Das Argument B83 - Berliner Institut für kritische Theorie eV
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DAS ARGUMENT<br />
Zeitschrift <strong>für</strong> Philosophie und Sozialwissenschaften<br />
Herausgegeben von Frigga Haug und Wolfgang Fritz Haug<br />
Ständige Mitarbeiter: Wolfgang Abendroth (Frankfurt/M.), Heinz-Harald Abholz (Berlin/W),<br />
Detlev Albers (Bremen), Günther Anders (Wien), Frank Deppe (Marburg),<br />
Hans-Ulrich Deppe (Frankfurt/M.), Bruno Frei (Wien), Klaus Fritzsche (Gießen), Werner<br />
Goldschmidt (Hamburg), Helmut Gollwitzer (Berlin/W), Heiko Haumann (Freiburg),<br />
Dieter Herms (Bremen), Klaus Holzkamp (Berlin/W), Urs Jaeggi (Berlin/ W),<br />
Baber Johansen (Berlin/W), Arno Klönne (Paderborn), Thomas Metscher (Bremen),<br />
Reinhard Opitz (Köln), Wolfgang Pfaffenberger (Oldenburg), Helmut Ridder (Gießen),<br />
Dorothee Solle (Hamburg), Karl Hermann Tjaden (Kassel), Erich Wulff (Hannover)<br />
Redaktion: Dr. Dieter Borgers, Wieland Elfferding, Dr. Karl-Heinz Götze, Sibylle Haberditzl,<br />
Dr. Frigga Haug, Prof. Dr. W.F. Haug, Thomas Laugstien, Rolf Nemitz, Nora<br />
Räthzel, Dr. Werner van Treeck<br />
Autonome Frauenredaktion: Sünne Andresen, Ursula Blankenburg, Anke Bünz-Elfferding,<br />
Dagmar Burgdorf, Claudia Gdaniec, Dr. Frigga Haug, Kornelia Hauser, Birgit<br />
Jansen, Ursula Lang, Hannelore May, Dr. Barbara Nemitz, Erika Niehoff, Sigrid Pohl,<br />
Renate Prinz, Nora Räthzel, Dr. Brita Rang, Petra Sauerwald, Christine Thomas, Dr.<br />
Silke Wenk, Heike Wilke<br />
Redaktion und Verlag: Altensteinstraße 48a, 1 Berlin 33, Tel. 0 3 0 / 8 314079<br />
Anzeigen (o.Tausch): Runze/Casper, Jungfernstieg 20,1 Berlin 45,Tel. 030/7722443<br />
<strong>Argument</strong>-Vertrieb: Tegeler Str. 6, 1 Berlin 65, Tel. 030/461 9061<br />
DAS ARGUMENT — BEIHEFT 83: Rezensionen<br />
Redaktion: Thomas Laugstien und Renate Prinz<br />
Schreibsatz: Christa Metz, Berlin. Druck: alfa-Druck, Göttingen<br />
© <strong>Argument</strong>-Verlag GmbH Berlin 1983<br />
1.-2. Tausend 1983<br />
ISSN 0722-964X<br />
ISBN 3-88619-037-4<br />
<strong>Das</strong> A r g u m e n t erscheint 1983 in 6 H e f t e n (alle 2 Monate). J a h r e s u m f a n g 924 Seiten. — Einzelheft 12,-<br />
DM; Stud., Schüler, Erwerbslose 9,- D M . Jahresabo inkl. Versand 63,80 DM; Stud. etc. 50,- DM. — Kündigung<br />
des A b o s nur z u m J a h r e s e n d e bei Einhaltung einer Dreimonatsfrist. — Die Redaktion bittet um<br />
Mitarbeit, haftet aber nicht <strong>für</strong> unverlangt e i n g e s a n d t e Texte und Rezensionsexemplare. Aufsätze sollen<br />
h ö c h s t e n s 20, Rezensionen 2 MS-Seiten (11/2zeilig mit Rand) haben. Zitierweise wie in den Naturwissenschaften.<br />
— Copyright © <strong>Argument</strong>-Verlag G m b H . Alle R e c h t e — a u c h das der Übersetzung —<br />
vorbehalten. — Konten: Postscheck Berlin West 5745-108. BfG 11 14 40 13 00, BLZ 100 101 11.
INHALT<br />
Margret Lüdemann: Getrennt zusammenschreiben 7<br />
SOZIALE BEWEGUNGEN UND POLITIK<br />
Frauen-Politik<br />
Leger, Daniele: Le Féminisme en France (F. Haug) 8<br />
Dunayevskaya, Raya: Rosa Luxemburg. Women's Liberations<br />
and Marx's Philosophy of Revolution (F. Haug) 9<br />
Féminisme et Marxisme (F. Haug) 11<br />
Krechel, Ursula: Selbsterfahrung und Fremdbestimmung<br />
(A. Grunewald) 13<br />
Neue soziale Bewegungen<br />
Hollstein, Walter: Die gespaltene Generation<br />
(K. Jacobs) 14<br />
Brand, Karl-Werner: Neue soziale Bewegungen (T. Faust) 1?<br />
Mehlich, Harald: Politischer Protest und Stabilität.<br />
(U. Schimank)<br />
Steigerwald, Robert: Protestbewegungen (G. Klinger)<br />
Dybowski, Hartmut u.a.: Nicht wehrlos - doch wohin?<br />
Gewerkschaften und neue soziale Bewegungen unter<br />
der CDU-Herrschaft (G. Klinger)<br />
Kofier, Leo: Zur Kritik der "Alternativen" (W. Neuhaus)<br />
Brandes, Volkhard und Bernhard Schön (Hrsg.): Wer sind<br />
die Instandbesetzer? (N. Steinborn)<br />
Butler, Hugo und Thomas Häberlin (Hrsg.): Die neuen<br />
Verweigerer (J. Frey)<br />
Frauen in der Friedensbewegung<br />
Beiträge zur feministischen <strong>Theorie</strong> und Praxis 8: "Gegen<br />
welchen Krieg - <strong>für</strong> welchen Frieden?" (B. Jansen) 30<br />
Schenk, Herrad: Frauen kommen ohne Waffen (Ch. Daesler-<br />
Lohmiiller) 33<br />
Brinker-Gabler, Gisela (Hrsg.): Frauen gegen den Krieg<br />
(Ch. Wickert) 34<br />
Brinker-Gabler, Gisela (Hrsg.): Kämpferin <strong>für</strong> den Frieden.<br />
Bertha von Suttner (Ch. Wickert) 34<br />
Sozialstaat und Bürgerinitiativen<br />
Matzner, Egon: Der Wohlfahrtsstaat von morgen<br />
(E. Standfest) 38<br />
Atteslander, Peter: Die Grenzen des Wohlstands - An der<br />
Schwelle zum Zuteilungsstaat (E. Standfest) 39<br />
Arzberger, Klaus: Bürger und Eliten in der Kommunalpolitik<br />
(F. Kröll) 41<br />
Grüber, Wolfram: Sozialer Wohnungsbau in der Bundesrepublik<br />
(K. Brake) 43<br />
Moltke, Konrad von und Nico Visser: Die Rolle der Umweltschutzverbände<br />
im politischen Entscheidungsprozeß<br />
der Niederlande (G. Bachmann) 44<br />
2 0<br />
2 2<br />
2 4<br />
2 6<br />
2 9<br />
DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83
Kämpfe von Frauen in Lateinamerika. Biographische Schilderungen<br />
Low, Angelika: "Was wird aus uns, wenn keine sich wehrt?"<br />
Kolumbien: Die alltäglichen Kämpfe der Frauen (B. Ketelhut)<br />
46<br />
Poniatowska, Elena: Allem zum Trotz ... das Leben der<br />
Jesusa (A. Linck) 47<br />
Zago, Angela: Tagebuch einer Guerilla-Kämpferin (R.<br />
Schröder) 49<br />
Guadalupe Martinez, Ana: Die geheimen Kerker El Salvadors:<br />
<strong>Das</strong> Zeugnis der Comandante Guerillera (M.<br />
Braatz) 51<br />
PHILOSOPHIE<br />
Dialektik, Logik und Sozialwissenschaften<br />
Kimmerle, Heinz (Hrsg.): Dialektik heute (P. Körte) 53<br />
Elster, Jon: Logik und Gesellschaft. Widerspruche und mögliche<br />
Welten (W. Kunstmann) 55<br />
Kocyba, Hermann: Widerspruch und <strong>Theorie</strong>struktur. Zur Darstellungsmethode<br />
im Marxschen "Kapital" (H. Brühmann) 57<br />
Holz, Hans Heinz: Natur und Gehalt spekulativer Sätze<br />
(R. Konersmann und P. Körte) 60<br />
Holz, Hans^'Heinz (Hrsg.): Formbestimmtheiten von Sein<br />
und Denken. Aspekte einer dialektischen Logik bei<br />
Josef König (R. Konersmann und P. Körte) 60<br />
Börger, Egon u.a. (Hrsg.): Zur Philosophie der mathematischen<br />
Erkenntnis (M. Lönz) 63<br />
SPRACH- UND LITERATURWISSENSCHAFT<br />
Sprachgeschichte und Sprachsoziologie<br />
Moser, Hans, Hans Wellmann und Norbert R. Wolf: Geschichte<br />
der deutschen Sprache. Bd. 1: Althochdeutsch-Mittelhochdeutsch.<br />
Von Norbert R. Wolf (U. Seelbach) 64<br />
Sanders, Willy: Sachsensprache, Hansesprache, Plattdeutsch<br />
(K. Hackstette) 65<br />
Caudmont, Jean (Hrsg.): Sprachen in Kontakt. Langues<br />
en contact (P. Schlobinski) 67<br />
Schläpfer, Robert (Hrsg.): Die viersprachige Schweiz<br />
(B. Niederer) 67<br />
Soeffner, Hans-Georg (Hrsg.): Beiträge zu einer empirischen<br />
Sprachsoziologie (A. Honer und R. Hitzler) 69<br />
Sprachtheorie<br />
Coulmas, Florian: Über Schrift (P. Jaritz) 70<br />
Droescher, Hans-Michael: Grundlagenstudien zur Linguistik<br />
(Th. Kornbichler) 73<br />
DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83
Sprachliche Gestaltung von Mädchen- und Frauenliteratur<br />
Borsch, Sabine: Fremdsprachenstudium - Frauenstudium?<br />
(H. Decke-Cornill und C. Gdaniec) 74<br />
Gerhardt, Marlis: Kein bürgerlicher Stern, nichts, nichts<br />
konnte mich je beschwichtigen. Essays zur Kränkung der<br />
Frau (U. Blankenburg) 76<br />
Zahn, Susanne: Töchterleben. Studien zur Sozialgeschichte<br />
der Mädchenliteratur (G. Mattenklott) 78<br />
Alves, Eva-Maria (Hrsg.): Ansprüche. Verständigungstexte<br />
von Frauen (R. Decke-Cornill) 81<br />
Morgner, Irmtraud: Amanda. Ein Hexenroman (A. Nette) 83<br />
Literaturtheorie<br />
Brackert, Helmut und Jörn Stückrath (Hrsg.): Grundkurs<br />
Literaturwissenschaft (J. Schutte) 85<br />
Schmidt, Siegfried J.: Grundriß der empirischen Literaturwissenschaft<br />
(W. Faulstich) 87<br />
Masini, Ferrucio: II suono di una sola mano. Lemmi<br />
critici e metacritici (M. Hinz) 90<br />
Deutsche Literaturgeschichte<br />
Rosellini, Jay: Volker Braun (R. Mangel) 91<br />
Arnold, Heinz Ludwig (Hrsg.): Peter Weiß (E. Mindermann)<br />
93<br />
Hoffmann, Ludwig u.a.: Exil in der Tschechoslowakei,<br />
in Großbritannien, Skandinavien und Palästina<br />
(N. Kortz) 95<br />
Koebner, Thomas (Hrsg.): Weimars Ende. Prognosen und<br />
Diagnosen in der deutschen Literatur und politischen<br />
Publizistik 1930-1933 (C. Albert) 97<br />
Marcus-Tar, Judith: Thomas Mann und Georg Lukâcs<br />
(W. Jung) 99<br />
Wagner, Nike: Geist und Geschlecht. Karl Kraus und die<br />
Erotik der Wiener Moderne (H. Schmidt-Bergmann) 101<br />
Schorske, Carl E.: Wien. Geist und Gesellschaft im Fin<br />
de öiecle (H. Schmidt-Bergmann) 102<br />
Unseld, Joachim: Franz Kafka. Ein Schriftstellerleben<br />
(Th. Bremer) 103<br />
Anz, Thomas und Michael Stark (Hrsg.): Expressionismus.<br />
Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur<br />
1910-1920 (H. Schmidt-Bergmann) 105<br />
Becker, Peter von (Hrsg.): Georg Büchner, Dantons Tod.<br />
Die Trauerarbeit im Schönen (Th. Kornbichler) 106<br />
Brenner, Peter J.: Die Krise der Selbstbehauptung. Subj'ekt<br />
und Wirklichkeit im Roman der Aufklärung<br />
(M. Schneider) 108<br />
Klotz, Günther, Winfried Schröder und Peter Weber<br />
(Hrsg.): Literatur im Epochenumbruch. Funktionen<br />
europäischer Literaturen im 18. und beginnenden<br />
19. Jahrhundert (H. Peitsch) 110<br />
DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83
SOZIOLOGIE<br />
Familiensoziologie<br />
Wahl, Klaus, Michael-Sebastian Honig und Lerke Gravenhorst:<br />
Wissenschaftlichkeit und Interessen. Zur Herstellung<br />
subjektivitätsorientierter Sozialforschung<br />
(U.-H. Brockner) 113<br />
Wahl, Klaus u.a.: Familien sind anders! (U.-H.<br />
Brockner) 113<br />
Arbeitsgruppe Elternarbeit/Arbeitsgruppe Frühkindliche<br />
Sozialisation: Orientierungsmaterialien<br />
<strong>für</strong> die Elternarbeit - Elternarbeit mit sozial<br />
benachteiligten Familien (U.-H. Brockner) 113<br />
Bösel, Monika: Lebenswelt Familie (M. Herzer) 115<br />
Kritische <strong>Theorie</strong><br />
Wilson, Michael: <strong>Das</strong> <strong>Institut</strong> <strong>für</strong> Sozialforschung und<br />
seine Faschismusanalysen (K. Willen)<br />
Hansen, Klaus (Hrsg.): Frankfurter Schule und Liberalismus.<br />
Beiträge zum Dialog zwischen <strong>kritische</strong>r Gë<br />
sellschaftstheorie und politischem Liberalismus<br />
(H.-G. Jaschke)<br />
Frankreich<br />
Schmidt, B. u.a.: Frankreich-Lexikon (W. Kowalsky)<br />
Der Frankreich-Brockhaus (W. Kowalsky)<br />
Debray, Régis: "Voltaire verhaftet man nicht." Die<br />
Intellektuellen und die Macht in Frankreich<br />
(J. Tuguntke)<br />
ERZIEHUNGSWISSENSCHAFT<br />
117<br />
119<br />
120<br />
120<br />
Sexualerziehung<br />
Amendt, Günter: <strong>Das</strong> Sexbuch (U. Lang und E. Niehoff) 123<br />
Cousins, Jane: Make it Happy (U. Lang und E. Niehoff) 123<br />
Jaeggi, Eva: Auch Fummeln muß mein lernen (U. Lang und<br />
E. Niehoff) 123<br />
Kentier, Helmut: Eltern lernen Sexualerziehung (U. Lang<br />
und E. Niehoff) 124<br />
Kunstmann, Antje: Mädchen. Sexualaufklärung emanzipatorisch<br />
(U. Lang und E. Niehoff) 124<br />
Fehrmann, Helma, Jürgen Flügge und Holger Franke: Was<br />
heißt hier Liebe? Ein Spiel um Liebe und Sexualität<br />
<strong>für</strong> Leute in und nach der Pubertät (F. Haug) 131<br />
DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83<br />
122
MEDIZIN<br />
Frau und Gesundheit<br />
Pinding, Maria und Herrmann Fischer-Harriehausen: Hauskrankenpflege<br />
in zwei <strong>Berliner</strong> Bezirken. Eine Untersuchung<br />
zum Praxisfeld ambulanter Versorgung<br />
(U. Czock) 132<br />
Maschewsky, Werner und Ulrike Schneider: Soziale Ursachen<br />
des Herzinfarktes (S. Bartholomeyczik) 134<br />
Asmus, Gesine (Hrsg.): Hinterhof, Keller und Manssarde.<br />
Einblicke in <strong>Berliner</strong> Wohnungselend 1901-<br />
1920 (Ch. Leibing) 136<br />
Amendt,Gerhard: Die Gynäkologen (M. Ciaren) 138<br />
Nohke, Anke und Karl Oeker: Der Schwangerschaftsabbruch.<br />
Gründe, Legitimationen, Alternativen<br />
(M. Maurer) 141<br />
Palazzoli, Mara Selvini: Magersucht (B. Jansen) 141<br />
GESCHICHTE<br />
Arbeiterbewegung und Arbeiterkultur<br />
Achten, Udo und Siegfried Krupke (Hrsg.): An Alle!<br />
Lesen! Weitergeben! Flugblätter der Arbeiterbewegung<br />
von 1848 bis 1933 (S. Andresen) 144<br />
van der Will, Wilfried und Rob Burns: Arbeiterkulturbewegung<br />
in der Weimarer Republik (C. Albert<br />
und U. Hornauer) 146<br />
Kaiser, Jochen-Christoph: Arbeiterbewegung und organisierte<br />
Religionskritik (R. Möllers und J.v.<br />
Soosten) 149<br />
Henkel, Martin und Rolf Taubert: Maschinenstürmer.<br />
Ein Kapitel aus der Sozialgeschichte des technischen<br />
Fortschritts (H. Wunderer) 1 5 1<br />
Faschismus und Widerstand<br />
Hübner, Irene: Unser Widerstand. Deutsche Frauen und<br />
Männer berichten über ihren Kampf gegen die Nazis<br />
(F. Kröll) 153<br />
Adolph, Walter : Geheime Aufzeichnungen aus dem nationalsozialistischen<br />
Kirchenkampf 1935-1943 (K.<br />
Drobisch) 156<br />
Peukert, Detlev: Die Edelweißpiraten. Protestbewegungen<br />
jugendlicher Arbeiter im Dritten Reich (A.<br />
Klönne) 157<br />
Sozialistische Erziehung contra Nazi-Verführung<br />
(U. Rauber) 159<br />
Naumann, Uwe (Hrsg.): Lidice - ein böhmisches Dorf<br />
(S. Zielinski) 160<br />
DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83
Frauen suchen ihre Geschichte<br />
Honegger, Claudia und Bettina Heintz (Hrsg.): Listen<br />
der Ohnmacht. Zur Sozialgeschichte weiblicher Widerstandsformen<br />
(S. Petersen) 162<br />
Hausen, Karin (Hrsg.): Frauen suchen ihre Geschichte<br />
(K. Hauser) 166<br />
Borneman, Ernest (Hrsg.): Arbeiterbewegung und Feminismus,<br />
Bericht aus vierzehn Ländern (M. Wolfrum) 168<br />
Warner, Marina: Maria - Geburt, Triumph, Niedergang;<br />
Rückkehr eines Mythos? (H.-J. Koch) 169<br />
ÖKONOMIE<br />
Hausarbeit - Lohnarbeit<br />
Kittler, Gertraude: Hausarbeit. Zur Geschichte einer<br />
"Natur-Ressource" (H. May) 172<br />
Meyer, Sibylle: <strong>Das</strong> Theater mit der Hausarbeit (G.<br />
Heinrich) 174<br />
Pust, Carola, Petra Reichert, Anne Wenzel u.a.: Frauen<br />
in der BRD. Beruf, Familie, Gewerkschaften, Frauenbewegung<br />
(S. Pohl) 176<br />
Eckert, Roland (Hrsg.): Geschlechtsrollen und Arbeitsteilung.<br />
Mann und Frau in soziologischer Sicht<br />
(G. Hartwieg) 178<br />
Beck-Gernsheim, Elisabeth: Der geschlechtsspezifische<br />
Arbeitsmarkt. Zur Ideologie und Realität von Frauenberufen<br />
(G. Hartwieg) 180<br />
Yohalem, Alice M. (Hrsg.): Die Rückkehr von Frauen in<br />
den Beruf. Maßnahmen und Entwicklungen in fünf Ländern<br />
(S. Pohl) 182<br />
Kurbjuhn, Maria und Carola Pust: Emanzipation durch<br />
Lohnarbeit? Eine Untersuchung über Frauenarbeit im<br />
öffentlichen Dienst (G. Hartwieg) 183<br />
Thomas, Carmen (Hrsg.): Die Hausfrauengruppe oder Wie<br />
elf Frauen sich selbst helfen (H. May) 185<br />
Zur Werttheorie bei Marx<br />
Lippi, Marco: Value and Naturalism in Marx<br />
(H. Ganßmann) 187<br />
Steedman, Ian u.a.: The Value Controversy<br />
(H. Ganßmann) 187<br />
Preisverzeichnis der rezensierten Bücher 191<br />
DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83
Margret LUdemann 7<br />
Getrennt zusammenschreiben<br />
Ganz persönlich kommt es meiner Lust entgegen, Rezensionen<br />
zu lesen - auch die <strong>Argument</strong>-Hefte lese ich von hinten<br />
nach vorne. Dieser Atem würde nicht <strong>für</strong> ein ganzes Buch<br />
reichen, deshalb nutze ich es zugleich als 'Nachschlagewerk':<br />
erschließe mir ein Stück fremder Arbeitsgebiete,<br />
verschaffe mir ein Bild der unterschiedlichen Diskussionsstränge.<br />
<strong>Das</strong> finde ich <strong>für</strong> uns Frauen besonders nützlich,<br />
wir haben große Defizite, was die wissenschaftliche Tradition<br />
eingeht und müssen uns rasch auf den Stand bringen, wo<strong>für</strong><br />
die Rezensionen ein gutes Kommunikationsmittel sind.<br />
Mir fiel im letzten Beiheft eine Neuerung auf, die Tradition<br />
werden sollte, ein Einbruch der ein Aufbruch sein<br />
kann: daß Männer und Frauen getrennt-zusammenschreiben. Ich<br />
stieß auf reine Frauenteile unter dem Dach eines gemeinsamen<br />
Oberthemas - Politik oder Literatur, soziale Bewegungen<br />
und Ökonomie. Im Gegensatz zu der resignativen Reaktion einer<br />
Leserin, die hier in einer traditionell männlichen<br />
Zeitschrift jetzt die Frauen "hintangeklatscht" sah, denke<br />
ich mehr an eine produktive Konfrontation: <strong>Das</strong> muß doch die<br />
Rezensionen der Männer wie die der Frauen verändern, da muß<br />
das Geschlechterverhältnis noch einmal deutlich werden in<br />
Verhältnis zu einem Dritten, den besprochenen Büchern. Im<br />
Beiheft '82 können die Leser mitverfolgen, in welche Bereiche<br />
sich die Frauen mit ihren Fragen einmischen. Deutlich<br />
wird in der Kollision mit männlichen Rezensionen, daß die<br />
Frauen nicht schon aufgehoben sind mit ihren spezifischen<br />
Problemen, weder in der Forschung und ihren theoretischen<br />
Zugriffen noch in einer linken Diskussionskultur. Sie müssen<br />
sich im Sinn des Wortes erst 'einschreiben' in die kritisch-verändernde<br />
Tradition marxistischer <strong>Theorie</strong> und tun<br />
dies im Verhältnis zu den den Männern eher subjekthaft. Sie<br />
schreiben mit Standpunkt und Interesse, man kann 'spüren',<br />
daß sie etwas wollen. Frauen erlauben sich eher keine Vernichtungen<br />
der Bücher, sie versuchen das Wenige brauchen zu<br />
können, und sei es durch den produktiven Einbau des neu Gewußten.<br />
Aber diese zweigeschlechtliche Anordnung konfrontiert<br />
auch die Rezensionen der Frauen mit nützlichen Wissenschaftskriterien.<br />
Am Anfang stehend, haben Frauen nicht<br />
den riesigen Überblick, arbeiten eher pünktchenförmig, und<br />
indem sie stärker auf praktische Übersetzung hin schreiben,<br />
zeigen sie weniger theoretische Zusammenhänge auf. Ein Stück<br />
der Not, uns historisch vorenthaltenes Wissen anzueignen,<br />
lösen wir durch Rezensionskollektive. Man merkt den Besprechungen<br />
die Diskussionsprozesse an, sie sind 'gemeinschaftlicher'<br />
: Die Frauen durchbrechen in ihrer Kultur die 'Einsamkeit'<br />
der Wissenschaftler und stellen diese als Struktur<br />
infrage.<br />
DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83
8<br />
SOZIALE BEWEGUNGEN UND POLITIK<br />
Frauen-Politik<br />
Leger, Daniêle: Le Féminisme en France. Editions Le Sycomore,<br />
Paris 1982 (126 S., br.)<br />
<strong>Das</strong> Buch beginnt mit der Beschreibung einer Aktion, die<br />
den Feminismus oder besser die feministische Frauenbewegung<br />
in Frankreich einleitete: Eine kleine Gruppe von Frauen<br />
legte im August 1970 vor dem Triumphbogen einen Kranz<br />
nieder <strong>für</strong> die Frau des unbekannten Soldaten. Die Presse<br />
war am nächsten Tag voll davon und half, die neue Bewegung<br />
aus der Taufe zu heben, ebenso wie sie jetzt durch Verschweigen<br />
ihren Niedergang mitbetreibt.<br />
Ähnlich wie diese Eingangsszene beschreibt die Autorin<br />
mit distanzierter Freundlichkeit die Stationen der Bewegung,<br />
ihre theoretischen Debatten, die von ihren Praxen<br />
kaum zu trennen sind: über Selbsterfahrungsgruppen und Gewalt,<br />
über Körper und Alltag, über Sprache und Sexualität;<br />
über den Kampf gegen den Abtreibungsparagraphen und die<br />
Frage der Organisation, die gegen die der Spontaneität<br />
stand und also <strong>für</strong> eine andere Art, Politik zu machen. -<br />
In einem zweiten Teil geht es um die Frage der Gleichheit<br />
im Unterschied zu der einer eigenen Identität. Auch hier<br />
führt sie die bekannten Positionen vor und ergänzt sie<br />
durch einen Streifzug durch die Geschichte im allgemeinen<br />
wie die der Arbeiterbewegung und ihrer an Personen festzumachenden<br />
(etwa Proudhon und seiri Antifeminismus) wechselnden<br />
Positionen zur Frauenfrage. Es folgt ein ausführlicher<br />
Teil zum Verhältnis von Marxismus und Frauenfrage. Hier<br />
führt Leger die bekannten Zitate aus der deutschen Ideologie,<br />
Ursprung der Familie, Kapital usw. vor, um die Orientierung,<br />
die wir aus Marx'/Engels' Schriften <strong>für</strong> die Frauenfrage<br />
entnehmen können, zu verdeutlichen. Sie arbeitet<br />
heraus, daß zumindest Marx etwa die Prostitution als vollendete<br />
Warenbeziehung und also als gleichartig wie die<br />
Lohnarbeit begriff. Zugleich zeigt sie, daß die Erwerbsarbeit<br />
als Vorbedingung <strong>für</strong> die Emanzipation der Frau bei<br />
Marx und Engels angedeutet ist und bei Lenin sogar die Abschaffung<br />
der Haushalte auf der Tagesordnung stand. Alle<br />
drei aber dachten einen Zusammenhang zwischen Frauenunterdrückung,<br />
Familienform und kapitalistischer Gesellschaftsformation.<br />
Diesen Zusammenhang zugunsten einer reinen Propagierung<br />
der Berufstätigkeit aufgelöst zu haben, beschuldigt<br />
sie die KPF (Komm. Partei Frankreichs). Sie führt einige<br />
Sätze aus dem Frauenprogramm vor, die angesichts der<br />
Verhältnisse in der Tat merkwürdig klingen. Ohne Rücksicht<br />
auf die Familienform, ja sogar die Gesellschaftsform scheint<br />
die KPF demnach ihre Arbeit <strong>für</strong> die Frauen darin zu erschöpfen,<br />
ihnen Erleichterungen <strong>für</strong> den Haushalt verschaffen<br />
zu wollen, damit sie ihre Mutterpflichten mit der<br />
DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83
Frauen-Po litik 9<br />
"Selbstverwirklichung im Beruf" vereinbaren können. Weder<br />
die Familienrollen von Mann und Frau werden in Frage gestellt<br />
noch die Familie selbst als ein Fundament der kapitalistischen<br />
Gesellschaft. Die Unterdrückung der Frau in<br />
•der Familie erscheint als eine Art "ideologischer Rest".<br />
"... Die Frau ist Partnerin, die soviel gibt, wie sie erhält.<br />
Es existiert ein bereichernder Austausch <strong>für</strong> den einen<br />
so gut wie <strong>für</strong> den anderen." (Aus: Die Kommunisten und<br />
die Lage der Frauen, zit. n. Leger, 91). - Dagegen plädiert<br />
die Autorin am Ende da<strong>für</strong>, den Kampf gegen den Sexismus,<br />
den Bruch mit den bisherigen kulturellen Mustern mit dem<br />
Klassenkampf zu verbinden. Alle Formen der sozialen Unterdrückung<br />
zu bekämpfen und dem Problem, daß dabei die Frauen<br />
aus den oberen Schichten ihre ökonomischen, gesellschaftlichen<br />
und kulturellen Privilegien in Frage stellen müßten,<br />
politisch zu begegnen.<br />
Gemessen an anderen Büchern und Zeitschriftenartikeln,<br />
Debatten und Berichten aus dem marxistisch-feministischen<br />
Bereich geht dieses Buch am weitesten in die Richtung, den<br />
Frauenkampf unmittelbar mit dem Klassenkampf zu verbinden<br />
und Konsequenzen daraus zu ziehen, daß die einzelnen Frauen<br />
auch Klassen angehören. Daß dennoch eine so harte Kritik an<br />
der Behandlung der Frauenfrage durch die kommunistische<br />
Partei geübt wird, zeigt, wie wenig auch diese Partei an<br />
den Fragen gearbeitet hat, deren politische Dringlichkeit<br />
ihr spätestens die Existenz der Frauenbewegung hätte verdeutlichen<br />
können. Frigga Haug (Berlin/West)<br />
Dunayevskaya, Raya: Rosa Luxemburg, Women's Liberation, and<br />
Marx's Philosophy of Revolution. Humanities Press, New Jersey<br />
und Harvester Press, Sussex 1982 (234 S., br.)<br />
Die Autorin, Trotzkis Sekretärin in Mexico, möchte im<br />
wesentlichen eine andere Lesart der Marxschen <strong>Theorie</strong> der<br />
Revolution durchsetzen: die Idee der permanenten Revolution.<br />
Marx marxistisch als <strong>Theorie</strong> der Befreiung entdecken,<br />
dies sei auch das Werk Rosa Luxemburgs gewesen, deren Bedeutung<br />
von den derzeitigen Feministinnen bei weitem unterschätzt<br />
werde. Rosa L. feministisch beerben, das ist in der<br />
Tat ein Unterfangen, das neugierig macht, sind wir es doch<br />
gewohnt, sie zwar als wichtige Politikerin und auch Theoretikerin<br />
von Politik zu beurteilen, dies jedoch vielleicht<br />
gerade, weil sie sich um die Frauenfrage wenig kümmerte,<br />
sie sozusagen der Zeitgenossin Klara Zetkin überließ (Niggemann<br />
z.B. untersuchte die Interventionen dieser beiden<br />
Politikerinnen im Parlament und deren Themen und zählte bei<br />
Luxemburg keine einzige, die sich explizit auf Frauen bezog<br />
- vgl. dazu meine Rezension in <strong>Argument</strong> 129/1980). Dunayesskaya<br />
geht in ihrem Plädoyer einen anderen Weg: Sie<br />
untersucht Luxemburgs <strong>Theorie</strong> von Organisation und Revolution<br />
und deren Nutzen <strong>für</strong> feministische Politik und ihre<br />
Persönlichkeit als mögliches Ideal von Frauenbefreiung. Gerade<br />
daß Luxemburg sich einer - von der Parteiführung vor-<br />
DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83
10 Soziale Bewegungen und Politik<br />
gesehene Eingrenzung auf die Frauenfrage widersetzte und<br />
statt dessen nicht nur dort, sondern auch allgemein Grenzen<br />
sprengen wollte im Sprechen und Schreiben » daß sie schon<br />
mit 26 Jahren als leidenschaftliche Rednerin öffentlich<br />
auftrat, daß sie Uber einen politischen Dissens in der Organisationsfrage<br />
mit ihrem Gefährten brach und also unabhängig<br />
lebte und urteilte, scheint ihr Luxemburg als Modell<br />
<strong>für</strong> Frauenemanzipation geeignet zu machen. Die Geschichte,<br />
so sagt sie, beginnt mit originellen Persönlichkeiten (92).<br />
Dreimal in diesem Buch zitiert sie einen Satz L.s über<br />
Menschlichkeit, der ihre perspektivische Denk- und Seinsweise<br />
dokumentieren soll: "Sieh zu, daß Du menschlich bleiben<br />
kannst. Menschlich sein heißt, sein ganzes Leben mit<br />
Freude auf die Waagschale des Schicksals werfen, wenn es<br />
notwendig ist, die ganze Zeit aber jeden Sonnentag genießen<br />
und jede schöne Wolke. Ach, ich kenne keine Formel, in der<br />
ich Dir mitteilen könnte, was Menschlich-sein bedeute "<br />
(III, 77, 83). Sie weist die Interpretation üblicher Luxemburg-Biographen<br />
(etwa Nettl, London 1966) zurück, nach denen<br />
die Jahre nach der Trennung von ihrem Lebensgefährten<br />
Jogiches "verlorene Jahre" waren, und zeigt vielmehr auf,<br />
daß es eben diese Zeit war, in der ihre wichtigsten politischen<br />
Auseinandersetzungen stattfanden, sie ihre bedeutendsten<br />
Schriften verfaßte und zudem èinzige Lehrende in der<br />
Parteischule wurde.<br />
In der Revolutionstheorie sind es ebenso die Idee von<br />
der permanenten Revolution, vom beständigen kulturellen<br />
Neuaufbau, sowie die immer deutlichere Herausarbeitung der<br />
Spontaneität der Massen, auch der unorganisierten <strong>für</strong> die<br />
Revolution, die ihr <strong>für</strong> jede Frauenbefreiungspolitik notwendig<br />
scheinen. Als historischen Beleg führt sie die Frauenmassenauftritte<br />
im Laufe der verschiedenen Revolutionen<br />
an und die Anfänge der Frauenbefreiungsbewegung. Hier behauptet<br />
sie, daß die eigentliche Befreiung mit dem Jahre<br />
1831 sich zu artikulieren begann, als Maria Stewart, eine<br />
Schwarze, als erste Frau öffentlich sprach. Der Ausschluß<br />
aus der Politik, das verbindet die Rassenfrage und die<br />
Frauenfrage und je nach historischen Umständen die Frauen<br />
gegen die Männer.<br />
Gut und nachvollziehbar an D.s Ausführungen sind ihre<br />
Überlegungen zur Bedeutung einzelner Aktionen. Sie empfiehlt<br />
z.B., eine ökonomische Forderung oder auch die Forderungen<br />
nach einem Wahlrecht <strong>für</strong> Frauen nicht als solche zu diskutieren,<br />
sondern nach der Kraft, die dahintersteckt, und wie<br />
Luxemburg Verbindungslinien zu "Generalstreik und Revolution"<br />
zu schaffen. Der neuen feministischen Frauenbewegung<br />
empfiehlt sie, mehr von Luxemburg zu lernen, und merkt kritisch<br />
an, daß die neue Bewegung einen Fehler habe, in den<br />
Männern ihren Feind zu sehen. Sie empfiehlt den Feministinnen,<br />
Marx als Revolutionär zu studieren und da<strong>für</strong> insbesondere<br />
die ethnologischen Notizbücher heranzuziehen. Scharf<br />
zieht sie eine Trennungslinie zwischen Engels und Marx in<br />
DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83
Frauen-Po litik<br />
der Frauenfrage. Die Auffassung von der "weltweiten Niederlage<br />
des weiblichen Geschlechts" aus dem Übergang vom Matriarchat<br />
zum Patriarchat und die Inbeziehungsetzung zur<br />
"ersten Arbeitsteilung zwischen Mann und Frau" seien schon<br />
wegen ihrer Nähe zu biologistischen Auffassungen niemals<br />
Marx zuzurechnen (105). Selbst wenn Marx die erste Arbeitsteilung<br />
als geschlechtliche formuliere (Deutsche Ideologie,<br />
MEW 3), meine er diese sogleich als soziale und und bringe<br />
sie in Beziehung zu den großen Arbeitsteilungen zwischen<br />
Stadt und Land und Kopf und Hand, die er als roten Faden<br />
verfolge. In dieser Weise seien die zentralen Marxschen<br />
Überlegungen zur Frauenfrage in der vorgeschlagenen Analyse<br />
der Geschlechterverhältnisse, der Familienform und der Heiratsformen<br />
zu suchen. Während Engels eine vereinfachte lineare<br />
Betrachtung der Geschlechterbeziehungen verfolge und<br />
von daher die Abfolge Frauenherrschaft, Umsturz und Frauenunterdrückung<br />
denke, habe Marx die Elemente der Frauenunterdrückung<br />
in den primitiven Urgemeinschaften mit dem Beginn<br />
der ersten Führungsfunktionen und der ökonomischen Interessen,<br />
die daraus resultierten, herausgearbeitet.<br />
Am Ende empfiehlt sie <strong>für</strong> die gegenwärtigen Fragen der<br />
Frauenbefreiung, z.B. <strong>für</strong> die Frage der Organisation: das<br />
Problem der Dezentralisierung oder Zentralisierung, der Bürokratisierung<br />
und Stellvertretung, der Trennung von Führung<br />
und Geführten im Sinne R. Luxemburgs zu verfolgen. <strong>Das</strong><br />
heißt Revolution als zweistufigen Prozess zu sehen, nicht<br />
nur als Überwindung des Alten sondern auch als Aufbau von<br />
Neuem. Da<strong>für</strong> brauche es die vielfältige Bewegung aller, die<br />
persönliche Betroffenheit von Politik.<br />
Der dritte Teil des Buches (90 Seiten) ist der Versuch,<br />
die Marxsche Umarbeitung von Hegel zur <strong>Theorie</strong> einer permanenten<br />
Revolution ins Zentrum zu rücken, den Leninschen<br />
Einfluß auf den Marxismus umzukehren. Auch diese Abschnitte<br />
sind lesenswert,nicht zuletzt wegen ihrer Einbeziehung aktueller<br />
Probleme und vor allem Fragen der Dritten Welt und<br />
Chinas.<br />
Im Anhang gibt es eine lOseitige Biographie zu Luxemburg<br />
und zur Geschichte der Frauenbewegung, insbesondere zur<br />
Rolle der schwarzen Frauen bis heute und schließlich zu<br />
Marxinterpretationen, die den kulturellen und philosophischen<br />
Aspekt hervorheben. Frigga Haug (Bérlin/West)<br />
Feminisme et Marxisme. Journées "Elles voient rouge", 29.<br />
et 30. novembre 1980. Edition Tierce, Paris 1981 (152 S.,<br />
br.)<br />
<strong>Das</strong> Buch ist auf dreifache Weise bemerkenswert: Es berichtet<br />
von einer Tagung und dokumentiert ihre Beiträge,<br />
auf der Frauen aus der autonomen Frauenbewegung Frankreichs<br />
ebenso versammelt waren wie Frauen aus den Parteien und Gewerkschaften.<br />
<strong>Das</strong> Thema bezeichnet die Richtung, in der eine<br />
Lösung" <strong>für</strong> die künftige Frauenpolitik gesucht wird -<br />
noch in diesem Jahr soll eine revolutionäre feministische<br />
11<br />
DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83
12 Soziale Bewegungen und Politik<br />
Partei gegründet werden ; die Initiatorinnen der Tagung waren<br />
die Frauen um die Zeitschrift "Elles voient rouge", die<br />
ursprünglich von vier Frauen gegründet wurde, die aus der<br />
Kommunistischen Partei wegen ihrer orthodoxen Frauenpolitik<br />
ausgetreten waren. Heute gibt es in der Redaktion sowohl<br />
organisierte als auch nicht organisierte Frauen, die sich<br />
allesamt als Kommunistinnen bezeichnen. - <strong>Das</strong> Problem, das<br />
sie verband: wie können wir verhindern, daß die Frauenbewegung<br />
in die Bedeutungslosigkeit und Geschichtslosigkeit zurückfällt,<br />
ohne uns in den Kampf um die Macht im Staat einzulassen?<br />
Und weiter: Wie können wir an der Macht teilhaben,<br />
ohne unsere Stärke, Bewegung zu sein, die an der alltäglichen<br />
Erfahrung jeder einzelnen ansetzt und von daher<br />
einem dürren Delegationsprinzip widerstreitet, zu verlieren?<br />
Wie können wir also Politik im juridisch-öffentlichen<br />
Bereich verändern, ohne seine Strukturen zu bedienen? - Die<br />
Auffassungen waren nicht einhellig, die Diskussionsweise<br />
aber gekennzeichnet von einer wirklichen Suche nach einer<br />
Problemlösung, nicht nach Effekten und Profilierungen. Die<br />
konkretesten Vorstellungen waren die einer Partei anderen<br />
(nicht leninschen) Typs, organisiert wie die Frauenhäuser<br />
(mit Delegierten jeder Gruppe) und nicht als Ersatz, sondern<br />
als Interessenartikulation <strong>für</strong> die Bewegung, als Koordinatorin<br />
der in vielen Arbeitsgruppen oder projektförmig<br />
strukturierten Frauenbewegung.<br />
Die diskutierten Themen waren am ersten Tag die Strategien<br />
um die Hausarbeit. Hier neigen die Kommunistinnen um<br />
die Zeitschrift zumindest eher zu einer Position, die Hausarbeit<br />
als unproduktiv und nicht wertschaffend im Kapitalismus<br />
begreift, und von daher empfehlen sie, eine Strategie<br />
gegen den Ort, der sie notwendig macht - die Familienform<br />
-,und die dazugehörige Ideologie zu entwickeln. Christine<br />
Buci versuchte hier, zusätzlich das Problem des Staates<br />
als Organisatorin des Patriarchats hineinzubringen. Am<br />
zweiten Tag wurden die Organisationsprobleme, die Machtfrage,<br />
die Zukunft der Bewegung sowie die Fragen des Persönlichen<br />
und Politischen, der Komplizenschaft der Frauen und<br />
schließlich Fragen der Strategie um Homo- und Heterosexualität<br />
diskutiert. Unter dem Stichwort "Komplizenschaft"<br />
verstehen sie so etwas wie unsere "Opfer-Täter-Debatte".<br />
Auch hier wird um die psychologische Dimension einer angenommenen<br />
Komplizenschaft der Frauen bei ihrer Unterdrückung<br />
und damit bei der Aufrechterhaltung des Systems gestritten,<br />
um Schuld und Verantwortung und wieder um die Macht. Bei<br />
dieser Debatte, die offenbar auch in Frankreich Tradition<br />
hat, sind die Positionen etwas unscharf: So wird unter Komplizenschaft<br />
sowohl das Zusammenleben mit einem Mann bezeichnet<br />
als auch eine individuelle Karriere im System (leben<br />
wie ein Mann) als auch die Reproduktion des Gesamtsystems<br />
in der weiblichen Knechtsgestalt, die die Herren mit<br />
hervorbringt.<br />
Immer wieder äußern sich die Frauen - ob organisiert<br />
DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83
Frauen-Po litik<br />
oder nicht - zornig Uber eine kommunistische oder sozialistische<br />
Politik, die die Frauenfrage total ignoriert und<br />
gleichwohl alles über sie zu wissen beansprucht. Hier sind<br />
die Parallelen zu unseren westdeutschen Verhältnissen deutlich,<br />
wenngleich wir weit davon entfernt sind, eine solche<br />
Tagung mit dieser problemorientierten und effektiven Diskussion<br />
zu haben. Wir müssen dies organisieren.<br />
Frigga Haug (Berlin/West)<br />
Krechel, Ursula: Selbsterfahrung und Fremdbestimmung. Bericht<br />
aus der Neuen Frauenbewegung. Luchterhand Verlag,<br />
Darmstadt 1983 (217 S., br.)<br />
Dieses ist die erweiterte Neuauflage des bereits 1975<br />
unter gleichem Titel erschienenen Buches. - "Die Explosion,<br />
die die Frauenbewegung im weiblichen Denken und Handeln<br />
ausgelöst hat, bewegt sich in abflachenden Wellen weiter,<br />
dringt in ungeahnte Ritzen ..." (20). Dieses Bild veranschaulicht<br />
das Thema: Es geht der Autorin um einen ausführlichen<br />
Überblick über Veränderungen in der Frauenbewegung,<br />
die Diskussionen und Schwierigkeiten. Dabei soll das Buch<br />
weder ein "Rechenschaftsbericht" (198) sein noch den Anspruch<br />
erfüllen, den "aktuellen Stand" (8) darzulegen.<br />
Die Frauenbewegung hatte am Anfang den Anspruch, sich<br />
"nicht einen Frontabschnitt zuweisen (zu lassen), sondern<br />
sie bestand auf dem Kampf gegen jede (Lebens- und Politik-,<br />
A.G. ) Form und Herrschaft" (14). Aber was heißt das konkret?<br />
Wie konnte das umgesetzt werden? "Die Frauenbewegung<br />
hat den Frauen nur allgemeines zu sagen, sie müssen jetzt<br />
selbst sprechen. Für ihre spezifische Situation kann die<br />
Frauenbewegung ihnen in der Tat wenig sagen und grüßt von<br />
weitem solidarisch" (24). <strong>Das</strong> bedeutet in der Praxis oft,<br />
daß "Verkäuferinnen in den Supermärkten", die "unzähligen<br />
Hausfrauen" trotz Gemeinsamkeiten getrennte Wege gehen.<br />
Aber gerade dies war etwas, was die Frauenbewegung aufheben<br />
wollte. Allerdings müsse man sich nach 15 Jahren Frauenbewegung<br />
fragen, "ob die Strategien aus der Hochzeit der neuen<br />
Frauenbewegung noch Gültigkeit <strong>für</strong> sie haben. Die Probleme<br />
sind komplexer geworden" (15). Nur allein der Wunsch,<br />
befreit und selbstbestimmt leben zu wollen, erwies sich als<br />
unzulänglich. So fehlte z.B. eine Strategie, wie die vorhandene<br />
Wut in Produktivkraft verwandelt werden konnte (12).<br />
Die Frauen mußten die Erfahrung machen, daß sie sich selbst<br />
auch verändern müssen, daß ihre "Emotionalität , die (sie)<br />
in die politische Arbeit einbringen, häufig auch ein Hindernis<br />
(ist)" (113). Die Gemeinsamkeiten als Frauen dürften<br />
nicht zu "Ansprüchen wie: Aus Solidarität bist du mir<br />
schuldig, daß du mich liebst" (48) führen. Vielmehr müßten<br />
die Frauen im Umgang miteinander lernen, daß sie sich auch<br />
von der gerade erst gefundenen Gemeinsamkeit wieder entfernen<br />
müssen.<br />
Es sei berechtigt, in Selbsterfahrungsgruppen "Mosaiksteine<br />
des Selbst" zusammenzutragen, aber es gehe nicht nur<br />
15<br />
DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83
14<br />
Soziale Bewegungen und Politik<br />
um die Kenntnis unserer Unterdrückung. Die Frauenunterdrükkung<br />
müsse in einen gesellschaftspolitischen Kontext gestellt<br />
werden, um die Unterdrückungsmechanismen und deren<br />
Nutzen zu begreifen. Erst so könne die Frauenbefreiung ein<br />
Stück auf dem Weg der Menschenbefreiung werden (49f.).<br />
Ursula Krechel ist es meines Erachtens gut gelungen,<br />
selbstkritisch die Fehler, Schwächen und Mängel der Frauenbewegung<br />
zu begreifen, sie in Beziehung zur Geschichte der<br />
Frauenbewegung zu stellen, aber nicht dort stehenzubleiben.<br />
So weist sie darauf hin, daß ein großer Fehler der Frauenbewegung<br />
deren "ahistorische Betrachtungsweise" sei. Solange<br />
die Frauen nicht den Kapitalismus berücksichtigen, keine<br />
Erklärung <strong>für</strong> ihn hätten, könne eine Wechselwirkung von Kapitalismus<br />
und Patriarchat nicht beachtet und damit auch<br />
nicht angegangen werden (77). Obwohl die Autorin sehr sorgfältig<br />
die vorhandenen Probleme und deren Ursachen (s.o.)<br />
erkennt, macht sie keinen Politikvorschlag. So weist sie<br />
lediglich darauf hin, daß "die Formen sich geändert (haben)<br />
und sich weiter ändern müssen" (25).<br />
Etwas enttäuschend fand ich das Kapitel "Perspektiven<br />
der Frauenbewegung", gerade weil dies ein <strong>für</strong> mich sehr<br />
dringendes Problem der Frauenbewegung ist. Den größten Teil<br />
dieses Kapitels räumt Ursula Krechel den "Lehren aus der<br />
ersten Frauenbewegung" ein, während "Frauenbewegung und Sozialismus"<br />
fast unbearbeitet aus der ersten Ausgabe übernommen<br />
wurde. Als feministische Sozialistin finde ich es<br />
bedauerlich, daß keine der neueren Diskussionen in ihre<br />
Überlegungen mit einbezogen wurden.<br />
Astrid Grunewald (Hamburg)<br />
Neue soziale Bewegungen<br />
Hollstein, Walter: Die gespaltene Generation. Jugendliche<br />
zwischen Aufbruch und Anpassung. Verlag J.H.W. Dietz Nachf.,<br />
Berlin-Bonn 1983 (144 S., br.)<br />
<strong>Das</strong> Buch ist eine Zusammenstellung von 15 Reden und Aufsätzen<br />
aus den Jahren 1965-82; lediglich der Beitrag "Lieber<br />
mitten drin als nur von hinten", der die "jugendsoziologische<br />
Problematik" des Bandes umreißen soll, ist ein<br />
Originalbeitrag. Hollstein möchte einer "möglichst breiten<br />
Öffentlichkeit die Absichten, Motive, Aktionen und gesellschaftlichen<br />
Rahmenbedingungen von Jugend verstehbar machen"<br />
(5) und einen Einblick in die "gegengesellschaftlichen<br />
Lebenswelten" geben. Gleichzeitig soll die "stringente<br />
Verwandtschaft der jugendlichen Protestbewegungen der letzten<br />
30 Jahre" deutlich werden.<br />
Hollstein ordnet die Jugendbewegungen in das Raster von<br />
"Aufbruch" und "Anpassung" ein. Als Aufbruchs-Bewegungen<br />
werden Gammler und Provos, Hippies, der amerikanische Underground<br />
und die deutsche Alternativbewegung dargestellt.<br />
DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83
Neue soziale Bewegungen<br />
"Woodstock und die Folgen" handelt von der Vereinnahmung<br />
der Pop-Musik durch die US-Unterhaltungsbranche. Woodstock<br />
wird hier als Umschlagpunkt begriffen. Fand Pop-Musik vorher<br />
in selbstorganisierten "free concerts" statt, so war<br />
Woodstock schon zum Teil von Konzertagenturen, Filmleuten<br />
und fahrenden Händlern gestaltet. Dem folgten Pop-Festivals<br />
mit Zäunen und Eintrittsgeldern, kommerziellen Ständen und<br />
einer Einteilung in Bühne und Publikum. Der Aufsatz "Untergrund<br />
und Opposition in den USA" zeigt, wie nach der "Veräußerlichung"<br />
der Hippie-Bewegung durch Mode und Kommerz<br />
der Ausbau des "underground" betrieben wurde: durch Gründung<br />
von Kommunen und Gemeinschaftshäusern, Werkstätten,<br />
Initiativen zur Nachbarschaftshilfe und Arbeitsvermittlung<br />
und der Distribution von Nahrungsmitteln von den "free<br />
farms" in die Stadt-Zentren. Der Schritt "von der Selbstgenügsamkeit<br />
zur Absicht (...), gesamtgesellschaftlich tätig<br />
zu werden" (54), wurde durch Anstöße von außen, von Friedensbewegung<br />
und SDS, gemacht. So entstand etwa das "underground<br />
press syndicate", in dem sich 500 Untergrund-Zeitschriften<br />
organisierten, die immerhin fünf Millionen Leser<br />
in den USA erreichten (54). Hollstein interpretiert das als<br />
die <strong>Institut</strong>ionalisierung der "Gegengesellschaft" und die<br />
kämpferische Erweiterung "befreiter Gebiete" (51).<br />
Der Abschnitt "Anpassung" wird eingeleitet durch die Bemerkung,<br />
daß "die nun zu beschreibenden Jugendlichen primär<br />
aus den Unterschichten" kommen; "dort konnten sie aufgrund<br />
einer vergleichsweise restriktiven Sozial- und Bildungssituation<br />
weniger ein-verändernden Perspektiven und Handlungsmöglichkeiten<br />
erwerben als ihre Altersgenossen aus den<br />
mittleren und oberen Gesellschaftsschichten" (67). Die Darstellungsform<br />
ändert sich zugunsten von Interview, Einzelportrait<br />
und Interpretation statistischen Materials. Es<br />
geht um die Passivität und "Resgination" von Mädchen, die<br />
in einer Schweizer Uhrenfabrik arbeiten; die "Apathie" von<br />
Stadtstreichern und Prostituierten "dritter Klasse"; einen<br />
18jährigen Freizeit-Punk , der abends in die Punk-Szene<br />
"ab-", aber jederzeit in die offizielle Gesellschaft wieder<br />
"auftaucht", wo diese es von ihm verlangt. Die Neonazi-Jugendbewegung<br />
wird in einem Artikel von 1977 als "isolierte<br />
Einzelerscheinung" (87) gesehen. Weit gefährlicher als die<br />
Existenz der Wiking-Jugend sei der Zusammenhang von mangelndem<br />
Geschichtsbewußtsein, allgemeiner "Verharmlosungstendenz"<br />
gegenüber dem Faschismus und dem politischen Desinteresse<br />
der Jugendlichen. Die populärsten Bewegungen, die<br />
ich hier erwartet hätte, die Halbstarken, Rocker und Skinheads<br />
, kommen dagegen nicht vor.<br />
Der Schlußabschnitt, "Jugendprotest und sozialer Wandel",<br />
bietet als Erklärungsansatz <strong>für</strong> die Entstehung der Jugendbewegungen<br />
vor allem "die einseitigen Anstrengungen, die<br />
Konfliktlosigkeit im ökonomisch-politischen Bereich zu institutionalisieren<br />
..." (102). Die Folge seien "Unzulänglichkeiten<br />
in der Erfüllung menschlicher Grundbedürfnisse"<br />
15<br />
DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83
16 Soziale Bewegungen und Politik<br />
(ebd.) auf den Gebieten von Erziehungswesen, Stadt- und<br />
Wohnungsbau, öffentlicher Gesundheit und Umweltschutz. Daß<br />
Kritik hier gerade von Jugendbewegungen formuliert wird,<br />
hat Hollstein zufolge den Grund, daß Jugend disponiert ist<br />
zur Innovation. "Sie repräsentiert physisch, psychisch,<br />
geistig und sozial die Kraft des Neuen ..." (132). Diese<br />
Reduktion der Jugendbewegungen auf die Funktion der Systeminnovation<br />
ist das paradoxe Gegenstück zu der vor der Enquete-Kommission<br />
des Deutschen Bundestags vorgebrachten<br />
Einschätzung, bei den Auseinandersetzungen um die neuen Jugendbewegungen<br />
handle es sich "um den ganz handfesten Konflikt<br />
von neuen und alten Werten" (120). Von daher muß auch<br />
die abschließende Forderung an die Jugendsoziologie verstanden<br />
werden, Jugendliche nicht einfach als Untersuchungsobjekt<br />
zu betrachten. Verlangt sei Empathie, d.h. Einfühlung<br />
in die Motive und Einstellungen der Jugendlichen. "Empathie<br />
als Methode kann das praktische Handeln der Jugendlichen<br />
ganzheitlicher begreifen, als es die Auswertung von<br />
Dokumenten, Umfragen, soziometrische und projektive Verfahren<br />
vermögen" (126).<br />
Hollsteins Einfühlung scheint mir den Kern des Buchs<br />
auszumachen. Es wirbt um Verständnis <strong>für</strong> das, was seine<br />
Einfühlung in den Jugendbewegungen wiederentdeckt. Zentral<br />
sind hier die Vorstellungen von "der Gegengesellschaft" und<br />
der Ausweitung herrschaftsfreier Räume, von denen aus Darstellung<br />
und Einschätzung der Jugendbewegungen strukturiert<br />
sind. Wie sehr das ein Verständnis der Bewegungen von Arbeiterjugendlichen<br />
behindert, ließe sich an einem Vergleich<br />
mit den Arbeiten der britischen CCCS-Forscher zeigen. Wo<br />
dort Stiluntersuchungen der Jugendkulturen Umorganisationen<br />
vorgegebener Bedeutungen durch die Jugendlichen entdecken,<br />
in denen Einsichten in die eigene Lebenssituation mit<br />
Selbstverurteilungen untrennbar verbunden sind, findet<br />
Hollstein nur Opfer einer restriktiven Sozial- und Bildungssituation.<br />
Widerstand als Selbstverurteilung paßt auch<br />
nicht in die Perspektive der Erweiterung befreiter Gebiete.<br />
- Aber wie mit der Vorstellung von der "Gegengesellschaft"<br />
umgehen? Der Perspektive eines Ausbaus alternativer Kultur<br />
ist sicher zuzustimmen; der Begriffsbildung gegenüber bin<br />
ich skeptisch. Auf der einen Seite werden Frauen- und Ökologie-,<br />
Jugend- und Alternativbewegung unterschiedslos in<br />
die Gegengesellschaft eingegliedert, um sie dann andrerseits<br />
"der Gesellschaft" zu konfrontieren. Aber die Kämpfe,<br />
