gruppenaktivitäten<br />

steht, interessiert sie "mehr in Richtung<br />

Theater - Laienspiel. Andererseits war es jedoch die Suche<br />

nach einer Möglichkeit, mehr aus meinem Leben zu machen, zu<br />

lernen, selbst bestimmen zu können, nicht nur zu reagieren<br />

oder zu resignieren" (53). Die meisten Frauen beschreiben<br />

nur abstrakt, daß sie "selbstbewußter", "sicherer" und "offener"<br />

geworden seien dank der Rollenspiele. Sie hätten ge-<br />

DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83


Zur Werttheorie bei Marx<br />

187<br />

lernt, daß es in jeder Situation mehrere Verhaltensmöglichkeiten<br />

gäbe. <strong>Das</strong> brachte sie zu immer mehr Verständnis vieler<br />

Verhaltensweisen. Dieses "Verstehen" liegt Uber allen<br />

Darstellungen wie eine dicke Wolke, auch wenn gesagt wird,<br />

sie hätten das Streiten gelernt. Auch die Herausgeberin<br />

wird von den anderen verstanden, daß sie Uber ihr privates<br />

Leben schweigt, weil sie im öffentlichen tätig ist. Insgesamt<br />

verging mir beim Lesen nicht das Gefühl, mehr einer<br />

Zähmung als einer Befreiung beizuwohnen. Zunächst dachte<br />

ich, leidvolle Erfahrungen bei Befreiungsanstrengungen seien<br />

einfach ausgespart - aber vielleicht kamen sie gar nicht<br />

vor? Vielleicht ist das "Rollenspiel" fUr Frauengruppen,<br />

was die Sozialgesetzgebung von Bismarck <strong>für</strong> die deutsche<br />

Arbeiterbewegung war: die Versöhnungsstrategie im Geschlechterkampf!?<br />

Hannelore May (Berlin/West)<br />

Zur Werttheorie bei Marx<br />

Lippl, Marco: Value and Naturalism in Marx. New Left Books,<br />

London 1979 (136 S., br.)<br />

Steedman, Ian, u.a.: The Value Controversy. Verso Editions,<br />

London 1981 (300 S., br.)<br />

Lippi versucht, einem breiteren Leserkreis die <strong>kritische</strong>n<br />

Implikationen der mathematischen Reformulierung der<br />

Marxschen ökonomischen Lehre vorzustellen. Spätestens Sraffa<br />

hat gezeigt, daß Produktionspreise und Durchschnittsprofitrate<br />

ohne Bezug auf Werte bestimmt werden können. Damit<br />

muß die Rolle der Werttheorie bei Marx neu überdacht werden,<br />

denn sie hat keine Funktion bei der Preisbestimmung<br />

mehr und das traditionelle Problem der Transformation von<br />

Werten in Produktionspreise ist hinfällig. Lippi mustert<br />

Inhalt und Intention der Marxschen Kapitalismuskritik auf<br />

ihre Abhängigkeit von der Arbeitswertlehre hin durch und<br />

kommt zu dem Resultat, daß sich die letztere ohne Schaden<br />

<strong>für</strong> den Rest der <strong>Theorie</strong> opfern läßt.<br />

Er fragt weiter, warum Marx so zäh an der Arbeitswertlehre<br />

festgehalten habe. Schließlich habe sie schon <strong>für</strong><br />

Marx ersichtlich keine unmittelbar empirische Relevanz besessen,<br />

sondern lange Konstruktionen abverlangt, die die<br />

Reduktion von faktischen Preisen auf verausgabte Arbeit ermöglichen<br />

sollten. Lippi erklärt sich Marx' Starrsinn aus<br />

dessen Naturalismus, der zu dem "unhaltbaren Versuch (führt),<br />

das Wertgesetz aus Beobachtungen Uber die Produktion im<br />

Allgemeinen zu deduzieren" (130), d.h. ein historisch spezifisches<br />

Gesetz aus einem überhistorischen Naturgesetz<br />

herzuleiten. <strong>Das</strong> Naturgesetz besteht aus der "Idee, daß Arbeit<br />

die wirklichen Kosten der produzierten Güter konstituiert"<br />

(63), und der Naturalismus aus der Anwendung dieser<br />

Idee auf die Erklärung von Preisen. Marx muß demgemäß "ver-<br />

DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83


188 Ökonomie<br />

suchen, die wirklichen Tauschwerte auf Arbeit zu reduzieren.<br />

Dann kann die Preisbildung, sowohl hinsichtlich der<br />

einheitlichen Verteilung der Profite als auch hinsichtlich<br />

der Bestimmung des kommerziellen Profits als das Resultat<br />

einer Umverteilung des Gesamtmehrwerts ... verstanden werden"<br />

(ibd.). Dieser Erklärungsgang führt direkt in die<br />

Sackgasse des falsch gestellten Transformationsproblems.<br />

Für Lippi schließt sich ein Kreis: Der Marxsche Naturalismus<br />

ist <strong>für</strong> den vergeblichen Versuch verantwortlich, Preise<br />

aus Werten abzuleiten, und muß von dieser Konsequenz her<br />

als brüchige Grundlage einer ansonsten bewahrenswerten,<br />

weil <strong>kritische</strong>n <strong>Theorie</strong> preisgegeben werden.<br />