die Hollstein beschreibt, finden überhaupt nicht außerhalb<br />
der Gesellschaft statt, an Rändern, von denen aus sie zu<br />
verändern wäre. (Hat eine Gesellschaft Ränder?) Wenn, wie<br />
Hollstein argumentiert, "Grundbedürfnisse" und Fragen der<br />
Lebensweise - mit dem Zentrum der Konsumorientierung - entscheidend<br />
sind, dann sind sie es gerade auch <strong>für</strong> die Orientierung<br />
der Arbeiterbewegung. Die theoretische Abbildungsweise<br />
und die Selbsteinschätzung der sozialen Akteure können<br />
hier entscheidend sein. Mir scheint, daß in der Kon-<br />
DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83
Neue soziale Bewegungen 17<br />
frontation von "Gesellschaft" und "Gegengesellschaft" die<br />
alternative Kulturbewegung auch von ihrem Fürsprecher ins<br />
Abseits manövriert wird. Statt den Akzent auf die Neubesetzung<br />
eines zentralen Kampffeldes zu legen, macht Hollstein<br />
die Alternativen zu Vorreitern einer postmaterialistischen<br />
Wertordnung. Die ist der materialistischen entgegengesetzt<br />
um den Preis der Verjenseitigung, der Abkopplung vom Zentrum.<br />
Kurt Jacobs (Berlin/West)<br />
Brand, Karl-Werner: Neue soziale Bewegungen. Entstehung,<br />
Funktion und Perspektive neuer Protestpotentiale. Eine Zwischenbilanz.<br />
Westdeutscher Verlag, Opladen 1982 (205 S. , br. )<br />
<strong>Das</strong> Buch versteht sich eher als Sichtung unterschiedlicher<br />
Erklärungsansätze, denn als empirische Untersuchung<br />
der Bewegungen (NSB): von <strong>Theorie</strong>n neokonservativer Provenienz<br />
über sozial-demokratische Versuche bis hin zu neueren<br />
marxistischen Ansätzen.<br />
R. Ingleharts Wertwandeltheorie beruht auf der These,<br />
"daß sich in den westlichen Industriegesellschaften ... ein<br />
durchgreifender und anhaltender Wertwandel von 'materialistischen'<br />
zu 'postmaterialistischen 1 Werten vollzieht" (65).<br />
Gemäß Maslows <strong>Theorie</strong> der Bedürfnishierarchie behauptet er,<br />
"... daß dann, wenn materielle Versorgungs- und Sicherheitsinteressen<br />
gedeckt sind, 'nichtmaterielle' Werte wie<br />
Selbstverwirklichung, Partizipation, ästhetische Bedürfnisse<br />
etc. in den Vordergrund rücken" (65). Der soziale Protest<br />
findet sich insbesondere bei Jugendlichen aus der Mittelschicht,<br />
"die von den wirtschaftlichen Prosperitätsbedingungen<br />
der Nachkriegszeit geprägt worden" sind (66). Die<br />
Neigung solcher Gruppen zu sozialem Protest finde ihre Ursachen<br />
in der Mißachtung neuer Bedürfnisse durch die gesellschaftliche<br />
Mehrheit und führe zur Unterstützung von<br />
sozialem Wandel. Brand kritisiert zu Recht die "Projektion<br />
gesamtgesellschaftlich notwendiger Funktionen ... auf eine<br />
'natürliche' Hierarchie von materiellen und nichtmateriellen<br />
Bedürfnissen" und betont, daß sich hieraus keine Hierarchie<br />
gesellschaftlicher Funktionen und Werte ableiten<br />
lasse (69).<br />
J. Habermas geht in der Erklärung der NSB vom Zusammenbruch<br />
der "systemintegrativen Funktion des Marktes" aus,<br />
die nun durch staatliche Funktionen übernommen werden müsse.<br />
Weder die Befriedigung "legitimer Bedürfnisse" noch die<br />
öffentliche Unterstützung des "beruflich-familialen Privatismus"<br />
gelinge jedoch und so sei die Gefahr des Legitimitätsentzugs<br />
<strong>für</strong> die staatlichen Instanzen immer größer geworden.<br />
Die fortwährenden Eingriffe der "gesellschaftlichen<br />
Modernisierung" in die Lebenswelten, zerstören die "kommunikative<br />
Binnenstruktur geschichtlicher Lebenswelten". <strong>Das</strong><br />
"Projekt der Moderne" versteht Habermas nun als das "Bemühen,<br />
die objektivierenden Wissenschaften, die universalistischen<br />
Grundlagen von Moral und Recht und die autonome<br />
Kunst unbeirrt in ihrem jeweiligen Eigensinn zu entwickeln<br />
DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83
18 Soziale Bewegungen und Politik<br />
... und <strong>für</strong> die Praxis, das heißt <strong>für</strong> eine vernünftige Gestaltung<br />
der Lebensverhältnisse zu nutzen" (98). Im Versuch,<br />
die objektivierenden Wissenschaften in die Lebenswelten<br />
zurückzuholen, lägen die Ansatzpunkte breiter Teile der<br />
Ökologie-, Alternativ- und Frauenbewegung. "Der Irrtum all<br />
dieser Versuche liegt nach Habermas darin, eines dieser<br />
verselbständigten Momente mit der Alltagspraxis kurzschließen<br />
zu wollen ohne zu berücksichtigen, daß in den Verständigungsprozessen<br />
der Lebenswelt kognitive Deutungen,<br />
moralische Erwartungen, Expressionen und Bewertungen einander<br />
zwanglos durchdringen können müssen" (98). Als Resultat<br />
der vorschnellen Verwerfung des "Projekts der Moderne"<br />
stellten sich dann Antimodernismus und Prämodernismus in<br />
den grünen und alternativen Gruppen ein.<br />
Die zunhemende Durchdringung der Gesellschaft durch die<br />
Verwertungsbedürfnisse des Kapitals stellt J. Hirsch in<br />
seinem Buch "Der Sicherheitsstaat" heraus. Sie lasse in unterschiedlichsten<br />
Lebensbereichen Konflikte entstehen, in<br />
denen die Kämpfe dezentralisiert, nicht ausschließlich um<br />
die Konfliktlinie Arbeit/Kapital kristallisiert sind. Durch<br />
institutionelle Absicherung - der vielfältigen Interessen<br />
will er die Möglichkeit schaffen, die Konflikte "radikalreformistisch"<br />
auszutragen. Eine Ursache <strong>für</strong> die "Heterogenisierung"<br />
der Konflikte ist die "fordistische Vergesellschaftung",<br />
die Kapitalisierung aller Lebenssphären auf<br />
Grundlage des Taylorismus. "... die Segmentierung, Dezentralisierung<br />
und Partialisierung der Interessenlagen und<br />
Erfahrungszusammenhänge führt dazu, daß sich soziale Konflikte<br />
und Bewegungen quer zu den Klassengrenzen entwikkeln,<br />
uneinheitlicher, dezentraler und in ihren Zielen und<br />
Perspektiven vielgestaltiger werden" (113). Brand bemängelt<br />
die unklare politische Perspektive dieser Konzeption. Es<br />
werde nicht gezeigt, "wie es gelingen soll, nichtkapitalistische<br />
Strukturen gesamtgesellschaftlich mit Erfolg durchzusetzen<br />
;.." (118).<br />
In seiner "Zwischenbilanz" versucht K.-W. Brand, die Ansätze<br />
zu "verschränken", ihre unterschiedlichen Problemstellungen<br />
unter seinem Generaltheorem: "die NSB formieren<br />
sich um die Kritik am industriellen Entwicklungsparadigma"<br />
zu integrieren. Gegen bürgerliche und sozialistische Strategien,<br />
die nur die krisenhaften Folgeprobleme der kapitalistischen<br />
Produktionsweise zu bewältigen trachteten, führt<br />
Brand seine These an, die NSB seien "auf eine säkulare Entwicklungstendenz<br />
industrieller, reformkapitalistischer Vergesellschaftung<br />
und die dadurch geschaffenen Folgeprobleme"<br />
zurückzuführen (129).<br />
Brand geht es um eine Kritik der Herrschaftslogik des<br />
gesellschaftlichen Rationalisierungsprozesses. Dabei wird<br />
das Problem in "... der formalen/instrumentellen/technischen<br />
Rationalität gesehen, die im Maße der Herausbildung<br />
der bürgerlichen Gesellschaft, der kapitalistischen Warenökonomie<br />
und des zentralisierten, bürokratischen Staatsap-<br />
DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83
Neue soziale Bewegungen 19<br />
parates sukzessive alle Bereiche des menschlichen Lebens<br />
erfaßt und sie nach ihren eigenen Strukturprinzipien reorganisiert:<br />
die Denkformen, die Affektstrukturen, die Formen<br />
der Naturaneignung und der gesellschaftlichen Praxis ..."<br />
(133). Durch die Erfahrung der Grenzen des Wachstums werde<br />
nun der Fortschrittsglaube zweifelhaft. Die plötzliche Erosion<br />
der Konflikte wird mit "... der krisenhaften Umstrukturierung<br />
des gesellschaftlichen Reproduktionsprozesses"<br />
erklärt, die die Qualität einer "Krise der Subjekt- und Naturbasis<br />
der Gesellschaft" erhält (150). Die klassischen<br />
Subjektstrukturen werden zersetzt und neu formiert, "indem<br />
sie sich gegenüber dem Zugriff kapitalistischer Verwertungs-<br />
und administrativer Rationalisierungsinteressen als<br />
dysfunktional erweisen ..." (151). Die Trägerschaften der<br />
NSB gruppieren sich um die Konfliktlinien industrieller<br />
Leistungskern/Peripherie, Materialismus/Postmaterialismus<br />
und Modernismus/Antimodernismus.<br />
Brand hat Recht darin, daß klassenreduktionistische Erklärungen<br />
der NSB nicht greifen können. Vielmehr müssen die<br />
differenzierten Kampffelder der Ökologie-, Frauen-, Friedens-,<br />
Anti-Atomkraftbewegungen in ihrer je eigenen Handlungs-<br />
und Entwicklungsdynamik begriffen werden. Die "Kapitallogik"<br />
durch die "Logik der industriellen Entwicklung"<br />
zu ersetzen, ist aber unzureichend; vielmehr müssen die nebeneinander<br />
bestehenden Entwicklungsdynamiken gesondert und<br />
in ihrem widersprüchlichen Zueinander untersucht werden.<br />
Für die Ökologiebewegung heißt dies anzuerkennen, daß das<br />
kapitalistische Verwertungsinteresse die Zerstörung der<br />
Biokreisläufe und die Ausbeutung der Arbeiter gleichzeitig<br />
vorantreibt, andererseits die Verseuchung von Landstrichen<br />
durch militärisch-atomare Versuche oder Umweltkatastrophen<br />
in sozialistischen Ländern nicht hinreichend mit dem<br />
"Grundwiderspruch" durch die traditionelle Unke erklärt<br />
werden können. Für das Gelingen der neuen Kämpfe hält Brand<br />
es <strong>für</strong> unumgänglich, die Arbeiterbewegung "in die eigene<br />
ideologische Perspektive zu integrieren", aber wie dies zu<br />
bewerkstelligen sei, sagt er nicht. Dies liegt meines Erachtens<br />
daran, daß er, zugunsten der NSB, die traditionellen<br />
theoretisch marginalisiert, und die verbindenden und<br />
trennenden Elemente zwischen den Bewegungen aus den Augen<br />
verliert. Dies wirkt auf seine Darstellung der NSB zurück.<br />
Brand behandelt Friedens- und Frauenbewegung nicht. Es hätte<br />
ihm Probleme eingehandelt, diese unter der Kategorie<br />
"anti-industrieller Protest" einzuordnen. Nähme er die widersprüchlichen<br />
Ergebnisse des kapitalistischen Vergesellschaftungsprozesses<br />
zur Kenntnis, der sowohl große Arbeitslosigkeit<br />
wie die Möglichkeit zur Verkürzung der Arbeitszeit<br />
aus sich hervortreibt, oder die "anomische" Existenz<br />
von repetitiver Arbeit gleichzeitig mit den gewachsenen Anforderungen<br />
an die Arbeiter durch die automatisierte Produktion,<br />
könnte er aufzeigen, daß die pauschalisierende Industrialismuskritik<br />
zur Schranke einer Erklärung der NSB<br />
DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83
20 Soziale Bewegungen und Politik<br />
wird.<br />
Die Sichtung eurokommunistischer Positionen fehlt gänzlich.<br />
Die Arbeiten von Laclau und Mouffe, von Buci-Glucksmann<br />
und Ingrao oder Altvater setzen Kontrapunkte zu marxistisch-leninistischen<br />
Positionen, deren exklusive Kenntnisnahme<br />
Brands kapitalismus<strong>kritische</strong> Perspektive zur Unkenntlichkeit<br />
verkommen läßt. Dennoch lohnt sich eine Lektüre,<br />
um die <strong>kritische</strong> Würdigung der referierten Positionen zu<br />
den NSB aufzunehmen; überdies ist die Arbeit hervorragend<br />
geeignet, die Stärken und Schwächen der "Industrialismuskritik"<br />
zu studieren. Daß das Buch nach einmaliger Lektüre<br />
auseinanderfällt, soll seinen theoretisch-transitorischen<br />
Charakter vermutlich nicht unterstreichen.<br />
Thomas Faust (Berlin/West)<br />
Mehlich, Harald : Politischer Protest und Stabilität. Entdifferenzierungstendenzen<br />
in der modernen Gesellschaft.<br />
Reihe "democratia experimentalis - Schriften zur Planungsbeteiligung,<br />
Bd. 5. Verlag Peter Lang, Frankfurt-Bern-New<br />
York 1983 (300 S., br.)<br />
Mehlich argumentiert strikt im Rahmen der funktionalistischen<br />
Systemtheorie Niklas Luhmanns. Er begreift politische<br />
Proteste, die er als "Planungswiderstände" faßt, also<br />
als Widerstand betroffener oder sich betroffen fühlender<br />
Bürger gegen von den politisch-administrativen Entscheidungsinstanzen<br />
getroffene und zur Durchführung anstehende<br />
Planungen, als Stabilitätsrisiko <strong>für</strong> das etablierte politische<br />
System - und damit auch <strong>für</strong> die Gesamtgesellschaft,<br />
deren Reproduktion von der Funktionstüchtigkeit des politischen<br />
Systems entscheidend abhängt. Daraus geht bereits der<br />
funktionale Bezugspunkt dieser Analyse hervor. Die Aufrechterhaltung<br />
der funktionalen Differenzierung der modernen<br />
Gesellschaft und die Wahrung eines funktional ausdifferenzierten<br />
Teilsystems <strong>für</strong> Politik sind die Gesichtspunkte,<br />
unter denen die Planungswiderstände als Phänomene gesellschaftlicher<br />
Entdifferenzierung beurteilt werden müßten -<br />
denn niemand könne im Ernst eine evolutionäre Regression zu<br />
vormodernen Zuständen wollen. Entsprechend beschäftigt Mehlich<br />
sich ausgiebig mit der Möglichkeit, daß die Planungswiderstände<br />
durch ihre Obstruktionsmacht fällige politische<br />
Entscheidungen zu verhindern und dadurch die Funktionsfähigkeit<br />
des politischen Systems in prekärer Weise zu beeinträchtigen<br />
imstande seien; er problematisiert die tendenzielle<br />
Aufhebung der Rollentrennung von politisch Entscheidenden<br />
und Entscheidungsempfängern durch die Plahungswiderstände;<br />
als dramatischste Folge dieser beiden ineinandergreifenden<br />
Prozesse sieht Mehlich die Gefahr, daß das politische<br />
System seine Identität als funktional ausdifferenziertes<br />
gesellschaftliches Teilsystem einbüßen könnte.<br />
Aus dieser Situationsanalyse zieht Mehlich den Schluß,<br />
daß das politische System sich neuartiger Stabilisierungsmechanismen<br />
bedienen müsse, um mit den Planungswiderständen<br />
DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83
Neue soziale Bewegungen<br />
fertig zu werden. Als eine diesbezüglich vielversprechende<br />
Möglichkeit diskutiert er sodann die von Dienel (1978) entwickelte<br />
"Planungszelle" - ein Verfahren der Bürgerbeteiligung<br />
an staatlichen Planungen, bei dem eine per Zufallsauswahl<br />
gebildete Gruppe von Bürgern sich über einen gewissen<br />
Zeitraum freigestellt von ihren beruflichen Verpflichtungen<br />
und von Verwaltung und Experten mit Informationen versorgt<br />
mit einem abgegrenzten Planungsproblem befaßt und dazu ein<br />
"Bürgergutachten" erstellt, das dann der Verwaltung als<br />
Empfehlung vorgelegt wird. In einer differenzierten Betrachtung<br />
dieses Planungsverfahrens kommt Mehlich zu dem<br />
Schluß, daß eine flächendeckende Installation von "Planungszellen"<br />
in all den Politikbereichen, die Planungswiderstände<br />
hervorgerufen haben, aine funktionale Entdifferenzierung<br />
des politischen Systems - im Unterschied zur<br />
dysfunktionalen Entdifferenzierung durch Planungswiderstände<br />
- darstellte - funktional, weil dadurch die Ausdifferenzierung<br />
und die Funktionstüchtigkeit des politischen Systems<br />
stabilisiert würden.<br />
Soweit die sorgfältig entwickelte, von beträchtlicher<br />
Kenntnis der einschlägigen Literatur zeugende, geschickt<br />
aufgebaute <strong>Argument</strong>ationslinie Mehlichs! Ihren hohen Grad<br />
an innerer Stimmigkeit verdankt die Arbeit zweifellos der<br />
konsequenten Zugrundelegung der Luhmannschen Systemtheorie.<br />
Daraus erwachsen auf der anderen Seite allerdings auch die<br />
Grenzen ihrer Thematisierungsfähigkeit. Politischer Protest<br />
wird hier ausschließlich als Legitimitätsproblem <strong>für</strong> das<br />
politische System gesehen. Als Hauptursache des Legitimitätsentzugs<br />
durch Planungswiderstände macht Mehlich ein<br />
durch Wertwandlungen gesteigertes Anspruchsniveau der Bürger<br />
hinsichtlich der Qualität ihrer Partizipation an politischen<br />
Entscheidungen aus. Viele Bürger hätten den Wunsch,<br />
über den Wahlakt hinaus politisch aktiv zu werden. Bei einer<br />
solchen Deutung des Protests erscheinen erweiterte Verfahren<br />
der Bürgerbeteiligung an staatlichen Entscheidungen<br />
wie die "Planungszelle" als geeignete Therapie: "... weil<br />
der Bürger als Wähler unzuverlässig geworden ist, wird ihm<br />
nunmehr das Kostüm der Laienplanerrolle zugewiesen" (269).<br />
Warum freilich die Bürger ihre überschüssige politische<br />
Energie ausgerechnet in Protestaktivitäten anstatt im Engagement<br />
in Verbänden und Parteien ausleben, bleibt in einer<br />
solchen Betrachtung unerklärlich. Deshalb wäre zu fragen,<br />
ob die wahren Ursachen der Planungswiderstände nicht ganz<br />
woanders liegen. An einer Stelle stellt Mehlich sich beiläufig<br />
die Frage (175), ob die staatlichen Planungen, wenn der<br />
Widerstand der Bürger sie nicht behinderte, sich nicht<br />
vielleicht als gesamtgesellschaftlich dysfunktional herausstellen<br />
würden. Genau das ist es ja, was die Protestierenden<br />
mit guten Gründen behaupten: daß zahlreiche Vorhaben im<br />
Bereich der Raum-, Stadt-, Verkehrs- oder Verteidigungsplanung<br />
höchst kurzsichtig konzipiert und an partikularen Interessen<br />
vor allem der ökonomischen "Wachstumskoalition"<br />
21<br />
DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83
22 Soziale Bewegungen und Politik<br />
aus Industrie und Gewerkschaften ausgerichtet sind und sich<br />
über kurz oder lang als höchst bestandsgefährdend <strong>für</strong> diese<br />
Gesellschaft herausstellen werden. Nicht die Planungswiderstände<br />
sind es, die mit der gesamtgesellschaftlichen Systemrationalität<br />
kollidieren - das tun vielmehr die staatlichen<br />
Planungen, gegen die Widerstand geleistet wird. Gerade<br />
diejenigen, die von der etablierten Politik - die <strong>für</strong><br />
sich ja das Auslegungsmonopol hinsichtlich der Erfordernisse<br />
gesamtgesellschaftlicher Systemrationalität beansprucht<br />
- als irrationale Schwärmer und Unruhestifter diffamiert<br />
werden, leisten somit durch ihren Protest, sofern sie ihm<br />
politisch Geltung zu verschaffen vermögen, eine im Sinne<br />
gesamtgesellschaftlicher Systemrationalität notwendige Korrektur<br />
der etablierten Politik.<br />
So besehen, liegen die Ursachen <strong>für</strong> die Planungswiderstände<br />
nicht so sehr in Forderungen nach verstärkter politischer<br />
Partizipation als Wert an sich, sondern vielmehr in<br />
spezifischen Betroffenheiten durch selbstzerstörerische<br />
Strukturwandlungen der Gegenwartsgesellschaft: von der ökologischen<br />
Problematik bis hin zur militärischen Aufrüstung.<br />
Diese Betroffenheiten nehmen dann die politische Erscheinungsform<br />
des Legitimitätsentzugs durch unkoventionelle politische<br />
Partizipationsformen an - solange man jedoch nur<br />
diese Erscheinungsform defizitärer Sozialintegration sieht<br />
und die dahinter stehenden systemintegrativen Defizite der<br />
Gesellschaft bagatellisiert, kuriert man mittels sozialintegrativer<br />
Beschwichtigungsmanöver wie der Planungszelle sin<br />
Symptomen herum, anstatt die Probleme bei der Wurzel zu<br />
packen. Die etablierte Politik mag aus strukturellen Gründen<br />
zu einer reduktionistischen Betrachtungsweise des politischen<br />
Protests neigen müssen - die sozialwissenschaftliche<br />
<strong>Theorie</strong>bildung sollte solche Scheuklappen jedoch, will<br />
sie nicht zum ideologischen Hoflieferanten herunterkommen,<br />
tunlichst ablegen. Uwe Schimank (Bielefeld)<br />
Steigerwald, Robert: Protestbewegungen. Streitfragen und<br />
Gemeinsamkeiten. Verlag Marxistische Blätter, Frankfurt/M.<br />
1982 (218 S., br.)<br />
Mit diesem Buch, das der Verlag im Umschlagtext als<br />
"Beitrag zur grundsätzlichen marxistischen Orientierung"<br />
ankündigt, versucht Robert Steigerwald die Stellung der<br />
Kommunisten zu den neuen "Protestbewegungen" zu bestimmen.<br />
Dabei geht es ihm darum, die "ideologische Klarheit" (6) zu<br />
schaffen, die notwendige Voraussetzung eines Bündnisses sei.<br />
Als wesentlichen und gemeinsamen Kern von Friedensbewegung,<br />
Frauenbewegung, Ökologie- und Alternativbewegung bestimmt<br />
er den nichtproletarischen Charakter ihres Protestes<br />
(11). Ausschlaggebend <strong>für</strong> den nichtproletarischen Charakter<br />
dieser Bewegungen ist, daß sie ihre soziale Basis nicht in<br />
der Arbeiterklasse haben, sondern in den abhängigen Mittelschichten,<br />
die durch die wissenschaftlich-technische Revolution<br />
Einbußen an Privilegien und Freiheiten sowie Be-<br />
DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83
Neue soziale Bewegungen<br />
schränkungen ihrer Arbeits- und Lebensbedingungen hinnehmen<br />
mußten. Es kommt hinzu, daß dieser Protest, obwohl er sich<br />
"objektiv gesehen gegen den Kapitalismus (richtet)", "noch<br />
nicht von proletarisch-sozialistischen Positionen ausgeht"<br />
(5). Vielmehr führt eine "negativ wertende Variante der Industriegesellschaftstheorie"<br />
(14) zur Absage an den Kapitalismus<br />
und an den realen Sozialismus. Stattdessen würde<br />
nach einem "dritten" Weg gesucht (14). Damit verbunden ist<br />
auch eine Abkehr von der Arbeiterbewegung, die wie die<br />
Bourgeoisie dem Wachstumsfetisch verfallen sei (10).<br />
Im Unterschied zu anderen Formen des nichtproletarischen<br />
Protestes, wie etwa die Studentenbewegung, die revolutionär<br />
sein wollte und sich als Statthalter des nicht mehr/noch<br />
nicht revolutionären Proletariats verstand, werde diesmal<br />
reformerisch versucht, in der bestehenden Gesellschaft anders<br />
zu leben und Freiräume zu schaffen (13f.).<br />
Der mittelständische Charakter dieser Bewegungen finde<br />
seine ideologische und ideenmäßige Entsprechung in einer<br />
lebensphilosophischen Konzeption, die von einer lebensfeindlichen<br />
Veränderung des Mensch-Natur-Verhältnisses ausgehe.<br />
In unterschiedlicher Ausprägung bilde sie den gemeinsamen<br />
Ideenbestand der verschiedenen Bewegungen.<br />
An dieser Konzeption setzt die ideologische Klärungsarbeit<br />
Steigerwalds an. Den Protestbewegungen wird durchgängig<br />
nachgewiesen, daß die lebensphilosophische Sicht der<br />
Probleme sie unfähig mache, die Kriegsgefahr, die Frauenunterdrückung<br />
und die Umweltzerstörung als Ergebnis der Klassen-<br />
und Produktionsverhältnisse zu begreifen. Zu prüfen<br />
ist, welche politischen Eingriffsmöglichkeiten diese "ideologische<br />
Klärung" den Kommunisten eröffnet.<br />
Die "klassenmäßige Klärung" (35) des Problems von Krieg<br />
und Frieden gibt, daß <strong>für</strong> die Pazifisten die Waffen als<br />
solche das Problem darstellen. Dadurch trennt der Pazifismus<br />
"das Problem Krieg und Frieden von seinen tieferen gesellschaftlichen<br />
Wurzeln ab, reduziert das Problem allein<br />
auf die Waffenanwendung ... ". "Wenn man den Krieg ausrotten<br />
will, muß man die Kriegsgründe abschaffen: die Ausbeutung<br />
des Menschen durch den Menschen, die Klassenspaltung, und<br />
damit den Klassenkampf" (35f.).<br />
Sicher kann man sagen, daß die Friedensbewegung nicht zu<br />
den Wurzeln des Rüstungs- und Kriegsproblems vordringt,<br />
wenn sie ausschließlich gegen die Stationierung der Mittelstreckenraketen<br />
kämpft. Aber auch Steigerwald gewinnt aus<br />
der'"klassenmäßigen Klärung" der Frage keinen anderen Vorschlag,<br />
als "den verhängnisvollen Nato-Raketenbeschluß politisch<br />
undurchführbar zu machen" (46). Faßt man das Verhältnis<br />
von Kapitalismus und Krieg wie das von Wurzel und<br />
Stamm, scheint die Einsicht in die Ausbeutung auf einen<br />
rein kontemplativen Status eingeschränkt. Die Frage wäre,<br />
wie Ausbeutung und Kriegsgefahr praktisch miteinander verbunden<br />
sind und wo in diese Verbindung politisch eingegriffen<br />
werden kann. Steigerwald sieht in den Thesen E.P.<br />
23<br />
DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83
24 Soziale Bewegungen und Politik<br />
Thompsons und der Russell-Peace-Foundation über die Verdichtung<br />
der Dynamik des Systemgegensatzes und staatlicher<br />
sowie ökonomischer Macht in den militärisch-politischen<br />
Komplexen nur "trotzkistische Manöver" (33).<br />
In der Frage der Frauenbefreiung hält Robert Steigerwald<br />
gegenüber radikal-feministischen Positionen (Firestone),<br />
die mit der Annahme eines männlich-technischen und eines<br />
kulturell-weiblichen Prinzips die "Klassenfrage ins Biologisch"<br />
vertiefen, zu Recht an dem Zusammenhang zwischen<br />
Privateigentum, Klassenspaltung und Frauenunterdrückung<br />
fest. Mit diesem Festhalten an der Klassenfrage ist allerdings<br />
noch nichts zu dem entscheidenden Problem gesagt, wie<br />
der Kampf <strong>für</strong> die Frauenbefreiung mit dem Ziel der sozialistischen<br />
Revolution zu verbinden ist. Darum wird in den Auseinandersetzungen<br />
der sozialistischen Frauenbewegung gestritten.<br />
Die politischen Konsequenzen laufen neben einer eher defensiven<br />
Vergewisserung der eigenen Stärke darauf hinaus,<br />
daß der Arbeiterbewegung im angestrebten Bündnis mit den<br />
neuen sozialen Bewegungen die Rolle eines Lehrmeisters zugewiesen<br />
wird. Als Garant <strong>für</strong> die "klassenmäßige Klärung"<br />
der Probleme ist es ihre Aufgabe, die neuen sozialen Bewegungen<br />
vom "Holzweg" (6) weg hin auf sozialistische Ziele<br />
zu orientieren.<br />
Die Verbindung der verschiedenen sozialen Bewegungen erträgt<br />
es sicher nicht, wenn Führungsansprüche durchgesetzt<br />
werden sollen, indem hierarchisiert wird zwischen Bewegungen,<br />
die die Grundfragen stellen, und solchen, die an einzelnen<br />
Punkten "protestieren". Stattdessen ist ein pluralistisches<br />
Konzept erforderlich, das sich zur strategischen<br />
Aufgabe macht, die Verbindung der sozialen Bewegungen so zu<br />
bauen, daß ihre Differenzen ausgetragen werden können.<br />
Gerwin Klinger (Berlin/West)<br />
Dybowski, Hartmut u.a.: Nicht wehrlos - doch wohin? Gewerkschaften<br />
und neue soziale Bewegungen unter der CDU-Herrschaft.<br />
Analysen und Dokumentationen des IMSF, Heft 12.<br />
Frankfurt/M. 1983 (112 S., br.)<br />
Unter dem Titel "Blindheit gibt es auf beiden Seiten"<br />
stellt Gert Hautsch im Schwerpunkt des Heftes Überlegungen<br />
zum Verhältnis von Gewerkschaften und neuen sozialen Bewegungen<br />
vor. In der von beiden Seiten praktizierten Politik<br />
komme es trotz weitgehenden Übereinstimmungen in den programmatischen<br />
Aussagen (Wahlkampfprogramm der Grünen und<br />
DGB-Programme) zu wechselseitiger Abgrenzung. Dies sei auf<br />
der Seite der Gewerkschaften "um so verwunderlicher ...,<br />
als viele der von den Bewegungen artikulierten Forderungen<br />
den Bereich der Reproduktions- und Lebensbedingungen der<br />
Arbeiterklasse berühren, und zum Teil zu den 'originären<br />
Aufgaben' der Gewerkschaften gehören (Frieden, Wohnungspolitik,<br />
Umweltschutz, Gleichberechtigung der Frau)" (55).<br />
Die Gründe sieht Hautsch zum einen in einer Blockadepolitik<br />
DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83
Neue soziale Bewegungen 25<br />
der Gewerkschaftsspitze gegenüber den neuen sozialen Bewegungen<br />
(Beispiele sind die Kampfansage an die Anti-AKW-Bewegung<br />
1977 und die Durchsetzung der "Kanzlerlinie" in der<br />
Friedensfrage). Zum anderen bestehen gegenüber den neuen<br />
sozialen Bewegungen kulturelle Barrieren (64). So wird auf<br />
die Herausforderung durch die Frauenbewegung und Hausbesetzer<br />
"oft mit einer starren und patriarchalischen Abwehr<br />
reagiert" (65). <strong>Das</strong> Bild ist hier jedoch nicht eindeutig.<br />
Da ein abgeschottetes Arbeitermilieu heute nicht mehr existiere,<br />
fänden Ansprüche, Forderungen und Aktivitäten der<br />
neuen Bewegungen im aktiven Kern der gewerkschaftlichen Kader<br />
große Resonanz" (60).<br />
Die neuen sozialen Bewegungen ihrerseits bleiben trotz<br />
der sich verschärfenden Krise und der dadurch eingeschränkten<br />
Möglichkeiten zur Realisierung von Lebensansprüchen auf<br />
Distanz zu den Gewerkschaften, da sie diese vorwiegend nach<br />
den führenden Vertretern der integrationistischen Richtung<br />
beurteilen (65). Möglichkeiten zur Überwindung der bestehenden<br />
Barrieren sieht Hautsch in der verstärkten Zusammenarbeit<br />
zwischen Gewerkschaftern und Vertretern der Friedensbewegung<br />
sowie der Kooperationsbereitschaft der Arbeitslosenbewegung<br />
mit dem DGB. Daß der hier vorgestellte<br />
Beitrag Anknüpfungspunkte <strong>für</strong> weitere Diskussionen bieten<br />
will, wird durch eine umfangreiche Bibliographie zu den aktuellen<br />
Auseinandersetzungen zwischen den Bewegungen unterstrichen.<br />
Gerwin Klinger (Berlin/West)<br />
Kofier, Leo: Zur Kritik der "Alternativen". VSA-Verlag,<br />
Hamburg 1983 (92 S., br.)<br />
Kofier formuliert als Hauptfrage, inwieweit die sich als<br />
Humanisten verstehenden Alternativen mit ihren Aktionen<br />
"innerhalb oder außerhalb der bestehenden Entfremdung bewegen",<br />
"politisch ausgedrückt", inwieweit sie "integrativ<br />
oder revolutionär" seien (13). Bei der Beantwortung dieser<br />
Frage verweist er auf drei "Irrwege" von oppositionellen<br />
Bewegungen. Der "ökonomistische Irrweg" manipuliere wichtige<br />
Begriffe wie Klasse, Ausbeutung, Mehrwert usw. so, daß<br />
die komplizierten Vermittlungen des Gesellschaftlichen<br />
nicht mehr erfaßt werden, das Verhältnis von <strong>Theorie</strong> und<br />
Praxis verzerrt erscheint, praktische Politik unmöglich<br />
wird (vgl. 15). Dies bezieht er auf "Vulgärmarxisten" (38).<br />
Ökonomist sei, wer das bloße "Produzieren" hervorhebe und<br />
"dem Begriff der Schönheit nur eine geringe Reverenz" erweise<br />
(vgl. 19). Der "biologistische Irrweg" ziehe den Historischen<br />
Materialismus und die politische Praxis hinab<br />
"auf die Ebene vulgärmaterialistischer Reflexionen und<br />
spontan-naiver Handlungen" mit Vorstellungen, die sich um<br />
Begriffe wie Sexualität, Sinnlichkeit, Triebe usw. drehen<br />
(15f.). Der Biolögist übersehe, daß "es geistige (künstlerische<br />
und philosophische) Phänomene gibt, die sowohl im<br />
Prozeß ihrer Erschaffung wie in den Resultaten ebenso genossen<br />
werden können wie das Libidinöse in seinem ursprüng-<br />
DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83
26<br />
Soziale Bewegungen und Politik<br />
lichsten und engsten Bereich" - der "Umfang des Erotischen"<br />
sei weit (28). Die Alternativen sind <strong>für</strong> Kofier insofern<br />
Biologisten, als sie die Askese, nicht den Eros als Lebensprinzip<br />
bejahten (vgl. 66). Praktizisten seien sie in einer<br />
unreflektierten Rebellion (vgl. 16). Die Alternativen übten<br />
die Flucht "in Richtung des romantischen Sozialismus Gandhis"<br />
(49), das falsche Mittel der "inneren Einkehr" zur<br />
gesellschafts<strong>kritische</strong>n Haltung (23, vgl. 25). Implizit bedeute<br />
dies: das Bestehende soll entgegen allem "äußeren<br />
Schein" nicht mehr "radikal überwunden, sondern nur verbessert<br />
werden" (vgl. 49). Kofier kritisiert ihre "auffällige<br />
Unfähigkeit zur zusammenfassenden Organisation" und "zur<br />
Ausbildung und Rezeption einer den empiristischen Oberflächenschein<br />
durchbrechenden und über viele Kanäle der populären<br />
Vermittlung bestimmende Teile des Volkes ergreifenden<br />
<strong>Theorie</strong>" (9). Die Alternativen vermieden eine eingehende<br />
theoretische Beschäftigung, ohne die sie die Hintergründe<br />
und tieferen Wurzeln der Probleme nicht erkennen können;<br />
"abgetrennt von jeglicher aesthetischer und anthropologischer<br />
Sinnvision und Philosophie" verblieben sie "im Rahmen<br />
der Entfremdung" (38). In der daraus resultierenden "praktischen<br />
und aufklärerischen Erfolgslosigkeit" solle eine<br />
"humanistische Elite" Abhilfe schaffen, zusammengesetzt aus<br />
"einer marxistisch bestens geschulten Intellektuellenschicht<br />
und einem aus dem Proletariat stammenden Volkstribunentum"<br />
(44), deren Stärke in dem Wissen um die "verschüttete<br />
Schönheit des Menschen" und das "verlorene Paradies" bestehe<br />
(17). Sie solle tätig sein gegen den "positivistischen<br />
Tatsachenschein, der nicht nur die verborgenen Wesenheiten<br />
verdeckt, sondern auch das alles lenkende empiristisch-positivistische<br />
Handeln möglich macht" (43), und das Bewußtsein<br />
des "Totalitätsdenkens" bilden, auf dessen Grundlage<br />
das "Durchschauen der Verhältnisse" die "Identifikation mit<br />
wesentlichen Einrichtungen der bestehenden Ordnung unmöglich<br />
machen" würde (41). Sie müsse "eine Heimat und eine<br />
organisatorische wie intellektuelle Stütze finden in einer<br />
übergeordneten Partei, die in der Lage ist, die notwendigen<br />
Mittel des Lehrens und Handelns zur Verfügung zu stellen"<br />
(65). Zur Aufhebung der Entfremdung bedürfe es der "vollkommenen<br />
Umorganisierung der Industrieländer", der "Verfügung<br />
der gewaltigen Kapitalien ..., in den Dienst der libidinösen<br />
Bedürfnisse des Volkes", das heiße der Kultur und<br />
der "Befähigung des Volkes zur Inanspruchnahme dieser Kultur<br />
auf dem Wege eines weitverzweigten Umerziehungssystems"<br />
(35). Angesichts seiner utopischen Perspektive, daß "<strong>für</strong><br />
alle nach dem 'Maß der Schönheit' produziert werden wird",<br />
sieht er keinen Anlaß zu "alternativer Skepsis und Resignation"<br />
(83). Kofier empfiehlt der Alternativbewegung, "sich<br />
die theoretische Methode anzueignen oder sie wenigstens zur<br />
Kenntnis zu nehmen, mit deren Hilfe sie Wissen in die Tat<br />
umzusetzen lernen könnte" - den Marxismus (88).<br />
Schade ist, daß Kofiers Analyse der Schwächen der Alter-<br />
DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83
Neue soziale Bewegungen 27<br />
nativen nicht durch Belege aus deren Erfahrungen und Literatur<br />
gestärkt ist. Ich vermag auch nicht einzusehen, daß<br />
die Sehnsucht der Individuen "nach andersgearteten paradiesischen<br />
Zuständen" die "eigentliche und letzte Triebkraft<br />
der Geschichte" sein soll, wo diese Sehnsüchte doch selbst<br />
sich in die Geschichtsmächte des Ökonomischen, Politischen,<br />
Religiösen usw. hineinbilden. - "Schönheit" stellt sich <strong>für</strong><br />
Kofier dar als "der Weg, auf dem der Mensch Mißbrauch und<br />
Vereinseitigung seiner Anlagen, antagonismusträchtige Entfremdung<br />
und würdelose Repression hinter sich läßt." Ob<br />
nicht das "Maß der Schönheit" hier unnötig zu einem letzten<br />
und allzu homogenen Bezugspunkt der Veränderungsarbeit<br />
wird? Brecht schreibt: "Schön ist es, wenn man die Schwierigkeiten<br />
löst. Schön ist also ein Tun ... Sie zu lösen,<br />
ist ganz verschieden schön und nicht ewig schön" (Notizen<br />
zur Philosophie GW 20, 154). Wolfgang Neuhaus (Berlin/West)<br />
Brandes, Volkhard und Bernhard Schön (Hrsg.): Wer sind die<br />
Instandbesetzer? Selbstzeugnisse, Dokumente, Analysen. Ein<br />
Lesebuch, päd. extra buchverlag, Bensheim 1981 (184 S.,br.)<br />
In der Einleitung bekunden die Lesebuch-Herausgeber<br />
Brandes und Schön ihre feste Absicht, auf "analytische Einordnungsversuche<br />
der Instandbesetzer weitgehend verzichten<br />
zu wollen, weil sie den Linken zu schnell und oftmals<br />
falsch von der Hand gingen" (11) und vorwiegend Selbstzeugnisse<br />
und Gespräche mit Hausbesetzern zu dokumentieren. Der<br />
erste Teil des Buches ist jedoch durchaus - und keineswegs<br />
zu seinem Schaden - angefüllt mit theoretischen Beiträgen,<br />
in denen die historische Entwicklung der Hausbesetzungen in<br />
der BRD dargestellt und die politischen Protestformen der<br />
60er Jahre mit denen der Gegenwart verglichen werden. In<br />
seinen vorzüglichen Streiflichtern aus der Geschichte der<br />
Hausbesetzungen korrigiert Roland Roth die gängige Vorstellung<br />
von der säkularen Originalität der gegenwärtigen Instandbesetzerbewegung,<br />
indem er auch ihre verwandten Vorläufer<br />
(Jugendzentrumsbewegung, "Frankfurter Häuserkampf",<br />
Arbeiterinitiativen im Ruhrgebiet zur Verteidigung von Zechensiedlungen<br />
etc.) kurz skizziert. Gemeinsames Schicksalsmerkmal<br />
aller dieser Bewegungen war - so Roth - ihre<br />
Kriminalisierung durch die Staatsmacht, da sie generell die<br />
bestehende Eigentumsordnung demonstrativ in Frage stellten<br />
und damit den Kern der gesellschaftlichen Ordnung in der<br />
Bundesrepublik bedrohten. <strong>Das</strong> Autorenpaar Lessing/Liebel<br />
propagiert in seinem Beitrag die - im anschließenden Dokumententeil<br />
vielfach erhärtete - These, daß es wesentlichen<br />
Teilen der Instandbesetzer nicht primär um selbstbestimmte<br />
Arbeiten oder gar um die Initiierung demokratischer Veränderungen<br />
etwa der betrieblichen Realität, sondern vielmehr<br />
um ein selbstbestimmtes Leben geht, übersehen dabei aber<br />
wohl den Prozeßcharakter und das Lernpotential vieler Jugendlicher<br />
in dieser politischen Auseinandersetzung. Gekeler/Hauser<br />
weisen in ihrer Arbeit überzeugend nach, daß die<br />
DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83
28 Soziale Bewegungen und Politik<br />
Sprache der heutigen "Szene" weniger intellektuell geprägt,<br />
da<strong>für</strong> aber phantasievoller, reich an politischem Witz und<br />
direkt treffender ist als die nicht selten in Schnellkursen<br />
an Klassikern geschulte und mit Avantgardeansprüchen operierende<br />
68er Bewegung (16).<br />
Die Dokumentensammlung, weitgehend basierend auf Extrakten<br />
aus Szene-Blättern, belegt eindringlich den heterogenen<br />
Charakter der Hausbesetzerbewegung, die aber doch als wichtiger<br />
Bestandteil der neuen Jugendbewegung das Lebensgefühl<br />
einer verkrusteten, entfremdeten Gesellschaft und einen unmittelbaren,<br />
nicht auf eine ferne Zukunft vertröstbaren Lebensanspruch<br />
zu vereinen scheint. Politische und soziale<br />
Herkunft, Handlungsmotive, gesellschaftliche Leitbilder und<br />
politische bzw. individuelle Perspektiven der Hausbesetzer<br />
und ihres sympathisierenden Umfeldes schließen sich nicht<br />
selten gegenseitig aus, wobei besonders die Haltung zur direkten<br />
Gewaltanwendung innerhalb der Bewegung als Spaltpilz<br />
wirkt. Die Interviews mit einer ganzen Reihe von Hausbesetzern<br />
muten in der Tat auch erschreckend an, weil bei ihnen<br />
jegliche politische Lösung des in gesellschaftlichen Verhältnissen<br />
wurzelnden Problems leerstehender Häuser zu reinen<br />
Gewaltorgien ("Meine Phantasie geht in die Richtung,<br />
den Kudamm brennen zu sehen. Es war erregend, die Scheiben<br />
klirren zu hören", 83, 84) verkommt. Ein recht ungeschminktes<br />
Bild vermitteln die Selbstzeugnisse auch von den Verkehrsformen<br />
und Entscheidungsprozessen innerhalb von Hausbesetzergruppen.<br />
Der eigene Anspruch, herrschaftsfrei zu<br />
leben, steht im Widerspruch zu zahllosen Klagen von Aktiven,<br />
daß sich "im Besetzerrat immer die Leute mit der größten<br />
Schnauze durchgesetzt haben und andere einfach untergebuttert<br />
wurden" (93) odefr zur Kritik am "Riesengerangel um<br />
Macht und Einfluß, um Positionen in der Hackordnung der Aktiven"<br />
(139). Dieser Dokujnentationsteil besticht insgesamt<br />
durch seine lebendige Form und macht zweifellos die Stärke<br />
des Lesebuches aus. Offenbar fühlten sich die Herausgeber<br />
aber wohl auch der nationalen Frage oder schlicht der Konvergenztheorie<br />
verpflichtet, als sie einen Bericht über<br />
Hausbesetzungen in der DDR aufnahmen, der aber - gewiß<br />
nicht in ihrem Sinne - eher fundamentale Unterschiede zur<br />
hiesigen Wohnungspolitik und Hausbesetzerbewegung deutlich<br />
sichtbar macht. Überhaupt werden durch das Bestreben der<br />
Herausgeber, den globalen Charakter dieser Bewegung partout<br />
hervorzuheben (siehe auch Berichte über Zürich etc.), wesentliche<br />
sozialökonomische und politische Unterschiede<br />
eher verwischt; ein solcher Ansatz übersteigt bei weitem<br />
auch die Möglichkeiten eines schmalen Lesebandes.<br />
Recht flüchtig kompiliert erscheint auch der dritte Teil<br />
der Publikation ("Dialoge mit der Jugend"), der besonders<br />
die subtileren Umarmungsstrategien und die Intentionen, den<br />
Konflikt durch partielle Konzessionen zu entschärfen, gänzlich<br />
ignoriert. Die Gefahren <strong>für</strong> die Hausbesetzer und all<br />
jene Kräfte, die wesentliche Korrekturen der gegenwärtigen<br />
DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83
Neue soziale Bewegungen 29<br />
Wohnungspolitik fordern, rühren nicht allein von Leuten wie<br />
Lummer her. Norbert Steinborn (Berlin/West)<br />
Butler, Hugo und Thomas Häberling (Hrsg.): Die neuen Verweigerer.<br />
Unruhe in Zürich und anderen Städten. Verlag Neue<br />
Zürcher Zeitung, Zürich 1981 (296 S., br.)<br />
<strong>Das</strong> Buch will durch eine Auswahl von Artikeln, die in<br />
den ersten vierzehn Monaten nach dem Beginn der neuen Jugendunruhen<br />
im Mai 1980 in der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ)<br />
erschienen sind, "die vom politischen Liberalismus inspirierte<br />
geistige Haltung der Zeitung in der täglichen Auseinandersetzung<br />
mit einem zeitgeschichtlichen Phänomen" dokumentieren<br />
(7). Einerseits finden wir Zeugnisse der Tagespolitik<br />
der freisinnig-demokratischen Partei (FDP), die zum<br />
Teil erfolgreich Druck auf die Stadtregierung ausübte und<br />
in scharfer Polemik ihren Wahlsieg vom Frühling 1982 vorbereitete.<br />
Andererseits wird eine Auseinandersetzung mit den<br />
Ursachen und Formen der Unruhen dokumentiert, in die allerdings<br />
kaum nicht-bürgerliche Positionen einbezogen worden<br />
sind. Der Leser vermißt zudem Informationen insbesondere<br />
über jene Autoren, die "nicht zum Hause gehören".<br />
Die Beiträge der ersten Kategorie sind geprägt durch ein<br />
rechtsbürgerliches Rechtsstaatsdenken, das unter dem Motto<br />
"Ruhe und Ordnung" die aufgebrochenen Wunschvorstellungen<br />
und den demonstrierten Veränderungswillen kompromißlos bekämpft.<br />
Den bürgerlichen Parteien, insbesondere der FDP,<br />
ist es damit gelungen, einen erfolgreichen rechtspopulistischen<br />
Kurs anzusteuern. Was auf der Ebene des Individuums<br />
mittels Verdrängungsmechanismen aus dem Weg geschafft wird,<br />
kann auf der gesellschaftlichen Ebene nur die Polizei und<br />
eine hart durchgreifende Regierung. - Die Beiträge der<br />
zweiten Kategorie gehen von einem mehr analytischen Interesse<br />
aus, zeichnen durch theoretische und politische Fixierungen<br />
jedoch zum Teil abstruse Zerrbilder. Einige Autoren<br />
können sich die Bewegung der Unzufriedenen nur als straff<br />
organisierte Armee vorstellen und suchen nach den verantwortlichen<br />
Kadern. Im Gegensatz zur eidgenössischen Jugendkommission<br />
(vgl. <strong>Argument</strong> 133,. S. 471) lehnen die Zürcher<br />
Freisinnigen jeden gesellschaftlichen Erklärungsansatz ab:<br />
"Ausbruch und gewalttätige Form der neuen Revolte (hängen)<br />
nicht vom Vorhandensein mehr oder weniger gewichtiger Probleme<br />
an sich (ab), sondern von Existenz und Aktivität eigentlicher<br />
Kerngruppen" (10). In einem längeren Aufsatz mit<br />
imponierendem Anmerkungsapparat, aber einigen Fehlschüssen,<br />
tritt Hugo Bütler den Beweis dieser Hauptthese an (9-22).<br />
Wenn die Bewegung selbst auf gesellschaftssynthetisches<br />
Denken verzichtet und im Konzept der Autonomie ihre eigene<br />
Marginalisierung auf strategischer Ebene reproduziert, so<br />
ist der von Bütler verfochtene Liberalismus auf die "Autonomie<br />
des Subjekts" fixiert. Der gesamtgesellschaftliche<br />
Zusammenhang geht beide Male verloren.<br />
Besonderen Augenmerk verdienen jene Beiträge, die nach<br />
DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83
30 Soziale Bewegungen und Politik<br />
einer politischen Verwertbarkeit von Bedürfnissen fragen,<br />
die in den Unruhen manifest wurden. Nicht zufällig ist der<br />
Ruf nach "Mehr Freiheit, weniger Staat" sowohl Wahlslogan<br />
der FDP als auch Motto der neuen sozialen Bewegung. Hugo<br />
Bütler schließt nicht aus, daß hier eine gemeinsame Stoßrichtung<br />
liegt, die er mit Lipinsel als "Korrektur an der<br />
Verwaltigungstendenz der sozialen Gebilde" definieren möchte<br />
(19). Der Kampf gegen die ideologische Vergesellschaftung<br />
durch den Staat soll umgemünzt und in den Angriff auf<br />
die sozialen Funktionen des Staates integriert werden. Die<br />
Sozialdemokratie läuft Gefahr, beide Male auf verlorenem<br />
Verteidigungsposten zu kämpfen.<br />
Es ist ein Verdienst einiger Autoren, <strong>Argument</strong>e in die<br />
Diskussion um die Unruhen gebracht zu haben, die den hier<br />
üblichen lokalen Blickwinkel sprengen. Gerade weil die kollektiven<br />
Ideen der Bewegung oft unklar waren, suchten einige<br />
Autoren nach ideellen Verbindungen zum klassischen Anarchismus,<br />
zur italienischen Autonomen-Bewegung, zum Selbstverwaltungsdiskurs<br />
der Linken etc. Damit warfen sie Fragen<br />
auf, die auch von linker Seite neuer Antworten bedürfen.<br />
Ein wichtiger Punkt wurde benannt, wenn nach dem Verhältnis<br />
der linken Parteien zur sozialen Bewegung gefragt wird. Indem<br />
ein mehrmaliges Zusammenspiel kritisiert wird, werden<br />
umgekehrt Möglichkeiten eines produktiven Verhältnisses<br />
aufgezeigt. Jürg Frey (Zürich)<br />
Frauen in der Friedensbewegung<br />
Beiträge zur feministischen <strong>Theorie</strong> und Praxis 8: "Gegen<br />
welchen Krieg - <strong>für</strong> welchen Frieden?" Eigenverlag des Vereins<br />
Sozialwissenschaftliche Forschung und Praxis <strong>für</strong> Frauen,<br />
Köln 1983 (144 S., br.)<br />
Dieses Heft ist das erste, das von der neu gebildeten<br />
festen Redaktion herausgebracht wird. Stärker als bisher<br />
soll auch zu aktuellen politischen Problemen diskutiert<br />
werden. Anknüpfend an heiße Auseinandersetzungen innerhalb<br />
der Frauen- und Friedensbewegung, warum gerade Frauen als<br />
Frauen gegen die aktuelle Kriegsgefahr kämpfen, werden unsere<br />
Blicke auf Probleme gelenkt, deren Geringschätzung<br />
oder Nichtbeachtung innerhalb der Friedensdiskussion der<br />
Frauenbewegung schaden könnten.<br />
Christina Thürmer-Rohr plädiert in ihrem Aufsatz "Aus<br />
der Täuschung in die Ent-Täuschung" <strong>für</strong> eine Sichtweise von<br />
Frauen als Mittäterinnen, auch an dem uns aktuell so bedrohenden<br />
Prozeß der Vor/Auf/Hochrüstung. Sie warnt vor der<br />
"frauenhaften" Haltung "so schlimm kann es doch gar nicht<br />
sein" und führt uns schonungslos vor Augen, daß wir uns auf<br />
einer in der Geschichte einmaligen Qualitätsstufe der Hochrüstung<br />
mit A-B-C-Waffen befinden, die sie "atomares Patri-<br />
DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83
Frauen in der Friedensbewegung<br />
archat" (17) nennt. Sie fordert uns auf, den Schritt von<br />
der Täuschung in die Ent-Täuschung, von der Sinnstiftung in<br />
die Sinn-Losigkeit, von der Hoffnung in die Hoffnungs-Losigkeit<br />
zu wagen. Denn Frauen hätten gerade durch Sinnstiftungen,<br />
durch Herstellen von Hoffnungen und schönen Illusionen<br />
daran mitgearbeitet, daß auf viele, viele Menschen<br />
eben doch nicht alles so schlimm wirke, wie es sei.<br />
"Sind Frauen friedfertig?" fragt Petra Müller und kommt<br />
zu dem Schluß, daß die "befriedete" Frau ein Produkt patriarchalischen<br />
Alltagskrieges sei. Sie zeigt die verschiedenen<br />
Dimensionen des Begriffes "Friedfertigkeit", der sowohl<br />
das Resultat jahrhundertelanger Unterdrückung als auch eine<br />
menschliche Qualität des Sich-Sorgens um das Leben sowie<br />
die Bereitschaft zur (Not-)Wehr, zum Friedenskampf fasse.<br />
Frauenkämpfe in der Vergangenheit hätten gezeigt, welch ungeheure<br />
gesellschaftliche Macht wir hätten.Diese gälte es<br />
im Sinne einer "positiven Aggression" zu mobilisieren.<br />
Wie ging die "alte" Frauenbewegung mit Kriegsbedrohung,<br />
Militarismus und Krieg im Verhältnis zu Fraueninteressen<br />
um? Können wir in der Geschichte Einschätzungskriterien,<br />
Positionen oder gar theoretisches Werkzeug finden, das uns<br />
heute von Nutzen sein könnte? Dies untersuchen Brunhilde<br />
Sauer-Burghard und eine von ihr vorgestellte Unbekannte Autorinnengruppe<br />
aus England im Jahre 1915. Zwar habe es einige<br />
Pazifistinnen in der Frauenbewegung gegeben, doch der<br />
Großteil habe "mit Pauken und Trompeten" den 1. Weltkrieg<br />
unterstützt. Suchen wir da<strong>für</strong> Gründe, so fänden wir Kombinationen<br />
aus theoretischer Blindheit gegenüber dem innigen<br />
Verhältnis von Kapital und Militarismus mit dem Nicht-Sehen<br />
des Zusammenhangs von Militarismus und Patriarchat. Es sei<br />
ein Mangel an Autonomie der alten Frauenbewegung gewesen,<br />
der die dringend nötige Strategiebildung im Sinne von Fraueninteressen<br />
verhindert habe. Die Autorinnengruppe betont,<br />
die alte Frauenbewegung sei zu fortschrittsgläubig gewesen<br />
und habe das Problem patriarchaler Gewalt hauptsächlich als<br />
eines des einzelnen Mannes oder als Ergebnis der Struktur<br />
der Kleinfamilie gesehen. Genau wie die heutige Frauenbewegung<br />
habe die alte übersehen, daß die sogenannten Friedenszeiten<br />
mit Kriegen in den Kolonien (heute "3. Welt") erkauft<br />
waren. Krieg und Kolonialismus sehen sie als Kult der<br />
Männergewalt. So müßten gerade Feministinnen bzw. alle<br />
Frauen gegen Militarismus kämpfen.<br />
Theresa Wobbe beschreibt, daß sich heute das Zeitalter<br />
des "Ost-West-Widerspruches" dem Ende zuneige, einzelne<br />
Länder (wie Japan) und auch Westeuropa sich ökonomisch von<br />
den USA abkoppeln. Dadurch entstünden neue Räume, die einerseits<br />
lebensgefährlich sein könnten - falls die USA diese<br />
erobern wollten - die aber andererseits auch neue Möglichkeiten<br />
eröffne. Frauen sollten sich unbedingt zu Expertinnen<br />
z.B. der Weltwirtschaft und der "sozialen Verteidigung"<br />
machen, um die potentiellen Chancen zu nutzen. Nur so<br />
könne eine bessere Gesellschaft entstehen, in der und vor<br />
31<br />
DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83
32 Soziale Bewegungen und Politik<br />
der Frauen <strong>für</strong> Autonomie sorgen müßten, da sonst erneut die<br />
Gefahr des männlichen Expansions- und Kriegs"dranges" bestehe.<br />
Für den Frieden hieße dann nicht, lediglich <strong>für</strong> die<br />
Abwesenheit von Pershing II und Cruise Missiles zu sein,<br />
sondern <strong>für</strong> einen Zustand frei von personeller und struktureller<br />
Gewalt mit der Möglichkeit der Autonomie <strong>für</strong> jede/n.<br />
Maria Mies fragt, ob und wie nationale Befreiungskämpfe<br />
in der "Dritten Welt" mit dem Kampf <strong>für</strong> die Frauenbefreiung<br />
zusammengehen. Dies sei auch <strong>für</strong> uns von Bedeutung, würden<br />
wir doch gegenwärtig mit der Frage des Verhältnisses von<br />
Frau und Nation konfrontiert (Vaterland mitverteidigen,<br />
Kinder gebären). Sehr viele Frauen hätten die nationalen<br />
Befreiungskämpfe z.B. Nicaraguas oder Grenadas mitgetragen,<br />
doch die Ziele der Frauenbewegungen seien nach den Revolutionen<br />
stets unter den Tisch gefallen. Dies zeigt sie an<br />
einer Fülle von Beispielen. Hausfrauisierung und Überkonsum<br />
basierten auf der Ausbeutung der Frauen der "Dritten Welt".<br />
Frauen sollten energisch gegen geschlechtliche Arbeitsteilung<br />
kämpfen, den Konsum unnötiger Waren boykottieren, sich<br />
so organisieren, daß sie Einfluß auf volkswirtschaftliche<br />
Entscheidungen nehmen können, indem sie ihre de facto bestehende<br />
ökonomische Bedeutung in politische Macht umsetzen;<br />
Frauen sollten Autonomieforderungen in alle Bereiche<br />
tragen (auch in Wirtschaft und Politik). Somit würden Kapitalismus,<br />
Imperialismus und Patriarchat letztlich zerstörbar.<br />
Den Zusammenhang von Krise, Krieg, Verschuldung der<br />
"Dritten Welt" und Frauenarbeit beleuchten Ute Annecke und<br />
Carola Müller. Die Zahlungsunfähigkeit dieser Länder sei<br />
ein Ergebnis der weltweiten Überproduktionskrise, welche<br />
auf dem ausbeuterischen Arbeitsteilungsverhältnis zwischen<br />
"Erster" und "Dritter" Welt beruhe. Die Frauen, die unteroder<br />
unbezahlte (Mehr-)Arbeit leisteten - hier wie dort -<br />
bewirkten, daß noch nicht längst alles zusammengebrochen<br />
sei. Wie aber könnte es anders gehen? Die Autorinnen plädieren<br />
<strong>für</strong> eine <strong>kritische</strong> Betrachtung von "Basisdemokratie",<br />
"Dezentralisierung" und "überschaubare Einheiten", da<br />
sie sehr viel Kontrolle beinhalten könnten und die Inferiorität<br />
der Frauen nicht zwangsläufig beseitige. Wir müßten<br />
vielmehr bis übermorgen denken, beispielsweise an Aufhebung<br />
der internationalen und geschlechtlichen Arbeitsteilung, ein<br />
arbeits- statt kapitalorientierte Wege, an kollektive Neubestimmung<br />
bedürfnisorientierter Produktion und gesellschaftlich<br />
notwendiger Arbeit, ihrer Organisation und Bewertung<br />
.<br />
Besonders die letzten vier genannten Beiträge waren <strong>für</strong><br />
mich interessant, da ich sie spontan nicht im Zusammenhang<br />
mit der Frauen/Friedensdiskussion dachte. Leider sehe<br />
ich gerade bei ihnen die Gefahr, daß die Politikvorschläge<br />
im Appellcharakter verhaftet bleiben, wenn wir nicht auch<br />
versuchen, uns über die Herstellungsmöglichkeiten der politischen<br />
und kulturellen Bedingungen Gedanken zu machen, die<br />
DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83
Frauen in der Friedensbewegung<br />
beispielsweise das Ziel der Aufhebung der oben genannten<br />
Arbeitsteilungen ermöglichen könnten. Neben den Schwerpunktaufsätzen<br />
finden sich eigene Sparten <strong>für</strong> Diskussionsbeiträge,<br />
eine Dokumentation über "Helene Stöcker: eine revolutionäre<br />
Pazifistin", zusammengetragen von Gerda Gutenberg,<br />
Berichte von und Einladungen zu Frauenwiderstandsaktionen<br />
sowie Rezensionen etlicher Bücher zum Thema.<br />
Diese Heftkonzeption ist ein wichtiger Schritt gegen die<br />
unselige (auch geschlechtliche) Arbeitsteilung von politischer<br />
<strong>Theorie</strong> und Praxis. Birgit Jansen (Marburg)<br />
Schenk, Herrad: Frauen kommen ohne Waffen. C.H. Beck'sehe<br />
Verlagsbuchh., München 1983 (216 S., br.) {<br />
<strong>Das</strong> Buch nimmt Bezug auf aktuelle politische Entwicklungen<br />
und setzt sich mit der Frage auseinander, was die Berührung<br />
mit dem Pazifismus <strong>für</strong> den Feminismus bedeutet.<br />
Durch die geplante Einbeziehung der Frauen in die Bundeswehr<br />
rückten Fragen nach dem Verhältnis der Frauen zu Waffen<br />
und Krieg, zu Macht und Gewalt, nach dem 'natürlichen'<br />
Pazifismus von Frauen und ihrer besonderen Verantwortung<br />
<strong>für</strong> den Frieden wieder in den Vordergrund. Die Diskussion<br />
darüber gipfelt innerhalb der Frauenbewegung in der Frage<br />
"Sind Frauen von Natur aus friedfertiger als Männer?", die<br />
sie - wieder einmal - in zwei Lager spaltet und eine Analyse<br />
der jeweiligen Konsequenzen angezeigt erscheinen läßt.<br />
Dabei wird ein guter, knapper Überblick über die Entwicklung,<br />
die verschiedenen Standpunkte und über die unterschiedlichen<br />
Strategien geliefert.<br />
Herrad Schenk richtet ihr besonderes Interesse auf den<br />
Geschlechterrollenaspekt und zeigt zunächst in einem historisch-soziologischen<br />
Überblick, wo Frauen am direkten<br />
Kriegsgeschehen beteiligt waren, inwieweit sie in ihrer<br />
traditionellen Rolle Stützen des Krieges waren und inwieweit<br />
sie als Friedenskämpferinnen Einfluß hatten. Um das<br />
Verhältnis des Geschlechts zum Krieg genauer zu untersuchen,<br />
wird auf die kulturelle Definition von Männlichkeit<br />
und Weiblichkeit Bezug genommen und das Männlich-Kriegerische<br />
als Wesensmerkmal des soldatischen Mannes alter Prägung<br />
identifiziert, das heute zwar im Wandel, aber in Restbeständen<br />
noch wirksam ist. Wenn aber das Kriegerische als<br />
natürlich zum Männlichen zugehörig betrachtet wird, gehört<br />
dazu auch die Gegenidee, nämlich daß Frauen von Natur aus<br />
friedfertiger sind. Mit der Berufung auf die friedfertige<br />
Natur von Frauen wird von Teilen der Frauenfriedensgruppen<br />
jedoch ein männlich-patriarchalischer Entwurf von Weiblichkeit<br />
akzeptiert, und es scheint fraglich, ob aus dieser Position,<br />
die in Ergänzung und Stützung des Mannes besteht,<br />
ein weltverbesserndes Wirken überhaupt möglich ist.<br />
Feministische Positionen befinden sich seit jeher im<br />
Spannungsfeld zwischen der Betonung der Gleichheit und der<br />
Betonung der Verschiedenheit der Geschlechter. In dem Buch<br />
wird die grundsätzliche Andersartigkeit von Frauen abge-<br />
33<br />
DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83
34 Soziale Bewegungen und Politik<br />
lehnt und die behauptete größere Friedfertigkeit eher als<br />
Produkt der untergeordneten und abhängigen Stellung von<br />
Frauen angesehen, als Ergebnis der geschlechtsspezifischen<br />
Arbeitsteilung, aufgrund derer Frauen nur andere Mittel als<br />
Männer wählen, um ihre Interessen zu vertreten. Aufgrund<br />
der Rollenzuweisung waren Frauen auch immer eher Opfer des<br />
Krieges als Akteurinnen und nie an Kriegsentscheidüngen beteiligt.<br />
Von daher kann ihre größere Friedensliebe auch als<br />
bloßes Desinteresse interpretiert werden. Wie die Berufung<br />
auf die natürliche Friedfertigkeit von Frauen wird auch die<br />
Bezugnahme auf die Mütterlichkeit, aus der sich eine besondere<br />
Verantwortung <strong>für</strong> den Frieden ableiten soll, als konservatives<br />
Denken kritisiert, weil damit die geschlechtsspezifische<br />
Arbeitsteilung und die Festschreibung auf die<br />
traditionelle weibliche Rolle akzeptiert wird. Es erscheint<br />
bedenklich oder sogar beängstigend, wie viele der Aktivitäten<br />
von Frauen <strong>für</strong> den Frieden sich im traditionellen geschlechtsrollenkonformen<br />
Rahmen abspielen. Statt dessen<br />
wird eine fundierte Bezugnahme auf den Pazifismus gefordert,<br />
ohne sich einseitig auf emotionale <strong>Argument</strong>ationen zu<br />
stützen. Frauen sollten sich ihren besonderen geschlechtsspezifischen<br />
Ausgangspunkt, der andere - eben gewaltfreie<br />
- Strategien nahelegt, zunutze machen und in einem umfassenden<br />
Pazifismus vertreten. Nachdem auch im Kampf der<br />
Frauen gegen das Patriarchat nur gewaltfreie Strategien angemessen<br />
erscheinen, wird eine enge Affinität zwischen Feminismus<br />
und Pazifismus als gewaltfreiem Kampf gesehen und<br />
ein eigenes Konzept eines feministischen Pazifismus entwikkelt,<br />
das einen gewaltfreien Kampf auf zwei Ebenen beinhaltet:<br />
Krieg, Militarismus, Gewalt einerseits, geschlechtsspezifische<br />
Arbeitsteilung, Rolle der Frau andererseits.<br />
Der Zusammenhang zwischen beiden muß immer wieder hergestellt<br />
und problematisiert werden, und mit dem einen muß<br />
auch gleichzeitig das andere bekämpft werden.<br />
Ein wichtiges Buch,, das Anlaß zur Überprüfung des eigenen<br />
Standorts gibt und Aufruf an alle Frauen ist, Uber ihrem<br />
Engagement <strong>für</strong> den Frieden die Ziele der Frauenbewegung<br />
nicht aus den Augen verlieren.<br />
Christel Daesler-Lohmüller (München)<br />
Brinker-Gabler, Gisela (Hrsg.): Frauen gegen den Krieg. Fi- -<br />
scher Taschenbuch Verlag, Frankfurt/M. 1980 (352 S., br.)<br />
Brinker-Gabler, Gisela (Hrsg.): Kämpferin <strong>für</strong> den Frieden<br />
- Bertha von Suttner. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt/M.<br />
1982 (222 S., br.)<br />
Die Sicherung des Friedens ist heute das wichtigste internationale<br />
Anliegen überhaupt. Daß die Frauenbewegung ihren<br />
Anteil zur Friedensbewegung beitragen will und muß, ist<br />
unumgänglich (siehe z.B. die Schwierigkeiten, die wir am<br />
10. Juni 1982 in Bonn hatten, einen Frauenblock zu halten,<br />
um unserer Forderung nach einem feministischen Beitrag in<br />
der Abschlußkundgebung Nachdruck zu verleihen).<br />
DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83
Frauen in der Friedensbewegung 35<br />
Zu wenig im Bewußtsein ist uns, daß es Bertha von Suttner<br />
war, die schon in den 90er Jahren des vorigen Jahrhunderts<br />
die Vorstellungen vertrat, die auch heute die neue<br />
Friedensbewegung bestimmen: <strong>Das</strong> "Prinzip der Offenheit, das<br />
auf die Mobilisierung aller Kräfte zielt und keinen Personenkreis,<br />
keiner gesellschaftlichen oder politischen Gruppierung<br />
Vorrang oder Führungsanspruch einräumt" (Gisela<br />
Brinker-Gabler in der Einleitung zu "Kämpferin <strong>für</strong> den<br />
Frieden", 18).<br />
Gerade weil die Frage nach dem (besonderen) Beitrag der<br />
Frauen zur Friedensbewegung immer wieder auftaucht, habe<br />
ich die Herausgabe des Bandes "Frauen gegen den Krieg" begrüßt.<br />
Er will einen Überblick über das Engagement von<br />
Frauen gegen den Krieg geben. Er enthält Manifeste, Demonstrationsberichte,<br />
Antikriegsresolutionen, Analysen . der<br />
Kriegsursachen und Passagen pazifistischer Literatur. Die<br />
Aufgabe der Friedenserhaltung ist <strong>für</strong> mich jedoch eine<br />
ebenso wichtige Aufgabe der Männer, die Fortschritte ebenso<br />
wie Rückschritte maßgeblich mitzuverantworten haben. Lida<br />
Gustava Heymanns Zitat - "Weibliches Wesen, weiblicher Instinkt<br />
sind identisch mit Pazifismus" -, auf dem die Einleitung<br />
aufbaut, ist einfach ärgerlich. Einerseits schiebt<br />
diese Feststellung uns den größten Teil der Verantwortung<br />
zu und entlastet damit die Männer, andererseits haben Frauen,<br />
auch Frauenrechtlerinnen wie z.B. Lange und Bäumer,<br />
durchaus ihren Anteil am Kriegsdienst geliefert. Oder haben<br />
Golda Meir und Margret Thatcher kraft ihrer politischen<br />
Funktionen die Kriege in Nahost oder auf den Falklands weniger<br />
beeinflußt?!<br />
Die Auswahl der Textauszüge, auf die ich an zwei Beispielen<br />
später noch einmal zurückkommen werde, läßt zu wünschen<br />
übrig. Die Aktivitäten deutscher Frauen <strong>für</strong> den Frieden<br />
sind zwar zahlreich belegt, deren Auswahl täuscht jedoch<br />
darüber hinweg, daß die Auseinandersetzungen über die<br />
Positionen zum Krieg von unterschiedlichen Einstellungen<br />
geprägt waren, die sich auch organisatorisch niederschlugen.<br />
So wird beispielsweise vollkommen verschwiegen, daß<br />
die radikaleren Frauen - wie Lida Gustava Heymann, Anita<br />
Augspurg und Helene Stöcker - eine eigene Vereinigung hatten,<br />
den "Verband fortschrittlicher Frauenvereine" unter<br />
Vorsitz von Minna Cauer. <strong>Das</strong> Organ dieses Verbandes, "Die<br />
Frauenbewegung", wird auf S. 22 als Zeitschrift von Minna<br />
Cauer hingestellt, die in Wirklichkeit nur die Herausgeberin<br />
war. - Statt dessen stehen im Mittelpunkt der Darstellung<br />
die <strong>Argument</strong>e von Helene Lange und Gertrud Bäumer, die<br />
gemeinsam mit dem "Bund deutscher Frauenvereine" in der<br />
aufkommenden nationalistischen Welle vor dem I. Weltkrieg<br />
schwammen und die Gründung des "nationalen Frauendienstes"<br />
forcierten (21ff.). Sinnvoll wären übrigens unbedingt Texte<br />
aus dem Zeitraum nach 1933 gewesen, da Heymann, Augspurg<br />
und Stöcker in der Emigration weiterhin aktiv die Friedensbewegung<br />
unterstützten, die drohende Kriegsgefahr voraussa-<br />
DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83
36 Soziale Bewegungen und Politik<br />
hen und reflektierend kommentierten.<br />
Eine entscheidende Lücke, die diese Textsammlung aufwies<br />
, wurde durch die Herausgabe des Bandes "Kämpferin <strong>für</strong><br />
den Frieden. Bertha von Suttner" geschlossen: Er bringt<br />
Auszüge aus Suttners Memoiren, aus ihren Tagebuchaufzeichnungen,<br />
aus ihren publizistischen Arbeiten und Vorträgen.<br />
Die Herausgeberin bemüht sich in ihrer Einleitung um eine<br />
historische Einordnung der Aktivitäten von Suttner, um zu<br />
zeigen, "wie der Gedanke der Friedensbewegung von ihr Besitz<br />
ergriff und wie sie die Bewegung zu organisieren begann,<br />
welche Ideen sie entwickelte und wie sie den Militarismus<br />
ihrer Zeit analysierte; ebenso sollte ein Einblick<br />
in ihr persönliches Leben gegeben werden" (36). Bertha von<br />
Suttner widmete sich den Problemen der Friedenssicherung,<br />
des Nationalismus, der staatsbürgerlichen Rechte und<br />
Pflichten, der Frauenemanzipation, des Antisemitismus und<br />
der Jugenderziehung. Letzterem besonders in ihrem 1889 erschienenen<br />
Buch "<strong>Das</strong> Maschinenzeitalter". Es zeigt ihren<br />
Weg zu fast allen Friedenskonferenzen vor 1914 und ihren<br />
Einsatz <strong>für</strong> die Organisierung einer internationalen Friedensfront<br />
und,damit kombiniert,die Notwendigkeit einer Analyse<br />
der Kriegsursachen (s. Zweite Haager Friedenskonferenz<br />
1907, 117ff.).<br />
Die Bemühungen der Tochter aus adeligem Hause fallen in<br />
die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, dessen Ausbruch zu erleben<br />
ihr glücklicherweise erspart geblieben ist. 1906 hatte<br />
sie als erste Frau den Friedensnobelpreis erhalten. Sie<br />
warb in einer Zeit, als Frauen kein Wahlrecht hatten, keiner<br />
politischen Partei angehören, ja nicht einmal eine politische<br />
Versammlung besuchen durften. Mit aus diesem Grunde<br />
hatten die 1891 und 1892 in Deutschland und Österreich<br />
gegründeten Friedensgesellschaften einen überparteilichen,<br />
humanitären Status, was ihnen von Seiten der Sozialisten immer<br />
wieder als unpolitisch vorgeworfen wurde: Für die Arbeiterbewegung<br />
mußte die Friedensbewegung gleichzeitig ein<br />
Bekenntnis zur sozialistischen Gesellschaft implizieren.<br />
Eine Bewegung nur gegen den Krieg stellte <strong>für</strong> sie eine Herausforderung<br />
dar.<br />
Die beiden Exponentinnen der Antikriegsbewegung der Sozialisten<br />
nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges waren unbestreitbar<br />
Rosa Luxemburg und Clara Zetkin. Leider wurde in<br />
"Frauen gegen den Krieg" besonders Clara Zetkins Haltung<br />
gegen Krieg allgemein und ihr Widerstand gegen die Bewilligung<br />
der Kriegskredite zu Unrecht in Kontrast gesetzt zu<br />
ihrer Haltung in den 20er Jahren (als KPD-Mitglied): Derartige<br />
Brüche in ihrer <strong>Argument</strong>ation <strong>für</strong> den Weltfrieden gibt<br />
es nicht. Sie erhofft sich nach der Oktoberrevolution lediglich<br />
eine besondere Unterstützung Rußlands <strong>für</strong> den Weltfrieden.<br />
Die Ideen und Initiativen von Bertha von Suttner wurden<br />
nicht nur, wie gemeinhin angenommen wird, von Männern fortgesetzt,<br />
sondern auch von Exponentinnen der radikalen bür-<br />
DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83
Frauen in der Friedensbewegung 37<br />
gerlichen Frauenbewegung, wie z.B. Helene Stöcker.<br />
Sie hatte sich z.B. schon seit den 90er Jahren gegen die<br />
- wie. sie meinte - freiwillige Reduzierung der Frau auf ihre<br />
Rolle als Staatsbürgerin und Mutter von seiten der konservativen<br />
bürgerlichen Frauenrechtlerinnen (Lange/Bäumer)<br />
ausgesprochen. Während die bürgerliche Frauenbewegung im<br />
Bund deutscher Frauenvereine sich nach Kriegsausbruch als<br />
"innere Front" begriff und den Nationalen Frauendienst als<br />
Unterstützung der "äußeren Front" betrachtete, kämpfte Helene<br />
Stöcker gegen den Krieg, den Patriotismus und Nationalismus<br />
als schärfsten Ausdruck von Doppelmoral und Menschenverachtung<br />
der patriarchalischen wilhelminischen Gesellschaft.<br />
Von dieser Position rückte sie kurz vor ihrem Tode 1933<br />
mehr und mehr ab, eine Folge ihrer Erfahrung mit der Regierung<br />
Stalins und der gerade beginnenden Liquidierung politisch<br />
andersdenkender ehemaliger Kampfgenossen. Sie sieht<br />
hinter der russischen Politik eine generelle Gefährdung des<br />
Friedens (Briefe an Maria Reese, in: Kleine Erwerbungen Nr.<br />
379, Bundesarchiv Koblenz).<br />
Mit keinem Wort ist z.B. der 1905 von ihr mitgegründete<br />
"Bund <strong>für</strong> Mutterschutz" erwähnt, der Anfang der 20er Jahre<br />
auf ihr Drängen als ausgesprochen pazifistische Organisation<br />
auftrat. Zum anderen wäre einmal ein Text von Helene<br />
Stöcker aus der "Neuen Generation" von 1914 interessant gewesen,<br />
dem Organ des "Bundes <strong>für</strong> Mutterschutz". Auf S. 22<br />
wird die Zeitschrift fälschlicherweise als Blatt von Helene<br />
Stöcker hingestellt. In den Artikeln dort zeigen sich Stökkers<br />
Betroffenheit und Orientierungsschwierigkeiten, ausgelöst<br />
durch den Kriegsausbruch und als dessen Folge der<br />
wachsende Nationalismus in Deutschland. Die Veränderung von<br />
Stöckers politischem Standpunkt während der Weimarer Zeit<br />
wird ignoriert. In der abgedruckten Haager Rede von 1922<br />
kommt nicht zum Ausdruck, daß der "Kampf <strong>für</strong> eine bessere<br />
Gesellschaftsordnung" (101) bei ihr im Kern auf eine sozialistische<br />
Gesellschaft hinzielte.<br />
Insgesamt sind beide Bände eine Hilfe, erste Eindrücke<br />
über Frauen und deren Engagement gegen den Krieg zu gewinnen.<br />
Die Texte sind illustriert mit Portraits und zeitgenössischen<br />
Plakaten. Darüber hinaus hat die Herausgeberin<br />
ein sehr gutes Autorinnenverzeichnis (Lebensdaten, Veröffentlichungstitel,<br />
Sekundärliteratur) an den Schluß gestellt.<br />
Die Lektüre eignet sich als Einstieg in ein weiteres<br />
Studium, zeigt allerdings deutlich die Notwendigkeit<br />
von Editionen des publizistischen Werkes und der in den<br />
Nachlässen befindlichen Briefwechsel von Bertha von Suttner<br />
und Helene Stöcker (hier auch besonders deren Memoiren),<br />
neben einer Neuauflage der Memoiren von Heymann/Augspurg<br />
"Erlebtes - Erschautes". Christi Wickert (Göttingen)<br />
DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83
38<br />
Sozialstaat und Bürgerinitiativen<br />
Soziale Bewegungen und Politik<br />
Matzner, Egon: Der Wohlfahrtsstaat von morgen. Entwurf eines<br />
zeitgemäßen Musters staatlicher Interventionen. Schriften<br />
des Wissenschaftszentrums Berlin - Internationales <strong>Institut</strong><br />
<strong>für</strong> Management und Verwaltung/Arbeitsmarktpolitik.<br />
Campus Verlag, Frankfurt/M. 1982 (408 S., br.)<br />
Egon Matzner, Professor am <strong>Institut</strong> <strong>für</strong> Finanzwissenschaft<br />
und Infrastrukturpolitik an der TU Wien, u.a. auch<br />
Berater der SPÖ, versucht mit dieser Arbeit zu begründen,<br />
warum neue, effektivere Formen staatlicher Interventionen<br />
entwickelt werden müßten, um besser mit veränderten Bedingungen<br />
<strong>für</strong> die Reproduktion gesellschaftlicher Basisinstitutionen<br />
(Kapital, Arbeitsvertrag, Markt und Staat) fertig<br />
werden zu können. Die veränderten Bedingungen lassen sich<br />
als Krise interpretieren, die aus der Funktionsweise der<br />
Basisinstitutionen selbst und aus exogenen Kräften resultiert.<br />
Krise, d.h. Problemdruck, führt zeitverzögert zu<br />
staatlichen Interventionen. Wenn es diesen nicht gelingt,<br />
den Problemdruck zu mindern, so ist ein Wandel der Basisinstitutionen<br />
(der "gesellschaftlichen Verhältnisse") selbst<br />
zu erwarten.<br />
Zweitens versucht Matzner, ein "zeitgemäßes" Muster<br />
staatlicher Interventionen zu entwerfen, teilweise als Forschungsprogramm,<br />
teilweise als konkrete Vorschläge <strong>für</strong> politische<br />
Strategien. Der Vorzug dieser Arbeit scheint mir<br />
zu sein, daß die Grundmuster staatlicher Interventionen in<br />
den vielfältigen Bezügen, Voraussetzungen, Abhängigkeiten<br />
theoretisch über Ressortgrenzen hinweg auch im Detail ausgeleuchtet<br />
werden, wobei die Verbindung zu den praktischen<br />
Problemen fast immer erhalten bleibt. Die Position Matzners<br />
läßt sich wie folgt skizzieren: Der Wohlfahrtsstaat ist eine<br />
gesellschaftliche Leistung, die in den letzten Jahrzehnten<br />
einmalige Erfolge hervorbrachte. Jedoch zeigt sich, daß<br />
seit Anfang der 70er Jahre die bisherige Form des expansiven<br />
staatlichen Interventionismus nicht mehr an diese Erfolge<br />
anknüpfen kann. Dies hängt u.a. mit folgenden grundsätzlichen<br />
Problemen zusammen: 1. Staatliche Interventionsanreize<br />
wirken nur dann kontinuierlich, wenn sie ständig<br />
ausgeweitet werden. Eine ständige Expansion ist auf Dauer<br />
aber nur dann finanzierbar, wenn sich entsprechende Wachstumserfolge<br />
zeigen. 2. Bei personalen Dienstleistungen<br />
stellt sich das Problem der "Kosten-Krankheit", d.h. die<br />
geringeren Produktivitätsfortschritte in diesem Bereich<br />
führen - bei gleichen Wachstumsraten der Lohnsätze wie in<br />
den produktiveren Bereichen - zur Expansion. 3. <strong>Das</strong> Ausbleiben<br />
von angemessenen Wachstumsraten führt daher zwangsläufig<br />
zu Finanzkrisen bei staatlichen Aufgaben. 4. Es läßt<br />
sich begründen, daß es in den entwickelten Volkswirtschaften<br />
partielle Wachstumsgrenzen gibt, die sowohl ökonomischer,<br />
ökologischer als auch gesellschaftlicher ("Interak-<br />
DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83
Sozialstaat und Bürgerinitiativen 39<br />
tionskrise") Natur sind. Dies hat zur Folge, daß der globale<br />
Interventionismus nicht mehr greift, teilweise sogar<br />
kontraproduktiv wirkt.<br />
Daher schlägt Matzner eine Reform der Formen und Inhalte<br />
staatlicher Interventionen vor. Inhaltlich plädiert er <strong>für</strong><br />
eine differenzierte Entwicklungspolitik, die festlegt, welche<br />
wirtschaftlichen Bereiche expandieren, stagnieren und<br />
welche reduziert werden sollten. Als Kriterien könnten gelten:<br />
Versorgungsgrad der Bevölkerung, Ressourcenbegrenztheit,<br />
ökologische Gesichtspunkte, überflüssige und/oder<br />
schädliche Produkte. Voraussetzung einer solch differenzierten<br />
Politik ist eine Reform der Entscheidungsverhältnisse,<br />
die vor allem zwei Stufen beinhaltet: a) die partizipativ,<br />
professionell und politisch erfolgende Festsetzung<br />
quantitativer Grenzen; b) die Installierung von Signal- und<br />
Anreizsystemen, die das Mikroverhalten entsprechend steuern.<br />
Ein weiterer, zentraler Bestandteil des Reformkonzepts<br />
ist Matzners Plädoyer <strong>für</strong> eine "neue Kultur der Politik":<br />
"Dabei geht es vor allem darum, dem autonomen, schon seit<br />
langer Zeit durch Markt und Staat eingeschränkten Bereich<br />
der zivilen Gesellschaft eine neue Möglichkeit zur Entfaltung<br />
zu geben" (375). Damit wird im Grunde ein historischer<br />
Kompromiß vorgeschlagen zwischen traditionellen, etatistischen<br />
und alternativen Positionen, die geistesgeschichtlich<br />
aus den Wurzeln des politischen Liberalismus, des utopischen<br />
Sozialismus und des Anarchismus stammen.<br />
Die Arbeit Matzners formuliert gut fundierte Leitlinien<br />
<strong>für</strong> eine Reformdiskussion. Allerdings ist sein Modell in<br />
den Umsetzungsbedingungen stark an die (sozialpartnerschaftlichen)<br />
Verhältnisse und Entscheidungsstrukturen<br />
Österreichs angelehnt. Mit anderen Worten: Die Macht- und<br />
Mobilisierungsprobleme bleiben ausgeklammert. Dies ist aber<br />
gerade eine entscheidende Frage: Wo ist das handelnde Subjekt,<br />
das eine solche Politik tragen könnte, und auf welche<br />
Weise ist es möglich, "gebrauchswertorientierte" Politik<br />
mobilisierungs- und mehrheitsfähig zu machen. Nicht nur das<br />
Wahlergebnis vom 6. März vermag Optimismus in dieser Frage<br />
zu dämpfen. Erich Standfest (Düsseldorf)<br />
Atteslander, Peter: Die Grenzen des Wohlstands. An der<br />
Schwelle zum Zuteilungsstaat. Deutsche Verlagsanstalt,<br />
Stuttgart 1981 (200 S., Ln.)<br />
Peter Atteslander, Direktor des <strong>Institut</strong>s <strong>für</strong> Sozialökonomie<br />
an der Universität Augsburg, versucht mit diesem<br />
Buch, in relativ populärer Form - ohne den sonst üblichen<br />
Zitate- und Anmerkungsapparat - die Thesen über die Grenzen<br />
des Wohlstands zu beschreiben, und Alternativen <strong>für</strong> künftige<br />
Entwicklungstrends zu formulieren. Er liefert dabei keine<br />
eigenen, originären Ansätze, sondern die einzelnen,<br />
ziemlich heterogenen Kapitel fassen jeweils Aspekte der<br />
wissenschaftlichen und politischen Diskussion zusammen.<br />
Der Tenor des Buches liegt - liberal abgemildert - in<br />
DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83
40 Soziale Bewegungen und Politik<br />
der Tradition des Kulturpessimismus: Bedürfnisse und Erwartungen<br />
der Menschen wachsen schneller als die Möglichkeiten<br />
ihrer Befriedigung. Diese "Bedürfnisschere" produziere soziale<br />
Konflikte, die von den gesellschaftlichen <strong>Institut</strong>ionen<br />
nicht kanalisiert werden können, im Gegenteil: Die Delegation<br />
individueller Ansprüche an den Wohlfahrtsstaat<br />
führe zur Entmündigung; zugeteilte Wohlfahrt ersetze den<br />
erwerb- und erlebbaren Wohlstand und damit auch individuelle<br />
Verantwortung als Voraussetzung künftigen Wohlstands.<br />
Darin sieht Atteslander das zentrale Problem unserer Gesellschaft:<br />
das Sicherheitsstreben führe zu einer Diskrepanz<br />
zwischen (steigenden) Ansprüchen und (sinkender) Leistungsbereitschaft.<br />
Die Zukunft erfordere aber Risikobereitschaft<br />
und nicht Sicherheitsdenken. Dieses Leitthema<br />
taucht in den einzelnen Kapiteln immer wieder auf:l. Die<br />
Bedeutung von Eliten <strong>für</strong> die Beherrschung des sozialen Wandels.<br />
Nur Eliten seien imstande, die technologische Entwicklung<br />
zu steuern. 2. "Echter" Wohlstand wird als Lebensqualität<br />
definiert, die durch Maßnahmen geschaffen<br />
wird, die die individuelle Abhängigkeit von technologischen<br />
und bürokratischen Systemen verringern. 3. Die angebliche<br />
Nivellierung durch die Sozialpolitik verwische notwendige<br />
Unterschiede, diskriminiere Leistung und Leistungsbereitschaft.<br />
- Die politische Folgerung, die Atteslander zieht,<br />
beschränkt sich aufs Allgemeine: die gesellschaftlichen <strong>Institut</strong>ionen<br />
so verändern, daß Eigeninitiative, Verantwortung<br />
und Leistungsbereitschaft gefördert werden, das Credo<br />
also des politischen Liberalismus.<br />
Ich halte es schon <strong>für</strong> fruchtbar und sinnvoll, sich mit<br />
dem politischen Liberalismus und seinen Forderungen auf den<br />
konkreten gesellschaftlichen Handlungsfeldern auseinanderzusetzen.<br />
Er liefert zweifellos produktive Ideen und <strong>kritische</strong><br />
Regulative zum Verhältnis von Individuum und politischem<br />
System. Der entscheidende Mangel - und Atteslander<br />
macht dabei keine Ausnahme - scheint mir zu sein, daß in<br />
seinen Analysen "vergessen" wird, daß die Mehrzahl der Bürger<br />
von viel gravierenderen Abhängigkeiten betroffen sind,<br />
als von bürokratischen Systemen. Staatliche Regulierungen<br />
(z.B. Arbeits- und Sozialrecht) schaffen erst die Voraussetzungen<br />
<strong>für</strong> eine teilweise Emanzipation der Arbeitnehmer<br />
und ihrer Familien aus den Zwängen des Lohnarbeitsverhältnisses<br />
im liberalen Kapitalismus. Vergessen wird auch, daß<br />
der Wohlfahrtsstaat kein Geschenk ist, sondern Ergebnis relativ<br />
erfolgreicher Kämpfe der Arbeiterbewegung. Nun muß<br />
man sich selbstverständlich damit auseinandersetzen, in<br />
welcher Weise eine Sicherung und ein demokratischer Ausbau<br />
des Wohlfahrtsstaats erfolgen sollte. Die Diskussion darüber<br />
ist voll im Gange. Leider liefert Atteslander dazu<br />
keinen konkret erfaßbaren Beitrag. Die einzelnen Kapitel<br />
erscheinen eher zufällig aneinandergereiht, es fehlt ein<br />
durchgehender theoretischer Faden (das politische Credo<br />
kann ihn nicht ersetzen), der die ausgebreiteten Fakten<br />
DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83
Sozialstaat und Bürgerinitiativen<br />
ordnet. Manchmal hat man auch den Eindruck, Zitate werden<br />
angeführt, weil sie in die Richtung passen, aber nicht weil<br />
sie das Ergebnis einer Auseinandersetzung mit dem betreffenden<br />
Autor sind. <strong>Das</strong> Fehlen eines theoretischen Zugriffs<br />
und die ziemlich willkürlich erscheinende Eklektik machen<br />
einem nicht nur das zusammenhängende Lesen schwer, es nimmt<br />
einem auch die Lust zur Auseinandersetzung. Der Titel verspricht<br />
nur, was andere Arbeiten zu diesem Thema viel eher<br />
auch halten. Erich Standfest (Düsseldorf)<br />
Arzberger, Klaus: Bürger und Eliten in der Kommunalpolitik.<br />
Schriften des Deutschen <strong>Institut</strong>s <strong>für</strong> Urbanistik, Bd. 67.<br />
Verlag W. Kohlhammer/Deutscher Gemeindeverlag, Stuttgart-<br />
Berlin-Köln-Mainz 1980 (181 S., Abb., br.)<br />
Die vorliegende Studie ist Teil eines größeren Projektes<br />
zur Thematik "Bürgernahe Gestaltung der sozialen Umwelt",<br />
das vom Bundesministerium <strong>für</strong> Forschung und Technologie finanziert<br />
worden ist. "<strong>Das</strong> allgemeine Ziel des Projekts bestand<br />
darin, die kommunalpolitisch relevanten Bedürfnisse<br />
und Erwartungen der Bürger detailliert zu erfassen und deren<br />
Zustandekommen und Veränderungen zu erklären" (18). Eine<br />
Erklärung freilich liefert die Studie kaum, einfach deshalb,<br />
weil es an einem reproduktionstheoretischen. Ansatz<br />
mangelt. Stattdessen offeriert Arzberger als analytisches<br />
Konzept eine Mischung aus staats- und kommunaltheoretischen<br />
Denkelementen, die er aus Arbeiten u.a. von Galbraith, Offe<br />
und insbesondere Habermas ("Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus",<br />
1973) komponiert hat. Gleichwohl handelt es<br />
sich um eine solide, methoden<strong>kritische</strong> Untersuchung, in der<br />
verschiedenartig generiertes Material zum Komplex "Bürgererwartungen<br />
und Kommunalpolitik" detailliert ausgebreitet<br />
wird. Passagenweise allerdings verzettelt sich der Autor<br />
allzu sehr in thematisch bedeutungsschwache Kreuz-und-quer-<br />
Korrelationen hinein (bes. Kapitel 5.6. Uber die "Wechselseitigen<br />
Einschätzungen" von "Bürgern" und "Eliten"). Die<br />
Erhebungsdaten beziehen sich auf sechs städtische Gemeindeeinheiten:<br />
Frankfurt-Sachsenhausen, Frankfurt-Nordend, Coburg,<br />
Aalen, Hadamar und Usingen. Sie sind unter begründeten<br />
problemtypologischen Gesichtspunkten ausgewählt worden.<br />
Der Erhebungszeitraum lag zwischen 1975 und 1979, so daß<br />
den Daten, sofern sie sich auf das zum Teil doch forciert<br />
sich entwickelnde und qualifizierende Bedürfnisniveau der<br />
Bürger beziehen, allemal noch Problemaktualität zuzuerkennen<br />
ist.<br />
Im Zeichen wachsender "Planungsbetroffenheit".Kürzungen<br />
der kommunalen Haushalte usf. einerseits und gewachsener<br />
Mobilisierungsbereitschaft von Teilen der Bevölkerung andererseits,<br />
ihre lokalen Reproduktionsbedingungen zu verteidigen<br />
bzw. zu verbessern, gewinnen die Probleme der "politischen<br />
Konsensbildung" (13) und der "Legitimationsbeschaffung"<br />
(12) an Brisanz; im herrschenden Politiker-Jargon hat<br />
sich dies in der Rede von Schaffung von "Akzeptanz" festge-<br />
41<br />
DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83
42 Soziale Bewegungen und Politik<br />
setzt. Und "besonders eindringlich zeigen sich die genannten<br />
Probleme heute auch auf der Ebene der Kommunalpolitik"<br />
(13), "die <strong>für</strong> mehr als zwanzig Jahre als ein Bereich<br />
(galt), der gesellschafts- und sogar parteipolitisch relativ<br />
wenig Konfliktpotentiale barg" '(15). <strong>Das</strong> hat sich inzwischen<br />
gründlich geändert, was sogar auf einer Ebene, die<br />
als besonders stabil galt, den Wahlen,durchgeschlagen hat.<br />
Laut Arzberger stecken die Gemeinden in einem "Dilemma",<br />
"daß sie bei erweiterten Einzugs- und Aufgabenbereichen einerseits<br />
und eingeschränkten Mitteln und Entscheidungskompetenzen<br />
andererseits vor allem die legitimatorischen Lasten<br />
des 'politischen Prozesses' behalten haben" (16). Weil<br />
die Kommune der Ort "unmittelbarer Erfahrbarkeit" (15) von<br />
Verschlechterungen in den Reproduktionsbedindungen der Menschen<br />
ist, sind es gerade die "kommunalen Instanzen", an<br />
die ein "breit gefächerter Katalog von Forderungen" (16)<br />
adressiert wird und gegen den bekanntlich unter der Parole<br />
"Inflation der Ansprüche" (vgl. 139ff.) polemisiert wird,<br />
von Helmut Schmidt bis Manfred Rommel. Diesem "Katalog"<br />
geht die Studie systematisch-deskriptiv nach und konfrontiert<br />
ihn mit den Dispositionen der kommunalen Eliten.<br />
Aus der Fülle der Detailbefunde möchte ich kurz zwei<br />
Aspekte herausheben, die von reproduktionsanalytischem Interesse<br />
sind. Der erste bezieht sich auf die Generationsund<br />
Sozialspezifik des Forderungsniveaus. Dabei zeigt sich,<br />
daß <strong>für</strong> einige sozialdemographische Gruppen die tiefgreifende<br />
Benachteiligung im Reproduktionsbereich sich nicht<br />
nur auf die Befriedigung bestehender Reproduktionsbedürfnisse<br />
erstreckt, sondern tief in die Entwicklungs- und Artikulationsfähigkeit<br />
von Reproduktionsansprüchen hineinreicht:<br />
"Ältere, weniger Gebildete, Unterschichtenangehörige<br />
und Frauen" (141) besitzen "in der Regel" nicht nur ein<br />
niedrigeres Forderungsniveau, sondern zeigen auch weit weniger<br />
als "Jüngere Menschen, höher Gebildete, Angehörige<br />
der oberen Gesellschaftsschichten und Männer" (141) Bereitschaft<br />
zur Artikulation von Ansprüchen. Damit hängt der<br />
zweite Aspekt eng zusammen, der im Lichte der jüngst von<br />
Fred Karl publizierten Studie über "Bürgerinitiativen"<br />
(1981) und deren sozialer Zusammensetzung besonderes Gewicht<br />
bekommt. Diejenigen Bürger, die in Initiativen und<br />
anderen Formen aktiv ihr gewachsenes Bedürfnis- und Anspruchsniveau<br />
artikulieren und durchzusetzen suchen, entwickeln<br />
nicht nur ihr Forderungsniveau im Zuge eben dieser<br />
Praxis qualitativ und quantitativ fort, sondern gelangen<br />
auch "zu erhöhter politischer Beteiligung" (131). Auf diese<br />
Weise verdoppelt sich gleichsam die reproduktionsspezifische<br />
Benachteiligung der oben genannten sozial-demographischen<br />
Gruppen. Einzelne Befunde Arzbergers sollten nicht<br />
nur von Gewerkschaftskollegen, die mit Kulturpolitik und<br />
sozialer Kulturarbeit befaßt sind, aufmerksam zur Kenntnis<br />
genommen werden, zumal die Studie erkennen läßt, daß die<br />
Gewerkschaften im kommunalen Bereich der Qualifizierung,<br />
DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83
Sozialstaat und Bürgerinitiativen 43<br />
Artikulation und Durchsetzung von ReproduktionsansprUchen<br />
der Lohnabhängigen bisher nur unzureichend Kraft entfaltet<br />
haben. Friedhelm Kröll (Nürnberg)<br />
Grüber, Wolfram: Sozialer Wohnungsbau in der Bundesrepublik.<br />
Der Wohnungssektor zwischen Sozialpolitik und Kapitalinteressen.<br />
Pahl-Rugenstein Verlag, Köln 1981 (196 S., br.)<br />
"Ein Gespenst geht um: die neue Wohnungsnot". Mit diesen<br />
Worten beginnt das sehr informative Buch von Grüber über<br />
die Geschichte des Sozialen Wohnungsbaus in der Bundesrepublik.<br />
Diese erste systematische Darstellung erscheint zu<br />
einem Zeitpunkt, wo der desolate Zustand der staatlichen<br />
Wohnungsbauförderung offensichtlich ist und die Sparbeschlüsse<br />
aus Bonn einen weiteren tiefgreifenden Einschnitt<br />
in das soziale Sicherungssystem gebracht haben. Grüber beschränkt<br />
sich nicht auf eine reine Beschreibung, sondern<br />
stellt die Veränderungen der Wohnungsbaupolitik und der<br />
Förderungsformen in den Zusammenhang mit der wirtschaftlichen<br />
und politischen Entwicklungsgeschichte der Bundesrepublik.<br />
Zwei Entwicklungslinien werden verfolgt: Seit Beginn<br />
besteht das prinzipielle Ziel, den gesamten Wohnungsbestand<br />
dem "freien Markt" zu übereignen. Staatliche Interventionen<br />
haben damit nur "Nothilfecharakter", sind zeitlich befristet.<br />
<strong>Das</strong> Nebeneinander von sozialpolitisch motivierten<br />
Eingriffen und einer unreglementierten Preis- und Gewinnentwicklung<br />
in der Gesamtwirtschaft erzeugt genau die faktischen<br />
Fehlentwicklungen wie Mietverzerrungen und Fehlbelegungen,<br />
die als Rechtfertigung <strong>für</strong> den Rückzug des Staates<br />
herhalten müssen. Grüber belegt, daß nicht die Interventionen<br />
die Ursache der Fehlentwicklungen sind, sondern<br />
ein widersprüchlicher Zielkatalog, in dem Sozialpolitik mit<br />
demontierenden Gewinninteressen unvereinbar sind. Die Kontinuität<br />
dieses <strong>Argument</strong>ationsmusters zieht sich durch die<br />
wohnungspolitische Diskussion vom Abbaugesetz 1960 über<br />
die Rezession 1966/67 bis in die aktuellen Spardebatten.<br />
Die 2. Entwicklungslinie erschließt eine neue Dimension,<br />
die bisher noch nie auf das Förderungssystem des Sozialen<br />
Wohnungsbaus übertragen wurde: die Krisenregulierung des<br />
spätkapitalistischen Staates. Die Absicht der "vollständigen<br />
Liberalisierung des Wohnungsmarktes" scheiterte am dauerhaft<br />
weiter bestehenden Wohnungsmangel, so daß die Wohnungsbauförderung<br />
als fester Bestandteil der Staatsinterventionen<br />
institutionalisiert wurde. Damit unterlag aber<br />
der Soziale Wohnungsbau spätestens seit der Rezession 1966/<br />
67 der damals neuen Programmatik der staatlichen Globalsteuerung<br />
der Gesamtwirtschaft. <strong>Das</strong> Prinzip, staatliche<br />
Ressourcen zur Behebung kapitalistischer Verwertungskrisen<br />
einzusetzen, galt seither <strong>für</strong> Wohnungsbauausgaben gleichermaßen<br />
wie <strong>für</strong> andere Sozialleistungen. Der Soziale Wohnungsbau<br />
wurde damit konsequent den Strategien zur Änderung<br />
der Haushaltsstruktur und Beendigung der "Staatsfinanzkrise"<br />
untergeordnet. <strong>Das</strong> Verdienst von Grüber ist es, erst-<br />
DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83
44 Soziale Bewegungen und Politik<br />
mais diese in der Rezession 1966/67 installierten Krisenstrategien<br />
detailliert im Förderungssystem nachzuweisen.<br />
Weiterhin werden Unterschiede zu anderen Sozialleistungen<br />
herausgearbeitet. So berühren Kürzungen bzw. Veränderungen<br />
in der Wohnungsbauförderung unmittelbar sektorale Kapitalinteressen.<br />
Es wird deutlich, wie der Soziale Wohnungsbau,<br />
der 1949 angetreten ist, die Wohnversorgung der unteren<br />
Einkommensgruppen sicherzustellen, zu einem Subventionsinstrument<br />
der Wohnungsunternehmen verkommen ist. Darüber<br />
hinaus bietet Grüber eine Fülle von Einzelinformationen<br />
über Mietkalkulation, Zinsanteile an der Kostenmiete und<br />
die kommenden Mietbelastungen.<br />
Insgesamt ist das Buch eine wichtige und lesenswerte Arbeit,<br />
da es zu einem klareren Verständnis der gegenwärtigen<br />
Wohnungspolitik beiträgt. Denn es untermauert die Forderung<br />
nach einer Priorität des Mietwohnungsbaus in den Ballungsgebieten<br />
und nach einer Abkoppelung der Finanzierung vom<br />
allgemeinen Zinsmechanismus. Es bildet eine Grundlage <strong>für</strong><br />
eine alternative sozialorientierte Miet- und Wohnungsbaupolitik.<br />
Klaus Brake (Oldenburg)<br />
Moltke, Konrad von und Nico Visser: Die Rolle der Umweltschutzverbände<br />
im politischen Entscheidungsprozeß der Niederlande.<br />
Beiträge zur Umweltgestaltung Band A 84. Erich<br />
Schmidt Verlag, Berlin 1982 (116 S., br.)<br />
Die im Auftrage des Umweltbundesamtes und mit Unterstützung<br />
des <strong>Institut</strong>es <strong>für</strong> Europäische Umweltpolitik angefertigte<br />
Untersuchung will eine Lücke schließen: Bisher gibt<br />
es weder in den Niederlanden noch hier eine zusammenfassende<br />
Darstellung der niederländischen UmWeltorganisationen,<br />
obgleich nach Meinung der Autoren aus den Erfahrungen der<br />
niederländischen Umweltbewegung durchaus sinnvolle Verallgemeinerungen<br />
ableitbar sind. Die Untersuchung basiert auf<br />
der Auswertung von niederländischen, zum Teil noch unpublizierten<br />
Analysen über die Umweltinitiativen, deren eigenen<br />
Untersuchungen sowie den Ergebnissen einer Fragebogen-Aktion<br />
und Experten-Interviews der Autoren. Ihr Hauptgewicht<br />
liegt auf der Darstellung der derzeitigen allgemeinen<br />
Struktur der Umweltbewegung und der Beschreibung der typischen<br />
und bedeutenden UmWeltorganisationen: Vereinigung Arbeitsgruppe<br />
<strong>für</strong> Naturschutz und Umweltgestaltung in Eindhoven<br />
und Umgebung (WNM), Nationale Vereinigung zum Schutz<br />
des Wattenmeeres (LVBW), Vereinigung <strong>für</strong> den Schutz von Naturmonumenten<br />
in den Niederlanden (Natuurmonumenten), Stiftung<br />
Geldersche Umweltföderation (GMF), Stiftung Natur und<br />
Umwelt (SNM), Vereinigung zur Verteidigung der Umwelt<br />
(VMD).<br />
Die Autoren deuten die Konflikte in der strategischen<br />
Orientierung zwischen alten (Naturschutz-) und neuen (nach<br />
1970 entstandenen Umweltschutz-)Organisationen an, um deutlich<br />
zu machen, daß nunmehr eine Struktur gefunden sei, die<br />
ein stabiles Bündnis garantiere. Dies beruhe auf der Exi-<br />
DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83
Sozialstaat und Bürgerinitiativen 45<br />
Stenz von zwei nationalen Koordinationsgremien, von denen<br />
eines die Organisation der inhaltlichen, praktischen Zusammenarbeit<br />
zur Aufgabe hat, während das andere als unverbindliche<br />
Clearing-Stelle unterschiedlicher Standpunkte<br />
wirkt. Dieses Nebeneinander von Minimalkonsens und Diskussionsforum<br />
hat es nach Auffassung der Autoren bewirkt, daß<br />
breite Bündnisse zu Einzelfragen Zustandekommen, die die<br />
Eigenständigkeit der einzelnen Organisationen nicht in Frage<br />
stellen. Für die Aktionsfähigkeit der Initiativen ist<br />
weiterhin von Bedeutung, daß sie sich gemäß dem 1980 in<br />
Kraft getretenen Gesetz über die Offenheit der Verwaltung<br />
Zugang zur Vorbereitungsphase von Planungen verschaffen<br />
können (allerdings mit wichtigen Einschränkungen).<br />
Weiterhin wird in den Niederlanden die Klagebefugnis von<br />
Initiativen wesentlich weiter gefaßt (sog. Jedermann-Verfahren)<br />
als dies bei uns auch nach Abschluß der kleinlichen<br />
Diskussion um die Verbandsklage im Naturschutzrecht sein<br />
wird. Die stärkere Einbindung der Initiativen in den Verwaltungs-Ablauf<br />
kommt auch in der recht hohen finanziellen<br />
Unterstützung aus öffentlichen Geldern zum Ausdruck. Die<br />
Organisationen akzeptieren - so folgern die Autoren -, daß<br />
sie ain der Umweltpolitik mitwirken, letztlich aber nur ein<br />
Interesse unter anderen vertreten. Sie berichten andererseits<br />
auch von Organisationen mit gegensätzlicher Haltung,<br />