Soweit der Kern der <strong>Argument</strong>ation von Lippi. Im Gegensatz<br />

zu anderen "Sraffa-Marxisten" operiert er in einem<br />

Problemhorizont, in dem es über die Aufgabe der Preisbestimmung<br />

hinaus um die Funktionen der Wertlehre <strong>für</strong> die<br />

Marxsche <strong>Theorie</strong> insgesamt geht. Erst in einem solchen Rahmen<br />

kann überprüft werden, was von dieser <strong>Theorie</strong> als hinfällig<br />

gelten muß, wenn denn die Wertlehre nicht repariert<br />

werden kann. Mit der Öffnung dieses Problemhorizonts hat<br />

sich Lippi aber übernommen. Abgesehen vom Naturalismusvorwurf<br />

blendet er alle philosophischen und gesellschaftstheoretischen<br />

Fragen der Fundierung der Wertlehre aus. Zudem<br />

läßt sich jener Vorwurf selbst nur aus einem Steckenbleiben<br />

in einer engen fachökonomischen Sichtweise verstehen, in<br />

der sich beide Seiten in der Sraffa-vs.-Marx-Debatte eines<br />

naiven Wertbegriffs bedienen. Arbeitswerte werden in linearen<br />

Produktionsmodellen mit Hilfe der Fiktion berechnet,<br />

als seien Produkte in einem physischen Sinne Resultat allein<br />

von Arbeit. Kritiker wiesen daher darauf hin, daß man<br />

mit dem gleichen Verfahren Produkte auch als Vergegenständlichungen<br />

von Erdnüssen darstellen könne. Worauf die Anhänger<br />

der Arbeitswertlehre zü erwidern wußten, daß Arbeit eine<br />

besondere Rolle spiele, weil allein Arbeitsmengen die<br />

"wirklichen gesellschaftlichen Kosten" einer Produktion<br />

wiedergäben. Dieses Konzept der "wirklichen Kosten" hält<br />

Lippi <strong>für</strong> naturalistisch und unterstellt es bei Marx, auch<br />

als Grundlage der kapitalismusspezifischen Werttheorie.<br />

Nun mag man Lippi zustimmen, daß Marx so etwas wie ein<br />

Naturgesetz der gesellschaftlichen Produktion kennt, wonach<br />

es einen Zwang zur Arbeit und ihrer Proportionierung gibt.<br />

Trotzdem greift der NaturalismusVorwurf nicht, weil Marx<br />

aus der Trivialität, daß die Menschheit als Gattung auf Aneignung<br />

der Natur durch Arbeit (noch?) angewiesen ist, keine<br />

kapitalismusspezifischen Gesetze ableitet.<br />

Tatsächlich kritisiert Lippi den vorgeblichen Marxschen<br />

Naturalismus auch nicht direkt, sondern von seinen Konsequenzen<br />

her, den Schwierigkeiten mit der Arbeitswertlehre<br />

als Basis <strong>für</strong> die Preisbestimmung. Wer diese Schwierigkeiten<br />

noch nicht zur Kenntnis genommen hat, kann sich anhand<br />

dieses Buches gut informieren. Wer auf der Suche nach dem<br />

Naturalismus bei Marx ist, sollte lieber woanders suchen.<br />

DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83


Zur Werttheorie bei'Marx<br />

189<br />

Wer den Naturalismus in der ökonomischen <strong>Theorie</strong> kritisieren<br />

will, könnte bei Lippi und anderen Freunden der Auffassung<br />

anfangen, daß die Kenntnis der Gebrauchswertstruktur<br />

der Produktion und einer Verteilungsvariablen ausreiche, um<br />

Preise zu erklären.<br />

Ian Steedman hat in seinem Buch "Marx after Sraffa"<br />

(1977) die an Sraffa orientierte Marx-Kritik schärfer und<br />

ausführlicher vorgetragen als Lippi. Die Diskussion um dieses<br />

Buch gab Anlaß zu der Konferenz 1978 in London, aus der<br />

die elf Aufsätze der vorliegenden Sammlung hervorgingen.<br />

Obwohl die Kontroverse um die Marxsche Arbeitswertlehre anhält,<br />

bietet die Sammlung mit z.T. direkt auf einander bezogenen<br />

Beiträgen einen guten Überblick Uber das Spektrum<br />

der Auffassungen. Offenbar waren alle Autoren zudem gehalten,<br />

ihre <strong>Argument</strong>e ohne den sonst Üblichen Aufwand an mathematischer<br />

Formalisierung vorzutragen, so daß die aus der<br />

Arbeitsteilung zwischen mathematischen Ökonomen und sonstigen<br />

marxistischen Sozialwissenschaftlern geborene Ignoranz<br />

der letzteren hinsichtlich der Kritik der ersteren an<br />

Grundlagen der Marxschen <strong>Theorie</strong> fortan ohne Entschuldigung<br />

bleibt - es sei denn, man fällt nicht nur angesichts von<br />

Formeln in Ohnmacht, sondern liest auch kein Englisch.<br />

Nach Steedman (11-19) ist die Arbeitswertlehre nicht nur<br />

inkonsistent (wegen der falschen Bestimmung der allgemeinen<br />

Profitrate und damit der Preise), sondern auch redundant,<br />

weil Mengen von vergegenständlichter Arbeit <strong>für</strong> die Preisbestimmung<br />