die eine Zusammenarbeit mit der Verwaltung ablehnen. Dessen<br />
ungeachtet zählen die Autoren als Möglichkeiten der Organisationen,<br />
die niederländische Umweltpolitik zu beeinflussen,<br />
lediglich die rechtlich vorgesehenen Mitwirkungs-Verfahren<br />
auf.<br />
Diese Beschränkung macht das entscheidende Manko der Ar- '<br />
beit deutlich; denn schließlich umfaßt der politische Entscheidungsprozeß,<br />
den es zu untersuchen galt, in den Niederlanden<br />
wie anderswo mehr als nur verfahrensrechtliche<br />
Mitwirkung. Es darf sogar bezweifelt werden, ob die weitgehenden<br />
legalen Aktionsmöglichkeiten überhaupt zustande gekommen<br />
wären ohne die Wahrnehmung legitimer Aktionsformen<br />
wie Demonstrationen, Besetzungen, Blockaden etc. Die Studie<br />
argumentiert ausschließlich organisationssoziologisch, die<br />
Darstellung konkreter Konflikte, der Klassen-Strukturen und<br />
des politischen Prozesses unterbleibt. Analytische Flachheit<br />
und thematische Einschränkungen sind die Folge und bewirken,<br />
daß der Titel der Studie mehr verspricht als der<br />
Inhalt zu erbringen in der Lage ist. Immerhin: Entnehmen<br />
mag man der Untersuchung zahlreiche Informationen zu den<br />
einzelnen Organisationen und zu ihrem Bündnis-Konzept, die<br />
die Aktions- und Organisationsdiskussion der bundesdeutschen<br />
Umweltbewegung durchaus anreichern können.<br />
Günther Bachmann (Berlin/West)<br />
DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83
46 Soziale Bewegungen und Politik<br />
Kämpfe von Frauen in Lateinamerika. Biographische Schilderungen<br />
Löw, Angelika: "Was wird aus uns, wenn keine sich wehrt?"<br />
Kolumbien: Die alltäglichen Kämpfe der Frauen. Rowohlt Taschenbuch<br />
Verlag, Reinbek 1982 (151 S., br.)<br />
Mit Hilfe der Lebensgeschichten von zehn kolumbianischen<br />
Frauen wollte Löw sich und den Lesern Zugang zu einer fremden<br />
Realität schaffen. "Besonders während meines zweiten<br />
längeren Kolumbien-Aufenthaltes habe ich begriffen, daß ich<br />
von dem Leben der Menschen, den Motiven ihrer Handlungen,<br />
ihren Kommunikationsformen, ihren Gefühlen und ihrem gesellschaftlichen<br />
Bewußtsein nur etwas verstehen kann, wenn<br />
ich genau hinschaue und zuhöre und die <strong>Theorie</strong> als Interpretationshilfe<br />
benutze" (10). Welche <strong>Theorie</strong>n sie wie benutzt,<br />
sagte sie nicht. Der Autorin geht es um die kleinen<br />
alltäglichen Kämpfe der Frauen ums Überleben in einem Entwicklungsland,<br />
da diese die Vorbereitung <strong>für</strong> organisierte<br />
nationale Befreiungskämpfe bilden würden. Löw besuchte jede<br />
einzelne Frau und zeichnete das Gespräch auf Tonband auf.<br />
, Die Schwerpunkte legte sie dabei auf die zwischenmenschlichen<br />
Beziehungen der Frauen zu den Männern, Kindern, Vorgesetzten,<br />
auf Liebe und Sexualität, auf die Arbeit (im und<br />
außer Haus), auf Ausbildung und Freizeit. Da nirgends (weder<br />
in den Wiedergaben der Gespräche noch als Anhang) die<br />
Fragen der Autorin auftauchen, bleibt den Lesern/innen verborgen,<br />
auf welche Fragen die Kolumbianerinnen nicht geantwortet<br />
und welche sie nicht verstanden haben. "Je weiter<br />
der soziale und kulturelle Abstand zwischen mir und meiner<br />
Gesprächspartnerin war, desto schwieriger und vieldeutiger<br />
wurde die Kommunikation" (13). Könnten nicht gerade diese<br />
Mißverständnisse dazu beitragen, die Unterschiede zwischen<br />
unserer und der kolumbianischen Kultur aufzudecken, um beide<br />
besser verstehen und hinterfragen zu können?<br />
Jedem Lebensbericht schließt sich eine kurze Darstellung<br />
der sozialen Situation, in der die jeweilige Befragte lebt,<br />
an. <strong>Das</strong> ist eine gute Hilfe <strong>für</strong> die Leser, denn die Frauen<br />
sind unterschiedlichster sozialer, ethnischer, religiöser<br />
und regionaler Herkunft. Trotz dieser großen Unterschiede<br />
haben acht der vorgestellten Frauen gemein, ob sie nun besonders<br />
arm oder reich sind, daß sie sehr früh (im Alter<br />
von 15 bis 20 Jahren, ohne einen Beruf gelernt zu haben)<br />
heiraten und früh viele (drei bis zwölf) Kinder bekommen,<br />
so daß sie kaum überlegen, wie sie ihr Leben (selbst) gestalten<br />
könnten. Sind sie arm, müssen sie meist <strong>für</strong> ihre<br />
Kinder selber sorgen, weil die Ehemänner trinken, herumlungern<br />
oder Frau und Kinder verlassen. Dennoch bereiten die<br />
Frauen ihre Töchter immer wieder auf die Ehe vor; jungfräulich<br />
zu heiraten ist wichtiger als eine Berufsausbildung.<br />
So unterschiedlich wie die Frauen sind auch ihre alltäglichen<br />
Kämpfe. <strong>Das</strong> ist z.B. Marie, eine Straßenhändlerin,<br />
mit sieben Kindern, ihr Mann hat sie verlassen. Sie arbei-<br />
DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83
Frauen -in Lateinamerika<br />
tet den ganzen Tag und die ganze Woche, abhängig von der<br />
Laune der Polizisten, die sie ab und zu ins Gefängnis stekken,<br />
weil sie keine Papiere hat. Im Krankheitsfall helfen<br />
sich die Straßenhändler gegenseitig, eine Versicherung gibt<br />
es nicht. Jeder Tag birgt den Überlebenskampf. Die Textilarbeiterin<br />
Fabiola muß ebenfalls <strong>für</strong> den Unterhalt ihrer<br />
Kinder sorgen. Sie wurde arbeitslos, weil sie mit ihren<br />
Kollegen zusammen eine Gewerkschaft gründen wollte, um gegen<br />
eine Pausenverkürzung in der Textilfabrik, in der sie<br />
arbeitete, vorgehen zu können. Für eine politische Gefangene<br />
, die gefoltert wurde, wird sogar das Leben im Gefängnis<br />
zu einem Bestandteil ihres Kampfes um Veränderung: "Wie<br />
schon vorher außerhalb dieser Mauern, bestätigt sich, was<br />
politisches Engagement unter anderem heißt: uns gegenseitig<br />
als Menschen respektieren, ... Und uns auch von hier aus<br />
<strong>für</strong> unsere Gerechtigkeits- und Freiheitsideale einzusetzen"<br />
(83). <strong>Das</strong> Buch endet mit einer Chronologie des Landes<br />
und einigen statistischen Daten.<br />
Leider nimmt Low nicht zusammenfassend Stellung zu den<br />
Gesprächen, so daß unklar bleibt, inwiefern ihrer Meinung<br />
nach die alltäglichen Kämpfe der Kolumbianerinnen den nationalen<br />
Befreiungskampf vorbereiten. Dies wird der Interpretation<br />
des Lesers/der Leserin überlassen. Dennoch bietet<br />
dieses Buch sicherlich allen, die sich mit Kolumbien und/<br />
oder der Situation der dort lebenden Frauen beschäftigen<br />
wollen, die Möglichkeit eines ersten Zugangs.<br />
Barbara Ketelhut (Hamburg)<br />
Poniatowska, Elena: Allem zu Trotz ... das Leben der Jesusa.<br />
Lamuv Verlag, Bornheim-Merten 1982 (331 S., br.)<br />
Wie kommt eine wohlhabende, intellektuelle Mexikanerin<br />
dazu, 10 Jahre lang eine arme alte Frau aus den Slums von<br />
Mexico City zu interviewen, um ein Buch über deren Leben zu<br />
schreiben? Inspiriert hat sie die Methode von Oscar Lewis,<br />
der anthropologische Bücher über Armut in Mexiko schrieb<br />
und mit der Interviewmethode arbeitete, und dem sie 1 1/2<br />
Jahre bei seiner Arbeit zuschaute.<br />
Im Gegensatz zu ihm will sie die Distanz zwischen Forscher<br />
und Untersuchten überwinden. Und so besucht sie Jesusa<br />
Uber Jahre regelmäßig einmal in der Woche, lernt ihr Leben<br />
dabei kennen, und es entwickelt sich eine Art Freundschaft<br />
zwischen den beiden Frauen. Vor allem die Autorin<br />
macht dadurch einen Lernprozeß durch, weil sie durch Jesusa<br />
eine andere Welt kennenlernt, in der diese um ihr tägliches<br />
Überleben kämpft und um ihre Unabhängigkeit als Frau.<br />
Gleichzeitig fängt die Autorin an, sich selbst in Frage zu<br />
stellen. Doch hat sich in ihrem Leben dadurch wirklich etwas<br />
geändert oder hatte die Beziehung zu Jesusa eher eine<br />
Alibifunktion <strong>für</strong> ihre politischen Ansprüche? "Ich versuchte<br />
immer ein Gleichgewicht zu halten zwischen der extremen<br />
Armut, die ich am Nachmittag teilte, und dem Glanz der Emp-<br />
47<br />
DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83
48<br />
Soziale Bewegungen und Politik<br />
fange. Mein Sozialismus war unaufrichtig" (23). Was sie mit<br />
"ihrem Sozialismus" meint, läßt sie dahingestellt. Für sie<br />
ist Jesusa das Sinnbild <strong>für</strong> eine menschlichere, gerechtere<br />
Gesellschaft. Jesusa ist stolz und mißtrauisch gegen jede<br />
Form von Abhängigkeit und Ungerechtigkeit und lehnt sich<br />
gegen die gesellschaftlichen Zustände auf, aber gleichzeitig<br />
resigniert sie auch an ihnen. So wird sie verbittert<br />
und einsam und sucht mit zunehmendem Alter Trost in der Religion.<br />
Anknüpfend an ihre religiösen Visionen rollt sie<br />
ihr Leben in sehr lebendiger Umgangssprache noch einmal<br />
auf.<br />
Jesusa, Ende des letzten Jahrhunderts geboren, ist das<br />
Kind armer Leute. Die Mutter stirbt früh und nach ihrem Tode<br />
zieht der Vater mit ihr und ihrem Bruder herum, bis er<br />
wieder heiratet. Dort muß sie hart arbeiten und verdingt<br />
sich mit 11/12 Jahren als Dienstmädchen. Zur Zeit der mexikanischen<br />
Revolution gehen Vater und Bruder zu den Soldaten,<br />
und sie zieht mit ihnen. Mit 14/15 Jahren heiratet sie<br />
einen 17jähriger Offizier. Dieser versorgt sie materiell<br />
gut, und sie hat eine relative Abwechslung durch das Leben<br />
bei der Truppe. Aber er hat auch öfter Liebschaften und<br />
schlägt sie häufig. Sie rechtfertigt sein Verhalten, steht<br />
aber trotzdem auf, als das Faß zum Überlaufen kommt - und<br />
ihr Aufstand hat Erfolg. "Von dem Moment an, wo ich die Pistole<br />
auf Pedro gerichtet hatte, hatte er sich gebessert"<br />
(117). Aber sie fühlt sich schuldig, denn <strong>für</strong> eine Frau<br />
ziemt es sich nicht, sich gegen ihren Mann zu wehren und<br />
aggressiv zu sein. Daß die Frau Besitz ihres Mannes ist,<br />
stellt sie nicht in Frage; trotzdem zieht sie ihre Konsequenz:<br />
Nach dem Tode ihres Mannes heiratet sie nicht mehr.<br />
Ihr Mann wird im Kampf getötet und bis zur Übergabe führt<br />
sie das Kommando seiner Truppe. Doch dann verläßt sie die<br />
Soldaten und geht nach Mexiko City, um sich Arbeit zu suchen.<br />
<strong>Das</strong> ist sehr schwierig, weil sie nicht lesen und die<br />
Zettel an der Tür: 'Dienstmädchen gesucht' nicht entziffern<br />
kann. Sie arbeitet dann als Dienstmädchen unter Bedingungen,<br />
unter denen sie krank wird. <strong>Das</strong> läßt sie sich später<br />
nicht mehr gefallen. Sie nimmt viele verschiedene Arbeiten<br />
an: als Arbeiterin in Fabriken, Schreinerin, Serviererin;<br />
sie war sogar Leiterin eines Lokales und später eines Frisörsalons.<br />
Sie hat es nie sehr lange ausgehalten auf ihren<br />
Arbeitsstellen, obwohl ihre Arbeit ihr immer sehr wichtig<br />
war und sie z.T. sehr genaue Beschreibungen ihrer Tätigkeiten<br />
gibt. Sie führt in dieser Zeit ein sehr bewegtes Leben,<br />
geht nachts in Bars, hat viele Männerbekanntschaften,<br />
streitet und rauft sich gerne, so daß sie einmal auch im<br />
Gefängnis landet. Aber sie macht auch bei einer Landbesetzung<br />
mit und erwähnt kurz, daß sie in der Gewerkschaft war.<br />
Als sie älter ist, kümmert sie sich 3 Jahre um die Kinder<br />
einer verstorbenen Freundin und zieht dann eines davon<br />
groß. Sie arbeitet hart, um ihn zur Schule schicken zu können.<br />
Bildung scheint die Hoffnung <strong>für</strong> ein besseres Leben zu<br />
DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83
Frauen -in Lateinamerika 49<br />
sein. Sie erzieht ihn sehr streng. Auf der Schule erfährt<br />
der Sohn Klassenunterschiede, die offensichtlich auch mit<br />
ihrer dunklen Hautfarbe verbunden sind. Denn die Schule kostet<br />
Geld und ist nur etwas <strong>für</strong> Privilegierte: Jesusa holt<br />
ihren Pflegesohn, der blond ist, von der Schule ab: "...<br />
seine Schulkameraden hänselten ihn: 'Da kommt dein Dienstmädchen.<br />
' Er bekam einen hochroten Kopf: '<strong>Das</strong> ist nicht<br />
mein Dienstmädchen, das ist meine Mama.' Sie glaubten ihm<br />
nicht. Sie dachten wohl bei sich: 'Diese dunkelhäutige Alte<br />
soll seine Mutter sein?" 1 (301) Eines Tages verläßt der<br />
Junge sie ohne ein Wort. Sie fragt nicht warum, sondern betrachtet<br />
ihn als verstorben. Zur Zeit der Interviews lebt<br />
sie allein und davon, daß sie Arbeitsanzüge reinigt. Sie<br />
wartet nur noch auf den Tod.<br />
"... weder mein derzeitiges Leben noch mein vergangenes<br />
haben etwas mit Jesusa zu tun" (23), schreibt die Autorin<br />
in ihrem Vorwort. Zuerst wollte sie Jesusa zu einer Art revolutionärer<br />
Volksheldin machen, ihre einen Platz in der<br />
mexikanischen Geschichte einräumen, dann zieht sie es aber<br />
vor, "besonderes Gewicht auf die persönlichen Qualitäten<br />
der Jesusa zu legen, jenes Etwas, daß sie von dem traditionellen<br />
Bild der mexikanischen Frau unterscheidet" (26). Erstaunt<br />
hat mich, nur im Vorwort zu lesen, daß Jesusa auch<br />
in der Kommunistischen Partei war. Hat sie kaum darüber erzählt,<br />
oder hat die Autorin es herausgelassen? Welchen Einfluß<br />
hatte dies auf ihren Konflikt, sich gegen die herrschende<br />
Ordnung zu wehren und sie gleichzeitig zu akzeptieren?<br />
"Es tut weh darüber nachzudenken, daß unser Land über<br />
ein solch hervorragendes Menschenmaterial verfügt wie Jesusa,<br />
das nicht nur nicht genutzt, sondern auch noch schlecht<br />
behandelt wird" (26). Sie spricht dabei über Jesusa wie<br />
Uber einen Gegenstand und bestärkt diese nur in ihrer immer<br />
wieder auftauchenden Selbstverachtung und Resignation. So<br />
können Jesusas Kämpfe nur scheitern.<br />
Annekathrin Linck (Hamburg)<br />
Zago, Angela: Tagebuch einer Guerilla-Kämpferin. Hammer<br />
Verlag, Wuppertal 1977 (215 S., br.)<br />
Morella, eine 20jährige Psychologiestudentin aus Caracas,<br />
beschreibt in einfachen, treffenden Sätzen und Ich-Form,<br />
wie es ihr 1964/65 an der Guerillafront Venezuelas erging.<br />
Wichtig erscheint mir an diesem schon etwas älteren Buch,<br />
daß sie ihre Lernprozesse sehr offen aufzeichnet. Als langjähriges<br />
Parteimitglied lernt sie in den Bergen die eher<br />
soldatischen Anforderungen, nämlich stark, hart und diszipliniert<br />
gehorsam zu sein, infrage zu stellen. Und sie entmystifiziert<br />
den Guerillakampf. So etwa habe ich mir eine<br />
weibliche Revolutionärin vorgestellt.<br />
Sie will ihre Waffen niemals einsetzen, und kann dies<br />
auch während der zwei Jahre einhalten, da sie mit dem Feind<br />
nicht direkt in Berührung kommt. Ihr wird eine Gruppe von<br />
9 Jungen im Alter von 15 bis 25 Jahren unterstellt, mit de-<br />
DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83
so<br />
Soziale Bewegungen und Politik<br />
nen sie auf der kameradschaftlichen Ebene gut zurechtkommt.<br />
Als sich einige Jungen in sie verlieben, geht sie mit diesen<br />
Gefühlen sehr diskret und vorsichtig um. Die Warmherzigkeit<br />
der Beziehungen der Guerilleros untereinander und<br />
auch mit den Bauern war <strong>für</strong> mich neu und faszinierend,<br />
schon deshalb finde ich das Buch lesenswert. Birgt dieses<br />
sehr soziale sanfte Miteinander, das allerdings Sexualität<br />
eher peinlich meidet, die Perspektive menschlicheren Zusammenlebens?<br />
In ihrer Sexualität ist Morella sehr widersprüchlich<br />
und Traditionen verhaftet. Sie verliebt sich in ihren<br />
Vorgesetzten Marcelo, der sie sehr herablassend behandelt,<br />
aber das scheint sie nicht zu stören. Inhaltliche Differenzen<br />
wegen seiner Parteihörigkeit diskutiert sie nicht mit<br />
ihm. Als er mit ihr schlafen will, verweigert sie dies,<br />
weil sie während der Guerillazeit nicht will und weil die<br />
Partei dagegen wäre. Sie versteht sein Begehren nicht, und<br />
sie trennen sich. Erst viel später fragt sie, ob sie nicht<br />
zu hart gegen sich gewesen ist.<br />
Die Guerillaarbeit wird von der Parteileitung in Caracas<br />
zentral dirigiert. Befehle werden weder begründet noch diskutiert,<br />
"man führt sie aus" (85). Es herrscht striktes Delegationsprinzip.<br />
Morella handelt widerständig, indem sie<br />
Sicherheitsbestimmungen einfach ignoriert, aber sie wehrt<br />
sich nicht offen, setzt keine offiziellen Änderungen durch.<br />
Sie findet, daß die Partei Fähigkeiten und Vertrauen der<br />
Bauern und auch der Companeros unterschätzt, aber sie selbst<br />
diskutiert auch nicht, sondern entscheidet sehr selbstbewußt<br />
und eigenständig.<br />
Sie wird <strong>für</strong> ein bestimmtes Gebiet als politisch Verantwortliche<br />
eingesetzt. Sie soll die Bauern schulen, damit<br />
sie die soziale Basis <strong>für</strong> ein neues Kommando bilden und von<br />
der Brigade geleitet werden können. Sie gründet Parteizellen,<br />
leitet diese zu Versammlungen an, bildet eine "Rote<br />
Garde" als Milizeinheit zum Schutz der Versammlungen. Nach<br />
etwa 4 1/2 Monaten erhält sie den Auftrag, sich einem anderen<br />
Teil ihres Gebietes zuzuwenden. Dabei lernt sie den berühmten<br />
und allseits bewunderten Commandante Argimiro als<br />
väterlichen Freund und Lehrer kennen und lieben. Mit ihm<br />
spricht und korrespondiert sie über ihre Zweifel und Fragen<br />
bezüglich der Parteipolitik. Dieser Briefwechsel ist <strong>für</strong><br />
mich einer der schönsten und hoffnungsvollsten Teile des<br />
Buches. Argimiro will "die Entwicklung der sozialen Basis<br />
als Ausgangspunkt nehmen" (91). Die Partei sei zwar wichtig,<br />
aber auch die Bauern könnten die Partei etwas lehren<br />
und natürlich ihr Gebiet selbst leiten. Er betreibt Bündnis-<br />
und Aufbaupolitik, d.h. die Bauern helfen den Guerilleros<br />
ohne Parteiunterschiede und es werden Komitees der<br />
Befreiungsfront statt Parteizellen gegründet. Er erklärt<br />
und diskutiert Befehle. Morella will sich in seine Brigade<br />
versetzen lassen, aber die Partei lehnt dies ab. Kurz darauf<br />
stirbt Argimiro durch einen Unglücksfall.<br />
Dann beginnt die Einkesselung durch die Armee und der<br />
DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83
Frauen -in Lateinamerika 51<br />
Terror. Die Soldaten vergewaltigen, verbrennen und töten<br />
selbst nichtsahnende Bauern, und die Bauern erkennen in ihnen<br />
ihre Feinde. Sehr deutlich wird dem Leser geschildert,<br />
daß die Verpflegung wie das Überleben der Guerilleros allein<br />
von den Bauern abhängt, und wie demoralisierend es<br />
ist, sich verstecken und vor dem Aufspüren ängstigen zu<br />
müssen. Morella versteckt sich tagelang völlig allein am<br />
Berg, nur verpflegt und gestützt von einem Mann der Bauernmiliz.<br />
Dieses Alleinsein zerbricht sie völlig, sie hat Halluzinationen,<br />
Alpträume und resigniert. Nachdem sie wieder<br />
Kontakt zu ihrem Kommando bekommt, trifft sie Marcelo wieder,<br />
aber er ist ihr gleichgültig, und als er später stirbt,<br />
ist sie unfähig zu trauern.<br />
Morella wird aufgrund ihres sich verstärkenden Hustens<br />
zur Rückkehr nach Caracas bestimmt. Als sie in Caracas ankommt,<br />
schreibt sie: "Ich sah meine eigene Stadt. Meine<br />
Stadt ohne Krieg. Und ich dachte, bevor ich wieder ein Teil<br />
von ihr wurde: Hier ist nichts geschehen" (215). Dieser<br />
letzte Satz ist gleichzeitig der spanische Titel des Buches.<br />
Ich denke, er bezieht sich auf die Partei, die von<br />
ihrer zentralistischen autoritären Politik nicht abgegangen<br />
ist, nichts gelernt hat. Allerdings hat Morella sich auch<br />
nicht offen <strong>für</strong> Änderungen eingesetzt. Weder ein Vor- noch<br />
ein Nachwort deuten auf Konsequenzen ihrer Guerillaarbeit<br />
hin. Vielleicht meint sie mit ihrem Schlußsatz aber auch<br />
den Kontrast zwischen der so deutlich effektiven Arbeit mit<br />
den Bauern in den Bergen und den so wenig sichtbaren Erfolgen<br />
in der Stadt, wo die Probleme vielschichtiger und ungleich<br />
komplizierter sind. Renate Schröder (Hamburg)<br />
Guadalupe Martinez, Ana: Die geheimen Kerker El Savadors.<br />
<strong>Das</strong> Zeugnis der Comandante Guerrillera. Lamuv Verlag, Bornheim<br />
1982 (205 S., br.)<br />
Ana Guadalupe Martinez, heute Mitglied der politisch-diplomatischen<br />
Kommission der FMLN/FDR, geriet am 5. Juli<br />
1976 in die Hände der Nationalgarde El Salvadors. Mehr als<br />
6 Monate verbrachte sie in Gefangenschaft, bis es ihrer Organisation,<br />
der ERP (Revolutionäres Volksheer) gelang, sie<br />
durch die Entführung einer wichtigen Persönlichkeit freizupressen.<br />
Ihr Bericht schildert die unmenschlichen Haftbedingungen,<br />
die zermürbenden Verhöre, die Mißhandlungen und<br />
Folter, der sie und mit ihr die unzähligen anderen politischen<br />
Gefangenen ausgesetzt waren. <strong>Das</strong> Buch war erstmals<br />
kurz nach Ana Guadalupe Martinez' Freilassung, d.h. 1977,<br />
erschienen, zu einem Zeitpunkt also, zu dem kaum Zeugenaussagen<br />
darüber existierten, wie es in den Gefängnissen zuging.<br />
Ana war nach ihrer eigenen Aussage die erste Person,<br />
die das Gefängnis lebend verlassen hatte. Alles, womit Öffentlichkeit<br />
geschaffen wurde, konnte dazu beitragen, die<br />
Sicherheit der Gefangenen zu erhöhen, konnte eventuell ihr<br />
Leben retten.<br />
Aber nicht nur der Öffentlichkeitsarbeit sollte dieses<br />
DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83
52 Soziale Bewegungen und Politik<br />
Buch dienen, sondern Ana versucht auch, die eigenen Genossen<br />
vorzubereiten auf das, was sie bei einer möglichen<br />
Festnahme erwartet. Bis zu diesem Zeitpunkt gab es <strong>für</strong> die<br />
Revolutionäre mehr oder weniger nur die Alternative, zu<br />
siegen oder mit der Waffe in der Hand zu sterben. Die Möglichkeit<br />
einer langdauernden Gefangenschaft wurde kaum in<br />
Betracht gezogen. Demgegenüber war das Militärregime mit<br />
dem Erstarken des Widerstandes in der Bevölkerung in den<br />
siebziger Jahren und der sich verschlechternden politischen<br />
Machtposition immer mehr darauf angewiesen, Informationen<br />
von den Gefangenen zu erhalten, um die Widerstandsbewegungen<br />
wirksamer bekämpfen zu können. Man war bemüht, die Gefangenen<br />
am Leben zu halten und stattdessen die Verhör- und<br />
Foltertechniken immer weiter zu entwickeln. Da Ana am eigenen<br />
Leib erfahren hatte, wie schwer es ist, dem demoralisierenden<br />
Druck der Folter standzuhalten, ist ihr Buch sowohl<br />
ein Plädoyer <strong>für</strong> eine verbesserte politische und ideo^<br />
logische Vorbereitung der Guerrilleros, als auch ein Plädoyer<br />
da<strong>für</strong>, sich <strong>für</strong> die Einheit der Untergrundorganisationen<br />
einzusetzen, statt sich in Flügelkämpfen zu erschöpfen.<br />
Im Gefängnis hatte sie erfahren, daß es nur durch die<br />
Solidarität der Gefangenen untereinander möglich war, zu<br />
überleben, daß die Uneinigkeit der Organisationen "draußen"<br />
nur ihren Unterdrückern Möglichkeiten in die Hände spielt,<br />
effektiver gegen sie vorzugehen. Ob dieses Buch bei seinem<br />
Erscheinen vor inzwischen sechs Jahren diesen Zweck erfüllen<br />
konnte, vermag ich nicht zu beurteilen. Zumindest war<br />
es eine der ersten Schilderungen der Zustände in El Salvador,<br />
die eine breitere Öffentlichkeit erreichen konnte. Die<br />
deutsche Ausgabe aber erschien erst 1982. Die politische<br />
Situation in El Salvador hat sich weiter zugespitzt, die<br />
Tatsache, daß gefoltert wird, kann als bekannt vorausgesetzt<br />
werden, zumindest bei jedem, der es wissen will. Die<br />
Foltermethoden haben inzwischen ein dermaßen wissenschaftlich<br />
ausgeklügeltes Ausmaß angenommen, daß sie, wie Ana<br />
selbst am Ende des Buches in einem Interview sagt, alles,<br />
was sie damals erlebt hatte, in den Schatten stellen.<br />
Mich stört die völlige Distanz, aus der heraus Ana<br />
schreibt. Von ihr persönlich erfährt man sehr wenig. An den<br />
Stellen, an denen sie ein bißchen von der puren Darstellung<br />
abgeht, zieht sie sich oft hinter die Partei zurück. Es mag<br />
sein, daß es ihr so kurz nach ihrer Freilassung nicht möglich<br />
war, anders über das Erlebte zu schreiben. Mir aber<br />
fehlt jeder Einblick darüber, wer sie eigentlich ist, gerade<br />
noch, daß man nach der Hälfte ihres Berichtes weiß, daß<br />
sie eine 24jährige ehemalige Medizinstudentin ist. Wie sah<br />
ihr Entwicklungsweg hin zur Guerrillakämpferin aus, was sind<br />
ihre Wünsche und Hoffnungen, welche Perspektiven hat sie?<br />
Die Partei kommt nur wie ein über allem schwebendes Gebilde<br />
vor. Wie sieht ihre innere Struktur aus? Wie werden<br />
Entscheidungen getroffen? Sie berichtet, daß ihre Festnahme<br />
nur durch Verrat möglich war. Der Verräter, ein ehemaliger<br />
DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83
Dialektik, Logik und Sozialwissensahaften 53<br />
Genosse, wurde aus der Partei ausgeschlossen und sogar zum<br />
Tode verurteilt. Daß es sich hierbei um handfeste interne<br />
Auseinandersetzungen um die politische Richtung handelte,<br />
in deren Verlauf ein Minderheitsflügel die Organisation<br />
verließ, nachdem ihr Wortführer ermordet worden war, läßt<br />
sich aus allem, was sie dazu sagt, kaum ersehen. Wie sieht<br />
sich Ana selbst innerhalb ihrer Partei in ihrer Rolle als<br />
Frau? Nach ihrer Darstellung scheint es gar kein Diskussionspunkt<br />
zu sein, daß und wie Frauen mitkämpfen. Läuft<br />
wirklich alles so problemlos und selbstverständlich? Wie<br />
ist eigentlich ihr Bild vom Revolutionär? Mir scheint es,<br />
daß sie unter der Guerrilla eine Elitetruppe versteht, die<br />
<strong>für</strong> das Volk die Revolution betreibt, aber nicht mit und<br />
aus dem Volk heraus. Was sie Uber "der! Revolutionär" und<br />
"das Volk" sagt, wirkt auf mich wie aus einem Parteikommunique<br />
Übernommen.<br />
Ein wenig verständlicher wird die Art ihrer Darstellung,<br />
d.h. ihr Buch dann, wenn man sich die Entwicklung ihrer Organisation,<br />
der ERP, ansieht. <strong>Das</strong> "Revolutionäre Volksheer",<br />
gegründet 1971, war bis zu den erwähnten Auseinandersetzungen<br />
und der darauf folgenden Spaltung eine Gruppierung, die<br />
hauptsächlich durch militärische Aktionen von sich reden<br />
machte. Erst 1977, dem Jahr Anas Freilassung, begann man<br />
sich auf eine eher politische Strategie zu besinnen und<br />
gründete die 'Partei der Salvatorianischen Revolution'<br />
(PRS), der die ERP als bewaffnete Kampftruppe unterstellt<br />
wurde. Ohne genauere Hintergrundinformationen, die zum Beispiel<br />
eine ausführliche Einleitung der Autorin hätte bieten<br />
können, bleibt dieses Buch meiner Meinung nach sehr oberflächlich<br />
und unbefriedigend. Melanie Braatz (Hamburg)<br />
PHILOSOPHIE<br />
Dialektik, Logik und Sozialwissenschaften<br />
Kimmerle, Heinz (Hrsg.): Dialektik heute. Rotterdamer Arbeitspapiere.<br />
Germinal Verlag, Bochum 1983 (141 S., br.)<br />
Bei den vorgelegten Texten handelt es sich ausnahmslos<br />
um Überlegungen zu einer materialistischen <strong>Theorie</strong> der Dialektik,<br />
so unterschiedlich sachliches Gewicht und Lösungswege<br />
der einzelnen Beiträge auch einzuschätzen sein mögen.<br />
Kimmerle hat in einer Einleitung, zum Teil auch in seinem<br />
Aufsatz "Dialektik der Grenze und Grenze der Dialektik"<br />
(127-141), versucht, aus der Heterogenität der Konzeptionen<br />
eine gemeinsame Tendenz herauszulesen. So plausibel dabei<br />
die Abgrenzungen vom "linguistic turn" und von einem rein<br />
philosophiehistorischen Interesse an Dialektik erscheinen,<br />
so wenig vermag einzuleuchten, daß die von verschiedenen<br />
DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83
54 Philosophie<br />
Ausgangspunkten vollzogenen Vorstöße an die Grenze der Dialektik<br />
sich zu einer Art Einbahnstraße verengen sollen, die<br />
in den Raum des durch die Namen Heidegger und Derrida markierten<br />
Differenzdenkens führt (vgl. 6 und 137f.). Kimmeries<br />
Plädoyer <strong>für</strong> eine "Synthese aus Dialektik und Differenzdenken"<br />
(139) krankt vor allem daran, daß es seine Begründungsbasis<br />
aus der einseitigen Verknüpfung dialektischer<br />
<strong>Theorie</strong> mit industriell-kapitalistischen Verhältnissen<br />
gewinnt. In eine ähnliche Richtung weist auch die<br />
Gleichsetzung von Arbeit mit Entfremdung von der Nautr<br />
(vgl. 135), so daß die als Korrektiv eingeführten Verweise<br />
auf Deleuze/Guattari und Derrida in der Tat nur "vage<br />
Orientierungsgrößen" (136) bieten.<br />
Brockmeier (7-42)rückt seine Deutung der Hegeischen "Logik"<br />
als Entwicklungstheorie des 'reinen Denkens 1 (11) in<br />
den Kontext einer materialistischen Fassung des Erkenntnisqua<br />
Entwicklungsproblems. Hegels Metaphysikkritik wird am<br />
Bewegungsbegriff und am Verhältnis Möglichkeit-Wirklichkeit<br />
untersucht und auf ihren wissenschaftshistorischen Hintergrund<br />
(Newton/Lamarck) bezogen. "Durch die kategoriale<br />
Brille der materiellen Produktion gelesen" (32), erweist<br />
sich Hegels Modell von Entwicklung als ungeeignet, um einen<br />
Begriff der erweiterten Reproduktion zu denken. <strong>Das</strong> Zusammenfallen<br />
von Produktion und Produkt manifestiert sich im<br />
"Gesetz des teleologischen Determinismus der absoluten<br />
Idee" (26), das durch die Präsenz des Resultats im Anfang<br />
und die Aufhebung des Anfangs im Resultat den Blick auf einen<br />
nichtteleologischen Typus von Entwicklung verstellt.<br />
Der bei Brockmeier eher implizit bleibende Ansatz Peter Rubens<br />
wird in dem Beitrag von Furth (73-96) unter dem Titel<br />
"Arbeitskonzept" (73) vorgestellt. Aufgrund wichtiger Präzisierungen<br />
des Ansatzes, die zumal die Struktur der Widerspiegelungsrelation<br />
betreffen (vgl. 90ff.), gelingt Furth<br />
eine überzeugende Demonstration des Bruchs, den eine als<br />
"gegenständliche Tätigkeit und Produktionsvorgang" (83) gefaßte<br />
Widerspiegelungstheorie mit der traditionellen Subjekt-Objekt-Problematik<br />
vollzieht. Leider beschränken sich<br />
die Ausführungen auf den "archaischen Entstehungszusammenhang<br />
von Arbeit und Erkenntnis" (89) und setzen sich mit<br />
den mehrfach artikulierten Zweifeln (z.B.: die Rezensionen<br />
von Ripalda in Arg. 128 und Jäger in Arg. 135) am operativen<br />
Radius des Modells nicht auseinander. Hier wie auch bei<br />
dem Beitrag Erdeis (43-72), dem es um eine Lösung der <strong>für</strong><br />
die analytische Wissenschaftstheorie aporetischen Frage der<br />
Induktion zu tun ist, wird eine Tendenz sichtbar, deren<br />
Diskussionspotential nur kurz angedeutet sei. Der betont<br />
ontologischen Fassung des Widerspruchs korrespondiert eine<br />
Vernachlässigung seiner konkreten Typik. Es wäre zu fragen,<br />
wie sich innerhalb der sehr Hegeischen Rede vom Widerspruch<br />
als dem "absoluten Grund" (Erdei, 64) oder von Entwicklung<br />
als dialektischem Widerspruch von Erhaltung und Veränderung<br />
(Furth, 80) z.B. der Klassenantagonismus oder andere Kon-<br />
DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83
Dialektik, Logik und Sozialwissensahaften 55<br />
fliktanordnungen als distinkte Formen ausweisen lassen.<br />
Manschots Ausführungen (97-109) zeichnen Althussers Weg<br />
von einer "theoretisch-wissenschaftlichen Konzeption der<br />
Dialektik" zu einer "politisch-strategischen" (97) nach.<br />
Eine Erklärung der referierten Verschiebung, die diese auf<br />
innertheoretische Zwänge und/oder politische Konjunkturen<br />
bezöge, wird nicht geboten. Darüber hinaus bleibt das gewählte<br />
Schema zu grobmaschig, da es weder den schon zwischen<br />
"Für Marx" und "<strong>Das</strong> Kapitel lesen" eintretenden Wandel<br />
noch die weiteren Verlagerungen hin zu "Lenin und die<br />
Philosophie" und zur Selbstkritik nuanciert erfaßt. Carchedis<br />
Aufsatz "Dialektik und gesellschaftliche Gesetze" (110-<br />
126) ist in das Konzept eines "nicht-reflexive(n) Materialismus"<br />
(112) eingelassen. "Nicht-reflexiv" steht <strong>für</strong> die<br />
These, daß die Betrachtungsweise des Proletariats "...nicht<br />
die wirklichen Prozesse, wie sie in der Wirklichkeit stattfinden,<br />
(schildert)" und "... doch objektiv gesehen die<br />
Möglichkeit (hat), richtig zu sein, ein Zusammentreffen mit<br />
der Wirklichkeit zu erreichen, die sie schildert" (112).<br />
Wie das vor sich gehen soll, verrät der Verfasser leider<br />
nicht. Seine weiteren Überlegungen, die unter den Leitbegriffen<br />
"dialektische Bestimmung" (113) und "Überbestimmung"<br />
(118f.) ein Modell gesellschaftlicher Kausalität entwickeln<br />
wollen, kommen über die Kategorie "komplexe Wechselwirkung"<br />
(119) nicht hinaus und begnügen sich mit dem<br />
eher trivialen Befund, daß die Bewegungsgesetze einer widersprüchlich<br />
strukturierten Gesellschaft diese auf widersprüchliche<br />
Weise regulieren. Peter Körte (Münster)<br />
Elster, Jon: Logik und Gesellschaft. Widersprüche und mögliche<br />
Welten. Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M. 1981 (406 S.,<br />
Ln. )<br />
Elster, der in Oslo und Paris Geschichte und Soziologie<br />
lehrt, geht der Frage nach, wie neuere Entwicklungen in der<br />
Logik, besonders der Modallogik (der Logik von Möglichkeit<br />
und Notwendigkeit), <strong>für</strong> die Sozialwissenschaften fruchtbar<br />
gemacht werden können. Diese Frage mag zunächst nicht sehr<br />
spannend klingen, bei näherem Hinsehen aber enthüllt sich<br />
sein Buch als eine Vorratskammer interessanter Ideen und<br />
weiterweisender Erkenntnisse <strong>für</strong> alle sozialwissenschaftlichen<br />
Bereiche, denn jede <strong>Theorie</strong> "wohnt in der Möglichkeit"<br />
(78), d.h. beschreibt nicht nur Realität, sondern macht<br />
oder impliziert Aussagen über Mögliches und Unmögliches.<br />
Nach einer kurzen Darstellung der formalen Logik und deren<br />
Erweiterung in der Modallogik im 1. Kapitel belegt Elster<br />
die konstitutive Rolle des Möglichkeitsbegriffs <strong>für</strong> sozialwissenschaftliche<br />
<strong>Theorie</strong>n und Analysen an ganz unterschiedlichen<br />
Beispielen aus Soziologie, Linguistik, Anthropologie<br />
und Ökonomie (Kap. 2). Welche heuristische Kraft<br />
eine modallogische Formalisierung haben kann, demonstriert<br />
er im 3. Kapitel an dem Begriff der "politischen Möglichkeit".<br />
In diesen Passagen wird, unabhängig von den einzel-<br />
DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83
56 Philosophie<br />
nen Resultaten, die gesondert zu diskutieren wären, deutlich,<br />
daß jede sozialwissenschaftliche Analyse von einer<br />
modallogischen Fassung des Möglichkeitsbegriffs nur gewinnen<br />
kann, sei es an Klarheit über verborgene Konsequenzen<br />
(vgl. das Beispiel über Samuelsons Berechnung des realen<br />
Nationaleinkommens 67ff.), sei es die Einsicht in neue Fragen<br />
(z.B. 91 oder 99ff.).<br />
Den Kern des Buches bildet eine Untersuchung über geistige<br />
und soziale Widersprüche. Seit Poppers Kritik der<br />
Dialektik postulieren viele Wissenschaftstheoretiker (auch<br />
Sozialwissenschaftler beten diesen Glaubenssatz nach), von<br />
realen Widersprüchen könne nicht sinnvoll geredet werden.<br />
Gegen diese Tradition insistiert Elster darauf, es gebe<br />
"Situationen in der Realität, die nur mittels des Begriffs<br />
von einem logischen Widerspruch beschrieben werden können"<br />
(116). Von denjenigen, die den Begriff des Widerspruchs -<br />
gar des "dialektischen" - auf jedweden Streit, Konflikt<br />
oder Gegensatz anwenden, unterscheidet er sich durch seine<br />
präzise modallogische Analyse des Begriffs. Neben widersprüchlichen<br />
Wünschen und Überzeugungen, die er als geistige<br />
Widersprüche im 4. Kapitel anhand von Hegel (Widerspruch<br />
von Herr und Knecht), Hintikka und Festinger (Analyse des<br />
kognitiven Widerspruchs) behandelt, analysiert Elster im 5.<br />
Kapitel verschiedene Spielarten sozialer Widersprüche, so<br />
den zwischen individueller Intention und kollektivem Resultat<br />
(Kontrafinalität) und den zwischen dem Möglichen und<br />
dem Tatsächlichen (Suboptimalität). Eingebettet in diese<br />
Analysen untersucht Elster zugleich die Strukturen einiger<br />
Fehlschlüsse, die sich sowohl im Alltag als auch in den Sozialwissenschaften<br />
zeigen (Kompositionsfehlschluß, "strukturalistischer"<br />
Fehlschluß u.a.). Auch in diesen Kapiteln<br />
belegt er seine Interpretationen durch zahlreiche Beispiele,<br />
auch aus der marxistischen <strong>Theorie</strong>tradition (vgl. die<br />
Kritik an Marxens Erklärung des tendenziellen Falls der<br />
Profitrate 180ff.). Obwohl - wie Elster selbst im Vorwort<br />
schreibt - seine Untersuchung des Widerspruchsbegriffs noch<br />
leere Stellen aufweist (etwa im Zusammenhang von individuellen<br />
und sozialen Widersprüchen, vgl. 10) und weder zu<br />
einer systematischen <strong>Theorie</strong> zusammenfügt (vgl. 26) noch<br />
hinreichend mit einer <strong>Theorie</strong> von Veränderungsprozessen<br />
verknüpft ist (zu Elsters Intention vgl. 110 und 116; hier<br />
wäre ein Anschluß an das, was Marx als "Verlaufsform" von<br />
Widersprüchen bezeichnet hat, möglich), halte ich die Kapitel<br />
über geistige und soziale Widersprüche <strong>für</strong> so wichtig,<br />
daß ich sie jedem/r zur Lektüre und zum Weiterdenken empfehle,<br />
der/die den Begriff des Widerspruchs in sozialwissenschaftlichen<br />
Analysen nicht aufgeben will.<br />
Im letzten Kapitel behandelt Elster die Rolle irrealer<br />
Konditionalsätze in der Geschichtswissenschaft. Mit Recht<br />
weist er auf die Bedeutung von Aussagen des Typs "Wenn p<br />
der Fall gewesen wäre, wäre q der Fall gewesen" hin, die<br />
jeder Historiker implizit oder explizit benutzt, um histo-<br />
DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83
Dialektik, Logik und Sozialwissensahaften 57<br />
rische Ereignisse im Lichte anderer Möglichkeiten zu sehen.<br />
Elster macht deutlich, daß solche kontrafaktischen Behauptungen<br />
nie "<strong>für</strong> sich" gesehen werden dürfen, sondern theorieabhängig<br />
sind. Irreale Konditionalsätze sind vor allem<br />
von angelsächsischen Wissenschaftstheoretikern und Philosophen<br />
diskutiert worden; im Rahmen dieser Diskussion (275ff.)<br />
bewegt sich Elsters Analyse, in der er mit einleuchtenden<br />
<strong>Argument</strong>en eine metalinguistische <strong>Theorie</strong> der Gültigkeitsbedingungen<br />
kontrafaktischer Aussagen (276) entwickelt und<br />
in der Auseinandersetzung mit historischen Analysen (u.a.<br />
über die Rolle der Eisenbahnen <strong>für</strong> das Wirtschaftswachstum<br />
der USA im 19. Jahrhundert und über die Sklaverei in den<br />
Südstaaten) präzisiert. Auch hier gewinnt er seine Erkenntnisse<br />
ex negativo, durch den Aufweis der Probleme und Zirkelschlüsse,<br />
die bei unzulässigem Gebrauch irrealer Konditionalsätze<br />
entstehen und die die Folgerungen, die aus diesen<br />
Aussagen gezogen werden, ungültig machen.<br />
Elsters sorgfältiger, doch unbefangener Umgang mit theoretischen<br />
Traditionen erscheint mit besonders angesichts<br />
des hierzulande noch üblichen Schwankens zwischen modischer<br />
Beliebigkeit und verbissenen Beharrens sympathisch und<br />
nachahmenswert. Wilfried Kunstmann (Marl)<br />
Kocyba, Hermann: Widerspruch und <strong>Theorie</strong>struktur. Zur Darstellungsmethode<br />
im Marxschen 'Kapitel'. Materialis Verlag,<br />
Frankfurt/M. 1979 (219 S., br.)<br />
Die herausragende Rolle, die dem Begriff des Widerspruchs<br />
in der begrifflichen Architektonik der Marxschen<br />
Kritik der politischen Ökonomie zukommt, schien Generationen<br />
von Marx-Interpreten kennzeichnend <strong>für</strong> die - in <strong>kritische</strong>r<br />
oder apologetischer Absicht konstatierte - methodologische<br />
Abhängigkeit der Marxschen Gesellschaftstheorie von<br />
der Hegeischen Dialektik. Ob es sich jedoch tatsächlich um<br />
eine gemeinsame diskursive Matrix beider Autoren handelt<br />
oder vielmehr bloß um metaphorische Ähnlichkeiten, terminologische<br />
Anleihen, Anspielungen oder gar parodlstische Wiederholungen,<br />
blieb dennoch umstritten. Schon Marx' eigene<br />
Äußerungen zu dieser Frage sind von bemerkenswerter Ambiguität;<br />
die Stichworte 'Umstülpen' beziehungsweise 'Kokettieren'<br />
mit der Hegeischen Dialektik weisen kaum in dieselbe<br />
Richtung.<br />
Gegen die verschiedenen Varianten des zumal im 'westlichen'<br />
Marxismus dominierenden "residualhegelianischen Deutungsparadigmas"<br />
(10) führt Kocyba anhand einer Untersuchung<br />
der darstellungsorganisierenden Funktionen und der<br />
Bedeutungsfelder des Widerspruchsbegriffs im 'Kapital' den<br />
Nachweis, daß eine von Hegel entlehnte Begrifflichkeit sich<br />
zwar <strong>für</strong> zahlreiche Passagen belegen läßt, daß aber in den<br />
hegelianisierenden Interpretationsansätzen nicht hinreichend<br />
berücksichtigt wird, "ob sich bestimmte spekulative<br />
Figuren der Hegeischen Dialektik überhaupt von ihren idealistischen<br />
Prämissen ablösen und in ein materialistisches<br />
DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83
58 Philosophie<br />
<strong>Theorie</strong>programm eingliedern lassen" (30). Versteht man etwa<br />
die Warenanalyse zu Beginn des 1 Kapital ' als eine Art semantische<br />
Interpretation der wesenslogischen Reflexionsbestimmungen<br />
Identität und Differenz, so darf man doch nicht<br />
Ubersehen, daß der Struktur der wesentlichen Identität -<br />
die ja kein Produkt 'äußerer Reflexion' Uber einen der Reflexion<br />
äußerlichen Gegenstand sein soll - eine Figur der<br />
selbstreferentiellen Prädikation zugrunde liegt, die Henrich<br />
unter dem Titel 'autonome Negation' als konstruktiven<br />
Grundgedanken des diskursiven Aufbaus der Hegeischen Logik<br />
aufgewiesen hat. Einer materialistischen <strong>Theorie</strong> dürfte es<br />
kaum erlaubt sein, das Gefälle zwischen der Darstellung eines<br />
Sachverhalts und dem Sachverhalt seiner Darstellung systematisch<br />
zu nivellieren.<br />
Eine ausführliche Durchsicht der Verwendungsweisen und<br />
Bedeutungskontexte des Widerspruchsbegriffs im 'Kapital'<br />
führt Kocyba zu der weiterreichenden These, daß es sich<br />
beim Gang der Marxschen Darstellung "nicht um eine eindimensionale<br />
Ausdifferenzierung eines einheitlichen,ursprünglichen<br />
Widerspruchsverhältnisses (handelt), das sich in immer<br />
entwickeltere, komplexere Widerspruchsverhältnisse vervielfacht.<br />
Die Knotenlinie der <strong>Argument</strong>ation folgt ebensowenig<br />
einem dialektischen Entwicklungsschema als einem in<br />
sich zurücklaufenden Kreis von Kreisen" (146f.).<br />
Angesichts der Unmöglichkeit, den Widerspruchsbegriff<br />
als durchgängiges dialektisches Prinzip der begrifflichen<br />
Entwicklung zu charakterisieren oder einen homogenen Bedeutungskern<br />
des Widerspruchsbegriffs zu isolieren, kann von<br />
'der' dialektischen Methode des 'Kapital' nicht mehr die<br />
Rede sein. In seiner sehr erhellenden Klassifikation der<br />
Funktionstypen des Widerspruchsbegriffs (51ff.) zeigt Kocyba,<br />
daß sich die Marxsche Rede von 'Widersprüchen', 'Gegensätzen'<br />
oder 'Antagonismen' mit einer einfachen Disjunktion<br />
zwischen logischen Widersprüchen (die im Kontext der Kritik)<br />
konkurrierender ökonomischer <strong>Theorie</strong> eine Rolle spielen)<br />
und nicht-logischen, deskriptiven Widersprüchen (bei<br />
denen es sich nicht darum handelt, einem grammatischen Subjekt<br />
ein Prädikat gleichzeitig zu-und abzusprechen, sondern<br />
einem Subjekt zwei Prädikate zuzuordnen, mit denen Ursachen<br />
bezeichnet werden, deren Wirkungen sich wechselseitig neutralisieren)<br />
nicht erschöpfend erfassen läßt. Vielmehr ist<br />
bei den nicht-logischen Widersprüchen noch zu unterscheiden<br />
zwischen ihrer darstellungsorganisierenden Funktion im Gang<br />
der Marxschen <strong>Argument</strong>ation einerseits und ihrer Funktion<br />
bei der Beschreibung von Wirkungszusammenhängen in der<br />
Struktur des untersuchten Gegenstandes andererseits.<br />
Als Darstellungskategorie ergeben sich diese Widersprüche<br />
aus einer fehlenden oder mangelhaften Einsicht in den<br />
Zusammenhang zwischen den verschiedenen Strukturniveaus der<br />
begrifflichen Totalität; sei es, weil diese Einsicht bei<br />
dem erreichten Explikationsstand noch gar nicht möglich ist<br />
(so daß 'unmittelbare Produktion' und 'Zirkulation' in 'Wi-<br />
DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83
Dialektik, Logik und Sozialwissensahaften<br />
derspruch' zu geraten scheinen); sei es, weil Vermittlungsschritte<br />
ausgeblendet werden (wie beim 'Widerspruch' zwischen<br />
dem Wertgesetz und seinen Durchsetzungsformen) oder<br />
sich der Perzeption der Subjekte im gesellschaftlichen Feld<br />
aufgrund ihrer Position in diesem notwendig entziehen.<br />
Als Wirkungszusammenhang beschreibt der nicht-logische<br />
Widerspruchsbegriff die Effekte der Überlagerung verschiedener<br />
Teilstrukturen in der Gesamtstruktur - Prozesse, die<br />
sich wechselseitig verstärken, durchkreuzen oder blockieren<br />
können -, sowie die systematische Produktion unbeabsichtigter<br />
Nebenfolgen (hierher gehört der tendenzielle Fall der<br />
Profitrate, aber auch der 'Widerspruch' zwischen Produktivkräften<br />
und Produktionsverhältnissen; letzterer ist ein<br />
'Uberdeterminierter' Effekt innerhalb einer komplexen Gesamtstruktur<br />
und nicht etwa jener einfache 'Keim', aus dem<br />
alle weiteren Widerspruche 'dialektisch ableitbar' wären).<br />
Im dritten Teil seiner Arbeit diskutiert Kocyba einige<br />
der Konsequenzen, die sich aus dem Verzicht auf einen einheitlichen<br />
Widerspruchsbegriff und ein hegelianisches Interpretationsmodell<br />
fUr die Deutung des konzeptuellen Aufbaus<br />
des 'Kapital' ergeben. Die Abfolge der ökonomischen<br />
Formen in der theoretischen Darstellung beschreibt keine<br />
zeitliche, kausale oder deduktive Relation zwischen diesen<br />
Formen. Die Gesetze der kapitalistischen Produktionsweise<br />
und zumal das 'Wertgesetz' sind nicht nach dem Muster deduktiv-nomologischer<br />
Erklärungen zu begreifen: <strong>Das</strong> Wertgesetz<br />
realisiert sich als Verteilungsgesetz der gesellschaftlichen<br />
Arbeit auf die einzelnen Produktionszweige,<br />
ohne damit fUr den Einzelfall definitive Prozeßverläufe<br />
festzulegen. Es handelt sich um ein 'negatives Koexistenzgesetz'<br />
analog dem 'Pauli-Verbot' in der Atomphysik, das<br />
die Anzahl gleichzeitig möglicher Zustände eines Systems<br />
einschränkt. <strong>Das</strong> Wertgesetz ist diejenige Uberdeterminierende<br />
Regulationsinstanz, die den Bewegungsspielraum der<br />
relativ autonomen Teilstrukturen limitiert und so die innere<br />
Einheit der komplexen Gesamtstruktur geltend macht. Marx<br />
stutzt sich also, so Kocyba, auf einen Gesetzesbegriff ähnlich<br />
dem der strukturalen Linguistik, der regional spezifizierte<br />
Wirkungszusammenhänge innerhalb eines geordneten RelationsgefUges<br />
beschreibt.<br />
Hier wie auch in den abschließenden ideologietheoretischen<br />
Bemerkungen stützt sich Kocybas Rekonstruktion der<br />
Marxschen Darstellungsweise auf die Interpretation Althussers.<br />
Dessen Ideologiekonzept zeichnet "die Umrisse einer<br />
<strong>Theorie</strong> des Überbaus (...), die diesen nicht auf einen mechanischen<br />
Reflex der ökonomischen Basis reduzieren (will),<br />
ohne umgekehrt 'Gesellschaftstheorie als Erkenntniskritik',<br />
das heißt als philosophische <strong>Theorie</strong> verkehrter Subjektivität<br />
zu betreiben" (187). Ideologien leisten vor allem eine<br />
praktisch wirksame Organisation der Alltagsvorstellungen<br />
der Akteure, indem sie deren Handlungshorizont strukturieren<br />
und Perspektiven normativer Urteile bereitstellen. Alt-<br />
59<br />
DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83
60 Philosophie<br />
hussers Konzeption verstrickt sich dabei freilich in Schwierigkeiten,<br />
die mit dem in Anspruch genommenen Begriff des<br />
'Imaginären' und der 'Anrufung des Subjekts' zusammenhängen.<br />
Derartige Einwände machen allerdings Kocyba zufolge<br />
die Althussersche Problemstellung noch nicht obsolet.<br />
Horst Brühmann (Frankfurt/M.)<br />
Holz, Hans Heinz: Natur und Gehalt spekulativer Sätze.<br />
Pahl-Rugenstein Verlag, Köln 1980 (47 S., br.) zit. I<br />
Holz, Hans Heinz (Hrsg.): Formbestimmheiten von Sein und<br />
Denken. Aspekte einer dialektischen Logik bei Josef König.<br />
Pahl-Rugenstein Verlag, Köln 1982 (117 S., br.) zit. II<br />
Beide Arbeiten sind einem Projekt gewidmet, das Holz<br />
seit den fünfziger Jahren immer wieder in den Mittelpunkt<br />
seines Interesses gerückt hat: die mit der "Grundfrage"<br />
nach dem Verhältnis von Sein und Bewußtsein aufgegebenen<br />
metaphysischen und ontologischen Konsequenzen <strong>für</strong> die Philosophie<br />
aufzuzeigen und den Problembestand der Tradition<br />
in einer <strong>Theorie</strong> der Dialektik, in einem "dialektisch-materialistischen<br />
Begriff von Spekulation" (II, 98) zu reformulieren.<br />
Die nun publizierten Überlegungen deuten die Grundlinien<br />
einer dialektischen Logik an. <strong>Das</strong> vergleichsweise<br />
wenig beachtete Werk Königs bietet bei diesem Projekt einen<br />
unverzichtbaren Ausgangspunkt, da König bereits in seiner<br />
Schrift "Sein und Denken" (1937) den Möglichkeiten einer,<br />
wie er selbst erklärte, "noch nicht vorhandenen Logik", von<br />
der die mathematische Logik nur ein Teil sein würde, nachgegangen<br />
war. Unter der Maxime einer - Hegelsch-verstandenen<br />
- Aufhebung des transzendentalphilosophischen Programms<br />
versucht Holz das von Kant verhängte Verdikt über die ontologische<br />
Fassung der "Grundfrage" außer Kraft zu setzen,<br />
indem die bis auf Parmenides zurückgehende These der Selbigkeit<br />
von Sein und Denken ihrerseits als synthetisches<br />
Urteil a priori ausgewiesen wird. Als wertvolle Hilfe zur<br />
Lösung dieser Problemstellung dienen die Untersuchungen Königs,<br />
anhand derer die Relativität der Trennung von Denken<br />
und Sein, die Immanenz des Seins im Denken demonstriert<br />
wird. "<strong>Das</strong> heißt nun aber nicht einfach, daß das Sein bloß<br />
Produkt des Denkens ist - nur eben dies, daß 'sein' nicht<br />
ohne das Denken herauskommt: im Denken erscheint erst rein<br />
- und nicht am Seienden - das Sein" (I, 14). Einige pointierte<br />
Exkurse zu Schelling, Leibniz, Spinoza und insbesondere<br />
Hegel untermauern das Votum <strong>für</strong> eine ontologische Formulierung<br />
der Frage nach der adaequatio intellectus ad rem.<br />
Holz' Deutung zufolge ist es Hegel, der mit der Identifikation<br />
von Logik und Ontologie und mit dem der "Logik"<br />
zugrundeliegenden Methodenbegriff die Kantsche Forderung<br />
nach der Begründung synthetischer Urteile a priori einzulösen<br />
unternimmt. Die von Kant übernommene Hypothek wird abgetragen<br />
durch eingehende Beschäftigung mit der "Natur des<br />
spekulativen Satzes" (I, 28), in dem bereits nach Hegel das<br />
Medium philosophischer Wahrheit zu erblicken ist. Spekula-<br />
DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83
Dialektik, Logik und Sozialwissensahaften<br />
tive Sätze als "'Spiegel'-Sätze" (I, 38) lassen das Denken<br />
seines Charakters als einer Seiendes reflektierenden Substanz<br />
(=Spiegel) innewerden. Sie sind "solche, die nicht<br />
nur (wie alle Erkenntnis) Spiegelung sind, sondern das Denken<br />
als Widerspiegelung erkennen lassen und so die Behauptung,<br />
alles Erkennen sei Widerspiegelung, erst zu begründen<br />
erlauben" (I, 38). Derart verstandenes spekulatives Denken,<br />
das Holz nachdrücklich von Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie<br />
abhebt (vgl. I, 21), übernimmt zugleich die fundierende<br />
Rolle <strong>für</strong> ein Kategorien- und Relationssystem materialistischer<br />
Dialektik als einer "<strong>kritische</strong>n Metatheorie"<br />
(I, 30), die die Konstruktionsprinzipien einer "Wissenschaft<br />
des Gesamtzusammenhangs" (Engels) bereitstellen<br />
soll. Die damit verbundenen Probleme einer adäquaten Lokalisierung<br />
dieser Metatheorie werden leider nur gestreift,<br />
so daß jene materialistisch revidierte spekulative Vernunft<br />
vorerst in einer Art Niemandsland verbleibt.<br />
Die mit der Forderung nach einem prozessualen, als Einheit<br />
des Entgegengesetzten gefaßten Totalitätsbegriff eröffneten<br />
Möglichkeiten, den Begriff der Veränderung (dem an<br />
anderer Stelle Überlegungen zum Begriff der Bewegung (vgl.<br />
II, 93f.) und des Anfangs bzw. Eintritts (R. Winter: Zur<br />
Frage der Lokalisierbarkeit, 54ff.) zur Seite gestellt werden)<br />
nicht als additive Gesamtheit von Einzelzuständen,<br />
sondern als ein die vorausgegangenen Zustände von ihrem jeweils<br />
letzten her übergreifendes Verhältnis darzustellen<br />
(vgl. II, 16), verweist exemplarisch auf die eingangs angedeutete<br />
Aufgabenstellung der mit König anvisierten spekulativen<br />
Logik. Als "Grunddisziplin der Philosophie" (König)<br />
soll sie die Selbstbegrenzung der formalen Logik auf die<br />
Darstellung reiner Reflexionsbeziehungen überwinden und zu<br />
einer auf der "Grundfrage" aufbauenden begrifflichen Systematik<br />
finden, die die Differenz von Sein und Denken nicht<br />
- wie die Reduktionsschritte der Tradition - nivelliert,<br />
sondern als spekulatives Verhältnis im Sinne der Selbigkeit<br />
von Denken und Sein im Unterschied erschließen hilft (vgl.<br />
II, 19). Die versuchte Ausleuchtung des Problemfeldes einer<br />
dialektisch-spekulativen Logik und die Lozierung der "Grundfrage"<br />
in einer erklärtermaßen philosophischen Reflexion<br />
weiß sich in der Tradition des von Ernst Bloch mitformulierten<br />
Programms. Die Seltenheit der expliziten Hinweise<br />
auf sein Werk - wesentlich häufiger sind Bezugnahmen auf<br />
die Gewährsleute der Phänomenologie - mag viele Gründe haben.<br />
Der wichtigste dürfte sein, daß die etablierte Bloch-<br />
Rezeption eine Auseinandersetzung auf dem von Holz erreichten<br />
Niveau erschwert. <strong>Das</strong> Verschweigen gilt weniger dem<br />
Theoretiker Bloch, dem Holz eine überaus kenntnisreiche Monographie<br />
gewidmet hat, als der freiwillig-unfreiwilligen<br />
Leitfigur einer allzu gefälligen, sich selbst genügenden<br />
Auffassung von marxistischer <strong>Theorie</strong>.<br />
Die an zentraler Stelle stets wiederkehrende Rede vom<br />
Spiegel (vgl. besonders K. Peters: Sehen wir im Spiegel das<br />
61<br />
64 ' DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83
62 Philosophie<br />
Ding selbst? II, 41ff.) will demonstrieren, wie die im Denken<br />
des gegenständlichen Seins vorausgesetzte allgemeine<br />
Bestimmung von Sein als 'Sein'-Denken die Ebene abgibt, auf<br />
der sich das jeweils besondere Denken von Sein (Sein-Denken<br />
bzw. das Denken eines bestimmten Seienden) spiegelt (vgl.<br />
II, 23f. und G. Hoppe: Bemerkungen zum Seinsbegriff, ebd.,<br />
67ff., sowie D. Pätzold, Seinsmetaphysik und Substanzmetaphysik,<br />
ebd., 83ff. ). Wie der Spiegel, der nur (d.h. als<br />
conditio sine qua non) durch den Akt des Spiegeins wird,<br />
was er ist, nämlich: Spiegel, "so entspringt das 'Sein'-<br />
Denken nur, indem es ein Anderes, das Denken von Seièndem,<br />
enthält" (II, 24). Die spekulative Logik expliziert dieses<br />
in den Vorgang des Denkens als stillschweigende Voraussetzung<br />
immer schon eingegangene Verhältnis. Deutlich wird<br />
dieses Bemühen bei der wiederum mit Blick auf König vorgenommenen<br />
Differenzierung der Eigenart praktischer und theoretischer<br />
Sätze nicht als verschiedener (diversa), sondern<br />
als unterschiedenere (differentia). Der Aufweis der SpiegelbildlijChkeit<br />
dieses Verhältnisses, das nach der Vermutung<br />
von Holz in sich alle dialektischen Formbestimmtheiten<br />
des Widerspiegelungsverhältnisses enthält (vgl. II, 100),<br />
erklärt, inwiefern die an sich korrekte Erkenntnis des Unterschieds<br />
als eines Selbstunterschieds praktischer Sätze<br />
noch keine hinreichende Begründung <strong>für</strong> die weiterführende<br />
Annahme bietet, praktische Sätze bürgten auch <strong>für</strong> eine höhere<br />
erkenntnistheoretische Dignität als theoretische (vgl.<br />
II, 33). Ein solcher Sprung bedarf, wie Holz weiß, noch der<br />
Legitimation. Thesenhaft bleibt daher die durch schlichte<br />
Konjunktion vorgenommene Gleichsetzung dieser Einsicht mit<br />
der verallgemeinernden Formel: "Praxis ist das übergreifende<br />
Allgemeine ihrer selbst und ihres Gegenteils, der <strong>Theorie</strong>"<br />
(II, 39), deren Anschaulichkeit auf einer Äquivokation<br />
beruht, die sich aus der Analogisierung des Verhältnisses<br />
von <strong>Theorie</strong> und Praxis mit der Beziehung zwischen theoretischen<br />
und praktischen Sätzen ergibt.<br />
Nicht allein die Asymmetrie dieses Verhältnisses, noch<br />
der bei einem Marxisten überraschend traditionale Zugriff<br />
sind es, die abschließend zur Formulierung einiger Fragen<br />
veranlassen, sondern in erster Linie der bei aller grundsätzlichen<br />
Korrektheit und Solidität doch recht geringe<br />
operative Radius des Entwurfs, der sich damit der ständigen<br />
Gefahr einer Hypostasierung der dialektischen <strong>Theorie</strong> aussetzt.<br />
Es sei hier, ohne zu verkennen, daß das Projekt sich<br />
noch in statu nascendi befindet, nachdrücklich auf die abwägenden<br />
Erörterungen von Ripalda (vgl. Arg. 128) zu diesem<br />
Punkt verwiesen. Angesichts der Häufigkeit, mit der im<br />
Marxschen Werk von "Formbestimmtheiten" (-bestimmungen) die<br />
Rede ist, hätte man sich auch eine stärkere Berücksichtigung<br />
dieses Sachverhalts gewünscht.<br />
Ralf Konersmann und Peter Körte (Münster)<br />
DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83
Dialektik, Logik und Sozialwissensahaften 63<br />
Börger, Egon u.a. (Hrsg.): Zur Philosophie der mathematischen<br />
Erkenntnis. Verlag Königshausen und Neumann, Würzburg<br />
1980 (159 S., br.)<br />
Philosophie der Mathematik, traditionell Feld der Auseinandersetzung<br />
von formalistischen, logizistischen, konstruktivistischen,<br />
... Begründungsstrategien, hat es schwer:<br />
Philosophen, wenn sie nicht gleichzeitig mathematisch ausgebildet<br />
sind, tun sich schwer, die weithin hochâbstraktmathematische<br />
"Grundlagendiskussion" zu verstehen; Mathematiker<br />
wiederum sind an den in ihren Augen mathematik-fremden<br />
Erörterungen kaum interessiert. So ist es wenig verwunderlich,<br />
daß heutzutage die Grundlagentheoretiker eine von<br />
Philosophen kaum verstandene und von Mathematikern zumeist<br />
belächelte Elfenbeinturmexistenz führen.<br />
Mit diesem Zustand zu brechen, setzte sich das in diesem<br />
Band dokumentierte Münsteraner Kolloquium zum Ziel; in den<br />
Beiträgen soll deutlich werden, "daß eine den grundlegend<br />
neuen Ergebnissen und Methoden der Mathematik der letzten<br />
hundert Jahre gerecht werdende philosophische Diskussion<br />
wieder das zum Ausgangspunkt und Leitfaden ihrer Erörterungen<br />
machen muß, was schon in der Antike den Griechen als<br />
Hauptproblem mathematisch-philosophischer Grundlagendiskussion<br />
galt, nämlich die Frage nach den erkenntnistheoretischen<br />
und metaphysischen Voraussetzungen der Anwendbarkeit<br />
mathematischer Erkenntnisse und Denkprozesse auf die Wirklichkeit"<br />
(9). Wie dieser Anspruch in dem vorliegenden Band<br />
eingelöst wurde, soll an zwei der insgesamt acht Beiträge<br />
verdeutlicht werden.<br />
Hans Georg Carstens nimmt angesichts der wachsenden<br />
Nichtbeachtung der klassischen Grundlagendiskussion gerade<br />
durch jüngere Mathematiker die Erfahrungen, die bei mathematischer<br />
Betätigung zu gewinnen sind, zum Ausgangspunkt<br />
seiner Erörterungen. In einer morphologischen Diskussion<br />
weist er nach, daß das formalistische Modell (die Deduktion<br />
aus Axiomen gemäß zugelassener Regeln, Schemata und Operationen),<br />
indem es so wichtige Aspekte wie die "Überlegungen,<br />
die zu den Axiomen geführt haben, ... die beweisleitenden<br />
Intuitionen ... und schließlich ... das Kriterium,<br />
das bedeutungsloses von bedeutungsvollem Zeichenmaterial<br />
scheidet" (60), außer acht läßt, und auch die mathematische<br />
Tätigkeit, die ja eine rein formale Herleitung erst dann<br />
als Beweis akzeptiert, "wenn ihre <strong>Argument</strong>ationsstruktur<br />
inhaltlich analysiert und verstanden ist" (60), nicht vollständig<br />
zu beschreiben vermag, nur sekundäre Aspekte mathematischen<br />
Tuns erfaßt. Die wesentliche mathematische Leistung<br />
liegt <strong>für</strong> Carstens im "Aufbau der Morphologie und im<br />
Herausarbeiten der beweisleitenden Ideen" (61), und damit<br />
in der Einsicht in die Struktur eines Kalküls zugrundeliegenden<br />
Morphologie. "Solche Einsichten werden vom Kalkül<br />
nur herausgefordert, aber nicht bewirkt. Erst das Auffinden<br />
der Gültigkeitsgründe in der Morphologie macht aus Hergeleitetem<br />
ein Theorem. <strong>Das</strong> ist aber nicht Sache des Kalküls"<br />
64 ' DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83
64 Sprach- und Literaturwissenschaft<br />
Die bei Carstens in den Vordergrund tretende mathematische<br />
Tätigkeit ist auch Gegenstand des Beitragés von Elmar<br />
Cohors-Fresenborg. Er zeigt auf, daß der oftmals kompliziert<br />
anmutende, "normale" Umgang mit Funktionen "ohne Verzicht<br />
an Leistungsfähigkeit in eine an einfachen 1 Rechen'-<br />
Handlungen orientierte Sprache" (102) sich übersetzen läßt,<br />
und so das "psychologisch-philosophische Problem, was unter<br />
einem Verständnis der grundlegenden Handlungen zu verstehen"<br />
(102) sei, eröffne. Dabei zeigt der Beitrag Cohors-<br />
Fresenborgs, daß eine solche Fragestellung auf der Grundlage<br />
algorithmischer Überlegungen auch ohne die Vorentscheidung<br />
<strong>für</strong> einen konstruktivistischen Begründungszusammenhang<br />
zu erreichen ist.<br />
Die weiteren Beiträge des Bandes widmen sich u.a. der<br />
Frage "Was ist konstruktive Mathematik?" (eine auch von<br />
Nichtmathematikern nachvollziehbare Grundlegung konstruktiver<br />
Beweisführung durch Peter Päppinghaus), dem "Denken in<br />
Begriffen" (eine Anfrage an den Erkenntnisgehalt unseres<br />
begrifflichen Denkens von Hansjürgen Brämik) oder der Unterscheidung<br />
von "Philosophischer und informationstheoretischer<br />
Erkenntnistheorie" (Friedrich Kaulbach). - In seinem<br />
Bemühen, den interdisziplinären Charakter der Philosophie<br />
der Mathematik wiederherzustellen, kann der Band sowohl von<br />
dem mit der Thematik Vertrauten wie auch vom "Anfänger" mit<br />
Gewinn gelesen werden; die hier angesprochenen Fragen verdienen<br />
jedenfalls eine weitere Diskussion.<br />
Michael Lönz (Münster)<br />
SPRACH- UND LITERATURWISSENSCHAFT<br />
Sprachgeschichte und Sprachsoziologie<br />
Moser, Hans, Hans Wellmann und Norbert Richard Wolf: Geschichte<br />
der deutschen Sprache. Bd. 1: Althochdeutsch-Mittelhochdeutsch.<br />
Von Norbert R. Wolf. Quelle & Meyer Verlag,<br />
Heidelberg 1981 (271 S., br.)<br />
Deutsche Sprachgeschichten wurden nicht oft geschrieben,<br />
da sich in der Fachwissenschaft kaum das Bewußtsein von einem<br />
eigenständigen Gegenstandsbereich entwickeln konnte;<br />
die vorherrschende Historische Grammatik in der Abfolge von<br />
germanischer, althochdeutscher, mittel- und neuhochdeutscher<br />
Grammatik ließ einer Sprachgeschichte kaum etwas übrig.<br />
Seit jedoch die synchrone Sprachdarstellung auch <strong>für</strong><br />
ältere Epochen die Historische Grammatik verdrängt, haben<br />
Sprachgeschichten eine ergänzende Funktion. Die vorliegende<br />
Sprachgeschichte des "Früh- und hochmittelalterlichen<br />
Deutschs" umfaßt den Zeitraum vom Ende des 8. bis Mitte des<br />
14. Jahrhunderts. Neben der Entwicklung der Lautgeschichte,<br />
DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83
Sprachgeschichte und Sprachsoziologie 65<br />
des Sprachsystems, werden Auskünfte über den Wortschatz und<br />
die Gründe <strong>für</strong> einen Wandel im Gebrauch gegeben (institutionelle<br />
Gründe: karolingische Verwaltungspraxis, Schreibschulen,<br />
religiöse Praxis) und, vor allem.<strong>für</strong> das Mittelhochdeutsche<br />
wichtig, über die Herausbildung von Funktiound<br />
Soziolekten (Sprachstil als Abgrenzungsmerkmal). Die<br />
Darstellung ist im allgemeinen sorgfältig gearbeitet und <strong>für</strong><br />
Fachwissenschaftler sicher eine willkommene Zusammenfassung<br />
der in den letzten Jahrzehnten betriebenen Einzelforschung<br />
auf dem Gebiet der Sprachgeschichte. Ich bezweifle nur, daß<br />
die "Studenten der Germanistik" und "Deutschlehrer", an die<br />
der Band sich außerdem wendet (Umschlag), mit der Lektüre<br />
zufrieden sein werden. Allzuvieles wird als bekannt vorausgesetzt<br />
und Studenten, die keine sprachgeschichtlichen Vorkenntnisse<br />
im "Vorneuhochdeutschen" haben, werden sicherlich<br />
nicht einmal wissen, wo sie etwas über die "Weiterentwicklung<br />
der Obstruenten" (20) oder "Bahuvrihizusammensetzungen"<br />
(116) erfragen können. Ärgerlich ist zudem die hohe<br />
Zahl von sinnentstellenden Druckfehlern.<br />
Ulrich Seelbach (Berlin/West)<br />
Sanders, Willy: Sachsensprache, Hansesprache, Plattdeutsch.<br />
Sprachgeschichtliche Grundzüge des Niederdeutschen. Vandenhoeck<br />
und Ruprecht, Göttingen 1982 (237 S., br.)<br />
In "Schloß Gripsholm" schreibt Kurt Tucholsky: "<strong>Das</strong><br />
Plattdeutsche kann alles sein: zart und grob, humorvoll und<br />
herzlich, klar und nüchtern und vor allem, wenn man will,<br />
herrlich besoffen" (I, 3).<br />
Heute ist diese Sprache in ihrer Existenz bedroht. Sanders<br />
beschreibt ihre Entwicklung von der langsamen "Eindeutschung"<br />
der alten Sachsesprache mit Beginn des 9. Jahrhunderts<br />
Uber die sogenannte Hansesprache, die als "internationale"<br />
Schriftsprache im späten 14. und im 15. Jahrhundert<br />
den Höhepunkt in der Geschichte des Niederdeutschen<br />
bildet, bis zu den heutigen plattdeutschen Mundarten, in<br />
denen die eigentliche und ursprungliche Sprache Norddeutschlands<br />
in stetiger Konkurrenz mit der dominierenden hochdeutschen<br />
Schrift- und Standardsprache weiterbesteht. Die<br />
Periodenbezeichnungen "Sachsensprache", "Hansesprache" und<br />
"Plattdeutsch" sind keine sprachwissenschaftlichen Termini.<br />
Sanders verwendet sie als Bezeichnungen, die plakativ das<br />
Wesentliche der Sprachperioden des Niederdeutschen kennzeichnen.<br />
Die linguistischen Fachausdrücke "Alt"-,"Mittel"und<br />
"Neu-Niederdeutsch" haben es nie zu allgemeiner Popularität<br />
gebracht, im Gegensatz zum volkstümlichen "Plattdeutsch"<br />
oder einfach "Platt".<br />
Ein Lieblingsthema der niederdeutschen Sprachwissenschaft<br />
und der Dialektologie ist die Frage, ob das Niederdeutsche<br />
eine eigenständige Sprache oder eher eine Mundart<br />
sei.<br />
Sanders vertritt die Auffassung, daß die Erforschung der<br />
modernen niederdeutschen Mundarten - im Gegensatz zu der<br />
DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83
66 Sprach- und Literaturwissenschaft<br />
des Alt- und Mittelniederdeutschen - keine eigenständige<br />
Disziplin mehr sei, sondern in das Sachgebiet der Dialektologie<br />
falle. <strong>Das</strong> heutige Platt sei nicht mehr einheitlich,<br />
es fehle eine geregelte Rechtschreibung, und weise zudem<br />
ein erhebliches lexikalisches Defizit auf. Nur allzu oft<br />
sei der plattdeutsch Sprechende gezwungen, vor allem beim<br />
Reden Uber intellektuell oder technisch anspruchsvolle<br />
Sachverhalte das Hochdeutsche zu Hilfe zu nehmen.<br />
In den Kapitel 3 und 4 gibt Sanders Informationen über<br />
lautliche Unterschiede zwischen Hoch- und Niederdeutsch,<br />
über die geographische Erstreckung und die mundartliche<br />
Binnengliederung des Niederdeutschen. Sein Hauptanliegen<br />
ist jedoch, die geschichtliche Entwicklung des Niederdeutschen<br />
in ihrer Abhängigkeit von politischen, ökonomischen<br />
und soziokulturellen Bedingungen darzulegen. Für die Ausformung<br />
der altniederdeutschen Sachsensprache macht der Autor<br />
zwei Faktoren geltend: die fränkische Unterwerfung<br />
Sachsens durch Karl den Großen (Sachsenkriege 772-804) und<br />
die damit zusammenhängende Christianisierung der Sachsen.<<br />
Noch deutlicher wird die Verknüpfung mit außersprachlichen<br />
Umständen im Falle der Hansesprache. Ihre Ausbreitung und<br />
ihr Verfall vollziehen sich nach Sanders in derselben zeitlichen<br />
Abfolge wie der Aufstieg und der Untergang der Hanse.<br />
Mit dem Niedergang der hansischen Handelsmacht sei um<br />
1600 die mittelniederdeutsche Schriftsprache durch das<br />
Schrifthochdeutsche abgelöst worden. Den Hauptgrund <strong>für</strong><br />
diese Entwicklung sieht Sanders aber in einer von der gebildeten<br />
Oberschicht gepflegten Sprachmode: "... in dieser<br />
verband sich eine verhängnisvolle Mißachtung des muttersprachlichen<br />
Niederdeutschen mit einer besonderen Wertschätzung<br />
des Hochdeutschen in Form der obersächsisch-meißnischen<br />
Gebildetensprache" (153).<br />
Obwohl die Mundarten insgesamt seit einigen Jahren einen<br />
großen Aufschwung erleben (Mundartdichtung, Mundarttheater<br />
etc.), hat sich nach Sanders das Vorurteil, Plattdeutsch<br />
sei eine minderwertige Sprachform, bis heute gehalten. Immer<br />
mehr plattdeutschsprechende Eltern reden mit ihren Kindern<br />
hochdeutsch, weil sie glauben, daß die Mundart <strong>für</strong> den<br />
schulischen Erfolg und das berufliche Weiterkommen hinderlich<br />
sei - was die soziolinguistische Forschung in der Tat<br />
bestätigt. Sanders meint jedoch, daß dies mehr ein Problem<br />
der Schule als der Familiensprache sei und fordert deshalb<br />
eine angemessene Berücksichtigung des Niederdeutschen im<br />
Deutschunterricht (Projekt "Niederdeutsch in der Schule").<br />
Unter dieser Voraussetzung sollten plattdeutschsprachige<br />
Eltern überdenken, "ob sie im Umgang mit ihren Kindern<br />
nicht doch bei ihrem Platt als Muttersprache bleiben sollten;<br />
denn ein Lehrer hat fraglos weniger Schwierigkeiten,<br />
einem nur Mundart sprechenden Schüler von Grund auf korrektes<br />
Hochdeutsch beizubringen, als die zäh haftenden Fehler<br />
eines zuhause vielleicht falsch erlernten Deutsch nachträglich<br />
zu korrigieren" (217).<br />
DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83
Sprachgeschichte und Sprachsoziologie 67<br />
Die von Sanders im Schlußabschnitt gestellte Frage, was<br />
man <strong>für</strong> das Niederdeutsche in seiner aktuellen Situation<br />
tun könne, erhält die einfache Antwort: Wer kann, soll es<br />
sprechen - mehr sprechen! Und das heiße, "mehr und neue<br />
mundartliche Redesituationen in pragmatischem Sinne zu<br />
schaffen" (226). Beispiele da<strong>für</strong> seien: plattdeutsche Predigt<br />
in der Kirche, Plattdeutsch in der Schule, Plattdeutsch<br />
im Behördenverkehr (mundartkundige Beamte könnten<br />
ein Schild anbringen: "Hier wird Platt gesprochen!") und<br />
Plattdeutsch in den Massenmedien. Dadurch könne eine beachtliche<br />
Aufwertung des Niederdeutschen in der Öffentlichkeit<br />
erreicht werden. Karl Hackstette (Mannheim)<br />
Caudmont, Jean (Hrsg.): Sprachen in Kontakt. Langues en<br />
contact. Verlag Gunter Narr, Tübingen 1982 (383 S., br.)<br />
Der vorliegende Sammelband enthält 19 teils auf Deutsch,<br />
teils auf Französisch geschriebene Beiträge, die sich in<br />
erster Linie mit den Themenbereichen Sprachkontakt und Interferenzen<br />
sowie Zwei- und Mehrsprachigkeit auseinandersetzen.<br />
Die meisten angesprochenen Probleme beziehen sich<br />
auf das Französische und Spanische. So untersuchen Persoons/<br />
Versele den deutsch-französischen Sprachkontakt im Kanton<br />
Malmedy in der Wallonie, Kolde behandelt das Problem der<br />
Mehrsprachigkeit in den Städten Biel und Freiburg, Haensch<br />
gibt einen guten Überblick über das sprachliche Mosaik in<br />
der zentralpyrenäischen Landschaft Ribargorza, "in der die<br />
castellanizaciôn - trotz neuer regionalistischer Strömungen<br />
- ... weiter fortschreiten (wird)" (216).<br />
Allen Beiträgen in diesem Buch, die sich vorwiegend mit<br />
den soziolinguistischen Kategorien Sprachkontakt, Diglossie,<br />
"language maintenance", "language shift", Sprachloyalität<br />
und Sprachentwicklung auseinandersetzen, ist gemeinsam,<br />
daß sie die sprachlichen Prozesse auf soziologische<br />
Kategorien wie technischer Fortschritt, Konsumgesellschaft,<br />
sozio-ökonomische Umschichtung beziehen. Diese Perspektiven<br />
machen das Buch lesenswert, obwohl vom Methodischen her wenig<br />
zu lernen ist. Zum Abschluß sei noch auf den interessanten<br />
Beitrag von Cadiot hingewiesen, der am Beispiel von<br />
frz. "de" und "pour" die Schwierigkeiten der Isolation einer<br />
syntaktischen Variablen aufzeigt. Der funktionale Gebrauch<br />
dieser Variablen in Abhängigkeit vom außersprachlichen<br />
Faktor Stil belegt, daß "die syntaktische Variation<br />
nicht nur ein Phänomen der Oberfläche ist" (116), sondern<br />
in Diskurszusammenhängen, also unter Rückbezug auf die<br />
Pragmatik, untersucht werden muß.<br />
Peter Schlobinski (Berlin/West)<br />
Schläpfer, Robert (Hrsg.): Die viersprachige Schweiz. Benziger<br />
Verlag, Zürich-Köln 1982 (356 S., br.)<br />
Sechs Schweizer Autoren stellen die gegenwärtige Sprachsituation<br />
ihres Landes ausgehend von der historischen Entwicklung<br />
der Sprachregionen dar. In vier Kapiteln wird je-<br />
DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83
68<br />
Sprach- und Literaturwissenschaft<br />
des Spr&chgebiet einzeln behandelt. Ein historisches und<br />
ein kulturpolitisches Rahmenkapitel beschäftigen sich mit<br />
der Entstehung der viersprachigen Schweiz und den Problemen<br />
des Zusammenlebens. Jedes Kapitel wird durch eine ausführliche<br />
Bibliographie ergänzt. - Zur nun schon altehrwürdigen<br />
Diskussion über die "Gräben und Brücken" zwischen den<br />
Sprachgebieten ist dies der erste Beitrag, der sich auf den<br />
sprachlichen Aspekt konzentriert. Die Viersprachigkeit ist<br />
eines der Elemente, die das eidgenössische Selbstverständnis<br />
wesentlich mitbestimmt haben: nicht natürliche Bande,<br />
sondern Idee und Wille halten die Schweiz als Nation zusammen<br />
- so wurde und wird argumentiert. Der "schweizerische<br />
Sprachfrieden" ist jedoch eine schöne Fassade, hinter der<br />
oft genug Unkenntnis, auch Uninteressiertheit an der andern<br />
Sprachregion und Vorurteile gegenüber deren Bewohner stekken.<br />
Situation und Problem der andern Gebiete, sowie die<br />
Probleme, die die Viersprachigkeit an den Staat stellen,<br />
sind der Mehrheit der Schweizer nicht bewußt, und die<br />
Kenntnis der andern Landessprachen steht auf schwachen Beinen.<br />
So können denn die Beziehungen zwischen den verschiedenen<br />
Regionen zusammengefaßt werden im bösen Bonmot: "s'<br />
entendre sans se comprendre" (Verstehen ohne Verständnis).<br />
Solche Zustände möchte Die viersprachige Schweiz beheben<br />
helfen: Solidarität und gegenseitiger Respekt der Sprachregionen<br />
sind nur auf der Grundlage fundierter Kenntnisse<br />
möglich, meint der Herausgeber, Dozent <strong>für</strong> deutsche Philologie<br />
in Basel und Mitarbeiter am Sprachatlas der deutschen<br />
Schweiz. Deshalb soll das Buch "mit der Schilderung der<br />
sprachlichen Situation Grundlagen vermitteln zu einem vertieften<br />
Verständnis des Wesens und der Probleme der verschiedenen<br />
Sprachregionen" (9), wobei "sprachpolitische<br />
Fragen ... eher im Hintergrund bleiben" (9). Die Hervorhebung<br />
der "sprachlichen Situation" kann als Hinweis verstanden<br />
werden: man bleibt nahe an der konkreten sprachlichen<br />
Situation der Vielfalt und versucht sich nicht in allgemeinen,<br />
übergreifenden <strong>Theorie</strong>n und Hypothesen.<br />
Die vier Sprachregionen werden von Linguisten aus den<br />
betreffenden Gebieten vorgestellt. Sie behandeln, soweit<br />
möglich, dieselben Themenkreise und vermitteln einerseits<br />
Sachwissen (z.B. die historische Entwicklung von Mundart<br />
und Standardsprache eines Gebietes), andererseits diskutieren<br />
sie <strong>für</strong> jede Region das Verhältnis von Mundart, Soziolekt<br />
und Standardsprache und deren Verhältnis zum Rest der<br />
Schweiz. Ottavio Lurati (Basel) macht z.B. aufmerksam auf<br />
die Gefahr der fortschreitenden Verdrängung des Italienischen<br />
in der nichtitalienischen Schweiz: die Schwächung der<br />
der italienischen Sprache und Kultur bedeute eine "objektive<br />
Gefährdung des eidgenössischen Zusammenhalts" (219). Und<br />
<strong>für</strong> die deutsche Schweiz betont Walter Haas (Marburg) den<br />
problematischen Charakter der Mundartwelle, die eine Erschwerung<br />
der Kontakte zum Rest der Schweiz und zu Deutschland<br />
bewirken muß. Angesichts dieser Schwierigkeiten drän-<br />
DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83
Sprachgeschichte und Sprachsoziologie<br />
gen sich "radikale Fragen" (110) nach dem Verhältnis von<br />
Mundart und Standardsprache auf.<br />
Während der deskriptiv zusammenfassende Ansatz <strong>für</strong> die<br />
Darstellungen der Sprachgebiete durchaus gewinnbringend<br />
ist, indem sie aufklären Uber Tatsachen und Probleme jeder<br />
Region, vermissen wir im geschichtlichen Rahmen Überlegungen<br />
allgemeiner Art. Gerade im letzten Kapitel Uber die<br />
kulturpolitischen Probleme unserer Zeit, wären Fragpn zum<br />
Sprachpluralismus in der Schweiz von großem Interesse gewesen.<br />
Wie verhalten sich zum Beispiel Nationalbewußtsein und<br />
Viersprachigkeit jenseits grUnderväterischer Ideologie zueinander?<br />
Statt dessen wird hier wieder allzu "konkret" argumentiert.<br />
Zwar lauert das Stichwort Föderalismus ganz<br />
dick zwischen den Zeilen; er wird aber nicht erwähnt, geschweige<br />
denn sein Verhältnis zur Sprache untersucht. So<br />
wird das Buch unter der Hand zum ungewollten aber präzisen<br />
Ausdruck des schweizerischen Föderalismus, durchdrungen vom<br />
Skrupel, dem andern zu nahe zu treten.<br />
69<br />
Barbara Niederer (Paris)<br />
Soeffner, Hans Georg (Hrsg.): Beiträge zu einer empirischen<br />
Sprachsoziologie. Gunter Narr Verlag, Tübingen 1982 (220 S.,<br />
br. )<br />
Der Band versammelt die Uberarbeiteten und erweiterten<br />
Vorträge aus der Sektion 'Sprachsoziologie' beim Bremer Soziologentag<br />
(1980). Der gemeinsame thematische Nenner der<br />
Beiträge ist kommunikatives Handeln, bezogen auf seine situativen<br />
Bedingungen und Resultate. Diskursiv aufgezeichnete<br />
Interaktionseinheiten liegen als 'Rohmaterial' einem<br />
zwar forschungspragmatisch begrenzten aber prinzipiell endlosen<br />
Auslegungsprozeß zugrunde. Die hierbei angewandten<br />
Prozeduren 'qualitativer' Analyse zielen auf die Entschlüsselung<br />
von so etwas wie 'Codes 1 , also von verdeckten, chiffrierten<br />
Motiv- und Relevanzstrukturen, von impliziten<br />
Handlungs-Normen und -Strategien.<br />
Hans Georg Soeffner grenzt in seinen theoretischen 'Prämissen'<br />
wissenschaftliches von nichtwissenschaftlichem Verstehen<br />
ab und liefert beiläufig den 'roten Faden' durch die<br />
anschließenden empirischen Teile: "Texte sind Interaktionsprodukte"<br />
(11) und "Interpretieren ist Sequenzanalyse" (14).<br />
- So zeigt Max Miller am Beispiel einer Kindergruppe die<br />
argumentative Konstruktion von Moral unter Rekurs auf kollektive<br />
Deutungsmuster auf. - Manfred Auwärter und Edith<br />
Kirsch exemplifizieren am kindlichen Handpuppenspiel Regeln<br />
interaktiver Erzeugung von <strong>für</strong> die Teilneher verbindlich<br />
definierten Handlungskontexten. - Ehrhardt Cremers, Jo Reichertz<br />
und Rainer Seidel demonstrieren anhand einer Sequenzanalyse,<br />
wie bestimmte Interaktionsformen innerhalb<br />
vorgegebener Rahmenbedingungen (hier: beim Jugendgerichtsprozeß)<br />
signifikante Kommuni kat i onss törungen verursachen.<br />
- Jörg R. Bergmann interpretiert mit dem Instrumentarium<br />
ethnomethodologischer Konversationsanalyse Schweigephasen<br />
DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83
70 Sprach- und Literaturwissenschaft<br />
im Gespräch (insbesondere die von ihm so genannte 'Redezugvakanz<br />
' ) als konstruktive und konstruierte Elemente kommunikativen<br />
Handelns. - Michael Giesecke präsentiert die<br />
'Normalfallanalyse' als seiner Meinung nach besonders geeignetes<br />
Verfahren zur Untersuchung institutionell geprägter<br />
Interaktionsformen (hier: in speziellen Therapiegruppen),<br />
die, durch ihre spezifischen Erwartungserwartungen,<br />
sich sowohl von alltäglichen als auch von institutionalisierten<br />
Normen- und Relevanzsystemen signifikant unterschieden.<br />
- Kerstin Nagler und Jo Reichertz haben eine Auswahlbibliographie<br />
zu neueren Entwicklungen im Bereich der<br />
empirischen Sprachsoziologie zusammengestellt.<br />
Was in dem Reader versammelt ist, erscheint uns symptomatisch<br />
(wenn auch vielleicht nicht immer exemplarisch) <strong>für</strong><br />
einige - vor allem methodologische - Präferenzen bei der<br />
aktuellen Deskription und Analyse kommunikativen Handelns:<br />
Gefragt ist die 'objektive' Interpretation durch "grundlegende<br />
Distanz zum Leben und Erleben" (35). Gerade weil der<br />
Band von Hans Georg Soeffner mit einem emphatischen" Plädoyer<br />
<strong>für</strong> eine sozialwissenschaftliche Hermeneutik eingeleitet<br />
wird, verführt er dazu, an Odo Marquard, einen der<br />
derzeitigen Großmeister skeptizistischer Hermeneutik, zu<br />
erinnern und an dessen Bemerkungen zur Differenz zwischen<br />
Hermeneutikern und Code-Knackern: die vorliegenden Beiträge<br />
kennzeichnet jene 'Optik des Dechiffrierers', jene Skalpellmentalität<br />
der in den Sozialwissenschaften so aktuellen,<br />
geräteintensiven und transkriptionsbeflissenen Decodierungs-Welle.<br />
Womit auch die Reichweite erkennbar wird,<br />
auf die die Soeffnersche Konzeption einer 'sozialwissenschaftlichen<br />
Hermeneutik' abzielt: sie vereinnahmt so ziemlich<br />
alles, was sich dem sogenannten interpretativen Paradigma<br />
im weiteren Sinne verpflichtet wähnt. Und dazu zählen<br />
eben ^auch und vor allem solche als 'qualitativ' firmierenden<br />
Forschungsansätze, die von der Konversations- und Narrations-Analyse<br />
über die 'objektive Hermeneutik' bis hin zu<br />
Milieudeskriptionen reichen (um nur einige zu nennen). So<br />
bleibt denn resümierend nur zu hoffen, daß die von Soeffner<br />
reklamierte skeptizistische Grundhaltung auch die instrumentelle<br />
Vernunft selber mitzureflektieren geneigt ist.<br />
Sprachtheorie<br />
Anne Honer und Ronald Hitzler (Konstanz)<br />
Coulmas, Florian: Über Schrift. Suhrkamp Verlag, Frankfurt/<br />
M. 1981 (153 S., br.)<br />
Dies ist eines der Bücher, denen man einen barocken Titel<br />
wünscht, in diesem Fall etwa: Bedenkenswertes über die<br />
Schrift als Gegenstand der Sprachwissenschaft, aufgesammelt<br />
bei der Beschäftigung mit Herkunft und Funktionsweise der<br />
DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83
Sprachtheorie<br />
japanischen Schrift und mit der Schriftpolitik der Volksrepublik<br />
China nebst einiger Erörterungen kognitiver und ästhetischer<br />
Vorgänge bei der Verfertigung und Wahrnehmung<br />
von Schriftzeichen und einem Anhang über die Kunst der Kalligraphie.<br />
Wer, dem Titel entsprechend, (alles) Überschrift<br />
erwartet, der wird enttäuscht sein; wer unbestimmt neugierig<br />
ist auf einen Blick hinter den Spiegel der eigenen<br />
Schrift, der kann einige Entdeckungen machen.<br />
<strong>Das</strong> Büchlein verdankt sein Entstehen der Erfahrung der<br />
Illiteralität, die unsereins macht beim Besuch von Ländern<br />
mit nicht-alphabetischen Schriften, wie z.B. China oder Japan.<br />
Die Schrift läßt sich nicht entziffern, der Sinn nicht<br />
zusammenbuchstabieren, wie das beim Niederländischen oder<br />
Italienischen noch gelingen mag aufgrund einer gewissen Familienähnlichkeit<br />
mit der eigenen oder einer bekannten<br />
Fremdsprache und wegen ähnlicher Prinzipien der Verschriftlichung.<br />
Diese Erfahrung der Illiteralität stößt darauf,<br />
daß Schrift Sprachanalyse ist. Fremd ist eine Schrift wie<br />
die japanische nicht nur wegen der sprachtypologischen Unterschiede,<br />
die von der Schrift mit abgebildet werden, sondern<br />
auch wegen der unterschiedlichen Art und Weise, in der<br />
die Schrift die sprachlichen Einheiten auflöst und wegen<br />
der jeweils verschiedenen Strukturebenen, auf denen sie das<br />
tut.<br />
Dieser fremde Blick gibt dem Buch eine einheitliche Perspektive.<br />
Richtet man ihn auf das uns geläufige Verhältnis<br />
von gesprochener und geschriebener Sprache, dann erweist<br />
sich zuerst die traditionelle Annahme, daß Schrift nur Abbild<br />
der Rede sei, als Vorurteil. Um abbilden zu können,<br />
muß die Schrift analysieren (27-32); die Form der Analyse<br />
aber wächst nicht aus der Rede heraus, sondern wird ihr<br />
auferlegt. Die Ansicht, daß Schrift nur Zeichen von Zeichen<br />
sei, grafisches Zeichen eines Lautzeichens, entstand durch<br />
den kurzsichtigen Blick auf die mehr oder weniger phonematisch<br />
analysierenden Schriften unseres Kulturkreises. Und<br />
gleich eine weitere verbreitete Vorstellung wird dem fremden<br />
Blick zum Vorurteil: die von der Vollkommenheit der<br />
Phonemschriften (32-52). Zwar spiegelt die Schriftentwicklung<br />
vom Piktogramm zum Alphabet die zunehmende Abstraktheit<br />
der Sprachanalyse durch die Schrift, aber Abstraktheit<br />
der Analyse kann nicht das einzige Gütekriterium einer<br />
Schrift sein. Schriften analysieren die gesprochene Sprache<br />
nicht als Selbstzweck, sondern in Erfüllung ihrer kommunikativen<br />
und mnemotechnischen Aufgaben.<br />
Als Beispiel <strong>für</strong> äußerst komplexe Verhältnisse bei der<br />
Verschriftlichung läßt sich auch die zunächst beliebig erscheinende<br />
Wahl des Japanischen begründen. Die Übernahme<br />
der chinesischen Schrift <strong>für</strong> das Japanische spiegelt neben<br />
sprachtypologischen Unterschieden (isolierend vs. agglutinierend)<br />
zwei Übernahmestrategien, eine lautbezogene und<br />
eine bedeutungsbezogene. Beide Übernahmeformen können<br />
durchaus dasselbe Schriftzeichen betreffen und führten zu-<br />
71<br />
DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83
72<br />
Sprach- und Literaturwissenschaft<br />
sammçn mit der gleichzeitigen Entlehnung einer Vielzahl von<br />
chinesischen Wörtern, die das Japanische zu einer an Homonymen<br />
reichen Sprache macht, zu Mehrdeutigkeiten auf verschiedenen<br />
Strukturebenen: mit einem übernommenen Zeichen<br />
können sowohl mehrere Bedeutungen als auch mehrere Lautungen<br />
verbunden sein. In dieser Konfusion wurde als Lesehilfe<br />
eine Silbenschrift (Kanamoji) eingeführt, die in verkleinerter<br />
Form neben die übernommenen Zeichen (Kanji) geschrieben<br />
wurde und deren Aussprache anzeigte. Heute gibt<br />
es eine Aufgabenverteilung zwischen beiden Schriftsystemen:<br />
Kanji bezeichnet lexikalische Morpheme, Kanamoji grammatische.<br />
<strong>Das</strong> letztgenannte System hat sich dann nochmals in<br />
zwei parallel gebaute, funktional unterschledne Subsysteme<br />
geteilt, Hiragana <strong>für</strong> die Schreibung grammatischer Affixe<br />
und Katakana <strong>für</strong> die Schreibung nicht-chinesischer Fremdwörter<br />
und Eigennamen, <strong>für</strong> maschinelle Textverarbeitung,<br />
Telegramme und Onomatopoetica. Coulmas hebt hervor (59),<br />
daß die beiden Silbenschriftsysteme nicht nur prinzipiell<br />
durcheinander ersetzbar wären, sondern jedes <strong>für</strong> sich ausreichen<br />
würde, ,das Japanische zu verschriftlichen. Die erwähnten<br />
mehrfachen Aussprachemöglichkeiten der Kanji-Zeichen<br />
lassen bei den Benutzern die graphemische Vermittlung<br />
der Bedeutung gleichwertig neben die phonemische treten.<br />
Dies hat Auswirkungen auf die Sprachwahrnehmung, auf die<br />
Formen, in denen sich aphasische Störungen zeigen, auf die<br />
kognitive Verarbeitung der Schrift und auf ihre Ästhetik<br />
(68ff.). Die Schriftzeichen können ihre ästhetische Wirkung<br />
nicht Uber Laut und Bedeutung, sondern als Zeichen selbst<br />
entfalten. Folgerichtig schließt das Buch - nach einem Abschnitt<br />
Uber retardierende wie innovatorische Einflüsse der<br />
Schrift auf die Sprachentwicklung, in dem u.a. einige Akronyme,<br />
das sind aus Anfangsbuchstaben zusammengesetzte Kurzwörter<br />
wie z.B. Radar oder okay (O.K.) entzaubert werden<br />
(118f.) - mit einem Kapitel Uber Kalligraphie. Kalligraphien<br />
sind zugleich Exemplare nach einem Muster und Unikate,<br />
Schrift und Bild. Sie haben indexikalische, ikonische<br />
und symbolische Eigenschaften. Durch die Art ihrer Ausführung<br />
verweisen sie auf ihren Urheber, seine Einordnung in<br />
die Tradition der Schriftkunst und seine Verfassung zur<br />
Zeit des Schreibens. Durch ihre zugleich malerischen und<br />
sprachlichen Eigenschaften verweisen sie auf zweifache,<br />
sich wechselseitig kommentierende Weise auf ihren Gegenstand.<br />
An Kalligraphien kann Coulmas nochmals verdeutlichen,<br />
daß mit Hilfe der Schrift (und nicht nur der japanischen!)<br />
Bedeutung auf verschiedenen Ebenen verschlüsselt<br />
und rekonstruiert werden kann.<br />
Schreiben ist auch vergegenständlichtes Reden. In der<br />
vergegenständlichten Form des Geschriebenen kann das Sprechen<br />
auf sich selbst zurückblicken, so werden Bauformen und<br />
Funktionsweisen der Sprache bewußt, werden analysiert und<br />
durch die Analyse schon verändert (an diesem Umweg des Erkennens,<br />
der den Gegenstand der Sprache nur in der Diffe-<br />
DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83
Sprachtheorie 73<br />
rënz der Schrift hat, haben sich die Reflexionen Derridas<br />
entwickelt). Zugleich ist Schreiben mehr als vergegenständlichtes<br />
Reden. Es hat seine eigenen Formtraditionen, es<br />
setzt voraus und fördert ganz eigenständige psychische, motorische<br />
und kognitive Leistungen (vgl. hierzu vor allem<br />
die Arbeiten von Egon Weigl). Coulmas' Buch regt an, in<br />
beide Richtungen weiterzulesen. Peter Jaritz (Duisburg)<br />
Droescher, Hans-Michael: Grundlagenstudien zur Linguistik.<br />
Julius Groos Verlag, Heidelberg 1980 (526 S., br.)<br />
Droescher rekonstruiert den Sprachbegriff Wilhelm von<br />
Humboldts und Noam Chomskys. Seine Interpretation Humboldts,<br />
die er selbst als wohlwollend bezeichnet, arbeitet vor allem<br />
die Aktualität seiner Überlegungen <strong>für</strong> eine Grundlegung<br />
der Sprachwissenschaft heraus: Sprache sei <strong>für</strong> Humboldt synonym<br />
mit "sprachlichem Handeln", dessen Ziel Verständigung<br />
ist. Die vieldiskutierte Humboldtsche Behauptung, sprachliches<br />
Handeln gliedere die 'Welt', die keine uns bekannte<br />
vorsprachliche Struktur besitze, liest Droescher als Bestätigung<br />
da<strong>für</strong>, daß es methodisch inkorrekt sei, eine <strong>Theorie</strong><br />
der Bedeutung als Abbildtheorie zu konzipieren (151f.).<br />
Es wird rasch deutlich, daß Droescher den Ausführungen<br />
Chomskys weitaus reservierter gegenübersteht. Die Ausführlichkeit,<br />
mit der Droescher sich mit den sprachtheoretischen<br />
Überlegungen Chomskys beschäftigt hat, mag allerdings<br />
ein Indiz da<strong>für</strong> sein, wie sehr auch er von Chomsky und dessen<br />
in weiten Bereichen der Sprachwissenschaft zur Herrschaft<br />
gelangten Transformationsgrammatik berührt worden<br />
ist: "Es hat den Anschein, als hätte jeder Wissenschaftler,<br />
der sich in anderer Weise um Sprache oder um andere Probleme<br />
kümmert als die 'generative Sprachwissenschaft' dies zumindest<br />
zu rechtfertigen. Meine eigene Arbeit macht das<br />
keine Ausnahme" (Anmerkung 11, 419). Droescher wirft Chomsky<br />
"Ungenauigkeit der Rede" vor und gelangt in Abwandlung<br />
eines Ausspruchs von Wittgenstein zu der Beurteilung: "Kalküle,<br />
experimentelle Methoden und Begriffsverwirrung" (315).<br />
Im Anschluß an Coseriu, Weisgerber u.a. kritisiert er Chomskys<br />
Berufung auf Humboldt. Motiv <strong>für</strong> diese Verbindung sei<br />
hauptsächlich die eigene Aufwertung. - Die auf Exaktheit<br />
und Präzision bedachte generative Sprachwissenschaft erweise<br />
sich in ihren wissenschaftstheoretischen Grundlagen als<br />
unzureichend, ihre Begriffsbildung sei verworren und unpräzise.<br />
Am Ende seines Kapitels über Chomsky zitiert Droescher<br />
zustimmend Lyons, der mit der Möglichkeit rechnet,<br />
"daß Chomskys <strong>Theorie</strong> der Generativen Grammatik eines Tages<br />
von den Linguisten einhellig als bedeutungslos <strong>für</strong> die Beschreibung<br />
von natürlichen Sprachen aufgegeben wird" (344).<br />
In einem abschließenden Kapitel deutet Droescher an, wie<br />
seiner Absicht nach zukünftig Sprachwissenschaft sinnvoll<br />
betrieben werden könnte, wobei er sich auch auf Wittgenstein<br />
und auf Texte stützt, die im weiten Sinn des Wortes<br />
zur 'Pragmatik' gehören. Droescher begreift Wissenschaft<br />
DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83
74<br />
Sprach- und Literaturwissenschaft<br />
als Problemlösungsverhalten, als institutionalisierte Praxis,<br />
"dazu da und da<strong>für</strong> geschaffen, die Lebensverhältnisse<br />
in einer Gruppe von Menschen, die diese Praxis tragen, zu<br />
verbessern zu helfen" (350), und fordert entsprechend <strong>für</strong><br />
die Sprachwissenschaft , Ziel ihrer Forschung müsse die<br />
Darstellung ' und Beurteilung (institutionellen) Sprachhandelns<br />
sein. "Sprachwissenschaft oder Linguistik wären somit<br />
als normative Wissenschaft Teil einer '<strong>kritische</strong>n Kulturwissenschaft'<br />
, der Vorbereitung eines vernünftigen Handelns<br />
der Menschen dienend" (353). Die Grundlage einer derartigen<br />
Sprachwissenschaft sieht Droescher in einer Handlungstheorie<br />
, die sprachliches Handeln als eingebettet in<br />
"nichtsprachlichen Lebensvollzug" begreift. Wie der Zusammenhang<br />
von sprachlichem Handeln und nichtsprachlichem Lebensvollzug,<br />
zwischen Wissenschaft und Praxis konkret zu<br />
verstehen sein soll, bleibt allerdings offen.<br />
Thomas Kornbichler (Berlin/West)<br />
Sprachliche Gestaltung von Mädchen- und Frauenliteratur<br />
Borsch, Sabine: Fremdsprachenstudium - Frauenstudium? Stauffenberg<br />