keine Rolle spielen. Schließlich hat fUr Steedman<br />

und seine Mitstreiter (Hodgson und Bandyopadhyay) die<br />

Arbeitswertlehre auch keine exklusive Funktion in der Begründung<br />

von Ausbeutung. Die Existenz von Ausbeutung läßt<br />

sich ohne Rekurs auf Werte aufzeigen, wie Cohen (202-223)<br />

mit viel pseudostrengem Scharfsinn demonstriert. Aus all<br />

dem folgt <strong>für</strong> Steedman et al., daß die Arbeitswertlehre gerade<br />

im Interesse einer materialistischen Kapitalismuskritik<br />

endlich ad acta gelegt werden muß. Gegen Rettungsversuche,<br />

die den unterstellten Begriff von Arbeitswert <strong>für</strong> zu<br />

naiv halten, um so weitreichende Folgen zu transportieren,<br />

formuliert Steedman noch eine Herausforderung: "Wenn Marxisten<br />

in der Absicht, Marx' Werttheorie zu regten, alle Verbindungen<br />

zwischen Marx' 'Werten' und Menget verkörperter<br />

Arbeit leugnen, kommen sie in große Schwierigkeiten ...<br />

Verteidiger der Marxschen Werttheorie müssen erst noch zeigen,<br />

daß es einen Mittelweg gibt zwischen deren Öffnung gegenüber<br />

der oben entfalteten Kritik einerseits und ihrer<br />

Entleerung von jeglichem Inhalt andererseits" (18).<br />

Dieser Mittelweg könnte dort gesucht werden, wo die<br />

Funktion der Werttheorie über die (unstrittig von Marx beabsichtigte)<br />

Funktion einer Grundlegung der Preisbestimmung<br />

hinausgeht. Allerdings muß dann geklärt werden, wieweit die<br />

letztere Funktion nicht Voraussetzung ist <strong>für</strong> die Plausibilität<br />

des Wertbegriffs insgesamt. In den Beiträgen der<br />

Marx-Verteidiger (Sweezy, Itoh, de Vroey, Mohun/Himmelweit,<br />

DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83


190 Ökonomie<br />

Shaikh) wird diese Frage oft nur implizit aufgeworfen, obwohl<br />

ein gemeinsamer Grundtenor in dem Verweis auf die<br />

"qualitativen" Aspekte der Wertlehre besteht. Für Sweezy<br />

münden diese qualitativen Aspekte in der Eigenschaft der<br />

Marxschen <strong>Theorie</strong> der kapitalistischen Entwicklung als "histoire<br />

raisonée". Für Wright bestehen sie (u.a.) in der Affinität<br />

von Wert- und Klassentheorie, wobei letztere beim<br />

Arbeitsprozeß und den Produktionsverhältnissen, nicht à la<br />

Weber bei Marktpositionen ansetze. Itoh meint, daß in der<br />

ganzen Kontroverse der Marxsche Begriff von Form und Substanz<br />

des Werts unverstanden geblieben sei, um dann selbst<br />

Unverständliches über den "aus Wertformen zusammengesetzten<br />

Warenmarkt" (168) zu äußern. De Vroey setzt sich von einem<br />

Verständnis des Werts als "bloßer Verkörperung von Arbeit"<br />

ab und bezieht den Wertbegriff auf "die Anerkennung von<br />

Privatarbeit" (176). Himmelweit/Mohun hängen an der bei den<br />

Sraffianern nicht präsenten Unterscheidung zwischen abstrakter<br />

und konkreter Arbeit das prinzipielle <strong>Argument</strong><br />

auf, wonach in der Marx-Kritik als logische Widersprüchlichkeit<br />

erscheine, was in Wirklichkeit ein Widerspruch<br />

zwischen Werten und ihrem Ausdruck als Produktionspreise<br />

sei (261). Shaikh betont, daß der Kategorie der abstrakten<br />

Arbeit eine Realabstraktion in Austausch und Produktion <strong>für</strong><br />

den Austausch zugrunde liege. Er schließt daraus auf die<br />

reale Präsenz und Determinationskraft des Werts (273). Im<br />

übrigen ist Shaikh der einzige wirklich orthodoxe Marx-Verteidiger,<br />

<strong>für</strong> den es wie <strong>für</strong> Steedman keinen Mittelweg gibt<br />

zwischen der Bewahrung der wesentlichen Erklärungsansprüche<br />

von Marx und der Annahme der sraffianischen Kritik. Deshalb<br />

hält er an der Stichhaltigkeit der Wertgrößenbestimmung<br />

fest und geht zum Gegenangriff über, indem er den Sraffianern<br />

ein affirmatives Verhältnis zur neoklassischen<br />

Gleichgewichtstheorie vorhält.<br />

Ersichtlich wird, daß die Marx-Verteidiger im Gegensatz<br />

zu den Kritikern keine einheitliche <strong>Argument</strong>ation anbieten,<br />