Verlag, Tübingen 1982 (-218 S., br.)<br />
Sabine Borschs Untersuchungsgegenstand ergibt sich aus<br />
der Tatsache, daß - abweichend von der Unterrepräsentation<br />
von Studentinnen an westdeutschen Universitäten - Frauen in<br />
fremdsprachlichen Studiengängen mit einem Anteil von 75%<br />
zahlenmäßig deutlich dominieren. Die Verfasserin grenzt<br />
sich in ihrem Erkenntnisinteresse von historischen Untersuchungen<br />
zur Überrepräsentation von Frauen in neuphilologischen<br />
Fächern und von andern Arbeiten ab, die die Studienfachwahl<br />
nur fremdbestimmt erscheinen lassen und damit die<br />
Frauen zu passiven Produkten der Geschichte ihrer Unterdrückung<br />
reduzieren. S. Borsch geht es vielmehr darum, die<br />
subjektiven Einstellungen und Prozesse aufzudecken, die<br />
Frauen zur Aufnahme des Fremdsprachenstudiums veranlassen<br />
und die Einstellung zur fremden Sprache prägen. Damit geht<br />
die Frage einher, inwieweit sich diese Haltungen und Prozesse<br />
von denen männlicher Kommilitonen unterscheiden, geschlechtsspezifisch<br />
sind. Die Autorin gibt sich nicht mit<br />
<strong>Theorie</strong>n der Verstrickung zufrieden, die deterministisch<br />
von Rollenzwängen sprechen. Sie geht davon aus, daß <strong>für</strong> die<br />
Studienfachwahl der Studentinnen auch eigene Entscheidungsprozesse<br />
zum Tragen kommen. Damit betritt sie wichtiges<br />
Neuland. Als Methode benutzt sie das Gruppengespräch als -<br />
von einem "Grundreiz" ausgehenden - interaktiven Verständigungsprozeß.<br />
Für dessen Auswertung scheint ihr ein Verfahren<br />
qualitativer Textanalyse geeignet, nämlich die psychoanalytische<br />
Textinterpretation (nach Th. Leithäuser/B. Volmerg,<br />
Anleitung zur empirischen Hermeneutik, Frankfurt<br />
DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83
Mädchen- und Frauen lit eratur 75<br />
1979). Dieses sozialwissenschaftliche Verfahren will 1. eine<br />
exakte Beschreibung dessen liefern, worüber gesprochen<br />
wird; 2. die Art und Weise berücksichtigen, wie gesprochen<br />
wird; und 3. die Widersprüche und Konflikte, die sich auf<br />
den vorher genannten Textebenen herausgestellt haben, als<br />
Hinweise auf Verdrängtes, als bedrohlich Empfundenes, "Eigentliches"<br />
analysieren. Die Gespräche fanden in je drei<br />
Sitzungen einer Frauen- und einer Männergruppe (je ca. 12<br />
Teilnehmer/inne/n) statt. Daran schloß sich eine gemeinsame<br />
Sitzung, beider Gruppen. "Grundreiz" war ein schriftlich<br />
vorgelegter Fragenkatalog, der die Adressat/inn/en zu einer<br />
Auseinandersetzung mit ihren subjektiven Gefühlen und Erfahrungen<br />
in bezüg auf die Fremdsprache anregen sollte. Die<br />
Themenschwerpunkte ergaben sich aus dem Katalog, wurden<br />
aber von den Gruppen unterschiedlich gesetzt, z.B. "Von der<br />
sprachlichen Überlegenheit der Frau" in der Frauengruppe,<br />
"Affinität zum Ausland und Identität" bei den Studenten. S.<br />
Borsch gelangt zu folgenden "Befunden": " - Einerseits erlaubt<br />
das Fremdsprachenstudium den Frauen, einem ihnen häufig<br />
recht massiv vermittelten Druck zur Anpassung an ein<br />
traditionelles Weiblichkeitsstereotyp zu entsprechen,<br />
- andererseits erlaubt es ihnen, sich im Rahmen dieser Anpassung<br />
durch das Verfügen über eine fremde Sprache gleichzeitig<br />
einen eigenen Bereich zu schaffen, in dem sie offenbar<br />
besonders im muttersprachlichen Kontext nicht artikulierbare<br />
Gefühle und Bedürfnisse ausdrücken und weniger<br />
Rollenkonformität zulassen können. (...)<br />
- Der Fremdsprachenerwerb kommt Frauen möglicherweise insofern<br />
besonders entgegen, als sie im Vergleich zu Männern<br />
eine intensivere emotionale Beziehung - wenn auch durchaus<br />
unterschiedlicher Natur - sowohl zur Muttersprache als auch<br />
zur Fremdsprache haben" (187).<br />
Männer dagegen - so ihre Vermutung - funktionalisieren<br />
die Sprache eher als ein zu eroberndes Regelsystem und<br />
richten ihr Interesse eher auf die fremde Kultur und auf<br />
das fremde Land als auf die fremde Sprache. Zu ihrer Interpretation<br />
gelangt sie allerdings nicht auf dem eingangs<br />
versprochenen Wege einer Analyse der in den Gesprächen<br />
chiffrierten Verschiebungsarbeit. Die tieferen Schichten<br />
des Textes bleiben - entgegen ihrem Anspruch - verdeckt.<br />
Sie nimmt die Selbstaussagen der Diskutierenden <strong>für</strong> bare<br />
Münze, wobei sie die erdrückende Menge von Sprechhülsen<br />
nicht irritiert, sondern sie im Gegenteil aus deren Paraphrase<br />
ihre (Hypo-)Thesen ableitet. Dabei werden so kontrovers<br />
diskutierte und <strong>für</strong> ihre Arbeit zentrale Begriffe wie<br />
Identität, Emotionalität, Stereotyp, Weiblichkeit nicht<br />
problematisiert. S. Borsch begibt sich also nicht auf Spurensuche<br />
zwischen den Zeilen der Gesprächstexte, sondern<br />
liefert ihre - allerdings vorsichtigen - Auswertungshinweise<br />
über andere Forschungsansätze. Unverständlich ist ihr<br />
Vorgehen auch insofern, als sie ihr Versprechen nicht einlöst,<br />
zwischen den einzelnen Gesprächsteilnehmer/inne/n zu<br />
DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83
76 Sprach- und Literaturwissenschaft<br />
differenzieren. In diesem Punkt wollte sie Uber Leithäuser/<br />
Volmerg hinausgehen, fUr die nur das Gruppenergebnis zählt.<br />
Tatsächlich gelten die individuellen Aussagen der Teilnehmer/innen<br />
in ihrer Interpretation noch weniger als bei<br />
Leithäuser/Volmerg, denn sie versucht, die geschlechtsspezifischen<br />
Unterschiede beim Fremdsprachenerwerb als Bestreben,<br />
sich von der Mutter abzugrenzen (bei Frauen) bzw. als<br />
RUckgängigmachen dieser Ablösung (bei Männern) Uberindividuell<br />
zu erklären. Aus den Gesprächen allerdings kann sie<br />
diese Interpretation nicht gewonnen haben. Fragwürdig<br />
scheint uns auch ihre Versuchseinordnung. Wir konnten uns<br />
des Eindrucks nicht erwehren, daß diese den Gesprächsverlauf<br />
sowie ihre Ergebnisse präjudizierte. Die Studentinnen<br />
sind sich bewußt, daß ihnen als Frauen das Interesse der<br />
Autorin gilt, während die Studenten nur als Kontrollgruppe<br />
fungieren. So scheinen die Studentinnen dann in der gemeinsamen<br />
Sitzung eine kurze, problematische Machtposition innezuhaben,<br />
der die Studenten offensichtlich nur durch Anpassungsgestus<br />
begegnen können.<br />
Helene Decke-Cornill und Claudia Gdaniec (Berlin/West)<br />
Gerhardt, Marlis: Kein bürgerlicher Stern, nichts, nichts<br />
konnte mich je beschwichtigen. Essays zur Kränkung der<br />
Frau. Luchterhand Verlag, Darmstadt 1982 (146 S., br.)<br />
"Selbstverständlich litten und leiden auch Männer an<br />
Verstörungen ihres Selbstwertgefühls. Nur traf sie die<br />
Kränkung stets an bestimmten individuellen Punkten ihrer<br />
Biografie. Die Kränkung der Frau aber meint nie die individuelle<br />
Frau, sondern stets ihr Geschlecht, den anatomischen<br />
Imperativ: Und nur ihr wurde immer wieder nahegelegt,<br />
die Wunde als Schicksal hinzunehmen" (14). Bilder und Gegenbilder,<br />
EntwUrfe von Weiblichkeit in der Literatur und<br />
der Wissenschaft vom ausgehenden 18. bis ins 20. Jahrhundert<br />
sind der Ubergreifende Zusammenhang in Marlis Gerhardts<br />
leicht verständlichen und spannend geschriebenen Essays.<br />
Hier kommt ihr sicher ihre Erfahrung als Journalistin und<br />
Literaturwissenschaftlerin zugute. In all ihren Beispielen<br />
versucht sie, die mühevolle Gratwanderung, das "Schicksal",<br />
begreifbar zu machen als eines aus selbstverschuldeter Unmündigkeit<br />
der Frau und den gesellschaftlichen Verhältnissen,<br />
die ihr manche Frauenbilder nahelegten oder verordneten".<br />
Im ersten Teil gilt ihr Hauptinteresse den Frauenbildern<br />
in den großen Romanen des 19. Jahrhunderts. Dabei findet M.<br />
Gerhardt keineswegs nur ein bestimmtes Frauenbild vor, sondern<br />
sie zeigt auf, daß diese Entwürfe korrelieren, korrespondieren<br />
mit den jeweils gesellschaftlichen Idealvorstellungen.<br />
<strong>Das</strong> heißt nicht, daß diese EntwUrfe einfach gesellschaftliche<br />
Wunschvorstellungen waren, als Erziehungsauftrag<br />
an die Frauen gerichtet, sondern es konnte durchaus<br />
sein, daß ein Gegenbild vorgeführt wurde oder das idealisierte<br />
"andere", die Utopie, aber auch die "Spiegelung je-<br />
DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83
Mädchen- und Frauen lit eratur<br />
ner Hoffnungen und Phantasien", die immer wieder verworfen<br />
wurden. M. Gerhardt spannt ein Netz zwischen den literarischen<br />
Frauenfiguren und einer Vielheit von gesellschaftlichen<br />
Frauenbildern, die doch alle am gleichen leiden: Entwurf<br />
männlicher Weiblichkeitsvorstellungen zu sein, immer<br />
um den Körper zentriert, immer im Spannungsfeld von Natur<br />
und Kultur doch auf der Seite der Natur zu sein. Beispiel<br />
hier<strong>für</strong> ist unter anderem die Figur der "Undine". Auch an<br />
den Frauengestalten des bürgerlichen Trauerspiels wird die<br />
kultivierte Natur (gebändigt durch den Mann) gezeigt - als<br />
Schutzschild vor das sich konstituierende Bürgertum gehalten,<br />
zur Abwehr des Übels (des Adels). Lulu dagegen macht<br />
eher den Doppelcharakter der männlichen Weiblichkeitsvorstellung<br />
deutlich: Natur-Frau, aber dabei nicht nur das<br />
Reine, Bewahrte, sondern auch das Gefährliche, Zerstörerische,<br />
das Regellose, das Chaos, die Abwesenheit der männlichen<br />
Ordnung. Doch Marlies Gerhardt sitzt dem Bild der Natur-Frau<br />
Lulu als damals schon Emanzipierter, Unabhängiger<br />
nicht auf. Sie zeigt, daß sie, um als vollkommenes Naturgeschöpf<br />
wirksame Figur sein zu können, das zeitgenössische<br />
Arrangement eines weiteren Frauenbildes der männlichen<br />
Phantasie braucht: die Hetäre, die femme fatale, die Frau<br />
der demimonde. Dieses Spiegelkabinett ist der Raum, in dem<br />
Lulu als gefährliches Naturgeschöpf erscheint. Damit ist<br />
Lulu nicht nur das Gegenbild zur bürgerlichen Ehefrau, sondern<br />
auch die Antithese einer sich tatsächlich neu darstellenden<br />
emanzipierten Frau. In ihrer Interpretation fehlt<br />
leider der Verweis auf das Authentische in Wedekinds Lulufigur,<br />
die soziale Realität der weiblichen Prostituierten,<br />
die von Wedekind durchaus geschildert wird. Wedekind erliegt<br />
nicht männlicher Projektion, sondern er stellt sie<br />
als solche dar. <strong>Das</strong> ist wichtig, da viele Interpretationen<br />
vom Bild der Lulu als der "Inkarnation des Ewig-Weiblichen"<br />
ausgehen, die das Unglück und Unheil des Mannes ist. So<br />
wird selbst der Lustmord verständlich. Diese Frauenbilder<br />
scheinen nicht die realen Verhältnisse zwischen den Geschlechtern<br />
vorzuführen, sondern ihr realer Gehalt liegt im<br />
"kulturellen Symptom einer Abwehr" (76). An Beispielen<br />
macht sie deutlich, daß damit die reale Ungleichheit zwischen<br />
Männern und Frauen verschleiert und verdrängt werden<br />
kann. Denn die "hetärenhafte, erotische Frau, die in den<br />
kulturellen Inszenierungen eine so große Rolle spielt,<br />
braucht überhaupt keine formalen Rechte, da sie sich - ...<br />
ohnehin alles nimmt, was sie haben will" (76).<br />
Im zweiten Teil ihres Buches sieht sie sich Frauen an,<br />
die bewußt gegen die von Männern geprägten Frauenidentitäten<br />
anschreiben. Beispiel da<strong>für</strong>: Verena Stefans Kultbuch<br />
der neuen Frauenbewegung "Häutungen", ein Versuch, aus dem<br />
Reich der männlichen Sprache und Bilder auszuziehen. Erfolgreich<br />
war nach M. Gerhardt das Buch allerdings vor allem<br />
durch das Hereinnehmen der subjektiven Erfahrung, die<br />
aus der Literatur der 50er und 60er Jahre ausgeblendet war.<br />
77<br />
DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83
78 Sprach- und Literaturwissenschaft<br />
M. Gerhardts literatur- und kulturtheoretische Analysen<br />
sind der Versuch, einerseits die Entwürfe von Frauen (in<br />
doppelter Bedeutung) als Festschreibungen von Polaritäten<br />
zu beschreiben und gleichzeitig die Festschreibung selbst<br />
in Frage zu stellen, sie nicht weiterhin zu bedienen. Auf<br />
der Suche nach einer Literatur jenseits dieser Polaritäten,<br />
jenseits von Definitionen von männlich, weiblich, die kulturspezifische<br />
Projektionen sind, geht sie mit ihrer Kritik<br />
nicht nur gegen die von Männern entworfenen Frauenbilder<br />
vor, sondern zeigt auf, daß auch bei feministischen" Autorinnen<br />
die Zuordnung von Frau und Natur, die Organisierung<br />
der Frau als Anblick (wenn auch nicht ausschließlich <strong>für</strong><br />
Männer), die alten Polaritäten bedient werden. Der Wunsch<br />
nach einer verallgemeinerbaren Fragestellung an die neuere<br />
Literatur von Frauen, die Frage nach einem utopischen<br />
Selbstentwurf, bricht leider den Blick der Autorin auf den<br />
Roman "Malina" von Ingeborg Bachmann, und es entsteht durch<br />
eine ausgezeichnete Einzelinterpretation hindurch eine verzerrte<br />
Einschätzung. Sie wirft ihr, die doch gerade die Abspaltung<br />
der männlichen von den weiblichen Teilen als nicht<br />
lebbar vorführt und das Leiden der Frau auch als eigene Unterwerfung,<br />
ein traditionelles weibliches Selbstbild vor,<br />
einen mißglückten Entwurf, der zur Selbstzerstörung führt<br />
(vgl. 139, 141). Hoffnung auf Grenzüberschreitung führt sie<br />
vor allem am Beispiel von Christa Wolfs Romanen und Erzählungen<br />
vor, hier im besonderen an der Geschichte "Selbstversuch".<br />
In ihren Analysen macht M. Gerhardt deutlich, daß<br />
der Emanzipation der Frauen nicht nur gesellschaftliche<br />
Barrieren und Projektionen des Mannes im Wege stehen, sondern<br />
genauso die "Innenseite der Ohnmacht", die klassische<br />
Zweiteilung der Welt in leidende Frauen und handelnde Männer.<br />
Die Frau ist das Weib hoch zwei (Weib 2 ), Projektion<br />
des Mannes und Selbststilisierung der Frau.<br />
Ursula Blankenburg (Berlin/West)<br />
Zahn, Susanne: Töchterleben. Studien zur Sozialgeschichte<br />
der Mädchenliteratur. dipa-Verlag, Frankfurt/M. 1983 (460<br />
S., br.)<br />
Die Bücher von Dahrendorf (<strong>Das</strong> Mädchenbuch und seine Leserin,<br />
1970, neu bearbeitet 1978) und S. Köberle (zuerst 1924,<br />
Neuauflage 1972) sowie A. Kuhns Anhang zu ihrer Untersuchung<br />
"Sentimentalität und Geschäft" (1977) haben Aufmerksamkeit<br />
und Interesse geweckt <strong>für</strong> die spezifische Sozialisation<br />
des Mädchens, wie sie seit dem 18. Jahrhundert durch<br />
die <strong>Institut</strong>ion "Mädchenbuch" gespiegelt und unterstützt<br />
worden ist. Historisch-soziologische Untersuchungen wie die<br />
von Karin Hausen (Die Polarisierung der 'Geschlechtscharaktere<br />
1 - Eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbs- und<br />
Familienleben, 1976) und von J. Zinnecker (Sozialgeschichte<br />
der Mädchenbildung, 1973) haben wichtige theoretische und<br />
historische Grundinformationen bereitgestellt. In diesen<br />
erst seit wenig mehr als zehn Jahren entwickelten For-<br />
DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83
Mädchen- und Frauen lit eratur<br />
schungszusammenhang gehört Susanne Zahns "Töchterleben".<br />
Die Verfasserin hatte das Pech, daß kurz vor dem Abschluß<br />
ihrer Untersuchung (als Dissertation Bremen 1982) Dagmar<br />
Grenz' grundlegende Darstellung der Mädchenliteratur des<br />
18. und 19. Jahrhunderts erschien (Stuttgart 1981, rezensiert<br />
im <strong>Argument</strong> 138, 296). S. Zahn reagierte, indem sie<br />
entgegen ihrer früheren Absicht "nunmehr auf eine ausführliche<br />
Darstellung der älteren Geschichte des Mädchenbuchs"<br />
verzichtete. Trotzdem erscheinen mir die Teile III-VI von<br />
S. Zahns Buch noch immer als unnötig ausführlich. (Sie betreffen<br />
die Moralischen Wochenschriften als Wegbereiter des<br />
Mädchenbuchs; den Einfluß des bürgerlichen Romans auf die<br />
Entwicklung der Mädchenliteratur; die ersten Mädchenbücher<br />
und die Vorläufer des Backfischbuchs.) Oft referiert die<br />
Verfasserin hier nur und neigt auch zur Vereinfachung, so<br />
daß diese Teile, abgesehen von der Darstellung eines bei D.<br />
Grenz ausgesparten Buchs (das "Liebenswürdige Mädchen" von<br />
Fuhrmann) und einer ausführlicheren Analyse von Th. v. Gumperts<br />
"Töchteralbum", zumindest stark gekürzt hätten werden<br />
können, allerdings ist die Funktion des Buches - Prüfungsarbeit<br />
- zu berücksichtigen. Den Leser/n/innen, die sich<br />
schneller und ohne großen wissenschaftlichen Apparat informieren<br />
wollen, sei deshalb die Zusammenfassung dieser Kapitel<br />
(sowie des zweiten Uber "Lesewut" und "Lesesucht") empfohlen,<br />
die die Verfasserin 1980 als Anhang zum "Marienbüchlein"<br />
von Glasenapp veröffentlicht hat (neu hrsg. von<br />
J. Merkel und D. Richter, München: Weismann 1980). Der gut<br />
lesbare und hübsch bebilderte Aufsatz von S. Zahn ist betitelt:<br />
Mädchen wie sie im Buch stehen. Zur Geschichte der<br />
Mädchenliteratur. - Auf das ausgezeichnete Nachwort von Elke<br />
Liebs "Schwierige Idylle. Kinder-Geschichten aus dem<br />
19. Jahrhundert" sei nebenbei hingewiesen. Die Parallelveröffentlichung<br />
von D. Grenz macht vieles überflüssig, und<br />
daran ändert auch der Versuch der Verfasserin nichts, in<br />
der Einleitung die eigene Fragestellung von der anderen abzugrenzen<br />
- "es geht mir weniger um eine literarhistorische<br />
Beschreibung des Mädchenbuchs im engeren Sinn als vielmehr<br />
darum, Mädchenbücher als Mittel weiblicher Sozialisation zu<br />
untersuchen, wobei der Schwerpunkt auf der Vermittlung der<br />
Frauen- und Mädchenbilder liegen wird" (1). Grenz' Buch<br />
zeigt ja, daß gerade die detaillierte literarhistorische<br />
Analyse <strong>für</strong> dieses Ziel fruchtbar ist, wenn sie so sorgfältig<br />
die verschlungenen Wege der widersprüchlichen Entwicklung<br />
des bürgerlichen Frauenbildes nachzeichnet.<br />
Nach den Kapiteln über die Vorläufer der Mädchenliteratur<br />
im 18. und den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts,<br />
die die Herausbildung der "Geschlechtscharakter"-<strong>Theorie</strong><br />
markieren (hier folgt die Verfasserin K. Hausen), ist der<br />
umfangreichere zweite Teil der Backfischliteratur und den<br />
Mädchenbuchserien des 19. und 20. Jahrhunderts gewidmet und<br />
schließt damit sinnvoll an die Arbeit von D. Grenz an. S.<br />
Zahn analysiert Clementine Helms "Backfischchens Leiden und<br />
79<br />
DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83
80 Sprach- und Literaturwissenschaft<br />
Freuden" (1859), die "Trotzkopf-Serie (v. Rhoden u.a. ab<br />
1885), die "Nesthäkchen"-Bände (Else Ury ab 1908/09) und<br />
die "Pucki"-Serie (Magda Trott ab 1935). Es mag nur wenige<br />
Kinderbücher geben, die in vergleichbar hohen Auflagen immer<br />
wieder gedruckt worden sind. Jetzt, 1983, sendet der<br />
Bayerische Rundfunk eine 5-Millionen-DM-Fernsehserie nach<br />
dem "Trotzkopf". S. Zahn unternimmt den Versuch, "die sozialen,<br />
psychischen und kulturellen Verflechtungen zu rekonstruieren,<br />
die neben der Faktizität des Angebots die<br />
Voraussetzungen <strong>für</strong> den Erfolg dieser Literatur bilden"<br />
(128). Die Bücher, die mit der Sozialisation ihrer Heldinnen<br />
zugleich die der Leserinnen betreiben wollen, sind ausnahmslos<br />
die Geschichten von erfolgreichen Zähmungen. Ihre<br />
zentralen Mädchenfiguren sind ursprünglich alles andere als<br />
brav und ordentlich, sie sind temperamentvoll bis "jungenhaft"<br />
wild, eigensinnig bis zur Aufsässigkeit. <strong>Das</strong> ermöglicht<br />
den Leserinnen lustvolle und entlastende Identifikation<br />
in Zeiten heftiger Konflikte mit den Anforderungen der<br />
Erwachsenenwelt und erlaubt ihnen das phantasierte Ausleben<br />
eigener Wunschträume von Selbständigkeit und Durchsetzung<br />
ihres Willens. Indem selbst während der intensivsten Dressurzeit<br />
auf dem Höhepunkt der Pubertät der Heldinnen immer<br />
wieder betont wird, daß ihre Ursprünglichkeit, Lebendigkeit,<br />
Natürlichkeit eigentlich Vorzüge sind, durch die sie sich<br />
von anderen, etwa den "Zierpuppen" oder "Trantüten" positiv<br />
abheben, wird das Schmerzhafte des Sozialisationsprozesses<br />
gelindert. <strong>Das</strong> Produkt der erfolgreichen Zähmung ist die<br />
anschmiegsame Braut und Gattin, die <strong>für</strong> sich nichts mehr,<br />
<strong>für</strong> den Mann alles erwartet, sich ihm willig unterordnet<br />
und all ihre Kräfte einsetzt, um ihm und den Kindern ein<br />
warmes Nest zu polstern, in dem er sich von der Arbeit erholen<br />
kann, die Kinder geborgen in die gleichen Rollenfächer<br />
hineinwachsen dürfen. Dies Erziehungsziel ändert sich<br />
zwischen 1885 (Trotzkopf) und 1935 (Pucki) nur geringfügig.<br />
Die jüngste Serie allerdings weist entsprechend ihrer Entstehung<br />
zur Zeit der nationalsozialistischen Mutter-Ideologie<br />
und Emanzipationsfeindlichkeit besonders reaktionäre Züge<br />
auf. Die scheinbare Zeitlosigkeit des Erziehungsziels<br />
ist einer seiner wesentlichen Bestandteile, soll doch das,<br />
was Ergebnis schmerzhafter Dressur ist, als die Erfüllung<br />
weiblicher Natur schlechthin akzeptiert werden. S. Zahn illustriert<br />
und kommentiert ausführlich die einzelnen Dressurphasen<br />
in den Serien, ihre Übereinstimmungen und Abweichungen<br />
im Mädchen- und Frauenbild. Hier hätte m.E. eine<br />
straffere, weniger redundante Darstellung genügt. Größeren<br />
Gewinn als die langen Zitate und Inhaltsangaben bringen eine<br />
Reihe von Informationen: die Definitionen des Begriffs<br />
"Backfisch", die Exkurse zur Mode der Backfisch-Zeit und zu<br />
Töchterschulen und Pensionaten, die Untersuchung zur Sozialgeschichte<br />
der Mädchen im 19. Jahrhundert; schließlich<br />
auch die biographischen Angaben zu den einzelnen Schriftstellerinnen<br />
und die Geschichte der Trotzkopf-Fortsetzungen<br />
DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83
Mädchen- und Frauen lit eratur 81<br />
durch zwei Autorinnen, von denen eine, die Tochter E. v.<br />
Rhodens, offensichtlich nicht ohne Widerstand die alte Geschichte<br />
immer wieder aufnimmt und besonders im letzten<br />
Band versucht, das liberaltete und emanzipationsfeindliche<br />
Frauenbild zu korrigieren (262f.). Daneben hätte ich mir<br />
mehr psychologisch differenzierte Interpretationen gewünscht<br />
wie die der pubertären Erwartungsangst des sexuell unaufgeklärten,<br />
aber durch warnende Andeutungen erregten und verwirrten<br />
Mädchens (154f.), etwa zum Thema "Mädchen-Schwärmerei"<br />
(z.B. <strong>für</strong> Lehrer), die die Verfasserin in fragwürdiger<br />
Vereinfachung als "Äußerungsform verdrängter Sexualität"<br />
versteht (219). - Was hat es mit dem Pensionsjähr der Backfische<br />
auf sich - steht diese Einrichtung vielleicht in einem<br />
Zusammenhang mit alten Initiationshütten und -türmen,<br />
die das Mädchen <strong>für</strong> die Zeit der Menarche isolierten? Erfüllt<br />
es als sexuelles und gesellschaftliches Moratorium<br />
vielleicht wichtige Funktionen in der Entwicklung, die<br />
durch die dressierende Erziehung nur unkenntlich gemacht<br />
werden? - Wie ist die Häufigkeit des Künstlermilieus in der<br />
Kinder- und Enkelgeneration der Serienheldinnen im literarhistorischen<br />
und gesellschaftlichen Zusammenhang ihrer Entstehungszeit<br />
zu interpretieren? - Wie ist die Verachtung<br />
und Verurteilung der schriftstellernden Frauen in den Serien<br />
zu verstehen - liegt ihnen ein besonderer Masochismus<br />
der Autorinnen zugrunde, die doch selbst schreiben? Oder<br />
geht es um die Abschreckung der Konkurrenz? Immerhin war<br />
das Schreiben eine der wenigen nicht-haushälterischen Tätigkeiten,<br />
die bürgerlichen Frauen mindestens nicht strikt<br />
verboten waren - und eine wichtige Produktionsform ist es<br />
ihnen bis heute geblieben.<br />
Diese Fragen sollen andeuten, wieviel im Bereich der<br />
Mädchenliteratur-Forschung noch zu tun ist. Vor allem dank<br />
seinem umfangreichen Material ist Susanne Zahns Buch ein<br />
beachtenswerter Beitrag dazu.<br />
Gundel Mattenklott (Berlin/West)<br />
Alves, Eva-Maria (Hrsg.): Ansprüche. Verständigungstexte<br />
von Frauen. Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M. 1983 (264 S., br.)<br />
<strong>Das</strong> Buch reiht sich ein in die Zahl der in den letzten<br />
Jahren entstandenen Zusammenstellungen kürzerer autobiographischer<br />
Skizzen, die, unter einen bestimmten Aspekt gestellt,<br />
Allgemeines und Besonderes oft sehr glücklich verbinden.<br />
Hierzu gehören so gelungene Bücher wie 'Guten Morgen,<br />
Du Schöne' (von Maxie Wander) oder 'Pfarrerskinder'<br />
(von Martin Greiffenhagen).<br />
Eva-Maria Alves hat Frauen unterschiedlichen Alters gebeten,<br />
über die Ansprüche zu berichten, die ihr Leben bestimmt<br />
haben und noch bestimmen. Die Konkretheit individueller<br />
Erfahrungen war ihr Ziel, daher das Thema 'Ansprüche',<br />
nicht 'Rolle', 'Identität' oder ähnliches. Diese Ansprüche<br />
sollten nicht als allgemeine Überlegungen, sondern<br />
als erlebte Situationen gefaßt werden. Zwanzig Beiträge, an<br />
DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83
82 Sprach- und Literaturwissenschaft<br />
denen sie nichts veränderte, hat die Herausgeberin chronologisch<br />
nach dem Alter der Befragten angeordnet. Aus anscheinend<br />
äußeren Gründen der Einheitlichkeit sind nur<br />
Frauen und nur Vertreterinnen aus bürgerlichem Milieu zur<br />
Sprache gekommen. Da werden eigene und fremde, ausgesprochene<br />
und stillschweigend erwartete, als gerechtfertigt<br />
oder als ungerecht empfundene, unerfüllbare, verbotene, widersprüchliche,<br />
mißverstandene und verweigerte Ansprüche<br />
beschrieben. Es sind damit in erster Linie die vielen alltäglichen,<br />
von jeder zu erlernenden Fertigkeiten, Leistungen<br />
und Verhaltensweisen gemeint, die Elternhaus, Kirche<br />
und Schule, später der Beruf, die eigene Familie und die<br />
weitere soziale Umwelt der einzelnen abfordern.<br />
Mancher Autorin bedeuten Ansprüche Fundament des Lebens,<br />
Halt und Stütze in schweren Situationen. Als richtungsweisend<br />
und tröstlich empfindet sie beispielsweise eine Frau<br />
mit allerdings besonderem Lebensgang, die, als Kind aus dem<br />
revolutionären Rußland emigriert, während der Zeit des europäischen<br />
Faschismus' noch mehrmals auf verschiedenen Stationen<br />
die Unsicherheiten und Herausforderungen des Lebens<br />
im Exil kennenlernen muß. Andere dagegen zerreiben sich an<br />
ihren Widersprüchen, fühlen sich ihnen nicht gewachsen, haben<br />
sie aber zu sehr verinnerlicht, um sich ohne Verlust an<br />
eigener Lebenssubstanz von ihnen lösen zu können. "In all<br />
diesen Überforderungssituationen erwartete ich immer von<br />
dem, was praktisch Uber meine Kräfte ging, die eigentliche<br />
Lebenserfüllung und Befriedigung. Wenn der Druck nachließ,<br />
hatte ich leicht das Gefühl von 'Nicht-richtig-leben', von<br />
Zweifeln, ob alles überhaupt lohnt" (196). Es ist sicher<br />
kein Zufall, daß die Uber 50jährigen, eher als die Jüngeren,<br />
in ihren Beiträgen zeigen, wie die Auseinandersetzung<br />
mit Lebensansprüchen zum Aufbau einer Identität führen kann,<br />
"die im wesentlichen im Reinen mit sich ist". Die Frage, ob<br />
es die ältere Generation dadurch leichter hatte, bleibt dabei<br />
unbeantwortet. Sicher ist aber, daß die Reflexion über<br />
Ansprüche gerade bei Frauen nach etwa 1970 ihr Bewußtsein<br />
<strong>für</strong> peinigende Widersprüche zwischen unausgelebten aber unabweisbaren<br />
individuellen Ansprüchen und den gesellschaftlich<br />
geforderten Verhaltensnormen gefördert hat, damit aber<br />
auch die Verunsicherung an ihrer Rolle, Distanzierungs- und<br />
Verweigerungsversuche, Neuorientierungen, die nicht immer<br />
glücken. Schmerzhafte Brüche im Lebensgang oder in der eigenen<br />
Person, das Gefangensein in selbst erkannten oder<br />
selbst angelegten Fesseln werden quälend empfunden. Eine<br />
Frau sieht sich selbst unter dem Zwang, sich "Streicheleinheiten<br />
durch Hochleistung" zu erwerben. "Und keine oder wenig<br />
Möglichkeiten, das Programm zu wechseln."<br />
Auch in der Generation der etwa 30- bis 40jährigen gibt<br />
es Beispiele <strong>für</strong> die gelungene Verarbeitung von Anspruchskonflikten,<br />
von Erfahrungen, die zu mündigerem, selbstverantwortlicherem<br />
Umgang mit ihnen führten. Bei Almuth Schulze-Conrades<br />
heißt es: "Die zu Anfang gestellte Frage 'Wie<br />
DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83
Mädchen- und Frauen lit eratur 83<br />
gehe ich mit den Ansprüchen um?' hat sich unter der Hand in<br />
die Frage verwandelt 'Wie gehen und gingen die Ansprüche<br />
mit mir um? 1 " Ihr, die sich von Ansprüchen ihr ganzen Leben<br />
erdrückt fühlte, gelingt es heute manchmal, "die Fragestellung<br />
wieder umzudrehen - neue oder alte Ansprüche erstmal<br />
auf Armlänge von mir abzuhalten und zu prüfen, ehe ich mich<br />
zu ihnen stelle" (205). Der Preis da<strong>für</strong> ist hoch. So ist<br />
sich die erfolgreiche Wissenschaftlerin, der es gelungen<br />
ist, berufliche und persönlich-private Ansprüche zu vereinbaren,<br />
bewußt, daß nur sehr wenige der hohen psychischen<br />
Belastung gewachsen sind, die sie auszuhalten hat. Und die<br />
durchaus positive Lebensbilanz der im Privatleben glücklichen<br />
Frau eines Diplomaten, die bewußt ihre Berufstätigkeit<br />
aufgegeben hat, wird zum Schluß mit einem Fragezeichen versehen.<br />
Dialektik des Fortschritts also auch hier. Die<br />
Sprengung fester Anspruchsgefüge ermöglicht größere Freiheit<br />
der Wahl, Selbstbestimmung, Handlungsalternativen. Aber die<br />
Wirklichkeit wird im gleichen Maße komplexer, und gebieterisch<br />
stellen sich neue, nun z.T. als politische formulierte<br />
Ansprüche, die die einzelne ebenso gefangennehmen und<br />
lähmen können. Im Beitrag einer 19jährigen werden die hypertrophen,<br />
schier unerfüllbaren Ansprüche angestrengt,<br />
gleichsam pedantisch abgehandelt, wobei selbst das Ausleben<br />
der Gefühle zum Pflichtpensum gemacht wird.<br />
<strong>Das</strong> Buch bietet mehr als eine Illustrierung weiblicher<br />
Unterdrückung bzw. Emanzipation. In den Geschichten werden<br />
über die allgemeinen historischen Entwicklungslinien, die<br />
sich in ihnen zeigen, unverwechselbare, einzigartige Erfahrungen<br />
mit großer Lebendigkeit festgehalten. Allerdings<br />
sind es spezifisch bürgerliche und in der Tradition bürgerlicher<br />
Artikulationsformen stehende Erfahrungen.<br />
Renate Decke-Cornill (Marburg)<br />
Morgner, Irmtraud: Amanda. Ein Hexenroman. Luchterhand Verlag,<br />
Darmstadt und Neuwied 1983 (656 S., Ln.)<br />
"Denn uns Frauen wird Leidenschaft nur in der Liebe zugebilligt.<br />
Auf allen anderen Gebieten hält uns die Knute<br />
der Bravheit nieder" (226). Dieser Satz im 57. Kapitel des<br />
Romans könnte als Leitsatz <strong>für</strong> den gesamten Roman dienen.<br />
Denn was macht eine Frau, die leidenschaftlich lieben und<br />
(schriftstellerisch) arbeiten will? Sie lebt zweigeteilt,<br />
als Laura Salman und als Hexe Amanda. Laura als realistischer<br />
Teil, Amanda als phantastischer. Laura ist Triebwagenführerin<br />
und alleinerziehende Mutter des Sohnes Wesselin;<br />
ihre Aufgaben als Mutter und als berufstätige Frau<br />
lassen sich nur in Nachtschichtarbeit vereinbaren. Die andere<br />
Hälfte, Amanda, lebt als Hexe auf dem Hörselberg - mit<br />
dem Ziel, die männlichen Raben (das Patriarchat) zu entmachten<br />
und endlich an das Trinksilber zu gelangen, welches<br />
"entrückt und unteilbar" machen kann. Nicht mehr aufgeteilt<br />
zu sein zwischen den alltäglichen Anforderungen als berufstätige<br />
Mutter und nicht mehr "erschlagen" zu sein von der<br />
DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83
84<br />
Sprach- und Literaturwissenschaft<br />
Weltkatastrophe (Umweltzerstörung, nuklearer Overkill) ist<br />
der Wunsch Lauras. Mit Amanda setzt Irmtraud Morgner die<br />
Trilogie der Trobadora Beatriz fort, die nach einem achthundertjährigen<br />
Schlaf erwacht, ins gelobte Land,die DDR,<br />
aufbricht, dort Laura Salman kennenlernt, die die Beatriz<br />
zu ihrer Spielfrau erklärt. Durch Laura Salman erfährt die<br />
Trobadora Beatriz, daß es mit der gesetzlichen Verankerung<br />
der Gleichberechtigung noch lange nicht getan ist.<br />
Hoffte Laura im ersten Teil der Trilogie noch auf die Hilfe<br />
der Männer bei der Gleichberechtigung, so macht sie sich im<br />
zweiten Teil selbst auf den Weg und stellt die Gleichberechtigtheit<br />
mit dem Mann generell in Frage. "Nach allen<br />
bisherigen Revolutionen, die Männer und Frauen gemeinsam<br />
durchkämpften, gehörten die Frauen zu diesen Letzten. Diesmal<br />
lassen wir uns nicht bescheißen, redete Laura auf sich<br />
ein, gedachte der Hexenküche im 'Faust' und begann noch am<br />
selben Abend mit alchimistischen Versuchen" (139). Zaubermittel<br />
dienen den Frauen im Roman, um die Spannung zwischen<br />
Realität und Utopie aushalten zu können. Am Ende des ersten<br />
Teils der Trilogie fällt Beatriz aus Freude Uber den Linkssieg<br />
in Frankreich beim Fensterputzen aus dem Fenster und<br />
ist tot. Zu Beginn des neuen Romans kehrt sie erneut ins<br />
Leben zurUck, als Sirene im Gehege des <strong>Berliner</strong> Tiergartens,<br />
um dort an der Lebensgeschichte der Laura Salman weiterzuschreiben.<br />
Ihrer Zunge beraubt, was <strong>für</strong> eine Sirene<br />
katatrophale Folgen hat, weil nur noch Sirenisches Geschrei<br />
hilft, die Katastrophen zu benennen, wartet sie auf die<br />
Hilfe der Sirene Sappho und des Orakels von Delphi. Alle<br />
drei Frauen, Amanda, Laura und Beatriz,versuchen, sich mit<br />
verschiedenen Strategien zu befreien. Laura erkennt, daß<br />
das, was sie bisher lebte, nur die halbe Wahrheit ist, die<br />
andere Hälfte ist das Hexische. Alchimistische Versuche und<br />
närrische Fraktionssitzungen im <strong>Berliner</strong> Dom sind die Mittel,<br />
mit denen Laura versucht, Widerstand zu leisten. Sie<br />
will damit an die alte Karnevalstradition anknüpfen, wo<br />
närrische Aktionen als Widerstand gegen die Obrigkeit verstanden<br />
wurden. Amanda als radikal-feministische Hexe versucht<br />
derweil auf dem Hörselberg, den Umsturz gegen das Patriarchat<br />
zu organisieren. Die Sirene Beatriz überlegt in<br />
ihrer Voliere, ob Schreiben das geeignete Mittel ist, die<br />
Menschen wachzurütteln.<br />
Um diese Frauen herum bewegen sich Oberteufel, Oberengel,<br />
Schlangen, Fabelwesen und Kinder. Befreiungslösungen<br />
und -Strategien sind in diesem Buch nicht zu erwarten, auch<br />
wenn Sirene Beatriz ihre Zunge von der Hexenfraktion des<br />
Hörselbergs zurückerhält und es Laura gelingt, ihre <strong>für</strong><br />
verrUckt erklärte Freundin Vilma aus der Psychiatrie zu befreien.<br />
Der Roman enthält historische und aktuelle Elemente,<br />
verbunden mit fantastischen und realistischen Geschichten<br />
und im Hintergrund die Faustfigur als grenzüberschreitendes<br />
Element. Für Nichtkenner ist es schwer, die Verbindungen<br />
zu Figuren wie Faust und Pandora herzustellen. Neben<br />
DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83
Literaturtheorie 85<br />
den schwer zugänglichen Teilen sind <strong>für</strong> mich die Alltagsgeschichten<br />
der Laura sehr eindrucksvoll. Sie geben das Bild<br />
einer alleinerziehenden Frau in der DDR wieder, die versucht,<br />
sich trotz allgemeiner Borniertheit und Sturheit mit<br />
Ironie und Witz und dem hexischen Anteil durchzusetzen.<br />
"Der ganze Sieg", sagen die Hexen am Schluß zu Beatriz,<br />
"ist freilich eine lange Geschichte". Solange ist es noch<br />
notwendig, daß Laura zweigeteilt lebt, als Triebwagenführerin<br />
und als Hexe Amanda. Angelika Nette (Hamburg)<br />
Literaturtheorie<br />
Brackert, Helmut und Jörn Stückrath (Hrsg.): Literaturwissenschaft.<br />
Grundkurs. Rowohlt Verlag, Reinbek 1981 (2 Bde.,<br />
434 und 514 S., br.)<br />
Aus der Arbeit am "Funk-Kolleg Literatur" entstand der<br />
vorliegende Grundkurs als wesentlich erweitertes und systematischer<br />
konzipiertes Handbuch. Die Herausgeber wollen<br />
propädeutsche Information, wissenschaftsprogrammatische<br />
Akzentuierung und didaktische Vermittlung miteinander verbinden.<br />
<strong>Das</strong> Darstellungsziel: "Den Stoff dieser Einführung<br />
ebenso wissenschaftlich exakt aktuell wie verständlich zu<br />
präsentieren" (I, II). Adressaten sind nicht nur Studienanfänger<br />
der Germanistik, sondern alle an der Literatur und<br />
ihrer Vermittlung Interessierten. Ihnen sei das Buch als<br />
ein Vademekum empfohlen. Es eignet sich als Hand- und Nachlese-Buch<br />
vor allem, weil die zitierten Absichten der Herausgeber<br />
im ganzen glücklich realisiert sind.<br />
Die Brauchbarkeit ergibt sich vor allem aus der Tatsache,<br />
daß die Mehrzahl der Beiträge den 'lebenspraktischen'<br />
Bezug literaturwissenschaftlicher Arbeit ins Zentrum stellen:<br />
"Die Praxis der Textauslegung ist immer Bestandteil<br />
des Handelns von Mitgliedern bestimmter, geschichtlicher<br />
entwickelter und sich entwickelnder Gesellschaftsformationen"<br />
(L. Fischer; I, 67). Daß wissenschaftliche Information<br />
und <strong>Argument</strong>ation, wie es in dem vorzüglichen Beitrag von<br />
J. Landwehr heißt, nicht nur "haltbar", sondern auch<br />
"brauchbar" sein müsse: dies läßt sich vielleicht - bei allen<br />
methodischen Differenzen - als ein gemeinsamer Anspruch<br />
der Literaturwissenschaft "nach 1968" festhalten.<br />
Der Gesamtaufbau des Grundkurses vermittelt ein Bild der<br />
Literaturwissenschaft, das (bis auf eine noch zu erörternde<br />
Einschränkung) der "Logik der Sache" angemessen ist. Am Anfang<br />
stehen zwei instruktive Beiträge über das Lesen (von<br />
R. Schenda und K.F. Geiger). Sie erinnern an die keineswegs<br />
banale Tatsache, daß der Gegenstand literaturwissenschaftlicher<br />
Arbeit nicht eine Masse von "Kulturgütern" ist, sondern<br />
die Lektüre als eine besondere Form der Aneignung von<br />
Wirklichkeit. Die Geschichte des Lesens und der Lesestoffe<br />
DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83
86 Sprach- und Literaturwissenschaft<br />
erscheint auf diese Weise zu Recht als eine Geschichte von<br />
Kämpfen, (Lese-)Kultur und Demokratie im einleuchtenden Zusammenhang.<br />
Diese Einsicht kommt m.E. in dem ansonsten<br />
spannenden Beitrag von J. Stückrath zu kurz: die Geschichte<br />
der Textüberlieferung ist so gut wie die der Textinterpretation<br />
eine "Geschichte der Sieger" (W. Benjamin). Die von<br />
L. Fischer dargelegte Entwicklung der Bibelauslegung und<br />
die von E. Lämmert behandelte juristische Hermeneutik könnten<br />
das Bewußtsein da<strong>für</strong> schärfen, daß auch Literaturkritik<br />
und Literaturwissenschaft - als Kanonbildung so gut wie als<br />
Meinungs- und Wahrnehmungsbildung - etwas mit dem Kampf<br />
zwischen "herrschender" und "abweichender" (nicht: anderer!)<br />
Meinung zu tun haben; hier sind die Parallelen allerdings<br />
eher implizit und werden nicht deutlich genug herausgearbeitet.<br />
Die Nützlichkeit von exemplarischen Interpretationen in<br />
einer Einführung ist unbestritten. Zwei Epen (Ilias/Parzival),<br />
drei Romane (Madame Bovary/Effi Briest/Die Geheimnisse<br />
von Paris), ein Drama (Der Kaufmann von Venedig) und eine<br />
Literaturverfilmung (Fontanes Cécile) werden vorgeführt.<br />
J. Links vorzügliche, ebenso konkret-anschauliche wie<br />
brauchbare Untersuchung über die Struktur lyrischer Texte<br />
stände sinnvoller.in dem folgenden Abschnitt über Literatur<br />
als Struktur, in dem die Darstellung linguistischer und<br />
strukturalistischer Ansätze zu Recht ein hohes Gewicht erhalten<br />
hat. Die Beiträge zur Rhetorik/Topik (Haberkamm/Richartz)<br />
und zum neuhochdeutschen Vers (Binder/Schluchter/<br />
Steinber) erscheinen als weniger geeignet <strong>für</strong> eine Einführung,<br />
da sie - wenig exemplarisch - historische Auseinandersetzungen<br />
behandeln, deren Kenntnis zum Mitdenken erforderlich<br />
wäre, aber wohl bei Studienanfängern nicht vorausgesetzt<br />
werden kann. - Zu wünschen wäre gewesen, daß die<br />
Herausgeber aus dem Funk-Kolleg (Bd. 1, 210-233) den ausgezeichneten<br />
Aufsatz von K. Stierle zur Struktur narrativer<br />
Texte übernommen hätten; R. Fellingers Artikel zum gleichen<br />
Thema ist umständlich, z.T. nichtssagend-allgemein und in<br />
wesentlichen Teilen eine eher mißglückte Paraphrase von<br />
Stierles Ausführungen. Als spürbare 'Lücke' in diesem Kursteil<br />
erweist sich das Fehlen einer Untersuchung struktureller<br />
Probleme des Dramas, die hoffentlich <strong>für</strong> eine zweite<br />
Auflage des Grundkurses nachgeliefert wird.<br />
Es wäre wünschenswert, in den Teil über die Geschichtlichkeit<br />
der Literatur unter allen Umständen einen Beitrag<br />
zur Produktion der Literatur aufzunehmen, welche ja wohl<br />
ebenso wie die von W. Barner instruktiv behandelte Rezeptions-<br />
und Wirkungsgeschichte "als notwendiger und integraer<br />
Bestandteil des historischen Arbeitens mit Literatur"<br />
(II, 102) gelten muß (vielleicht hätten die Hrsg. B.J. Warneken<br />
gewinnen können?). Und damit bin ich bei der angekündigten<br />
Einschränkung: in einem 'Umriss' der Literaturwissenschaft<br />
müßte m.E. auch das Funktionsproblem verbindlicher<br />
behandelt werden. <strong>Das</strong> ist keine Kritik an den hierher<br />
DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83
Literaturtheorie 87<br />
gehörenden Aufsätzen von H. Müller und H. Brackert; diese<br />
reichen jedoch <strong>für</strong> eine systematische Einführung nicht aus.<br />
Probleme der ästhetischen Erfahrung und Erkenntnis, der<br />
1 kathartischen 1 oder distanzierenden Funktion, des operativen<br />
bzw. instrumentalen Gebrauchs von Literatur, des konkreten<br />
Wirklichkeitsverhältnisses etwa der dokumentarischen<br />
oder satirischen Texte etc. müssen bei der Literaturinterpretation<br />
angesprochen werden, wenn diese nicht formalistisch<br />
ausfallen soll. <strong>Das</strong> zeigen z.B. die informativen<br />
Überlegungen H. Kallweits über lehrhafte Literatur; auch G.<br />
Plumpe argumentiert einleuchtend in diese Richtung (I,<br />
353ff.). Daß Funktionsbestimmung und Funktion nicht das<br />
gleiche sind und jede Vermischung sich hier desorientierend<br />
auswirkt, zeigt jede Seminardiskussion über einen konkreten<br />
Text deutlich genug. Ausgesprochen ärgerlich tritt diese<br />
Unklarheit bei Hans Günther zutage. Was er als "historische<br />
Position" deklariert, ist vor allem eine Wiederholung der<br />
bekannten Vorurteile gegen die marxistische Literaturwissenschaft.<br />
In vollkommen unhistorischer Weise wird eine in<br />
der sowjetischen Kulturpolitik seit den dreißiger Jahren<br />
lange Zeit dominant gesetzte Funktionsbestimmung zur generellen<br />
Unfähigkeit 'der' marxistischen Literaturwissenschaft<br />
hochgerechnet, mit Literatur anders als dogmatischborniert<br />
umzugehen; diese <strong>Argument</strong>ation gewinnt auch nicht<br />
dadurch, daß der Marxist Walter Benjamin umstandslos zur<br />
Frankfurter Schule gerechnet wird (II, 324). - Sehr viel<br />
brauchbarer ist der Teil Literarische <strong>Institut</strong>ionen; zu begrüßen<br />
sind die Ausführungen Plumpes über den Autor als<br />
Rechtssubjekt; in G. Peters Studie über Autor und Publikum<br />
(oder in einem eigenen Beitrag) würde ich mir eine eingehendere<br />
Behandlung solcher Fragen wie Honorare, materielle<br />
Lebensbedingungen, politisch-gewerkschaftliche Zusammenschlüsse<br />
der Schriftsteller o.ä. wünschen; aber das ist nun<br />
wohl tatsächlich eine Umfangs- und Vollständigkeitsfrage.<br />
- Der abschließende Teil über Geschichte und Aufgaben der<br />
Literaturwissenschaft enthält u.a. einige interessante und<br />
weiterführende Erörterungen zur gegenwärtigen Methodendiskussion<br />
(von H. Steinmetz, K.R. Scherpe, U. Japp und J.<br />
Link). Sie sind wohl zu Recht als "Neuere Ansätze" klassifiziert;<br />
- zum Lobe des Ganzen sei jedoch ausdrücklich hervorgehoben,<br />
daß dies <strong>für</strong> die meisten Beiträge dieses übersichtlichen<br />
und brauchbaren Handbuchs gilt.<br />
Jürgen Schutte (Berlin/West)<br />
Schmidt, Siegfried J. : Grundriß der empirischen Literaturwissenschaft.<br />
Bd. 1: Der gesellschaftliche Handlungsbereich<br />
Literatur. Vieweg-Verlag, Braunschweig 1980 (346 S., br.)<br />
Bd. 2: Zur Rekonstruktion literaturwissenschaftlicher Fragestellungen<br />
in einer empirischen <strong>Theorie</strong> der Literatur.<br />
Vieweg-Verlag, Braunschweig 1982 (246 S., br.)<br />
Die programmatische Erneuerung der Literaturwissenschaft<br />
aus der Perspektive der Rezeptionsforschung hatte zunächst<br />
DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83
88 Sprach- und Literaturwissenschaft<br />
- vereinfacht und zugespitzt ausgedrückt - zwei Phasen<br />
durchlaufen, die sich zugleich kontradiktorisch zueinander<br />
verhalten. Der Rezeptionsästhetik eines Jauß (ab 1967) und<br />
eines Iser (ab 1970), inzwischen zur traditionellen Produktionsästhetik<br />
ausgedünnt, folgte die empirische Rezeptionsanalyse<br />
eines Groeben (ab 1974). Dieser Wandel bedeutete<br />
die Akzentverlagerung von 'Literatur-' auf ' - W i s s e n s c h a f t ! ,<br />
von den Texten als Gegenstand zu den Methoden, von der Diachronie<br />
zur Synchronie. Grimms <strong>Theorie</strong> einer Rezeptionsgeschichte<br />
(ab 1977), die hier vermitteln wollte, stellte den<br />
logisch nächsten, dritten Schritt dar, machte in ihrer relativen<br />
Folgenlosigkeit aber vor allem deutlich, daß sich<br />
das Gros der Literaturwissenschaftler "abgehängt" hatte.<br />
Ende der 70er Jahre war die Groeben-Reihe Empirische Literaturwissenschaft<br />
(Tübingen: Narr) praktisch einziger Ausdruck<br />
der rezeptionsmäßigen Erneuerungsbemühungen. <strong>Das</strong> hat<br />
sich geändert. Mit der neuen Reihe Konzeption Empirische<br />
Literaturwissenschaft (Braunschweig: Vieweg) wird derzeit<br />
eine nunmehr vierte Entwicklungsphase eingeleitet, die sich<br />
erneut um "Literatur" und die Integration traditioneller<br />
Ästhetik und zeitgemäßer Wissenschaftstheorie bemüht - Ausdruck<br />
zugleich der Tendenz, die Diskussion wieder auf breiterer<br />
Basis zu führen, unter Einschluß nicht nur der Sozialwissenschaften,<br />
der Wissenschaftstheorie, der Leserpsychologie,<br />
sondern auch der Linguistik und der traditionellen<br />
Literaturwissenschaftler. In den ersten beiden Teilbänden<br />
hat S.J. Schmidt programmatisch einen "Grundriß der Empirischen<br />
Literaturwissenschaft" vorgestellt: eine "Empirische<br />
<strong>Theorie</strong> der Literatur" (Bd. 1) und deren konkrete Anwendung<br />
(Bd. 2). Es sei ausdrücklich angemerkt, daß die<br />
beiden Teile nicht isoliert voneinander gelesen werden<br />
sollten.<br />
Im 1. Teilband wird eine sogenannte "empirische" Literaturtheorie<br />
vorgestellt. In Anlehnung vor allem an Arbeiten<br />
von J.D. Sneed (ab 1971) geht Schmidt deduktiv vor, um einen<br />
"strukturell möglichst vollständigen Grundriß" vorzulegen<br />
(15). Ansatzpunkt sind entsprechend die "Voraussetzungen"<br />
der dann zu beschreibenden Literaturtheorie: zunächst<br />
die Grundzüge generell einer <strong>Theorie</strong> der Handlung (1. Kapitel);<br />
dann eine <strong>Theorie</strong> kommunikativen Handelns, mit Betonung<br />
der sprachlichen Kommunikationshandlung (2. Kapitel);<br />
schließlich eine <strong>Theorie</strong> ästhetischen kommunikativen Handelns,<br />
bei der das Augenmerk besonders auf die Funktion ästhetischer<br />
Kommunikation gerichtet ist (3. Kapitel). Nach<br />
diesen Prämissen und weitgehend davon abgeleitet wird sodann<br />
die eigentliche <strong>Theorie</strong> literarischen kommunikativen<br />
Handelns vorgestellt, zunächst als Gesamtsystem (4. Kapitel),<br />
dann gemäß den von Anfang an unterschiedenen vier<br />
verschiedenen Handlungsrollen in literarischer Kommunikation:<br />
als <strong>Theorie</strong> literarischer Produktions-, Vermittlungs-,<br />
Rezeptions- und Verarbeitungshandlungen (5. Kapitel).<br />
DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83
Literaturtheorie<br />
Dieser abstrakte theoretische Rahmen wird im 2. Teilband<br />
inhaltlich gefüllt und damit ebenso anschaulich wie diskutierbar.<br />
Im Gegensatz zu einer <strong>Theorie</strong>-Konstruktion geht es<br />
nun eher um eine Rekonstruktion traditionell literaturwissenschaftlicher<br />
Fragen im Rahmen dieser neuen <strong>Theorie</strong>; es<br />
soll gezeigt werden, daß und wié Literaturwissenschaft auch<br />
die bislang in zahlreichen Teildisziplinen "ausgelagerten"<br />
Problemstellungen autonom behandeln und lösen kann, statt<br />
sie weiterhin zu delegieren. Mit Mut zum "Dilettantismus im<br />
Detail" (11) widmet sich Schmidt zunächst dem seit Jauß<br />
wieder zentralen Problem: "Literaturgeschichte" als Ermittlung<br />
der Diachronie des Literatur-Systems (1. Kapitel), gewissermaßen<br />
als dem diachronen Aspekt des im 1. Teilband<br />
systematisch beschriebenen Systems. Dabei wird erneut auf<br />
die bekannten vier Handlungsrollen abgehoben. In einem<br />
zweiten Zugriff werden "literatur-soziologische" und "literatur-psychologische"<br />
' Fragestellungen eingeholt. Der<br />
Schriftsteller als gesellschaftliche Instanz und als Künstler,<br />
die Medien, der Leser, die Kritiker etc. - alle vormals<br />
soziologischen (2. Kapitel) und auch psychologischen<br />
Themenbereiche (3. Kapitel) werden als legitime Teile der<br />
Gesamtkonzeption von Literatur-in-Gesellschaft ausgewiesen.<br />
Der dritte und letzte Zugriff ist anwendungsorientiert. An<br />
den beiden Fällen Literaturkritik (4. Kapitel) und Literaturunterricht<br />
(5. Kapitel) werden Möglichkeiten der gewünschten<br />
Verbesserung des Literatur-Systems skizziert, wie<br />
sie aus dem skizzierten wissenschaftlichen Konzept begrün-,<br />
det werden könnten. <strong>Das</strong> reicht bis zu einer neuen Berufskonzeption<br />
im ersten und zu konkreten Lernzielen im zweiten<br />
Fall.<br />
Die beiden Bände sind ein riskanter Wurf, der dem Leser<br />
große Anstrengungen abnötigt. <strong>Das</strong> gilt vor allem <strong>für</strong> die<br />
Rezeption der hier ausdrücklich als notwendig postulierten<br />
Fachsprache. Um nur ein Beispiel zu nennen: Wenn Helmut<br />
Kreuzer pragmatisch Literatur definiert als das, was von<br />
den Menschen <strong>für</strong> Literatur gehalten wird, so steht bei<br />
Schmidt: "LKK ist ein Literarisches Kommunikat <strong>für</strong> einen<br />
Kommunikationsteilnehmer K in einer sprachlichen Kommunikationshandlung<br />
KH genau dann, wenn K eine sprachliche Kommunikationsbasis<br />
SKB, die ihm in einer Kommunikationssituation<br />
KSit präsentiert wird, durch eine Kommunikationshandlung<br />
KH als thematisches Kommunikat KK realisiert und bei<br />
KH die ÄLKO und PLKO befolgt und zur Bewertung von KK<br />
sprachbezogene Ästhetische Normen anwendet" (191). Exakte<br />
Definitionen tun not, aber sind die Formelspiele (z.B. auch<br />
176ff.) tatsächlich hilfreich? <strong>Das</strong> neue Konzept muß diskutiert<br />
werden. Kritische Fragen wären gewiß auch zum Grundaufbau<br />
zu stellen, etwa zu der doch eher traditionellen<br />
Einteilung in Produktion, Vermittlung etc. Kann man wirklich<br />
das produzierte vom vermittelten und rezipierten Werk<br />
trennen; gibt es z.B. den Roman ohne das Medium Buch, den<br />
Spielfilm ohne das Kino, das Fernsehspiel ohne Fernsehen?<br />
89<br />
DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83
90<br />
Sprach- und Literaturwissenschaft<br />
(Vgl. 1. Teilband, 85f.) Ist der Gegenstandsbereich der<br />
"neuen" Literaturwissenschaft nicht viel eher gerade die<br />
untrennbare Einheit der Glieder Produzent, Vermittler, Rezipient,<br />
Verarbeiter etwa im Sinne medienästhetischer Perspektive?<br />
Mit den beiden Bänden werden solche Diskussionen<br />
um Literaturwissenschaft als Ästhetik, als Geschichte, als<br />
Kritik, als Sozialwissenschaft auf einer anspruchsvollen<br />
Ebene zweifellos vorangetrieben. "Rezeptionsforschung" ist<br />
hier längst nicht mehr Modeerscheinung am Rande, sondern<br />
eher der <strong>Theorie</strong>kern zukünftiger wissenschaftlicher Bemühungen<br />
um Literatur. Werner Faulstich (Tübingen)<br />
Masini, Ferruccio: II suono di una sola mano. Lemmi critici<br />
e metacritici. Guida editori, Neapel 1982 (208 S., br.)<br />
Der Band enthält Notizen, Aphorismen und Einfälle desjenigen<br />
italienischen Literaturkritikers der jüngeren Generation,<br />
der sich vielleicht am intensivsten um eine Klärung<br />
des Spannungsfeldes zwischen Literatur und Politik bemüht<br />
hat. Er fragt weniger, was der in literarischen Formen<br />
transportierte soziale und politische Inhalt sei, als was<br />
diese Formen selbst sind, angesprochen als Inhalte. Diese<br />
Form der Vermittlung zerstört die Integrität der Sphären,<br />
sowohl die der Literatur wie die der Politik.<br />
<strong>Das</strong> Material und die Anstöße seiner Beobachtungen entstammen<br />
vorwiegend der deutschen literarischen Tradition.<br />
Der von ihm aufgespannte Rahmen reicht von Kleist, Musil,<br />
Nietzsche (den Masini übrigens übersetzte), Kraus, Brecht<br />
bis zu Benjamin (<strong>für</strong> Masini letzte Autorität); hinzu treten<br />
Figuren wie Bataille, Artaud, Robbe-Grillet. Im Mittelpunkt<br />
dieses sehr heterogenen Feldes steht der Begriff der Avantgarde,<br />
der in all diesen Autoren aufgesucht wird, ohne zu<br />
einer Synthese zu gelangen. Erst durch diesen gemeinsamen<br />
Nenner werden die verstreuten Notizen lesbar. Jede einzelne<br />
Erscheinung wird <strong>für</strong> Masini - ob zu recht oder nicht, ist<br />
nur im Einzelfall zu entscheiden - zum Modell einer "Dialektik<br />
der Avantgarde", die ihrerseits nur in Exempeln darstellbar<br />
ist: "Die gesamte Erfahrung der Avantgarde wurde<br />
schon vor ihrem Beginn vollständig vom nervösen Gestus des<br />
Cabarets durchlaufen. (...) Der Mikrokosmos des Cabarets<br />
gewinnt so dieselbe Ambivalenz, die wir schon im widersprüchlichen<br />
Verlauf der Avantgarde wahrnehmen konnten, die<br />
unfähig war, die Inkongruenz zwischen der Revolution der<br />
Sprache und der realen Emanzipation des Menschen zu überwinden,<br />
die das schwierigste und bedeutungsvollste Problem<br />
dieser nur potentiell revolutionären Bewegung aufwirft"<br />
(49). Auf diese Weise versucht Masini sich davon Rechenschaft<br />
zu geben, daß die artistische und die politische<br />
Tendenz der Avantgarde keineswegs immer konvergierten, am<br />
allerwenigsten in Italien, deren Avantgarde artistisch zwar<br />
vielleicht "transgressiv" (Masini), politisch aber unbezweifelbar<br />
"faschistisch" war.<br />
Masini bemüht sich weniger darum, diese "Dialektik" auf-<br />
DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83
Deutsche Literaturgeschichte<br />
zulösen, d.h. zu klären, wieweit sich die Herrschaftsstrukturen<br />
der bürgerlichen Gesellschaft in Termini wie "Logozentrismus",<br />
"Grammatikalismus" usw. ausreichend beschreiben<br />
lassen, und ob daher der Verstoß gegen diese logischen<br />
und grammatischen Konventionen wirklich jenen "transgressiven<br />
Akt" darstellt, als den er sich ausgibt, sondern um ihre<br />
Festschreibung als einer Art unausweichlicher Fatalität<br />
der Kunst, zumal der modernen. Diese Position erlaubt es<br />
Masini immerhin, allzu reduktive Einwände gegen die Avantgarde<br />
zurückzuweisen; über den Charakter ihrer Werke ist<br />
mit dem Hinweis auf ihre angeblich elitäre Leserschaft oder<br />
auf die soziologische Herkunft ihrer Autoren noch nichts<br />
entschieden. Jedoch wird in Masinis am Spätwerk Benjamins<br />
orientiertem Versuch, den politischen Index der Werke zunächst<br />
aus ihren formalen Verfahrensweisen zu begründen,<br />
die "Dialektik der Avantgarde" tautologisch. Die "Transgression"<br />
muß, um solche zu bleiben, sich auf den logischgrammatischen<br />
Bereich beschränken (vgl. 11-17). Masini<br />
fragt nicht, ob die Avantgarde den Logozentrismus, das<br />
Kunstritual usw. wirklich zerstörte, oder nicht vielmehr zu<br />
monopolisieren versuchte, ob also nicht, um mit Sanguineti<br />
zu sprechen, ihr "heroisches" und ihr "zynisches" Moment<br />
von vornherein identisch waren. Den Begriff der "Transgression"<br />
selber zieht Masini nirgends in Frage, hier<strong>für</strong> scheint<br />
mir seine Rezeption von Benjamins Spätschriften verantwortlich.<br />
Die "Bewegung", die die Avantgarde zu sein und auszulösen<br />
beanspruchte, konnte, wie Masini darstellt, nur "ephemer"<br />
sein (vgl. 61ff.). Ob eine "ephemere Bewegung" Protest<br />
oder Bestätigung einer unbewegten Substanz von Herrschaft<br />
ist und wie eine "bewegte Substanz" aussehen könnte,<br />
sind offene Fragen, die in diesem Buch nicht angegangen<br />
werden. Manfred Hinz (Brescia)<br />
Deutsche Literaturgeschichte<br />
Rosellini, Jay: Volker Braun. Autorenbücher Nr. 31. C.H.<br />
Beck'sehe Verlagsbuchh. & edition text + kritik,.München<br />
1983 (200 S., br.)<br />
Volker Braun wird nach wie vor in der wesentlichen Literaturwissenschaft<br />
und -kritik unterschätzt. Die bisherige<br />
Rezeption ist von vielfältigen Mißverständnissen und Vorurteilen<br />
geprägt, so daß von Rosellinis Monographie eine Korrektur<br />
des westlichen Braun-Bildes zu erhoffen war, doch<br />
dieser Erwartung wird das Buch nicht gerecht. Der wesentliche<br />
Mangel liegt in der Unterschlagung der ästhetischen<br />
Qualitäten zugunsten einer vordergründigen politisch-ideologischen<br />
Interpretation; der Vorzug besteht darin, daß<br />
"alle Werke Brauns - die bekannten und die eher unbekann-<br />
91<br />
DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83
92 Sprach- und Literaturwissenschaft<br />
ten, die veröffentlichten sowie die unveröffentlichten -"<br />
(7) behandelt werden.<br />
Bereits in der Einleitung, in der Rosellini u.a. versucht,<br />
den Entwicklungsweg Volker Brauns nachzuzeichnen,bezieht<br />
er bislang unveröffentlichte Essays ein (13f.), in<br />
denen sich Braun in programmatischer oder auch satirischer<br />
Weise mit aktuellen und grundlegenden Problemen der DDR-Gesellschaft<br />
auseinandersetzt. Gerade aufgrund der Kenntnis<br />
dieser Schriften ist eine differenzierte Darstellung der<br />
Position Brauns zu erwarten, doch Rosellini entwirft ein<br />
unscharfes, ja verzerrendes "Zwei-Phasen-Modell": "bis etwa<br />
1968 mehr oder weniger orthodoxer Marxismus-Leninismus, danach<br />
eine immer schärfere sozialistische Kritik am herrschenden<br />
System in Osteuropa" (16). Richtig ist, daß sich<br />
Brauns <strong>kritische</strong> Perspektive verändert hat: War zunächst<br />
die unterentwickelte sozialistische Demokratie ein Fixpunkt<br />
seiner Arbeit, so setzt er sich seit Beginn der siebziger<br />
Jahre verstärkt mit grundlegenden geschichtsphilosophischen<br />
Fragen auseinander, denn es geht ihm um die "Veränderung<br />
der politischen Schichtung" durch die "Umwälzung der ökonomischen<br />
Struktur" (Braun, 13). Verstehen läßt sich Brauns<br />
Arbeit an der immanenten Veränderung der Gesellschaft nur,<br />
wenn man z.B. der Dialektik des von Braun geäußerten Gedankens<br />
folgt, "daß es noch niemals so war, daß einer <strong>für</strong> eine<br />
Gesellschaft ist - und doch zugleich sie mit derselben<br />
Energie ändern will wie in alten Zeiten ..." (54).<br />
Rosellini folgt in seiner Besprechung der einzelnen Werke<br />
der Chronologie. Die "frühen Arbeiten" - die drei Stücke<br />
"Die Kipper", "Hinze und Kunze", "Freunde" und die ersten<br />
beiden Gedichtbände - werden zusammenfassend vorgestellt.<br />
Dabei beschäftigt sich Rosellini hauptsächlich mit den Themen,<br />
die als Kontinuum durch Brauns Gesamtwerk zu verfolgen<br />
sind. Unter anderem werden genannt "die Notwendigkeit der<br />
ständigen revolutionären Entwicklung" (30), der Mensch als<br />
"Produzent seiner eigenen Persönlichkeit, Produzent menschlicher<br />
Beziehungen" (33), das "Verhältnis Führer - Geführte"<br />
(35), der Internationalismus usw.<br />
Auch bei der Analyse der Gedichtzyklen bemüht sich der<br />
Verfasser um die Hervorhebung gemeinsamer und übergreifender<br />
Aspekte. Für den Gedichtband "Gegen die symmetrische<br />
Welt" wird die "Bestimmung des neuen Standorts zwischen<br />
Utopie und Gegenwart" (66) als eine zentrale Koordinate angenommen,<br />
und als "charakteristische Merkmale" des letzten<br />
Gedichtbandes "Training des aufrechten Gangs" nennt Rosellini:<br />
"die Suche nach dem 'Eigentlichen', die Rezeption der<br />
Klassik sowie der sozialistischen Lyrik, das Aufspüren der<br />
Geschichte in der Gegenwart, die 'Zerrissenheit' des lyrischen<br />
Ichs und die sehr persönliche Standortbestimmung des<br />
Dichters" (114).<br />
Während solche Ergebnisse durchaus hilfreich sind <strong>für</strong><br />
das Verständnis der Gedichte Brauns, sind die Interpretationen<br />
der Dramen, vor allem der zuletzt entstandenen, kaum<br />
DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83
Deutsche Literaturgeschichte 93<br />
mehr nachvollziehbar. Trotz der Kenntnis von Brauns Kommentaren<br />
z.B. zum Stück "Schmitten", stülpt er diesem Stück<br />
das gern verwendete dichotomische Bild vom glückverlangenden<br />
Individuum versus dem repressiven sozialistischen Staat<br />
über. Ein weiteres Beispiel: In "Dmitri", ein Stück nach<br />
Friedrich Schillers Fragment "Demetrius", wird die Frage<br />
nach der Legitimität von Herrschaft gestellt. Die hierarchischen<br />
gesellschaftlichen Verhältnisse werden vorgeführt<br />
als von den Unterdrückten gleichsam mitverantwortete. Rosellinis<br />
Ergebnis: "Die Lehre ist klar: wer sich in den Unterdrückungsapparat<br />
einschraubt, kann nicht hoffen, etwas<br />
zu ändern ..." (148). Nein, die Lehre ist nicht klar, sie<br />
existiert im Stück selber gar nicht. Brauns Schreibweise<br />
zielt auf den erkennend-handeInden Leser/Zuschauer; er<br />
schafft in seiner Literatur Leerstellen, die positiv von<br />
den Rezipienten zu füllen sind.<br />
Zum Teil unterlaufen dem Verfasser auch ungewollte Kalauer,<br />
die spätestens von den Lektoren hätten korrigiert<br />
werden müssen. (Beispiel: "Allerdings darf nicht außer acht<br />
gelassen werden, daß die in der DDR vorherrschenden Widersprüche<br />
nicht alle unbedingt neuartig sind, was man z.B. an<br />
einem von Braun ... verwendeten Stilmittel absehen kann"<br />
(54).) Überhaupt verliert Rosellini manchmal den Kunstcharakter<br />
der Literatur aus dem Auge, verwechselt literarische<br />
figuren mit authentischen DDR-Bürgern. (Über einen Parteisekretär<br />
aus dem Stück "Tinka" schreibt er: "Eigentlich<br />
sollten denkende Genossen wie Ludwig der Stolz der DDR<br />
sein" (77).) Ärgerlich aber ist vor allem, daß Rosellini<br />
meint, dem Schriftsteller Volker Braun gute Ratschläge geben<br />
zu müssen. (Aus dem Stück "Simplex Deutsch" solle er<br />
einfach einige "schwächere Szenen" (144) herausstreichen.)<br />
Fazit: Ein Buch, das unter dem Standard der Reihe "Autorenbücher"<br />
liegt und nur sehr bedingt als Gesamtdarstellung<br />
des literarischen Werks Volker Brauns zu gebrauchen ist.<br />
Rüdiger Mangel (Karlsruhe)<br />
Arnold, Heinz Ludwig (Hrsg.): Peter Weiss. Text und Kritik<br />
37. 2., völlig veränderte Aufl., München 1982 (136 S., br.)<br />
Während in der 1. Auflage (1973) noch die Beschäftigung<br />
mit dem dramatischen Werk dominierte, setzt sich die 2.<br />
Aufige mit dem ganzen künstlerischen Oeuvre von Weiss auseinander.<br />
Als "Werk der Grenzüberschreitung", wegen Weiss' Grenzenlosigkeit<br />
in Sprache, Heimatort und Malerei sieht Mayer<br />
Weiss' Schaffen. Auch in der Überwindung des Sprachverlusts<br />
liegt der produktive Imnpuls bei Weiss. Abgeleitet aus<br />
"Trotzki im Exil" wird das Leitmotiv von politischer (in<br />
der Figur Lenins) und künstlerischer (Surrealisten) Revolutionierung<br />
benannt als "zweifache Praxis der gesellschaftlichen<br />
Veränderung".<br />
Hiekisch ("Zwischen surrealistischem Protest und <strong>kritische</strong>m<br />
Engagement") untersucht die Spannung zwischen indivi-<br />
DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83
94 Sprach- und Literaturwissenschaft<br />
dueller Selbstbefreiung und sozialer Verantwortung in den<br />
surrealistischen Filmen und Bildern sowie in der frühen<br />
Prosa. Die Suche nach neuen Ausdrucksmitteln und das Experimentieren<br />
mit ihnen bilden die Entstehungsbedingung der<br />
frühen Prosawerke, wo Text neben Bild steht. Im Assoziationsverfahren<br />
(in "<strong>Das</strong> Gespräch der drei Gehenden") und in<br />
der collagierten Illustration kindlicher Allmachtsträume<br />
("Abschied von den Eltern") liegen die surrealen Komponenten<br />
des "subjektivistischen" Frühwerks, das sich mit der<br />
Gesellschaft auseinandersetzt "unter den ästhetischen Prämissen<br />
des Surrealismus und dem Blickwinkel der Selbstbefreiung"<br />
.<br />
Arnold ("Ihre Stimmen leben in mir") setzt sich mit<br />
Weiss* Elternbeziehung auseinander und arbeitet zwei Isolationsprozesse<br />
heraus: bedingt durch das Exil und die innere<br />
Isolation des jungen Weiss, der beherrscht ist durch die<br />
Figur der Mutter. Im exilierten Halbjuden Weiss deckt sich<br />
äußere und innere Isolation. In der Verarbeitung dieser<br />
Problematik liegt Weiss' künstlerische Produktivität.<br />
Mit der "Identitätssuche" im dramatischen Werk beschäftigt<br />
sich Jahnke ("Von der Revolute zur Revolution"). Als<br />
charakteristisches Merkmal der frühen Stücke bis zu "Marat/<br />
Sade" steht die "statische Grundstruktur" der Szenen und<br />
Bilder.<br />
Der Schwerpunkt des Bandes liegt in der Analyse der "Ästhetik<br />
des Widerstands". Mit den Begriffen "Ästhetik" und<br />
"roman d'essai" beschäftigt sich Jung ("Vom Programm einer<br />
kämpferischen Ästhetik"). Ästhetik als <strong>Theorie</strong> der sinnlichen<br />
Erkenntnis läßt antifaschistischen Widerstand erst<br />
wirksam werden. Da Jung nur auf der abstrakten Ebene ohne<br />
durchgehende textanalytische Verifizierung arbeitet, wird<br />
das Ästhetische am politischen Diskurs bei Weiss nicht<br />
greifbar.<br />
Schweikert ("Kunst als Widerstand, Widerstand als Kunst")<br />
arbeitet drei Erzählebenen heraus: den historischen Bericht,<br />
die Wirklichkeit der Kunst und das erzählte Ich, was Chiffre<br />
und Fluchtpunkt kollektiver Erfahrungen ist. Weiss' Begriff<br />
einer "kämpfenden Ästhetik" wird unspezifisch aufgelöst<br />
in der Gleichwertigkeit von Politik und Ästhetik als<br />
"Äußerungen eines universalen Erkenntnisprozesses". Während<br />
im 1. Band die "soziologische Deutung von Kunst" dominiert,<br />
so wandelt sich die Rezeption im 3. Band zur "Depersonalisierung<br />
der Kunst", begründet durch Weiss' Zweifel am Marxismus<br />
.<br />
Der umfangreichste Beitrag in diesem Heft von Vogt ("Wie<br />
könnte dies alles geschildert werden") analysiert präzis<br />
das Textmaterial und versucht im Rekurs auf das Frühwerk<br />
implizite Strukturen und Erzählformen im Roman herauszufinden.<br />
Die im Frühwerk thematisierte Problematik der "Unzugehörigkeit"<br />
erscheint im Roman <strong>für</strong> den "Ich - Erzähler in<br />
der Fiktion als lebenspraktisches Projekt" und "als Fiktion,<br />
Projekt des Autors". Proletarische Klassenidentität im "Wi-<br />
DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83
Deutsche Literaturgeschichte<br />
derstand" und die Entwicklung künstlerischer Identität als<br />
"Ästhetik" bilden zwei Ebenen der Identitätssuche. In der<br />
Dialogstruktur herrscht ein "Fluktuieren der Erzählfunktion"<br />
vor, die teilweise durch entpersonalisierte Perspektive<br />
den Diskussionsprozeß nicht im statischen Zustand -<br />
wie im frühen Drama -, sondern in einer "beweglichen Balance"<br />
hält. Weiss wie Brecht schreiben als Filme - sehender,<br />
womit - folgert Vogt weiter - die Erzählstruktur zur Erzählszenerie<br />
wird.<br />
Neben einer nützlichen Bibliographie, der Schilderung<br />
einer Theateraufführung in Honduras, einem vom 1. Text und<br />
Kritik-Band (1973) übernommenen Beitrag von Baumgart ("In<br />
die Moral entwischt") steht ein Artikel von Vormweg ("Der<br />
Autor als junger Künstler", vgl. <strong>Argument</strong> 132, 290ff.). Der<br />
Abdruck von Weiss' "Skizzen zu einem Stück Uber Rimbaud",<br />
und "Rimbaud. Ein Fragment" sind lobenswert,ebenso wie in<br />
Hiekischs Auswertung von bisher unveröffentlichtem Material<br />
und Vogts Beitrag wichtige Impulse zur Weiss-Forschung liegen.<br />
Erhard Mindermann (Berlin/West)<br />
Hoffmann, Ludwig u.a.: Exil in der Tschechoslowakei, in<br />
Großbritannien, Skandinavien und Palästina. Röderberg-Verlag<br />
Frankfurt/M. 1980 (747 S., br.)<br />
Der 5. Band der DDR-Exilreihe unternimmt den Versuch,<br />
das Exil in den bislang in der Forschung namenlos gebliebenen<br />
Ländern CSR, Großbritannien, Skandinavien und Palästina<br />
bekannt zu machen. Die Kombination dieser Länder ist nicht<br />
willkürlich: die CSR war oft der Ausgangspunkt <strong>für</strong> das Exil<br />
in einem der genannten Länder, Großbritannien und Schweden<br />
wiesen als nicht vom Hitlerfaschismus okkupierte Länder<br />
ähnliche Exilbedingungen auf, Palästina schließlich hat<br />
über die Mandatsträgerschaft mit britischer Geschichte zu<br />
tun. Um solche Zusammenhänge herauszuarbeiten, um in komprimierter<br />
Form Überblicke zu geben, wird der Beschreibung<br />
der historisch-politischen Situation dieser Exilländer<br />
breiter Raum gegeben. Dies geht auf Kosten der Analyse von<br />
Exilwerken, von ausführlichen biographischen Beschreibungen<br />
von Exilierten und hebt diesen Band - nicht unbedingt positiv<br />
- aus der Gesamtkonzeption der Reihe heraus.<br />
Auf die CSR, eine mehr oder minder funktionierende Demokraite,<br />
ergoß sich der Flüchtlingsstrom zuerst. Hansjörg<br />
Schneider nennt da<strong>für</strong> mehrere Gründe: der Grenzübertritt<br />
war einfach, es gab eine starke deutsche Bevölkerungsgruppe,<br />
deutschsprachige Zeitungen, Schulen, Theater und andere<br />
Einrichtungen. Im Vergleich zu anderen Staaten Europas waren<br />
die Exilbedingungen liberal, verschlechterten sich allerdings<br />
im Laufe der 30er Jahre rapide, vor allem durch<br />
den immer stärker werdenden Druck der Henlein-Faschisten<br />
und der tschechischen Faschisten.<br />
Dâs umfangreichste Kapitel ist der Vielzahl von Exilverlagen<br />
und -Zeitschriften gewidmet, die sich in Prag gründen:<br />
dem Malik-Verlag, der hier sein erstes Exil findet,<br />
95<br />
DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83
96 Sprach- und Literaturwissenschaft<br />
SPD-Exilorgan "Neuer Vorwärts", den "Neuen Deutschen Blättern",<br />
heausgegeben von W. Herzfelde, Anna Seghers, O.M.<br />
Graf und Jan Petersen, dem "Gegenangriff" mit Bruno Frei<br />
als Chefredakteur, schließlich der "Neuen Weltbühne" unter<br />
der Leitung von Hermann Budzislawski. Vor allem ihr Wirken<br />
im Zeichen der Volksfront, zur "Sammlung der Kräfte" analysiert<br />
Schneider. Deutlich davon abgehoben die "Welt im<br />
Wort", eine von Willy Haas herausgegebene Exilzeitschrift,<br />
"die den fragwürdigen Versuch unternahm, eine Herausforderung<br />
und Bedrohung, wie sie der Faschismus darstellte, mit<br />
Stillschweigen zu übergehen, an der Realität vorbeizupublizieren<br />
und angesichts des braunen Feldzugs gegen Kunst und<br />
Kultur eine Scheinwelt reiner unverletzter Poesie aufzubauen"<br />
( 51 ).<br />
Einen weiteren Schwerpunkt bildet die Tätigkeit der vielen<br />
in die CSR emigrierten Schriftsteller wie Graf, Scharrer,<br />
Fürnberg, Heym, Kisch, Weiskopf u.v.a. Hier hebt<br />
Schneider die Versuche der Fortführung der Arbeit von SDS<br />
und BPRS, die Zusammenarbeit mit dem tschechoslowakischen<br />
Schriftstellerverband hervor. Nach dem Münchner Abkommen<br />
verschlechtern sich die Arbeitsmöglichkeiten der Emigranten<br />
zusehends, antifaschistische Publikationen werden verboten.<br />
Der 'Anschluß' des Sudentenlandes an Deutschland beendet<br />
<strong>für</strong> viele die Emigration in der CSR, manche finden Asyl in<br />
England. Die Flüchtlingspolitik der englischen Regierung<br />
verhindert allerdings ein allzu rasches Ansteigen des Emigrantenstromes.<br />
Einreisen darf nur, wer eine Arbeitserlaubnis<br />
oder einen englischen Bürgen hat. Mit dem Kriegseintritt<br />
Englands werden die meisten Emigranten zu "feindlichen<br />
Ausländern" erklärt, die politisch aktivsten interniert.<br />
Den Mittelpunkt des antifaschistischen Kampfes bildet<br />
der "Freie Deutsche Kulturbund", gegründet 1938 in London<br />
als Sammelbecken aller antifaschistischen Deutschen: Kommunisten<br />
wie Kuczynski und Fladung gehören ihm ebenso an wie<br />
die Vertreter des bürgerlichen deutschen Kulturlebens Kerr,<br />
Kokoschka, Viertel und Stefan Zweig. Unterstützt von namhaften<br />
Schriftstellern wie Huxley und Priestley entfaltet<br />
der in Sektionen (Bildende Künste, Schauspieler, Musiker,<br />
Wissenschaftler) unterteilte Kulturbund eine umfangreiche<br />
Tätigkeit <strong>für</strong> das "andere Deutschland": Konzerte, Ausstellungen,<br />
Theater etc. In weiteren Kapiteln werden die Exiltätigkeit<br />
von Kokoschka, dem Dirigenten Fritz Busch, dem<br />
Choreographen Kurt Jooss, dem Musikwissenschaftler Ernst<br />
Meyer vorgestellt.<br />
In Skandinavien waren Dänemark und Schweden Schwerpunkte<br />
der Emigration, auch wenn auf Druck des faschistischen<br />
Deutschland die Zahl der Emigranten geringgehalten wurde.<br />
Zwei Hauptaktivitäten der Emigration heben L. Hoffmann und<br />
Curt Trepte hervor: die Theatertätigkeit deutscher Emigranten<br />
in Schweden und die Verlagstätigkeit der beiden Exilverlage<br />
Max Tau und Bermann Fischer, letzterer mit der Ver-<br />
DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83
Deutsche Literaturgeschichte 97<br />
öffentlichung des Gesamtwerkes von Schriftstellern wie Th.<br />
Mann, Werfel, Zuckmayer und Stefan Zweig einer der erfolgreichsten<br />
Exilverlage. Weitere Kapitel stellen emigrierte<br />
Schriftsteller wie Tucholsky, Hans Henny Jahn und Hans Tombrock<br />
vor. Am interessantesten hier das Kapitel Uber die<br />
wenig bekannte Margarete Steffin, proletarische Kinderbuchautorin<br />
und Mitarbeiterin Brechts.<br />
Der letzte Teil des Bandes stellt das Exil in Palästina<br />
vor. Die Exilbedingungen hier waren nicht einfach: erst ab<br />
1942 war es möglich, "Gedanken zu äußern, die mit der offiziellen<br />
zionistischen Ideologie nicht Ubereinstimmten"<br />
(578), zu diesem Zeitpunkt wurde auch das Verbot der Kommunistischen<br />
Partei Palästinas aufgehoben. Als wichtigste antifaschistische<br />
Aktivitäten nennt R. Hisch: die GrUndung<br />
der "Liga V" zur Unterstützung der Sowjetunion durch Arnold<br />
Zweig, die Arbeit der immer wieder von Zionisten angegriffenen<br />
Zeitschrift "Orient", der Buchklubs "Chug" und "Heute<br />
und Morgen", schließlich das Wirken der Künstler und<br />
Schriftsteller Arnold Zweig, Louis FUrnberg, Else Lasker-<br />
Schüler und Lea Grundig. Norbert Kortz (Tübingen)<br />
Koebner, Thomas (Hrsg.): Weimars Ende. Prognosen und Diagnosen<br />
in der deutschen Literatur und politischen Publizistik<br />
1930-1933. Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M. (434 S., br.)<br />
Ausgehend von Alfred Kerrs Diktum, die Intellektuellen<br />
hätten den Gang der Ereignisse nach 1933 sehr viel besser<br />
vorausgesehen als die Politiker, dokumentiert der Band anhand<br />
der Beiträge zum internationalen Symposion der Forschungsstelle<br />
Deutsche Literatur 1933-1945 in Wuppertal,<br />
"wie das linke, liberale, rechte Denken zu Beginn der dreißiger<br />
Jahre bei der Oberflächen- und Tiefendeutung der Zeit<br />
verfährt" (11). Ziel der Untersuchungen des Bandes ist jedoch<br />
nicht die Beantwortung der Frage, wer an Weimars Ende<br />
schuld gewesen sei, vielmehr sollen die Denkmuster, Verhaltensdispositionen<br />
und politischen Konzepte durchleuchtet<br />
werden, die - oft gegen ihre eigentliche Absicht - von der<br />
faschistischen Ideologie integriert werden konnten. Der<br />
Rückgriff der Intellektuellen auf alte Konflikt- und Abgrenzungsmuster<br />
wie Preußentum, Militarismus und Geistfeindlichkeit<br />
bot offensichtlich ebensowenig Widerstand dagegen<br />
wie die Schicksalsergebenheit des jüdisch-messianischen<br />
Denkmodells oder die polemische Abwertung Hitlers als<br />
"Harlekin" durch die Linke. Warum?<br />
Die Aufsätze von Heinz Abosch und Frank Trommler thematisieren<br />
die "kampflose Kapitulation der deutschen Arbeiterbewegung"<br />
(21) wie der Intelligenz: wurde das Vertrauen<br />
der SPD in die Unabänderlichkeit der Entwicklung zum Sozialismus<br />
(Breitscheid 1931) weder der Reorganisation der Mittelschichten<br />
durch den Faschismus gerecht noch seiner Aktivierung<br />
kleinbürgerlicher Wünsche und Sehnsüchte, so verfehlte<br />
die Sozialfaschismusthese der KPD ebenso den eigentlichen<br />
Gegner. Der Zusammenhang zwischen Parteidisziplin,<br />
DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83
98<br />
Sprach- und Literaturwissenschaft<br />
Apparat, Kampftraditionen und der Beibehaltung der mechanischen<br />
Maxime vom gesetzmäßigen Übergang zum Sozialismus<br />
wird von Abosch allerdings mehr gestreift als analysiert.<br />
Trommlers Aufsatz über das "Krisengefühl der Intelligenz um<br />
1930" thematisiert vor allem die Wirksamkeit der Denkfigur<br />
"Kulturkrise", als deren Konsequenz der Anbruch des Faschismus<br />
erscheinen mußte. In ihr konnten sowohl die ökonomische<br />
und soziale Bedrohung der Intelligenz als auch die<br />
"Entzweiung der kulturellen und technischen Eliten" (36)<br />
aufgehoben werden. Lebensphilosophie, Anknüpfung an das<br />
identitätsstiftende Erlebnis des Ersten Weltkrieges und<br />
Neubelebung von gemeinschaftsbildenden Mythen und Symbolen<br />
schlössen sich zu einem Selbstverständnis der Intelligenz<br />
zusammen, das "zwar als Selbstverwirklichung stilisiert<br />
werden (konnte), aber letztlich bloß den herrschenden<br />
Schichten zuarbeitete" (47) - so der Soziologe Hans Speier<br />
bereits 1929, allerdings ohne jegliche Handlungs- oder Widerstandsperspektive.<br />
Aber auch die kritisch-satirische Bestandsaufnahme der<br />
"Weltbühne" sieht in Hitler und seinen Parteigängern "alle<br />
traditionellen Horrorbilder der linksliberalen Satire" (59)<br />
vereinigt: "Zu einer Zeit, als schon so viele satirische<br />
Pfeile verschossen worden waren, tötete Lächerlichkeit<br />
nicht mehr; eher schaffte sie Publicity" (J. Radkau) (64).<br />
Selbst die Perspektive derjenigen, die - wie Toller und<br />
Mühsam - an den revolutionären Kämpfen seit 1918 beteiligt<br />
waren, blieb "imaginär und ohne praktischen Ansatz im politischen<br />
Alltag" (74).<br />
Neben der Untersuchung der verschiedenen liberalen Positionen<br />
in den Zeitschriften "<strong>Das</strong> Andere Deutschland" und<br />
"Deutsche Republik" ist vor allem Dietz Berings Aufsatz<br />
Uber die "Struktur politischer Perspektiven im 'Centrai-<br />
Verein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens'" aufschlußreich<br />
<strong>für</strong> den Zusammenhang von zeitgenössischen Erklärungsmodellen<br />
<strong>für</strong> den Faschismus, realen Handlungsmöglichkeiten<br />
und der Aktualisierung tradierter Denk- und Verhaltensmuster.<br />
Die Doppelstruktur von jüdischem Glauben und<br />
deutscher Gesinnung - Bering nennt sie in Anlehnung an Goethes<br />
Formel "geeinte Zwienatur" - dominiert noch weit bis<br />
in die 30er Jahre hinein das Denken des Vereins, der zunehmend<br />
die "Erinnerungsgemeinschaft" der Gläubigen (192) und<br />
die Idee des Ausharrens in der Not aktualisiert - und damit<br />
die "einzigartige Realitätsresistenz der Juden am Ende der<br />
Weimarer Republik" (198) untermauert.<br />
Teil III des Bandes fächert vor allem die Zeitdiagnosen<br />
von Schriftstellern auf: er behandelt Brecht/Wangenheim,<br />
Thomas Mann, Alfred Kerr, Alfred Döblin, Hofmannsthal und<br />
Landauer als Vertreter der anarchistischen und der konservativen<br />
Revolution, Spengler/Jünger sowie generell die Epochendarstellung<br />
in Zeit- und frühen Exilromanen. Besonders<br />
bemerkenswert ist Gert Sautermeisters Analyse von Thomas<br />
Manns Faschismuskritik: selbst vom Kulturkonservatismus und<br />
DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83
Deutsche Literaturgeschichte 99<br />
Ästhetizismus der Jahrhundertwende kommend, weist er in den<br />
großen Reden der Weimarer Zeit auf das humanistische Potential<br />
gerade der vom Faschismus am meisten beanspruchten<br />
Epoche, der Romantik, hin und deckt gleichzeitig die rationale<br />
Leistung der Freudschen Psychoanalyse auf. Ständig ist<br />
seine Rückeroberung der schon nationalistisch besetzten Bedürfnisse<br />
und Begriffe verknüpft mit ihrer Einbindung in<br />
einen demokratischen Parlamentarismus, als deren Vertreterin<br />
die SPD erscheint. So macht er eine "menschenwürdige<br />
SozialVerfassung von der Bewußtwerdung unbewußter Triebkräfte<br />
abhängig" (282) und kann so einen "Hauptweg faschistischer<br />
Strategie" (296) - die Ästhetisierung politischer<br />
Strategien - freilegen. Dagegen ließe sich die Haltung des<br />
Großteils auch der Literaten in Wulf Koepkes auf Döblin gerichtetem<br />
Urteil verdeutlichen: "Es wurden Pillen zur Heilung<br />
verlangt, und er bot eine neue <strong>Theorie</strong> Uber den Begriff<br />
Krankheit" (328). Wie sich diese Art von <strong>Theorie</strong>bildung<br />
einer "freischwebenden Intelligenz" (Karl Mannheim,<br />
1929) mit der Organisation intellektuellen Wissens in der<br />
Weimarer Republik verbindet, wäre allerdings noch einen eigenen<br />
Beitrag wert gewesen. Claudia Albert (Berlin/West)<br />
Marcus-Tar, Judith: Thomas Mann und Georg Lukâcs. Beziehung,<br />
Einfluß und "Repräsentative Gegensätzlichkeit". Bühlau<br />
Verlag, Köln-Wien 1982 (208 S., Ln.)<br />
Anhand dreier Schwerpunkte analysiert die Verfasserin<br />
mit unterschiedlicher Ausführlichkeit die Lukacs-Mann-Beziehung.<br />
Auf wenigen Seiten behandelt sie unter dem Titel<br />
"Die geistige Nähe: Darstellung eines Wechselverhältnisses"<br />
(27-40) die eine gemeinsame Problemstellung Manns wie auch<br />
des jungen Lukâcs, die Erhellung des Problematischen der<br />
Lage am Beginn des 20. Jahrhunderts (vgl. 29). Was bei<br />
Lukâcs essayistisch gestaltet wird, nimmt bei Thomas Mann<br />
die Form der Erzählung oder des Romans an, wobei feststeht,<br />
daß Mann aus seiner Lektüre von Lukâcs' Essayband "Die Seele<br />
und die Formen", woraus er sich eine Reihe von Exzerpten<br />
zusammenstellte, vielfältige Anregungen zog und konkrete<br />
Interessen an bestimmten Autoren, wie z.B. Ch.L. Philippe,<br />
entwickelte (vgl. 35ff.). Leider nur andeutungsweise spricht<br />
Marcus-Tar vom Einfluß der "<strong>Theorie</strong> des Romans" auf die<br />
Konzeption von Manns Zauberberg, der als die literarische<br />
Verwirklichung der von Lukâcs <strong>für</strong> den modernen Roman geforderten<br />
Programmatik anzusehen sei (vgl. 39). Ebenfalls<br />
knapp umreißt die Verfasserin im zweiten Kapitel der Arbeit<br />
(41-53) die persönliche Beziehung zwischen Lukâcs und Mann,<br />
die nach Durchsicht aller in Frage kommenden Dokumente unter<br />
das Leitmotiv "Achtung und Distanz" (41, vgl. auch<br />
52f.) gestellt wird. Näherhin kann man bei Lukâcs gegenüber<br />
Mann von einer "intellektuellen Liebesaffaire" (vgl. 42)<br />
sprechen, während Mann, mit einem Wort Lukâcs', eher ein<br />
"Unheimlichkeitsgefühl" (vgl. 48) gegenüber Lukâcs empfunden<br />
hatte. Ein Resümee ihrer Beziehung zog schließlich Mann<br />
DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83
100 Sprach- und Literaturwissenschaft<br />
in dem Text "Die Entstehung des Doktor Faustus", aus dem<br />
deutlich wird, daß Manns "hohe Meinung" "ausschließlich<br />
Lukâcs, dem Kritiker" galt (vgl. 51).<br />
Mit dem dritten und umfangreichsten Kapitel des Buches<br />
(54-157) ist nicht nur ein interessanter Beitrag zur Philologie<br />
des Zauberberg-Romans geleistet, sondern auch eine<br />
minutiös recherchierte Biographie Leo Naphtas, einschließlich<br />
der Vor- und Nachgeschichte(n) dieser Figur in anderen<br />
Mann-Erzählungen und Romanen, im Hinblick auf Lukâcssche<br />
Züge in ihr geliefert. Ausgehend von der mittlerweile zum<br />
Gemeinplatz gewordenen These des französischen Germanisten<br />
Pierre-Paul Sagave (und auch, wie Marcus-Tar gezeigt hat,<br />
vor diesem schon von Arthur Eloesser), daß Naphta identisch<br />
sei mit der Person Georg Lukâcs', was übrigens zeitlebens<br />
weder von Lukâcs noch von Mann ausdrücklich bestritten wurde,<br />
kommt die Verfasserin nach eingehender Diskussion der<br />
Vorgeschichte und des Werdegangs von Leo Naphta, seiner<br />
Physiognomie sowie seiner Persönlichkeit zu einem weit differenzierteren<br />
Urteil: zweifellos bestimmt Georg Lukâcs die<br />
Figur des Leo Naphta in etlichen markanten Zügen - interessant<br />
ist die Bemerkung von Marcus-Tar, daß die endgültige<br />
Gestalt der Naphta-Figur erst nach Manns Zusammentreffen<br />
mit Lukâcs 1922 zustandekam (vgl. 70) -, dennoch bildet die<br />
Figur insgesamt einen "Gipfel idealtypischer Gestaltung"<br />
(68) und stellt deren Biographie "ein Kompositum" (84) dar.<br />
Marcus-Tar gelangt zu dem Ergebnis, "daß die Kombination,<br />
die am Ende eine Gestalt und einen Typ wie Naphta ergab,<br />
keineswegs so kühn, ein- und erstmalig war, wie man es im<br />
allgemeinen annahm und Thomas Mann selbst glauben wollte"<br />
(121). In einer Hinsicht aber verkörpert Leo Naphta einen<br />
bedeutenden Zug, <strong>für</strong> den Georg Lukâcs sicherlich Pate gestanden<br />
hat und der darüber hinaus Sinnbild auch <strong>für</strong> die<br />
über alle "Achtung und Distanz" hinausgehende kühle Reserviertheit<br />
in der Beziehung von Mann zu Lukâcs seitens Thomas<br />
Manns ist: die Fremdheit. Naphta-Lukäcs ist <strong>für</strong> "den<br />
alteingesessenen Bürger" Mann (157) in eben dem Sinne ein<br />
Fremder, wie Georg Simmel, Lukâcs' bevorzugter Heidelberger<br />
Lehrer, diesen in seiner Soziologie charakterisiert hat als<br />
jemanden, der heute kommt und morgen bleibt. Immer bleibt<br />
der Fremde ein zweifelhafter Eindringling. "Er hat seine<br />
Rollen: die vornehmere davon ist die des Lehrers, des 'Vermittlers<br />
' ". In den Betrachtungen sprach Thomas Mann von<br />
sich als demjenigen, der sich "von seinem gelehrten Sohne"<br />
unterrichten ließ. Er meinte den jungen "ungarischen Essayisten<br />
Georg Lukâcs", der das "schöne Buch" Die Seele und<br />
die Formen schrieb. Gewisse innere Erfahrungen teilt man<br />
aber mit einem "Fremdling" nicht, und das schafft Distanz"<br />
(157). Werner Jung (Aachen)<br />
DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83
Deutsche Literaturgeschichte<br />
101<br />
Wagner, Nike: Geist und Geschlecht. Karl Kraus und die Erotik<br />
der Wiener Moderne. Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M. 1982<br />
(289 S., Ln.)<br />
Femme fatale und femme fragile sind die typischen Frauenbilder<br />
der Wiener Moderne. "Künstlerische Selbsttherapie"<br />
bezeichnet Nike Wagner in ihrer Studie über die Wiener Moderne<br />
die Dämonisierung der Frau zu einer männerverzehrenden<br />
Nymphomanin und die Idealisierung der Frau zu einer madonnenhaften<br />
Schönheit - in beiden "Transfigurationen" verschränken<br />
sich Faszination und Abwehr, Sexualekstase und<br />
Sexualangst. In drei Kapiteln - "Eros und Doxa", "Eros und<br />
Themis" und "Eros und Logos" - beschreibt Wagner den Kontext<br />
von Erotik und Sexualität, von Frauenhaß und Männlichkeitswahn<br />
der Wiener Moderne, der sich in den sexualkundlichen<br />
Schriften Krafft-Ebings und Otto Weinigers ebenso<br />
niederschlägt wie in der Malerei der Wiener Sezession und<br />
in den Werken Wedekinds und Dehmels - bis hin zu Leopold<br />
von Sacher-Masochs "Grausame Frauen" und Felix Saltens "Josefine<br />
Mutzenbacher". Zwischen Misogynie und hymnischer<br />
Verehrung oszilliert auch das Frauenbild von Karl Kraus.<br />
Wie Otto Weininger in seiner Schrift "Geschlecht und Charakter"<br />
verteidigt Kraus den Dualismus zwischen der Geschlechtlichkeit<br />
des "Weibes" und der "Geistigkeit" des<br />
Mannes. Im Gegensatz jedoch zu Weininger, wie Wagner in dem<br />
Kapitel "Eros und Logos" (132ff.) ausführt, sieht Kraus in<br />
der Beziehung der Geschlechter kein antagonistisches, sondern<br />
ein komplementäres Verhältnis. Kraus wird die Geschlechtlichkeit<br />
der Frau in der Prostituierten zur Komplizin<br />
im Kampf gegen die bürgerliche Doppelmoral. Die Prostituierte<br />
verteidigt er gegen die Diskriminierung durch die<br />
bürgerliche "Moraljustiz" und gegen die "Triebverdrängungsrache".<br />
Kraus, wie sein Weggefährte Peter Altenberg, opponiert<br />
als "Erotiker" gegen die leistungsorientierte Ökonomie<br />
des bürgerlichen Sexuallebens. "Ich bin nicht <strong>für</strong> die<br />
Frau, aber gegen die Männer" (177), schreibt Karl Kraus und<br />
polemisiert in der "Fackel" gegen den Bürger, der in der<br />
Prostituierten ein "notwendiges, aber verachtetes und<br />
drangsaliertes Korrelat zu den anständigen Frauen" sieht,<br />
worin sich die "Korruptheit des bürgerlichen Tugend- und<br />
Ehesystems auf deutlichste Weise" zeigt (209). Wagner folgert,<br />
daß die "aggressiv zur Schau gestellte Allianz" mit<br />
der Geschlechtlichkeit der Prostituierten mit der "Spracherotik"<br />
von Kraus korrespondiert. Es "tritt der Eros der<br />
Sprache an die Stelle des realen Liebesobjektes selbst. Nur<br />
schreibend-liebend ist Kraus glücklich. 'Geist und Geschlecht'<br />
sind Denkfiguren der Leidenschaft - eines leidenschaftlichen<br />
Denkens in Sprache" (213). Diese Folgerung erscheint<br />
im Rahmen der Arbeit Wagners durchaus konsequent,<br />
kann aber nicht mehr als eine Bedingung <strong>für</strong> das Werk von<br />
Kraus sein. Die Zusammenhänge jedoch, aus denen heraus der<br />
Antagonismus von "Geist" und "Geschlecht" in der Wiener Moderne<br />
erst erwachsen konnte, hat Wagner überzeugend dargestellt.<br />
Hansgeorg Schmidt-Bergmann (Amöneburg)<br />
DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83
102 Sprach- und Literaturwissenschaft<br />
Schorske, Carl E.: Wien* Geist und Gesellschaft im Fin de<br />
siècle. S. Fischer Verlag, Frankfurt/M. 1982 (366 S., Abb.,<br />
Ln.)<br />
Die sieben Essays Uber die Wiener Moderne, die "unabhängig<br />
voneinander gelesen werden" können (XIX), behandeln Literatur,<br />
Politik, Psychoanalyse, Architektur, Malerei und<br />
Musik der Jahrhundertwende. In der Wiener Moderne sieht<br />
Schorske eine Opposition gegen die "Werte des klassischen<br />
herrschenden Liberalismus", die Jahre zwischen 1860 und<br />
1900 sieht er geprägt von der "politischen Herrschaft der<br />
liberalen Mittelschicht" (XVIII). Die "politische Krise"<br />
des Liberalismus um die Jahrhundertwende ist <strong>für</strong> Schorske<br />
der Auslöser "einer Kultur empfindsamer Nerven, eines mißmutigen<br />
Hedonismus und einer oft rückhaltlosen Angst" (9).<br />
In dem Essay "Die Seele und die Politik: Schnitzler und<br />
Hofmannsthal" (3-21) versucht Schorske die "Selbstbespiegelung<br />
und die Hypertrophie des Gefühlslebens" in der Literatur<br />
der Jahrhundertwende näher zu bestimmen. "Die Schriftsteller<br />
der neunziger Jahre waren Kinder dieser bedrohten<br />
liberalen Kultur. Welche Werte hatten sie ererbt, mit denen<br />
sie jetzt der Krise begegnen mußten? Zwei Gruppen von Wertvorstellungen<br />
kann man in der liberalen Kultur der zweiten<br />
Jahrhunderthälfte einigermaßen unterscheiden: eine moralische<br />
und wissenschaftliche und eine andere ästhetische" (6).<br />
Auf diese "beiden Stränge" versucht Schorske das Werk<br />
Schnitzlers und Hofmannsthals zu beziehen, wobei ihm nicht<br />
mehr als eine grobe Skizzierung gelingen kann. Während<br />
Schnitzler keine "Lösung <strong>für</strong> das politische Problem" aufzeigen<br />
konnte, sieht Schorske bei Hofmannsthal schließlich<br />
eine Lösung durch die "Läuterung der Triebe durch die Politik"<br />
und eine Abkehr von einem narzißtischen Ästhetizismus<br />
- was von der Forschungsliteratur seit Alewyn schon präziser<br />
und ausführlicher dargestellt wurde.<br />
Den folgenden Essay "Die Ringstraße und die Idee der modernen<br />
Stadt" (23-109) kann man dagegen ohne Abstriche als<br />
gelungen bezeichnen. Schorske skizziert die Geschichte der<br />
Ringstraße, beschreibt die verschiedenen gesellschaftlichen<br />
Interessen an der Umgestaltung Wiens - von militärischen<br />
Erwägungen bis hin zum Verlangen "nach dem größten Gewinn"<br />
durch die Parzellierung der Gruppenzinshäuser in kleine<br />
Wohneinheiten. Den historischen Manierismus der Ringstraßenarchitektur<br />
deutet Schorske als den "optischen Ausdruck<br />
der Werte einer gesellschaftlichen Klasse": "Die Planung<br />
der Ringstraße wurde kontrolliert von den Berufsständen und<br />
den Wohlhabenden, <strong>für</strong> deren Behausung und Verherrlichung<br />
sie wesentlich entworfen wurde" (24f.). An den Gegenentwürfen<br />
Otto Wagners wird die zeitgenössische Kritik an dem historischen<br />
"Vermummen der Modernität" verdeutlicht (59).<br />
Durch zahlreiche Illustrationen und historische Fotografien<br />
kann Schorske seine Ausführungen auch optisch belegen.<br />
Diesem Essay folgen eine Darstellung der Herausbildung<br />
des österreichischen Antisemitismus und Ausführungen über<br />
DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83
Deutsche Literaturgeschichte 103<br />
"Politik und Vatermord in Freuds 'Traumdeutung'" (169-193)<br />
und Klimts Entwicklung von einem rebellischen Propheten einer<br />
sexuellen Befreiung zu einem begehrten, dekorativen Gesellschaftsmaler<br />
(195-264). Die zwei abschließenden Essays<br />
behandeln "Die Verwandlung des Gartens" (265i-303). Ausgehend<br />
von Stifters "Nachsommer" Uber das Werk des weithin<br />
vergessenen Ferdinand von Saars, bis hin zu Leopold von Andrian<br />
und Hugo von Hofmannsthal verfolgt Schorske die Veränderung<br />
des Topos, bis hin zur "Explosion im Garten: Kokoschka<br />
und Schönberg" (305-346). In ihrem Werk wird die<br />