schon gar nicht eine, die die Einheit der Marxschen Lehre<br />

bewahren könnte. Neben eher diskreditierenden Rettungsversuchen<br />

à la Wright (dessen Eklektizismus von Hodgson und<br />

Bandyopadhyay genußvoll demonstriert wird), finden sich<br />

aber Interpretationen der Werttheorie, die die Debatte zumindest<br />

offenhalten können. Ob deren Ausgang allerdings zur<br />

Rettung der Marxschen Werttheorie als Grundlage einer Bestimmung<br />

von Produktionspreisen im Gleichgewicht führen<br />

wird, kann mit guten Gründen bezweifelt werden.<br />

Heiner Ganßmann (Berlin/West)<br />

DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83


Preisverzeichnis der rezensierten Bücher<br />

(alphabetisch nach Autoren/Herausgebern mit S e i t e n a n g a b e )<br />

Achten/Krupke<br />

( m )<br />

Adolph<br />

(156)<br />

AG Elternarbeit (113)<br />

Alves<br />

( 81)<br />

Amendt 1979<br />

(136)<br />

Amendt 1982<br />

(123)<br />

Anz/Stark<br />

(105)<br />

Arnold<br />

Arzberger<br />

Asmus<br />

Atteslander<br />

( 93)<br />

( AI)<br />

(136)<br />

( 39)<br />

Becker<br />

(106)<br />

Beck-Gernsheim (180)<br />

Beiträge<br />

( 30)<br />

Börger u.a.<br />

( 63)<br />

Börsch<br />

Bösel<br />

( 74)<br />

(115)<br />

Borneman<br />

Brackert/Stückrath<br />

Brand<br />

Brandes/Schön<br />

( 1 6 8 )<br />

( 85)<br />

( 17)<br />

( 26)<br />

Brenner<br />

Brinker-Gabler<br />

Bütler/Häberlin<br />

Burns/van der Will<br />

Caudmont<br />

Coulmas<br />

Cousins<br />

Droescher<br />

( 1 0 8 )<br />

( 34)<br />

( 29)<br />

(146)<br />

( 67)<br />

( 70)<br />

(123)<br />

( 73)<br />

Dunayavskaya ( 9)<br />

Dybowski u.a. ( 24)<br />

Eckert<br />

(178)<br />

Elster<br />

( 55)<br />

Fehrmann<br />

(131)<br />

Gerhardt<br />

( 76)<br />

Grüber<br />

( 43)<br />

Guadelupe Martinez ( 51)<br />

Hansen<br />

(119)<br />

Hausen<br />

(166)<br />

Henkel/Taubert (151)<br />

Hoffmann u.a. ( 95)<br />

Hollstein<br />

( 14)<br />

Holz 1980<br />

( 60)<br />

Holz 1982<br />

( 60)<br />

Honegger/Heintz (162)<br />

Hübner<br />

(153)<br />

Jaeggi<br />

(123)<br />

Kaiser<br />

(149)<br />

Kentier<br />

(124)<br />

je<br />

je<br />

je<br />

39,— D U Kimmerle<br />

38,—0M Kittler<br />

39,— D M Klotz u.a.<br />

10,— DM Kocyba<br />

12,80DM Koebner<br />

19,60DM Krechel<br />

85,— DM Kofier<br />

17,50DM Kunstmann<br />

32,— DM Kurbjuhn<br />

16,80DM Léger<br />

26,—DM Lippi<br />

16,80DM L öh<br />

24,— DM Marcus-Tar<br />

14,— D M Maschewsky/Schneider<br />

29,80DM Masini<br />

38,-0« Matzner<br />

28,—DM Mehlich<br />

16,80DM Meyer<br />

14,80DM Moltke/Visser<br />

22,80DM Morgner<br />

14,80DM Moser u.a.<br />

68,— DM Naumann<br />

12,80DM Nohke/Oeter<br />

28,5Sfr Palazzoli<br />

19,80DM Peukert<br />

68,— DM Pinding/Fischer-H.<br />

10,—DM Poniatowska<br />

6,80DM Pust u.a.<br />

54,—OM Rosellini<br />

10,95 $ Sanders<br />

8,—DM Soeffner<br />

19,80DM Sozialist. Erziehung<br />

54,—DM Schenk<br />

8,80DM Schläpfer<br />

10,80DM Schmidt, B.<br />

14,80DM Schmidt, S.J. ( 87)<br />

12,80DM Schorske<br />

29,—DM Steedman u.a.<br />

22,—DM Steigerwald<br />

29,80DM Thomas<br />

6,50DM Unseld<br />

16,—0M Wagner<br />

10,—DM Wahl u.a. 1980<br />

15,— DM Wahl u.a. 1982<br />

29,80DM Warner<br />

19,80DM Wilson<br />

8,80DM Yohalem<br />

118,—DM Zago<br />

5,80DM Zahn<br />

( 53) 18,—DM<br />

(172) 16,—DM<br />

(110) 21,— DM<br />

( 57) 22,—DM<br />

( 97) 18,—DM<br />

( 13) 12,80DM<br />

( 25) 12,80DM<br />

(124) 9,80DM<br />

(183) 25,-DM<br />

( 8) 33,— FF<br />

(187) 7,50 £<br />

( 46) 6,80DM<br />

( 99) 58,— DM<br />

(134) 44,—DM<br />

( 90)<br />

( 38)<br />

( 20)<br />

(174)<br />

( 44)<br />

( 83)<br />

( 64)<br />

(160)<br />

(141)<br />

(141)<br />

(157)<br />

(132)<br />

( 47)<br />

(176)<br />

( 91)<br />

( 65)<br />

( 69)<br />

(159)<br />

( 33)<br />

( 67)<br />

(120)<br />

42,- u<br />

(102)<br />

(187)<br />

( 2 2 )<br />

(185)<br />

(103)<br />

(101)<br />

(113)<br />

(113)<br />

(169)<br />

(117)<br />

(182)<br />

( 49)<br />

( 78)<br />

7000Lire<br />

58,—OM<br />

68,-Sfr<br />

26,— DM<br />

24,— DM<br />

38,—DM<br />

24,80DM<br />

18,—DM<br />

28,—DM<br />

38,—DM<br />

24,80DM<br />

38,— D M<br />

24,80DM<br />

16,80DM<br />

14,80DM<br />

29,80DM<br />

42,—DM<br />

8,50DM<br />

16,80DM<br />

36,—OM<br />

38,—DM<br />

48,—DM<br />

78,—DM<br />

4,95 £<br />

14,80DM<br />

5,80DM<br />

28,—DM<br />

32,—DM<br />

7,80DM<br />

18,-^üM<br />

42,—DM<br />

39,— DM<br />

58,— DM<br />

5,—DM<br />

46,80DM<br />

DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83


ARGUMENT — STUDIENHEFTE SH<br />

SH 1<br />

SH<br />

SH<br />

SH<br />

SH<br />

SH 6<br />

SH 7<br />

SH 8<br />

SH 9<br />

SH 10<br />

SH 11<br />

SH 12<br />

SH 13<br />

SH 14<br />

SH 15<br />

SH 16<br />

SH 17<br />

SH 18<br />

SH 19<br />

SH 20<br />

SH 21<br />

SH 22<br />

SH 23<br />

SH 24<br />

SH 25<br />

SH 26<br />

SH 27<br />

SH 28<br />

SH 29<br />

SH 30<br />

SH 31<br />

SH 32<br />

SH 33<br />

SH 34<br />

SH 35<br />

SH 36<br />

SH 37<br />

SH 38<br />

SH 39<br />

SH 40<br />

SH 41<br />

SH 42<br />

SH 43<br />

SH 44<br />

SH 45<br />

SH 46<br />

SH 47<br />

SH 48<br />

SH 49<br />

SH 50<br />

SH 51<br />

SH 52<br />

SH 54<br />

SH 55<br />

SH 56<br />

SH 57<br />

SH 58<br />

SH 59<br />

Altvater/Haug/Herkommer/<br />

Holzkamp/Kofler/Wagner<br />

Friedrich Tomberg<br />

M. v. Brentano<br />

W.F. Haug<br />

Wolfgang Abendroth<br />

Mason/Czichon/Eichholtz/<br />

Gossweiler<br />

Heinz Jung<br />

Haug/Vöiker/Zobl<br />

Thomas Metscher<br />

Dreltzel/Furth/Frigga Haug<br />

Erich Wulff<br />

Volkmar Sigusch<br />

Peter Fürstenau<br />

Heydorn/Konneffke<br />

Frigga Haug<br />

Friedrich Tomberg<br />

Thomas Metscher<br />

Michael Neriich<br />

Warneken/Lenzen<br />

W.F. Haug<br />

Axel Hauff<br />

BdWi/Marvin/Theißen/<br />

Voigt/Uherek<br />

Erich Wulff<br />

Gleiss/Heintei/Henkei/<br />

Jaeggi/Maiers/Ohm/Roer<br />

Reinhard Opitz<br />

SchnSdelbach/Krause<br />

Eisenberg/Haberland<br />

Werner Krauss<br />

Tjaden/Grlepenburg/<br />

KOhnl/Opitz<br />

Marcuse/Abendroth/<br />

Gollwitzer/Stolle/u.a.<br />

BdWi u.a.<br />

Helmut Ridder<br />

W.F. Haug<br />

Erich Wulff<br />

Abholz/Böker/Frie&em/Jenss<br />

Haug, Marcuse, u.a.<br />

Projekt Automation und<br />

Qualifikation<br />

D. Henkel/D. Roer<br />

H. Gollwitzer<br />

H. Gollwitzer<br />

D. Borgers (Hrsg.)<br />

G. Mattenklott<br />

Schagen u.a.<br />

Überregional. Frauenprojekt<br />

Herms/Paul<br />

F. Haug (Hrsg.)<br />

B. Kirchhoff-Hund<br />

W. D. Hund<br />

D. Herms<br />

G. Bachmann u.a.<br />

W. Goldschmidt<br />

Wulf D. Hund<br />

B. Johansen<br />

U. Schreiber<br />

Frauenredaktion (Hrsg.)<br />

Überregional. Frauenprojekt<br />

F. Heidenreich<br />

G. Wegner<br />

Wozu „Kapltar-Studium? 3,50 DM<br />

Was heiBt bürgerliche Wissenschaft? 2,50 DM<br />

Philosophie, <strong>Theorie</strong>streit, Pluralismus. 3,50 DM<br />

Kampagnen-Analysen (1). 5,00 DM<br />

Faschismus und Antlkommunismus. 2,50 DM<br />

Faschismus-Diskussion. 4,50 DM<br />

Strukturveranderungend.westdt.Arbeiterklasse.3,50DM<br />

Der Streit um Hanns Eislers »Faustus«. 3,50 DM<br />

Kritik des literaturwissenschafti. Idealismus. 2,50 DM<br />

Diskussion Ober die Rollentheorien. 4,00 DM<br />

Der Arzt und das Geld. 2,50 DM<br />

Medizinische Experimente am Menschen. 2,50 DM<br />

Zur Psychoanalyse d. Schule als <strong>Institut</strong>ion. 2,50 DM<br />

Bildungswesen im Spätkapitalismus. 4,50 DM<br />

Für eine sozialistische Frauenbewegung. 3,-50 DM<br />

Basis u. Überbau im histor. Materialismus. 4,50 DM<br />

Ästhetik als Abbildtheorie. 4,00 DM<br />

Romanistik und Antikommunismus. 3,50 DM<br />

Zur <strong>Theorie</strong> literarischer Produktion. 3,50 DM<br />

Die Einübung bürgerlicher Verkehrsformen bei Eulenspiegel.<br />

2,50 DM<br />

Die Katastrophen des Karl Valentin. 4,50 DM<br />

Die NofU - Arbeitsweise der Rechtskräfte an der Uni.<br />

5,00 DM<br />

Transkulturelle Psychiatrie. 4,50 DM<br />

Kritische Psychologie (I). 8,00 DM<br />

Der Sozialliberalismus. 5,00 DM<br />

Ideologie-Diskussion. 4,00 DM<br />

Linguistik. 3,00 DM<br />

Literaturgeschichte als geschichtl. Auftrag. 4,50 DM<br />

Faschismus-Diskussion (II). 5,00 DM<br />

Studentenbewegung - und was danach? 5,00 DM<br />

Demokratische Hochschulreform. 4,00 DM<br />

Zur Ideologie der »Streitbaren Demokratie«. 4,50 DM<br />

Ideologie/Warenästhetik/Massenkultur. 4,00 DM<br />

Psychiatrie und Herrschaft. 4,00 DM<br />

Arbeitsmedizin. 6,00 DM<br />

Emanzipation der Frau. 8,00 DM<br />

Bildungsökonomie und Bildungsreform. 8,00 DM<br />

Sozialepidemiologie psychischer Störungen. 4,00 DM<br />

Christentum/Demokratie/Sozialismus (I). 7,00 DM<br />

Christentum/Demokratie/Sozialismus (II). 7,00 DM<br />

Gesundheitspolitik und Dritte Welt. 7,00 DM<br />

Nach Links gewendet. Neuere Literatur. 4,50 DM<br />

Medizinerausbildung. 4,50 OM<br />

Frauengrundstudium. 5,00 DM<br />

Politisches Volkstheater der Gegenwart. 8,00 DM<br />

Frauen — Opfer oder Täter? Diskussion. 5,00 DM<br />

<strong>Theorie</strong>n sozialer Ungleichheit. 7,00 DM<br />

Interesse und Organisation. 7,00 DM<br />

Grundkurs Englisch. 9,80 DM<br />

Umweltfragen - Kommentierte Bibliographie (1). 7,00 DM<br />

Staatstheorien. 7,00 DM<br />

Materialien zur Staatstheorie. 7,00 DM<br />

Islam und Staat. 5,00 DM<br />

Die politische <strong>Theorie</strong> A. Gramscis. 9,80 DM<br />

Frauenpolitik. Opfer/Täter-Diskussion 2. 7.00 DM<br />

Frauengrundstudium 2. 6,00 DM<br />

Arbeiterbildung und Kulturpolitik, 9,80 DM<br />

Bauern, Kapital und Staat in Kenia. 9,80 DM


ARGUMENT-SONDERBÄNDE (AS)<br />

Die Taschenbuch-Reihe im ARGUMENT-Verlag<br />

AS 1/1 <strong>Argument</strong>-Reprint 1-17; 8,00 DM<br />

AS 1/2 <strong>Argument</strong>-Reprint 18-21; 8,00 DM<br />

AS 2 G e w e r k s c h a f t e n im Klassenkampf<br />

AS 4 E n t w i c k l u n g u. Struktur des G e s u n d h e i t s w e s e n s ; Soziale Medizin V<br />

AS 5 H a n ns Eisler<br />

AS 6 Zur <strong>Theorie</strong> des M o n o p o l s / S t a a t und M o n o p o l e I<br />

AS 7 Projekt A u t o m a t i o n und Q u a l i f i k a t i on I: A u t o m a t i o n in der BRD;<br />

18,50 DM/15,- f.Stud.<br />

AS 8 J a h r b u c h <strong>für</strong> <strong>kritische</strong> Medizin 1<br />

AS 9 Versuche <strong>kritische</strong>r A n g l i s t i k; Gulliver 1<br />

AS 10 M a s s e n / M e d i e n / P o l i t i k<br />

AS 11 Brechts Tui-Kritik<br />

AS 12 Lohnarbeit, Staat, G e s u n d h e i t s w e s e n ; Soziale Medizin VII<br />

AS 13 Kritik der F r a n k r e i c h f o r s c h u n g. H a n d b u c h<br />

AS 14 H u m a n i s i e r u n g der Lohnarbeit? Zum Kampf um die A r b e i t s b e d i n g u n g en<br />

AS 15 Kritische Psychologie II, hrsg. v. Klaus Holzkamp<br />

AS 16 Probleme der m a t e r i a l i s t i s c h e n Staatstheorie; Staat und M o n o p o l e II<br />

AS 17 J a h r b u c h <strong>für</strong> <strong>kritische</strong> Medizin 2<br />

AS 19 Projekt A u t o m a t i o n und Q u a l i f i k a t i on II: E n t w i c k l ung der Arbeit<br />

AS 20 <strong>Argument</strong>-Register 1970-1976 und Autorenregister 1959-1976;<br />

18,50 DM/f.Stud. 15,- DM<br />

AS 21 R e f o r m p ä d a g o g i k und Berufspädagogik; Schule und Erziehung VI<br />

AS 22 USA im Jahre 201; Gulliver 3<br />

AS 23 M a s s e n / K u l t u r / P o l i t i k<br />

AS 24 A n g e w a n d t e Musik 20er Jahre<br />

AS 25/26 Habermas - Darstellung und Kritik seiner <strong>Theorie</strong>, v. B. T u s c h l i n g ;<br />

33,60 DM/f.Stud. 27,60 DM<br />

AS 27 J a h rbuch <strong>für</strong> <strong>kritische</strong> Medizin 3<br />

AS 28 Forum Kritische Psychologie 3, hrsg. v. Klaus Holzkamp<br />

AS 29 Die roten 30er Jahre; Gulliver 4<br />

AS 30 Soziale Medizin VIII<br />

AS 31 Projekt A u t o m a t i o n und Q u a l i f i k a t i on III: <strong>Theorie</strong>n über A u t o m a t i o n s a r b e i t<br />

AS 32 G e s e l l s c h a f t s f o r m a t i o n e n in der G e s c h i c h t e<br />

AS 33 Englisch: Unterrichts- und Studienreform; Gulliver 5<br />

AS 34 Forum Kritische Psychologie 4, hrsg. v. Klaus Holzkamp<br />

AS 35 Alternative W i r t s c h a f t s p o l i t i k : M e t h o d i s c he Grundlagen<br />

AS 36 S t a a t s m o n o p o l i s t i s c h e r K a p i t a l i s m u s; Staat und M o n o p o l e III<br />

AS 37 J a h rbuch <strong>für</strong> <strong>kritische</strong> Medizin 4<br />

AS 38 30 Jahre Bildungspolitik; Schule und Erziehung VII<br />

AS 39 Shakespeare i n m i t t e n der Revolutionen; Gulliver 6<br />

AS 40 Projekt Ideologie-<strong>Theorie</strong>: <strong>Theorie</strong>n über Ideologie<br />

AS 41 Forum Kritische Psychologie 5, hrsg. v. Klaus Holzkamp<br />

AS 42 Musik 50er Jahre<br />

AS 43 Projekt A u t o m a t i o n und Qualifikation IV: A u t o m a t i o n s a r b e i t : Empirie 1<br />

AS 44 E u r o k o m m u n i s m u s und m a r x i s t i s c h e <strong>Theorie</strong> der Politik<br />

AS 45 Frauenformen. A l l t a g s g e s c h i c h t e n und <strong>Theorie</strong> weiblicher Sozialisation<br />

AS 46 Literatur und Politik in Irland. Sean O'Casey; Gulliver 7<br />

AS 47 M aterialistische Kulturtheorie und A l l t a g s k u l t ur<br />

AS 48 B d W i - G e s u n d h e i t s t a g u n g 1979; J a hrbuch <strong>für</strong> <strong>kritische</strong> Medizin 5<br />

AS 49 H a n d l u n g s s t r u k t u r t h e o r i e; Forum Kritische Psychologie 6<br />

AS 50 A k t u a l i s i e r u ng Brechts<br />

AS 51 Sozialliberalismus oder rechter Populismus?<br />

AS 52 Alternative W i r t s c h a f t s p o l i t i k 2: Probleme der Durchsetzung<br />

AS 53 J a h rbuch <strong>für</strong> Kritische Medizin 6<br />

AS 54 Materialistische W i s s e n s c h a f t s g e s c h i c h t e : Evolutionstheorie<br />

AS 55 Projekt A u t o m a t i o n und Qualifikation V: A u t o m a t i o n s a r b e i t , Empirie 2<br />

AS 56 Alternative U m w e l t p o l i t ik<br />

AS 57 C o m m o n w e a l t h und Dritte Welt; Gulliver 8<br />

AS 58 Die Wertfrage in der Erziehung; Schule und Erziehung VIII<br />

AS 59 Therapie; Forum Kritische Psychologie 7<br />

AS 60 Projekt Ideologie-<strong>Theorie</strong>: F a s c h i s m u s und Ideologie 1<br />

AS 61 Selbstverwaltung, Internationale Sozialismus-Diskussion 1<br />

AS 62 Projekt Ideologie-<strong>Theorie</strong>: F a s c h i s m u s und Ideologie 2<br />

AS 63 Entstehung der Arbeiterbewegung<br />

AS 64 Prävention — Gesundheit und Politik; Soziale Medizin IX<br />

AS 65 »Zweite Kultur« in England, Irland, Schottland, USA; Gulliver 9


ARGUMENT-SONDERBÄNDE (AS)<br />

Die Taschenbuch-Reihe im ARGUMENT-Verlag<br />

AS 66 H a n d l u n g s t h e o r i e — Fortsetzung; Forum Kritische P s y c h o l o g ie 8<br />

AS 67 Projekt A u t o m a t i o n und Q u a l i f i k a t i on VI: A u t o m a t i o n s a r b e i t , Empirie 3<br />

AS 68 Die I n f l a t i o n s b e k ä m p f u n g ; Alternative W i r t s c h a f t s p o l i t i k 3<br />

AS 70 Projekt Ideologie-<strong>Theorie</strong>: Bereichstheorien<br />

AS 71 Frauenstudien; Gulliver 10<br />

AS 72 H a n d l u n g s t h e o r i e , A n t h r o p o l o g i e ; Forum Kritische Psychologie 9<br />

AS 73 Organisierung zur Gesundheit; J a h r b u c h <strong>für</strong> <strong>kritische</strong> Medizin 7<br />

AS 74 Deutsche A rbeiterbewegung vor d e m F a s c h i s m u s<br />

AS 75 Die 'Ästhetik des W i d e r s t a n d s ' lesen. Über Peter Weiss; LHP 1 "<br />

AS 76 F a s c h i s m u s k r i t ik und D e u t s c h l a n d b i l d im Exilroman; LHP 2*<br />

AS 77 Alternative Medizin<br />

AS 78 Neue soziale Bewegungen und M a r x i s m u s; Internat. Sozialismus-Diskussion 2<br />

AS 79 Projekt A u t o m a t i o n und Q u a l i f i k a t i on VII: Empirie 4 * *<br />

AS 80 Projekt Ideologie-<strong>Theorie</strong>: F a s c h i s m u s und Ideologie 3 * *<br />

AS 81 Literaturdidaktik; Gulliver 11<br />

AS 82 Psychologische <strong>Theorie</strong>bildung; Forum Kritische Psychologie 10<br />

AS 83 Nachkriegsliteratur in W e s t d e u t s c h l a n d 1945-49, LHP 3'<br />

AS 84 Rethinking Ideology (engl.); Internat. Sozialismus-Diskussion 3<br />

AS 85 W e s t e u r o p ä i s c h e G e w e r k s c h a f t e n , hrsg. v. Detlev Albers<br />

AS 86 Pflege und Medizin im Streit; J a h r b u c h <strong>für</strong> <strong>kritische</strong> Medizin 8<br />

AS 87 Georg Forster in seiner Epoche; LHP 4*<br />

AS 88 Arbeiterkultur; Gulliver 12<br />

AS 89 Staatsgrenzen; Alternative W i r t s c h a f t s p o l i t i k 4<br />

AS 90 Frauenformen 2. Die Sexualisierung der K ö r p e r * *<br />

AS 91 Partei-Entstehung. Projekt Parteien-<strong>Theorie</strong>**<br />

AS 92 Literatur des 20. Jahrhunderts: Entwürfe von Frauen; LHP 5*<br />

AS 93 Kontroversen über Ideologie und Erziehung; Forum Kritische Psychologie 11<br />

AS 94 Arbeiteralltag in Stadt und Land, hrsg. v. Heiko H a u m a n n<br />

AS 95 Neue Technik und Sozialismus; Internationale Sozialismus-Diskussion 4<br />

Programm 1983<br />

AS 96 Die verborgene Frau, von Inge Stephan und Sigrid Weigel, LHP 6*<br />

AS 97 Landeskunde und Didaktik; Gulliver 13<br />

AS 98 <strong>Das</strong> Subjekt des Diskurses, hrsg. v. M. Geier/H. Woetzel<br />

AS 99 A n e i g n u n g . Leontjew; Forum Kritische Psychologie 12<br />

AS 100 A k t u a l i s i e r u ng Marx', hrsg. v. A r g u m e n t . Prokla, spw<br />

AS 101 Erfahrung und Ideologie in der Massenliteratur; LHP 7"<br />

AS 102 A m b u l a n t e Medizin/Gruppenpraxis<br />

AS 103 Kultur/Volk/Bürger, hrsg. v. J u t t a Held<br />

AS 104 Alternativen der Ö k o n o m i e — Ö k o n o m i e der Alternativen<br />

AS 105 1984; Gulliver 14<br />

AS 106 Reden und Schreiben über Praxis; Forum Kritische Psychologie 13<br />

AS 107 Arbeit und Gesundheit; J a h r b u c h <strong>für</strong> <strong>kritische</strong> Medizin 9<br />

AS 108 Literatur der siebziger Jahre, hrsg. v. G. Mattenklott/G. Pickerodt; LHP 8*<br />

AS 109 Rethinking Marx (engl.) ; Internat. Sozialismus-Diskussion 5<br />

AS 110 Frauenbewegung und A r b e i t e r b e w e g u n g<br />

AS 111 Projekt Ideologie-<strong>Theorie</strong>: Bereichstheorien 2<br />

* LHP = Literatur im historischen Prozeß, Neue Folge, hrsg. v. Karl-Heinz Götze, Jost Hermand,<br />

Gert Mattenklott, Klaus R. Scherpe, Jürgen Schutte und Lutz Winckler<br />

* " Diese Bände erscheinen Frühjahr 1983<br />

Preise: 16,80 DM/13,80 DM f.Stud. pro Band (zzgl. Versandkosten)<br />

AS-Auswahlabo: mind. 3 Bände aus der J a h r e s p r o d u k t i o n. Preis pro Band 13,80 DM/<br />

Stud. 11,80 DM (zzgl. Versandkosten). Gesondert abonniert werden können: Literatur im historischen<br />

Prozeß (LHP) mit 3 Bänden pro Jahr, Kritische Medizin, Forum Kritische Psychologie<br />

und Gulliver mit je 2 Bänden pro Jahr. A b o n n e n t e n dieser Fachreihen erhalten alle anderen<br />

AS-Bände auf W u n s c h z um Abo-Preis.<br />

<strong>Das</strong> <strong>Argument</strong>-Beiheft '79, '80, '81 und '82: jeweils ca. 100 Besprechungen der w i c h t i g s t e n<br />

wissenschaftlichen Neuerscheinungen. Je 192 S., 16,80 DM, f. Stud. 13,80 DM. A b o n n e n t e n<br />

der Zeitschrift bzw. der AS: 13,80/bzw. 11,80 DM (zzgl. Versandkosten).<br />

<strong>Argument</strong>-Vertrieb, Tegeler Str. 6, 1000 Berlin 65, Tel.: 030/4619061

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