"Wahrheit der Wildnis" (340), die schon unter dem morbiden<br />
Schein und der lustvollen Feier des Untergangs im Fin de<br />
siècle lauerte, nicht mehr verdrängt. Mit Kokoschka und<br />
Schönberg beginnt die pathetisch-expressionistische Darstellung<br />
von Chaos und Dissonanz - und ein neuer Abschnitt<br />
der Moderne. Hansgeorg Schmidt-Bergmann (Amöneburg)<br />
Unseld, Joachim: Franz Kafka. Ein Schriftstellerleben. Die<br />
Geschichte seiner Veröffentlichungen. Carl Hanser Verlag,<br />
MUnchen 1982 (316 S., br.)<br />
Erstmals wird in diesem Band der Versuch unternommen,<br />
Kafkas Publikationsgeschichte, das Verhältnis zu seinen<br />
Verlegern und seinen Standort im literarischen Leben ausführlich<br />
(z.T. anhand bisher unbekannten Materials aus dem<br />
Nachlaß Max Brods) zu untersuchen und damit die landläufige<br />
Legende von einem Kafka zu korrigieren, "der seine Texte<br />
lieber verbrannte als sie der Öffentlichkeit zugänglich zu<br />
machen" (14). Unseld betont demgegenüber gerade Kafkas Publikationswillen<br />
(Voraussetzung literarischer Anerkennung<br />
und der ersehnten Ablösung vom Angestelltendasein) und<br />
weist nach, daß Kafka "jeden von ihm abgeschlossenen Text"<br />
(11) bis zu viermal veröffentlichte. Daß es nicht zur Vollendung<br />
(und damit Veröffentlichung) insbesondere der drei<br />
großen Romane kam, daß Kafkas Versuch der literarischen<br />
Durchsetzung ein "unglücklicher Kampf" (111) blieb und in<br />
Resignation endete (kulminierend in der bekannten testamentarischen<br />
Verpflichtung an Brod, alle Manuskripte zu vernichten;<br />
die zu Lebzeiten selbst zum Druck gegebenen hatten<br />
alle nur geringe Resonanz gefunden), versteht Unseld zum<br />
einen als Konflikt zwischen Kafkas zurUckscheuender Persönlichkeitsstruktur<br />
und den Gegebenheiten eines rein durchsetzungsorientierten<br />
Literaturbetriebs (damit auch der<br />
"mehrschichtigen" (14) Rolle des in sie integrierten Max<br />
Brod), vor allem aber als Musterfall einer gescheiterten<br />
Autor-Verleger-Kommunikation, "bei der der Rückfluß und damit<br />
die notwendige Korrektur der verschiedenen Ansichten<br />
grundlegend gestört war" (183). Hier kommt Unseld zu einer<br />
neuen, nahezu vernichtenden Bewertung der Position Kurt<br />
Wolffs.<br />
In Kafkas Publikationsgeschichte unterscheidet Unseld<br />
sechs Phasen. Die erste (vor 1912) ist gekennzeichnet durch<br />
die Verheimlichung erster Schreibversuche, die (erfolglose)<br />
DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83
104 Sprach- und Literaturwissenschaft<br />
Teilnahme an einem literarischen Preisausschreiben ("Himmel<br />
in engen Gassen", 1906; verschollen) und die bereits unmittelbar<br />
danach einsetzenden, Kafka aber Uberfordernden Bemühungen<br />
Brods zur literarischen Durchsetzung des Freundes,<br />
auf die er ablehnend und ironisch reagiert (Kafka, "den Namen<br />
wird man vergessen müssen"; 22). Die ersten Veröffentlichungen<br />
(als frühes Rezeptionsdetail interessant Heymels<br />
Anfrage, "ob Kafka nicht etwa ein Pseudonym Robert Walsers<br />
sei", 26f.) bleiben spärlich und problematisch; erst der<br />
früheste Verlagskontakt (hier betont Unseld gegenüber Wolff<br />
die Rolle Ernst Rowohlts; 53ff., 72ff.) schafft ein gewisses<br />
Selbstvertrauen. Nach der Trennung Rowohlt/Wolff (1913)<br />
liest sich Unselds Darstellung nahezu als Chronik Wolffscher<br />
Fehlleistungen. Kafkas Bedürfnis nach Ermutigung<br />
(verständlich aus dem Status als "Teilzeitschriftsteller";<br />
185) wird durch Wolffs unpersönliche, "eher willkürliche<br />
als kontinuierliche" (136) Autorenbetreuung durchkreuzt;<br />
ebenso der mehrfach geäußerte Wunsch nach einem "großen"<br />
Buch ("Novellenband", Kafka) durch die drei Einzelveröffentlichungen<br />
im "Jüngsten Tag", die zudem Kafka in der Öffentlichkeit<br />
auf eine expressionistische Literaturposition<br />
festlegten (136ff.). Daß bei den sonstigen Enttäuschungen<br />
von Kafkas Schriftstellerexistenz (Musils zurückgenommene<br />
Einladung zur Mitarbeit an der "Neuen Rundschau" 1914; die<br />
eher peinliche Situation bei Sternheims "Weitergabe" des<br />
Fontane-Preises 1915; der Mißerfolg der Lesung 1916) bei<br />
gleichzeitig fehlendem Rückhalt durch den Verlag (kein persönlicher<br />
Briefkontakt Wolffs von Mai 1913 bis Juli 1917;<br />
160; Ablehnung der "Strafkolonie"; 138ff.) <strong>für</strong> Kafka die<br />
Dimension eines Kampfes "gegen den literarischen Betrieb"<br />
annehmen mußte, "der durch die Kriegsjahre geschwächt (...)<br />
war und in dem er (...) als Schriftsteller weiterhin eine<br />
Randersçheinung" (140) und ohne Erfolg blieb, erscheint<br />
verständlich. Unseld faßt zusammen, daß "in dem <strong>für</strong> den Autor<br />
existenzwichtigen Zeitraum kaum eine Bemühung stattgefunden<br />
hat, zwischen seinem Werk und der Öffentlichkeit die<br />
Chance einer Vermittlung zu finden" (191); ein Befund, der<br />
sich auch durch Kafkas späten Verlagswechsel ("Ein Hungerkünstler"<br />
im Verlag "Die Schmiede", 1924) nicht mehr wesentlich<br />
ändern konnte und nach 1917, endgültig nach 1922<br />
(Abbruch "Schloß") zur Selbstbeurteilung seines Schreibens<br />
wie vor 1912 zurückführte: auf "die Überzeugung der völligen<br />
Aussichtslosigkeit, mit seinen Werken im literarischen<br />
Betrieb etwas ausrichten zu können, und die gezielte Verweigerung<br />
der Publikation" (204). - Auch ohne expliziten<br />
methodischen Ehrgeiz ist die innere Vermittlung von Verlags-<br />
und Literaturgeschichte mit der Soziologie gesellschaftlicher<br />
Vermarktungsinstanzen des Schreibens in Unselds<br />
Arbeit exemplarisch; die klare Darstellung und das<br />
vielfältige Quellenmaterial machen sie künftig unverzichtbar.<br />
Der Anhang (300-306) enthält eine Bibliographie aller<br />
zu Lebzeiten erfolgten Drucke (u.a. mit einem bisher unbe-<br />
DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83
Deutsche Literaturgeschichte<br />
105<br />
kannten Einzeldruck von "Auf der Galerie").<br />
Thomas Bremer (Gießen)<br />
Anz, Thomas und Michael Stark (Hrsg.): Expressionismus. Manifeste<br />
und Dokumente zur deutschen Literatur 1910-1920.<br />
J.B. Metzler'sehe Verlagsbuchh., Stuttgart 1982 (766 S.,<br />
br.)<br />
Der Band "dokumentiert vorrangig eine literarische Randoder<br />
Gegenkultur mit ihren eigenen Zeitschriften, Verlagen,<br />
Kreisen, Clubs, Kabaretts und Cafés, die sich nur zögernd<br />
vom etablierten Kulturbetrieb vereinnahmen ließ. Was der<br />
Titel dieser Dokumentation als 'Expressionismus' bezeichnet,<br />
das war die Kunsttheorie und -praxis einer dem Alter<br />
oder doch zumindest der Einstellung nach betont jugendlichen<br />
Avantgarde ...; das war keine Literatur <strong>für</strong> alle, sondern<br />
hier schrieben Intellektuelle <strong>für</strong> Intellektuelle -"<br />
(XVI), was <strong>für</strong> jede Avantgarde gelten dürfte. Bei der Rekonstruktion<br />
der "Subkultur" - wozu Expressionisten, Dadaisten,<br />
Futuristen, Aktivisten etc. gleichermaßen gehören und die<br />
in dieser Sammlung nicht gesondert dokumentiert werden,<br />
sondern Ubergreifenden Themenkomplexen zugeordnet sind -<br />
beschränken sich die Herausgeber auf die Pamphlete, Manifeste<br />
und Dokumente, wobei dem Manifest entscheidende Bedeutung<br />
in den Jahren zwischen 1910 und 1920 zukommt: "In der<br />
Tat verselbständigte sich das Manifest damals zur eigenständigen<br />
literarischen Gattung. Mit seiner appellativen<br />
Rhetorik, seinen kämpferischen Provokationen und der programmatischen<br />
Eigenwerbung entsprach es dem heraufgesetzten<br />
Lärmniveau einer von Massenkommunikation und Reklametechniken<br />
neu geprägten Zeit ..., sie sind gleichzeitig auch ein<br />
"primärer" Bestandteil des damaligen literarischen Lebens"<br />
(XVIII). Den einzelnen Themenkomplexen sind Einleitungen<br />
vorangestellt, die die einzelnen Texte in einen allgemeineren<br />
sozio-kulturellen Kontext stellen, zusammen mit den Anmerkungen<br />
können diese Einführungen auch als kurze Forschungsberichte<br />
gelesen werden. Teil I "'Expressionismus'<br />
im zeitgenössischen Urteil" (3-112) enthält "Frühe Proklamationen"<br />
zur "jüngsten Kunst" und zum "Expressionismus",<br />
Definitionen und Charakterisierungen des literarischen Expressionismus,<br />
Distanzierungen etc., Teil II "Kulturkritik<br />
und Geist der Utopie" (115-351) dokumentiert die Reflexion<br />
über das sozial-kulturelle Ambiente, das "<strong>für</strong> das expressionistische<br />
Krisenbewußtsein konstitutiv wird" (115). Teil<br />
III "Aspekte des literarischen Lebens" (355-708) enthält<br />
Texte zur Boheme und Avantgarde, zum Kabarett und zur Aktionskunst,<br />
zum Verhältnis von Kunst und Öffentlichkeit und<br />
zur Zensur. Der abschließende Teil IV "Ästhetische und literarische<br />
Positionen" (543-708) gilt dem expressionistischen<br />
Pathos, den "nicht mehr schönen Künsten", der Spracherneuerung,<br />
der Poetik der literarischen Formen. Ein "Personen-<br />
und Werkregister" (mit biographischen Stichworten zu<br />
Autoren und Künstlern aus dem Umreis des Expressionismus),<br />
DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83
106<br />
Sprach- und Literaturwissenschaft<br />
beschließt die Anthologie, die nicht nur <strong>für</strong> die Expressionismusforschung<br />
unentbehrliches Material zur Verfügung<br />
stellt. Hansgeorg Schmidt (Amöneburg)<br />
Becker, Peter von (Hrsg.): Georg Büchner, Dantons Tod. Die<br />
Trauerarbeit im Schönen. Ein Theater-Lesebuch. Syndikat Autoren-<br />
und Verlagsgesellschaft, Frankfurt/M. 1980 (176 S.,<br />
br.)<br />
<strong>Das</strong> Buch ist im Zusammenhang mit der Neuinszenierung von<br />
"Dantons Tod" im Schauspiel Frankfurt (Regie Johannes<br />
Schaaf, Premiere November 1980) entstanden. Kernstück ist<br />
eine von Thomas Michael Mayer - ein Germanist, der in den<br />
letzten Jahren bisher unberücksichtigt gebliebenes Quellenmaterial<br />
zu Büchner präsentieren konnte - veranstaltete<br />
Ausgabe von Büchners Revolutionsdrama. Durch die Verwendung<br />
verschiedener Schriftarten und Zeichen ist es dem Leser<br />
möglich, verschiedene Fassungen des Manuskripts zu vergleichen.<br />
Auch findet er am Rand Vermerke über die Quellen, aus<br />
denen Büchner Anregungen <strong>für</strong> sein Drama bezogen hatte. Die<br />
Wahl der Schriftarten und Zeichen ist allerdings nicht immer<br />
glücklich. Wer sich dann aber der Mühe unterzieht, den<br />
Sinn der jeweiligen Hervorhebungen zu entziffern, erhält<br />
einen lohnenden Einblick in Büchners schriftstellerische<br />
Arbeit. Über dieser philologischen Entzifferungskunst geht<br />
dann aber leicht der Gesamteindruck des Dramas verloren,<br />
und es empfiehlt sich, im Anschluß an die text<strong>kritische</strong><br />
Lektüre einen der bisher zugänglichen Texte des Dramas zur<br />
Hand zu nehmen, um sich zügig das Ganze des Textes noch<br />
einmal vor Augen zu halten. Allerdings wird in Zukunft niemand<br />
mehr die text<strong>kritische</strong> Ausgabe Mayers vernachlässigen<br />
dürfen, wenn er sich wissenschaftlich mit Büchners dramatischem<br />
Werk befaßt.<br />
An den Text des Dramas schließen drei Aufsätze an. Peter<br />
von Becker behauptet in seinem Beitrag, daß Büchners Drama<br />
ebensosehr ein Stück über die Erotik wie über die Revolution<br />
sei. Er macht deutlich, daß der junge Büchner bereits<br />
vor Problemen stand und sie mit seinen Mitteln zu artikulieren<br />
verstand, wie sie später dann Marx und Freud erneut<br />
aufgriffen, von Becker bezeichnet Büchner als einen "sensualistischen<br />
Früh-Kommunisten" (83), der heute Denkweisen<br />
nahestehen würde, die den Versuch einer Synthese psychoanalytischer,<br />
anthropologischer und marxistisch materialistischer<br />
Ansätze unternehmen. Er legt sehr viel Wert darauf,<br />
daß neben Danton auch Robespierre im Auge behalten wird,<br />
daß das Stück Büchners "unter dem Vorzeichen 'Dantons und<br />
Robespierres Tod'" zu lesen sei (79). Er fordert auf, die<br />
Protagonisten als eine Persönlichkeit zu entziffern: "Kein<br />
anarchischer Aristokrat und Erotomane prallt auf einen plebejischen<br />
Sozialisten, sondern zwei Advokaten, Intellektuelle<br />
und Weltverbesserer, beide im Alter Mitte Dreissig,<br />
sind unter sich. Oder noch schärfer gefaßt: der bürgerliche<br />
Revolutionär ist in zwei Neurotikern mit sich allein" (83).<br />
DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83
Deutsche Literaturgeschichte<br />
107<br />
Als "Trauerarbeit im Schönen" - ein Begriff, der in Anlehnung<br />
an Freud gebildet wurde - bezeichnet von Becker Büchners<br />
Versuch, in einer Dichtung die Entfremdung einer Person<br />
aufzuheben, die scheinbar widersprüchlichen Bestandteile<br />
seiner Person, Verstand, Wille, Phantasie und Gefühl zu<br />
synthetisieren, von Becker versteht Büchners "Danton" dabei<br />
aber keineswegs als in sich abgeschlossene Einheit, sondern<br />
als Paradigma der deutschen und europäischen Geschichte,<br />
das bis heute seine Gültigkeit nicht verloren hat. Und inmitten<br />
dieser Trauerarbeit im Schönen habe Büchner zugleich<br />
Gegenbilder und Ahnungen unentfremdeter Menschen entworfen.<br />
Hier tritt die Erotik in den Vordergrund, werden wir auf<br />
die Frauen im Revolutionsdrama verwiesen. Diese Frauen hat<br />
Büchner nicht nach Vorlage gestaltet; sie sind seine eigenste<br />
Erfindung. Es schließt sich sinngemäß Dolf Oehler: "Liberté,<br />
Liberté Chérie" an, der sich mit der erotischen<br />
Freiheits-Allegorie befaßt. Oehler zeigt, wie sehr das Drama<br />
Büchners die Themen Sexualität und Freiheit in Zusammenhang<br />
bringt, zeigt zugleich, wie problematisch beide sind.<br />
Oehlers Abhandlung weitet sich zu einer Auseinandersetzung<br />
mit der Tradition der Freiheits-Allegorie, wobei er zu dem<br />
Ergebnis kommt, daß "deren Diskurs über die Revolution<br />
stets einen Diskurs Uber die Rolle der Frau und der Erotik in<br />
der neuen Gesellschaft enthält oder voraussetzt, und daß<br />
dieser letztere Diskurs psychoanalytisch gesehen stets regressiv<br />
und politisch gesehen stets mehr oder minder reaktionär<br />
ist, modelt er doch die Frau, die er Freiheit nennt,<br />
nach dem alten jüdisch-christlichen Männerbild von der Frau<br />
..." (97). Zu Recht verweist Oehler auf die Einsicht Fouriers,<br />
daß der Grad der Freiheit einer Gesellschaft sich<br />
nach dem Grad der Emanzipation ihrer Frauen bemißt. Offenbar<br />
will Oehler sagen, daß auch in Büchners Drama die "Männerphantasien<br />
über die Freiheit"(9l) noch keinen Platz lassen<br />
fUr eine genitale Organisation der Libido, <strong>für</strong> eine herrschaftslose<br />
Beziehung zwischen Mann und Frau. Oehler würde<br />
wohl von Beckers Behauptung, daß die Zukunft des Mannes die<br />
Frau sei, zustimmen, würde aber vorsichtiger sein, was die<br />
Behauptung einer Vorwegnahme dieser neuen Phantasien über<br />
die Frau in Büchners Frauengestalten betrifft.<br />
Hans-Thies Lehmann ("Dramatische Form und Revolution")<br />
vergleicht 'Dantons Tod' mit Heiner Müllers 'Der Auftrag'.<br />
Auch Lehmann thematisiert die Sexualität, die bei beiden<br />
Autoren eine Rolle spielt. Lehmann sieht in der "gezielten<br />
Einführung von Sex und Politics die formale Entsprechung zu<br />
dem Versuch ..., jenseits aller Idealismen und Selbsttäuschungen<br />
die unvermittelte Diskrepanz zu artikulieren zwischen<br />
der fatalen Maschinerie der Geschichte und dem Begehren<br />
des Körpers" (119).<br />
Der nächste, "Panorama" betitelte Teil des Buchs bringt<br />
Dokumente zur Französischen Revolution und der nachfolgenden<br />
Zeit bis zum 2. Kaiserreich. Victor Hugos Beschreibung<br />
des Konvent und der Pariser Straßen zur Revolutionszeit<br />
DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83
108 Sprach- und Literaturwissenschaft<br />
steht neben einem Brief Kleists, einem Auszug aus Heines<br />
"Französische Zustände", Camille Desmoulins letztem Schreiben<br />
aus dem Gefängnis, einer Darstellung des Historikers<br />
François Auguste Mignet und Teilen von Karl Marx' Schrift<br />
"Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte". Besonders<br />
aufschlußreich und immer noch unmittelbar ansprechend sind<br />
die von Wilhelm Schulz bereits 1851 veröffentlichten<br />
"Stichworte zur Französischen Revolution. Nachgelassene<br />
Schriften von G. Büchner". Es handelt sich hierbei um einen<br />
historisch-biographischen Aufsatz Schulz' über seinen<br />
Freund Büchner. <strong>Das</strong> Buch schließt mit Stichworten zur Französischen<br />
Revolution und einem Auszug aus der "Büchner-<br />
Chronik" von Thomas Michael Mayer.<br />
Thomas Kornbichler (Berlin/West)<br />
Brenner, Peter J.: Die Krise der Selbstbehauptung. Subjekt<br />
und Wirklichkeit im Roman der Aufklärung. Niemeyer Verlag,<br />
Tübingen 1981 (253 S., br.)<br />
Der Autor versucht, so etwas wie eine Physiognomie des<br />
Romans der Aufklärung zu geben; als zusammenhangstiftende<br />
Kategorie dient ihm, anknüpfend an Hans Blumenberg, der epochale<br />
Begriff der "Selbstbehauptung": Mit ihm wird eine<br />
spezifisch neuzeitliche, d.h. bürgerliche Auslegung der<br />
Welt bezeichnet, die von der Annahme einer Konstanz der<br />
Wirklichkeit ausgeht; sie unterstellt, daß die Realität<br />
einsichtigen und invariablen Prinzipien unterliegt, deren<br />
Kenntnis Natur und Geschichte gleichermaßen "kalkulabel"<br />
(ein Lieblingswort Brenners) und damit auch beherrschbar<br />
macht. Die Krise der Selbstbehauptung, die Brenner im Roman<br />
des 18. Jahrhunderts zunehmend sich artikulieren sieht, besteht<br />
nun darin, daß diese 'Kalkulabilität' die andere Seite<br />
der Selbstbehauptung, die von der Aufklärung reklamierte<br />
Autonomie des Subjekts, zusehends aufzehrt - das Subjekt<br />
muß sich dem 'Lauf der Welt', den es nicht zu beherrschen<br />
vermag, selbst unterwerfen, anstatt sich selbst zu behaupten;<br />
ein Vorgang, der in einem größeren geschichtsphilosophischen<br />
Rahmen als 'Dialektik der Aufklärung' von Horkheimer<br />
und Adorno beschrieben wurde, woran Brenners Untersuchungen<br />
gleichsam ihre Folie haben. Diese Entwicklung der<br />
scheiternden Autonomie wird ausführlich an Romanen und<br />
Dichtungstheorien der Zeit belegt. Zumal das 2. Kapitel zur<br />
Subjektdarstellung liefert hierzu einiges Material: Es<br />
zeigt, daß eine Versöhnung von Subjekt und Objekt nicht gelingt,<br />
sondern daß die prätendierte Autonomie immer durch<br />
Heteronomie vermittelt ist. Zwei wesentliche Formen der<br />
Subjektdarstellung markieren die Extreme: Der empfindsame<br />
Held, auch in seiner melancholischen, hypochondrischen und<br />
schwärmerischen Spielart auf der einen Seite und der Protagonist<br />
des Bildungsromans auf der anderen. Beide Formen demonstrieren<br />
das Scheitern der Selbstbehauptung. Die eine,<br />
repräsentiert durch Goethes 'Wilhelm Meister' zeigt die uneingestandene<br />
Anpassung an heteronome Zwänge - Brenner<br />
DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83
Deutsche Literaturgeschichte<br />
109<br />
setzt hier, gegenüber der üblichen Bildungsroman-Euphorie,<br />
deutlich negative Akzente -, die andere, vertreten durch<br />
Moritz' "Anton Reiser", zeigt die melancholische Resignation,<br />
die aber als Festhalten an der Idee einer seinerzeit<br />
nicht möglichen Autonomie interpretiert wird. Wenn der Roman<br />
auf der Ebene der Figurengestaltung ebenso wie auf der<br />
des Handlungsablaufs - den Brenner unter den Stichwörtern<br />
"Providenz, Rationalität und Komposition" im 3. Kapitel<br />
analysiert - nur das Scheitern der Selbstbehauptung exponiert,<br />
so zeigt das letzte Kapitel, daß die Idee der Subjektsautonomie<br />
im Roman durch den "persönlichen Erzähler"<br />
gerettet werden "soll. Der Autor interpretiert ihn als das<br />
"neuzeitliche Subjekt", das sich in der Welt des Romans als<br />
autonomes behaupten will, ohne es jedoch wirklich zu können<br />
- der "Erzähler" wird schon deshalb zum Ausdruck der "Krise<br />
der Selbstbehauptung", weil er erkennen läßt, daß Autonomie<br />
nur ästhetisch, aufgrund literarischer Konstruktion, und<br />
auch darin nur bedingt möglich ist. Unter der Vielzahl der<br />
behandelten Werke leidet die Intensität der Einzelinterpretationen.<br />
Doch gehts um die Romane selbst weniger: sie dienen<br />
wesentlich als Material <strong>für</strong> eine allgemeine Analyse der<br />
neuzeitlichen Subjekts- und Wirklichkeitsauffassung. Dabei<br />
ist es nur konsequent, wenn die Textbasis über die Romane<br />
hinaus ausgedehnt wird auf poetologische, philosophische<br />
und autobiographische Werke der Zeit. Im Detail baut Brenner<br />
auf der bisherigen Forschung auf; deren Ergebnisse werden<br />
jedoch aufgehoben durch ihre Einbettung in historische<br />
Konstellationen; dabei erscheinen viele vermeintlich bekannte<br />
ästhetische Phänomene - wie etwa der 'Erzähler' - in<br />
einem den geschichtlichen Gegebenheiten angemesseneren neuen<br />
Licht. Allerdings wird die reale Geschichte, auf die<br />
letzten Endes die Romane zurückbezogen werden sollen, allzusehr<br />
theoretisch verdünnt; als reale kommt sie nicht<br />
recht in den Blick. So wird etwa die Subjektdarstellung -<br />
unter Bezugnahme auf Marx - abstrakt aus "dem" Kapitalismus<br />
hergeleitet, ohne daß auf dessen konkrete Entwicklungsstufe<br />
im 18. Jahrhundert eingegangen würde. Historische Präzisierungen<br />
wären wünschenswert, die Brenners allzu spekulative<br />
- recte: pessimistische - Geschichtsphilosophie fundieren<br />
müßten. Aufgrund ihrer eigenen, in der Einleitung unter Berufung<br />
auf Hegel und Benjamin begründeten Darstellungstechnik<br />
sind die Untersuchungen wo nicht schwierig, so doch auf<br />
besondere Weise zu lesen. Sie folgen keiner systematischen<br />
Gliederung, sondern bewegen sich eher kreisförmig um immer<br />
wieder die gleichen Probleme, die dabei manchmal dem Schein<br />
nach in die Ferne rücken - der Leser wird jedenfalls vom<br />
Register und der ausführlichen Inhaltsübersicht im Anhang<br />
Gebrauch machen müssen, um den Zusammenhang nicht zu verlieren.<br />
Insgesamt liefert die Arbeit ganz wesentliche Anregungen<br />
sowohl <strong>für</strong> die Neubewertung einzelner Autoren und<br />
Werke als auch <strong>für</strong> die Interpretation der ganzen Epoche.<br />
Michael Schneider (St. Augustin)<br />
DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83
110 Sprach- und Literaturwissenschaft<br />
Klotz, Günther, Winfried Schröder und Peter Weber (Hrsg.):<br />
Literatur im Epochenbruch. Funktionen europäischer Literaturen<br />
im 18. und beginnenden 19. Jahrhundert. Aufbau Verlag<br />
Berlin-Weimar 1977 (714 S., Ln.)<br />
Die Verfasser legen keine Literaturgeschichte, sondern<br />
Problemstudien vor: Mit dem Bild von Individuum und Gesellschaft<br />
im Roman, politischer Operativität im Klassenkampf,<br />
der literaturtheoretischen Konstruktion der Kunstautonomie<br />
und dem Begriff Weltliteratur wählen sie <strong>für</strong> die Funktionen<br />
der Literatur im 18./19. Jahrhundert wesentliche Komplexe<br />
aus. In der Einleitung bestimmen die Herausgeber die Methode<br />
im Rahmen des historischen Materialismus als historischfunktional<br />
(8), als konsequent historisch (11). Schröder<br />
wendet sich in dem historische und systematische Grundlagen<br />
fixierenden Kapitel nicht nur gegen in der Komparatistik<br />
vorherrschende bürgerliche Varianten nationalistischer Borniertheit<br />
und kosmopolitischer Enthistorisierung (Weltliteratur<br />
als Kompendium von Meisterwerken), sondern auch gegen<br />
deren Erbschaft bei Marxisten, vor allem in teleologischund<br />
allgemeinmenschlich-ideologischen Konstruktionen, die<br />
unter den Titeln der 'Demokratie' und des (linearen) 'Fortschritts'<br />
die historisch neue Qualität des proletarischen<br />
Klassenkampfes und des Sozialismus zu verdecken geeignet<br />
sind (49). Generell kennzeichnet den Band die Tendenz, Fragen<br />
zu stellen, Selbstverständlichkeiten der wissenschaftlichen<br />
Diskussion zu öffnen. Die Verfasser polemisieren gegen<br />
scheinbar gesicherte Positionen, in denen Kontinuität<br />
bürgerlicher Kunstideologie nachgewiesen wird, wobei "Humanisten"<br />
wie Girnus, Weimann oder Dietze <strong>kritische</strong> Streiche<br />
einstecken. Es hätte noch produktiver sein können, wären<br />
die Differenzen zwischen den einzelnen Studien nicht geglättet<br />
worden (wie sie in der Einschätzung des "Sturm und<br />
Drang" oder überhaupt in der Anwendung "stilgeschichtlicher<br />
Verallgemeinerungen" auf der Hand liegen); dies setzte voraus<br />
die theoretische Fassung der Meinungsverschiedenheiten.<br />
Schröder präzisiert den Epochenumbruch (8) - Jahrzehnte<br />
vor und nach der Französischen Revolution - dahingehend,<br />
daß "nicht zuletzt durch das Übergreifen der industriellen<br />
Revolution auf den ganzen europäischen Kontinent ... die<br />
Französische Revolution ihre epochenbestimmende Funktion<br />
erhält" (66). Damit sind wesentliche aporetisch diskutierte<br />
Fragen angeschnitten, z.B. das Verhältnis von Französischer<br />
Revolution und Weimarer Klassik (64/65). Schröder visiert<br />
eine Lösung an durch seine Epochendefinition, die den sozialökonomischen<br />
Inhalt ins Zentrum stellt und mit der nur<br />
politischen Epochendefinition bricht (Französische als Musterrevolution),<br />
um stattdessen den Zusammenhang zwischen<br />
(englischer) industrieller und (französischer) politischer<br />
Revolution darin zu sehen, daß politisch Evolution, "Revolution<br />
von oben" möglich wurde - ein Konzept, das sich im<br />
Roman- und im Weltliteratur-Kapitel als nützlich erweist.<br />
Der Schlußabschnitt von Schröders Abhandlung stellt unter<br />
DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83
Deutsche Literaturgeschichte 111<br />
dem Aspekt des Epochenumbruchs knapp die ökonomischen, sozialen<br />
und politischen Verhältnisse in nahezu allen europäischen<br />
Staaten dar.<br />
Daß die Verfasser einen Beitrag zur Erbediskussion liefern<br />
wollen, zeigen nicht zuletzt die Bezugnahmen auf die<br />
Brecht-Lukacs-Debatte (58; 414/415). Gerade unter diesem<br />
Gesichtspunkt scheint das Verhältnis der zweiten Studie zu<br />
den übrigen problematisch. Der Ansatz steht im Zeichen des<br />
"Humanismus" der "Menschenbild"-Ästhetik, dem Paradefall<br />
einer linearen Erbekonzeption.<br />
Die Studie zur politischen Operativität der Literatur<br />
bestimmt diese als Orientierung auf "die Tagespolitik stimulierende<br />
Wirkung" (281) im Sinne der "praktischen Durchsetzung<br />
von Klasseninteressen" (283) durch die Umsetzung<br />
der "Trennung der 'bürgerlichen' von der 'politischen' Gesellschaft<br />
in direkte Verhaltens- und Handlungsmaximen"<br />
(282). Sich nur vage gegen eine zu enge und eine zu weite<br />
Fassung von Politik absetzend (284), formulieren die Verfasser<br />
dann doch defensiv: "Die relative Enge des literarischen<br />
Gefechtsstandes ist nicht die Folge mangelnder ästhetischer<br />
Fähigkeiten, sondern entspricht der operativen<br />
Funktionssetzung" (284). Positiv ist an allen Analysen zur<br />
französischen, deutschen und zu den slawischen Literaturen<br />
hervorzuheben die durchgängige Betonung des "dialektische(n)<br />
Verhältnis(ses) von Klassencharakter und Massenbasis" (290)<br />
in der bürgerlichen Revolution.<br />
Martin Fontius' beabsichtigte Provokation: "Die unaufgedeckte<br />
Abkunft der im 18. Jahrhundert entwickelten ästhetischen<br />
Kategorien und Begriffe bildet so noch immer eine<br />
Nährquelle idealistischer Literaturbetrachtung" (415),<br />
zielt auf die historisch-materialistische Erklärung des<br />
zentralen literaturtheoretischen Konzepts, der Kunstautonomie,<br />
sowie weshalb diese gerade in Deutschland um die Jahrhundertwende<br />
ausgearbeitet wurde. Konsequent Schröders Epochendefinition<br />
benutzend, wendet sich Fontius gegen die<br />
"Verabsolutierung der Kunstproduktion (...), der die Momente<br />
der Wirklichkeitsrelation und der Kunstrezeption weitgehend<br />
und <strong>für</strong> lange Zeit zum Opfer fallen sollten" (418),<br />
und damit zugleich auch gegen die in der DDR-Literaturwissenschaft<br />
gegebene "Verabsolutierung der sogenannten literarischen<br />
Hauptlinie Lessing - Sturm und Drang - Klassik",<br />
weil diese den literarischen Prozeß in der Weise simplifiziert,<br />
daß "die sozialen Widersprüche gewissermaßen nur<br />
noch in der Zeit, als Abfolge von literarischen Richtungen,<br />
aber nicht im Raum, als Gegensatz zwischen Parteiungen und<br />
Interessen erkennbar sind" (456). Als Erklärungsmomente <strong>für</strong><br />
die Kunstautonomie fungieren bei Fontius: erstens, "daß die<br />
Arbeit der Künstler der sich entwickelnden kapitalistischen<br />
Produktionsweise nicht integrierbar war" (432); zweitens<br />
die Subsumtion der mechanischen Künste unters Kapitalverhältnis,<br />
die die nun von diesen geschiedene freie zur wahren<br />
Kunst werden läßt, so daß "der Künstler", der weiterhin<br />
DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83
112 Sprach- und Literaturwissenschaft<br />
die Einheit von geistiger und körperlicher Arbeit verkörperte,<br />
"zum Modell des unzerstiickten, des ganzen Menschen<br />
werden"(432) konnte. An Batteux demonstriert Fontius die<br />
Versachlichung des Standesgegensatzes zum bürgerlichen Beruf<br />
sunterschied (438), an den Enzyklopädisten, daß dem<br />
"Primat von Wissenschaft und Technik ... Relativität und<br />
Partialität der Kunst" (444) entsprechen, an der anthrologisch<br />
ausgerichteten, auf Erziehung zielenden Kritik der<br />
Enzyklopädisten durch Herder, daß "die Vehemenz der Absolutismuskritik<br />
im Sturm und Drang einer weitgehenden Blindheit<br />
gegenüber der Bedeutung der Produktivkräfte entsprach"<br />
und die "Staatskritik der Folgezeit einem extremen Individualismus,<br />
der sich der englischen politischen Ökonomie bediente,<br />
um die Bürokratisierung als soziales Grundübel zu<br />
denunzieren" (468). Fontius zielt auf die Widersprüchlichkeit<br />
der deutschen bürgerlichen Humanitätsphilosophie<br />
(Herder, Humboldt, Forster, Schiller) als utopischer apolitischer<br />
Individualismus (487), bedenkenswert ist sein Vorschlag:<br />
"Wie sehr wir den abgrundtiefen Haß auf den Staat,<br />
der alle alten Bindungen zerreißt und alle menschlichen Tätigkeiten<br />
seinem System integrieren will, nachempfinden<br />
können, wir werden jene Äußerungen höherstellen, wo versucht<br />
wird, der historischen Gesetzmäßigkeit dieses Phänomens<br />
auf die Spur zu kommen und Kritik von Vorschlägen zur<br />
Veränderung begleitet ist" (471). Als drittes Erklärungsmoment<br />
benutzt Fontius die "Heteronomie", gegen deren "Druck<br />
sich der Gedanke der Autonomie überhaupt erst entwickeln<br />
konnte. Diese Heteronomie war der Marktmechanismus" (491).<br />
Vor allem am Markt wird gezeigt, wie die aus der literarischen<br />
Warenproduktion folgende "'Spaltung' des Kunstwerks<br />
'in nützliches Ding und Wertding'" (501) die "hermetische<br />
Absicherung des Kunstcharakters gegen alle ökonomischen<br />
Zwänge und Zusammenhänge" (521) forciert: "In dem Bestreben,<br />
das Kunstwerk als 'in sich Ganzes' bzw. 'in sich<br />
selbst Vollendetes' zu begreifen, um seinen inneren Wert<br />
hervorzuheben, durch den es sich von dem bloß nützlichen<br />
Produkte der mechanischen Künste unterscheidet, zeichnet<br />
sich die Entwicklung zur sogenannten romantischen Auffassung<br />
des o r g a n i s c h e n Kunstwerks deutlich ab"<br />
(502). Bedenklich scheint allerdings Fontius' These, daß<br />
"die <strong>für</strong> die ästhetische <strong>Theorie</strong> unmittelbar relevante Form<br />
der Buchvermittlung (...) in Deutschland die fortgeschrittenste<br />
in Europa" (518) gewesen sei.<br />
DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83<br />
Helmut Peitsch (Berlin/West)
SOZIOLOGIE<br />
Familiensoziologie<br />
113<br />
Wahl, Klaus, Michael-Sebastian Honig und Lerke Gravenhorst:<br />
Wissenschaftlichkeit und Interessen. Zur Herstellung subjektivitätsorientierter<br />
Sozialforschung. Suhrkamp Verlag,<br />
Frankfurt/M. 1982 (319 S., br.) zit. I<br />
Wahl, Klaus u.a.: Familien sind anders! Rowohlt Taschenbuch<br />
Verlag, Reinbek 1980 (260 S., br.) zit. II<br />
Arbeitsgruppe Elternarbeit/Arbeitsgruppe Frühkindliche Sozialisation:<br />
Orientierungsmaterialien <strong>für</strong> die Elternarbeit.<br />
Elternarbeit mit sozial benachteiligten Familien. Schriftenreihe<br />
des Bundesministeriums <strong>für</strong> Jugend, Familie und Gesundheit,<br />
Band 94 . Verlag W. Kohlhammer, Stuttgart 1981<br />
(406 S., br.) zit. III<br />
"Wissenschaftlichkeit und Interessen" entstand aus der<br />
Unzufriedenheit mit einem Forschungsvorhaben, das bereits<br />
zuvor in den Bänden I und II veröffentlicht worden war.<br />
Es ist nicht aus der Perspektive des Erfolgs, sondern eher<br />
aus der Perspektive der Schwierigkeiten und des potentiellen<br />
Scheiterns wissenschaftlicher Forschung geschrieben und<br />
repräsentiert so ein gewisses Maß an Ehrlichkeit und Selbstreflexion.<br />
Die Autoren begreifen ihre Arbeit als "Lerngeschichte"<br />
einer Untersuchung zum Erziehungsalltag in der<br />
Unterschicht, die durch einen Forschungsauftrag des Bundesministeriums<br />
<strong>für</strong> Jugend, Familie und Gesundheit initiiert<br />
wurde. Ihre Erfahrung der sehr reservierten Aufnahme der<br />
Arbeit durch das Ministerium und der aus Sicht der Forschungsgruppe<br />
oft mißverstandenen öffentlichen Rezeption,<br />
führte bei den Autoren zu einer Selbstkritik ihrer Arbeit<br />
(I, 220f.) und zum "Eingeständnis, daß ein pragmatischfunktionales<br />
Verständnis von Praxisrelevanz nicht nur methodologisch,<br />
sondern auch gesellschaftlich gescheitert<br />
ist" ( I , lOf. ). Man kann das Buch auch als eine Art Lehrbuch<br />
der wissenschaftlichen Praxis begreifen,und besonders<br />
hierin liegt seine Relevanz:es ist keine wissenschaftstheoretische<br />
'Anleitung' zum Forschen, sondern dokumentiert die<br />
wissenschaftliche Alltagsarbeit inclusive der Irrwege,<br />
Schwierigkeiten und des langsamen Herantastens an eine wissenschaftspraktische,<br />
d.h. dem Gegenstand und den Forscherinteressen<br />
adäquate Methode.<br />
Der Auftrag des Ministeriums zielte auf die Entwicklung<br />
von Programmen zur Elternbildung sozial benachteiligter Bevölkerungsgruppen,<br />
Programme, die diese Gruppen besser erreichen<br />
sollten als bisherige. Ideell folgte das Ministerium<br />
damit einem Konzept sozialstaatlicher Chancengleichheit,<br />
praktisch einem Interesse an Effektivität. Die hier<br />
angesprochene Forschungsgruppe aus dem Deutschen Jugendinstitut<br />
(DJI) Ubernahm daraus einen Teilauftrag zur genaueren<br />
Untersuchung des 'Erziehungsalltags in der Unterschicht'<br />
DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83
114 Soziologie<br />
und verwirklichte dies in einer qualitativ-empirischen Untersuchung<br />
an 34 Familien von Arbeitern und unteren Angestellten<br />
(vgl. II).<br />
In den methodologischen Überlegungen zu ihrem Forschungsprogramm<br />
gehen die Eigeninteressen der Forscher ('Parteilichkeit<br />
<strong>für</strong> die Betroffenen') mit den ministeriellen Vorgaben<br />
(Effektivität/Sozialstaatspostulat) eine widersprüchliche<br />
Verquickung unter dem Begriff 1 Betroffenenforschung'<br />
ein. Diese Widersprüchlichkeit (Ansatz bei den Interessen<br />
der Betroffenen, um sie dann besser zum Objekt staatlichen<br />
Handelns werden zu lassen) bedingt zugleich schon das relative<br />
Scheitern der Untersuchung. Wie schon bemerkt, gestehen<br />
die Forscher sich dieses ein, es fehlt aber eine präzise<br />
gesellschaftstheoretische Bestimmung dieses Scheiterns,<br />
was meines Erachtens die größte Schwäche des Buches ist.<br />
"Betroffenenforschung" bedeutet <strong>für</strong> die Autoren zweierlei:<br />
(1) die Betroffenen selbst zu Wort kommen zu lassen, ihre<br />
Sichtweise auf ihre Lebenssituation zu begreifen, "das Lebensgefühl<br />
und die Erfahrungen zu verstehen, aus denen heraus<br />
die Familien leben". So entstand "ein neuer Blick auf<br />
scheinbar Altbekanntes" (II, 7). (2) Zugleich verstehen sie<br />
darunter, eingreifend zu wirken, indem ihre "Forschungsinteraktion<br />
dem Prinzip der Selbstaufklärung und Selbstthematisierung<br />
der Betroffenen folgt" (I, 219). Ansatzpunkt wurde<br />
somit die 'Lebenswelt' der Betroffenen; ihr näherten<br />
sich die Forscher in diversen Gesprächen mit den einzelnen<br />
Familien anhand eines 'Drehbuches': "gestaltete Offenheit"<br />
(I, 93f.). Wie und mit welchen methodischen und individuellen<br />
Problemen diese Gespräche durchgeführt wurden, wird genau<br />
dargestellt (I, 98-145). Nach der Darstellung der Protokollierungsverfahren<br />
(I, 146-157) widmen sich die Autoren<br />
den praktischen und methodologischen Problemen der Auswertung,<br />
der Interpretation dieser Gespräche (I, 158-191). Sie<br />
reflektieren deren Interpretationsbedürftigkeit, um daraus<br />
Erkenntnis, d.h. Wissen über verallgemeinerungsfähige<br />
Strukturen des Gegenstandes abzuleiten.<br />
Problematisch ist, daß die Autoren von einer als folgenlos<br />
eingeschätzten "freien Wahl" der Erkenntnisinteressen<br />
ausgehen (I, 166ff.), z.B. Wahl zwischen "reiner Deskription<br />
einer fremden Subkultur" (I, 173) oder Ermittlung "der<br />
('objektiven') gesellschaftlichen Bedingungen solcher Subjektivitätsrepräsentanzen"<br />
(I, 172).Denndie 'reine Deskription'<br />
unterschlägt die gesellschaftliche Wirklichkeit von<br />
Subjektivität: ihre bestimmte Produktion unter konkret-historischen<br />
Gesellschaftsverhältnissen und läßt ihre Pseudokonkretheit<br />
als eigentliche (letzte) Wirklichkeit von Subjektivität<br />
erscheinen. Jedoch, so wie sich das dialektische<br />
Verhältnis von Subjektivität und Objektivität nicht ungestraft<br />
trennen läßt, ist auch eine solche Wahl der Erkenntnisinteressen<br />
ohne das Hervorbrigen "unterschiedlicher<br />
Wahrheit" nicht möglich.<br />
Diesem Problem kommen die Autoren in ihrer Selbstkritik<br />
DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83
Fcani liensozio logie<br />
insofern sehr nahe, als sie in ihrer Subjektivitätsorientierung<br />
ein "moralisch-empiristisch verkürztes Verständnis<br />
von Subjektivität" (I, 228) erkennen, ohne dieses durch ein<br />
theoretisches Konzept reflektieren zu können. Die "reine<br />
Deskription" der Lebenssituation brachte <strong>für</strong> die Autoren<br />
schon vordergründig den Mißerfolg mit sich, daß ihnen Beifall<br />
von der falschen Seite zuteil wurde und ihre Untersuchung<br />
auf der Basis herrschender Klischees mißinterpretiert<br />
wurde (I, 225-227).<br />
Die aufgezeigten Mängel - das Fehlen einer konkret-historischen<br />
Rekonstruktion, wie die herrschende gesellschaftliche<br />
Logik die Subjektivität strukturiert und welche Subjektivitätsrepräsentanzen<br />
welche historische Funktion und<br />
welche gesellschaftliche Basis haben - sollen aber nicht<br />
den eingeschränkten Wert der Arbeiten unterschlagen: Zu I:<br />
konkrete und nachvollziehbare, selbst<strong>kritische</strong> Darstellung<br />
qualitativer Forschungsarbeit in der Sozialwissenschaft. Zu<br />
II: Ermöglichung eines Einblicks in Denk- und Lebensweisen<br />
benachteiligter Familien und zwar durch exemplarische Wiedergabe<br />
von Gesprächen mit Betroffenen und durch den Aufweis<br />
von Gemeinsamkeiten ihres Lebens. Besonders wichtig<br />
erscheint mir dabei die Erkenntnis, daß der Erziehungsalltag<br />
dieser Menschen nicht durch pädagogische Defizite gekennzeichnet<br />
ist - wie frühere Untersuchungen nahelegen -,<br />
sondern daß es ihnen an "Erziehungskraft und -anstrengung<br />
nicht mangelt, ... eher an besseren Lebensbedingungen" (II,<br />
42). Diese Erkenntnis ist zum Leidwesen der Autoren häufig<br />
dahingehend verkürzt worden, daß man diesen Familien einfach<br />
durch Verbesserung der Wohnsituation und der finanziellen<br />
Zuwendungen helfen könnte (I, 226; 315). Die Autoren<br />
entwerfen dagegen ein Problemgeflecht, welches die konkreten<br />
Umstände der Familiengründung, die Rollenbeziehungen,<br />
die Arbeitsbedingungen, die Art staatlichen und sozialarbeiterlichen<br />
Handelns und eben die materiellen Bedingungen<br />
mit einschließt. Zu III: Hier werden die Forschungsergebnisse<br />
Uberschlagartig dargestellt und Empfehlungen <strong>für</strong><br />
die Elternarbeit entwickelt (III, 45-90). Die sonstigen Kapitel<br />
dieser Veröffentlichung beziehen sich auf den anderen<br />
Teilauftrag des Ministeriums, der von der Arbeitsgruppe Elternarbeit<br />
im Deutschen Jugendinstitut verwirklicht wurde.<br />
Insbesondere finden sich hier Empfehlungen <strong>für</strong> die Elternarbeit<br />
an außerfamilialen Betreuungseinrichtungen, an der<br />
Schule, in der Jugendhilfe, in Eltern-Kind-Initiativen sowie<br />
über Verbundsysteme in der Elternarbeit.<br />
US<br />
Ulf-H. Brockner (Köln)<br />
Bösel, Monika: Lebenswelt Familie. Ein Beitrag zur interpretativen<br />
Familiensoziologie. Campus Verlag, Frankfurt/M.-<br />
New York 1980 (165 S., br.)<br />
Die Verfasserin beginnt mit einer Kritik der <strong>Theorie</strong>entwicklung<br />
in der westdeutschen Familiensoziologie. Dem Vorwurf<br />
einer "mangelhaften Integration von Familienforschung<br />
DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83
116 Soziologie<br />
und Familientheorie" (11) oder des Fehlens "eines umfassenden<br />
<strong>Theorie</strong>- und <strong>Theorie</strong>entwicklungsprogramms" (10) ist<br />
(auch angesichts der Themengestaltung der beiden letzten<br />
Soziologentage) zuzustimmen. Ohne sich mit den Ursachen<br />
dieses Defizits näher zu beschäftigen, wird als Ausweg <strong>für</strong><br />
die Familiensoziologie ein Paradigmenwechsel empfohlen. Die<br />
bisherige Familienforschung sei bestimmt gewesen durch die<br />
empirisch-analytische Wissenschaftstheorie, die theoretischen<br />
Postulate des Strukturfunktionalismus und die Forschungsmethoden<br />
der empirischen Sozialforschung. Diesem<br />
Komplex an Vorstellungen, Regeln und Modellen werden die<br />
Tradition der verstehenden Soziologie, der Symbolische Interaktionismus/Lebensweltanalyse<br />
und die Möglichkeiten der<br />
qualitativen Methoden entgegengehalten. Die Autorin versteht<br />
ihre Arbeit als "Beitrag und Plädoyer <strong>für</strong> eine interpretative<br />
Familiensoziologie" (124). Der Gegenstand einer<br />
solchen Soziologie sei durch das Alltagshandeln der Individuen<br />
strukturiert und nicht durch abstrakte Systemgesetzlichkeiten<br />
zu erfassen. Die Alltagswelt wird zum "Ausgangspunkt<br />
und Prüfstein sozialwissenschaftlicher Erklärungen"<br />
(64). "Die verstehende Interpretation richtet sich dabei<br />
auf die intentionale Struktur menschlichen Handelns; sie<br />
versucht ausgehend von den Bedeutungen, die die Handelnden<br />
selbst typischerweise ihrem Handeln beimessen, die Sinnstruktur<br />
des Handlungszusammenhangs zu erfassen und theoretisch<br />
zu rekonstruieren" (65).<br />
Folgen wir dem <strong>Argument</strong>ationsgang: Er beginnt mit einer<br />
Kritik am Strukturfunktionalismus, dem im wesentlichen die<br />
Kritik von Habermas entgegengehalten wird. Die Methodenkritik<br />
wird exemplarisch an der Befragung, dem "Kernstück und<br />
'Königsweg' der Familienforschung" (29) durchgeführt. Dabei<br />
schließt sich Bösel fast völlig der <strong>Argument</strong>ation von Berger<br />
an, ohne wesentlich Uber dessen Position hinauszugehen.<br />
Der <strong>Theorie</strong>- und Methodenkritik folgt ihr Hauptteil, die<br />
methodologische Begründung einer "interpretativen Familiensoziologie".<br />
Der Symbolische Interaktionismus (hier dient<br />
der recht bekannte Aufsatz von H. Blumer als Referenztext)<br />
und die Phänomenologische Soziologie von A. Schütz dienen<br />
als philosophischer Hintergrund <strong>für</strong> die zu skizzierende<br />
Forschungsalternative. Die Verbindung zur Familiensoziologie<br />
gelingt durch Verweis auf die Tradition interaktionistischer<br />
und entwicklungstheoretischer Ansätze (Burgess,<br />
Waller, Hill & Hansen oder Rodgers).<br />
Der. zentrale und beste Teil der Arbeit ist überschrieben:<br />
"<strong>Das</strong> Lebensweltkonzept der Familie" (77-111); dort wird<br />
versucht, ein Kategorienschema zu entwickeln, mit dessen<br />
Hilfe es möglich sein soll, Familie als "Soziale Lebenswelt"<br />
zu erfassen. Mit der Konstruktion von Schlüsselelementen<br />
sollen vier Dimensionen erfaßt werden: (a) Prozesse<br />
der Sinnkonstitution, (b) Prozesse der Realitätsbewältigung,<br />
(c) Prozesse der Identitätsfindung und (d) Prozesse<br />
der Familienerfahrung. Anschaulich wird das Konzept durch<br />
DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83
Kritische <strong>Theorie</strong> 117<br />
Beispiele aus zwei nicht selbst durchgeführten Untersuchungen,<br />
an denen die Vorgehensweise zum Teil geprüft werden<br />
kann. Die Präsentation qualitativer Methoden und ihrer Möglichkeiten<br />
bei der Familienanalyse schließen den Hauptteil<br />
ab.<br />
Hat sich die Verfasserin zu Beginn von dem makro-soziologischen<br />
<strong>Theorie</strong>entwurf der Systemtheorie heftig distanziert,<br />
so öffnet sie ihr Konzept, <strong>für</strong> den Leser völlig<br />
überraschend, der Kritik einer "marxistischen Soziologie"<br />
(121). Bereiche wie "sozialer Wandel als Evolution von Gesamtgesellschaften",<br />
"strukturelle Bedingungen und die Entstehung<br />
von Konflikten" werden als notwendige Erweiterungen<br />
begriffen, ohne daß vorher das Angebot der abgelehnten Systemtheorie<br />
diskutiert worden wäre. Insgesamt hinterläßt<br />
der vorliegende Band einen recht zwiespältigen Eindruck.<br />
Positiv ist neben dem durchaus gelungen Teil zur "Familie<br />
als Lebenswelt" die Zusammenstellung der grundlegenden<br />
theoretischen Konstrukte zu bewerten. Die Ambivalenz wird<br />
allerdings an der gleichen Stelle deutlich: Die einzelnen<br />
Texte werden fast ausschließlich nur referiert. Da auf ihre<br />
Rezeptionsgeschichte nicht eingegangen wird, entsteht ein<br />
Bild, dessen Klarheit nur durch Weglassen zu erreichen ist.<br />
Der große Abstand zwischen Fertigstellung der Arbeit (1976<br />
als Dissertation) und der Veröffentlichung mag dazu beigetragen<br />
haben, daß einige Teile zwar als Einführung in die<br />
interpretative Familiensoziologie geeignet sind, allerdings<br />
den gerade in den letzten Jahren stark angewachsenen Wissensbestand<br />
zur interpretativen Forschung nicht reflektieren<br />
können. Manfred Herzer (Mainz)<br />
Kritische <strong>Theorie</strong><br />
Wilson, Michael: <strong>Das</strong> <strong>Institut</strong> <strong>für</strong> Sozialforschung und seine<br />
Faschismusanalysen. Campus Verlag, Frankf./M. - New York<br />
1982 (221 S., br.)<br />
Michael Wilson sieht die paradigmatische Bedeutung der<br />
kritisch-theoretischen Faschismusanalysen primär in ihrem<br />
komplexen und differenzierten methodischen Postulat, wie<br />
Max Horkheimer es 1931 unter dem Begriff von Sozialforschung<br />
programmatisch dargelegt hat. Diese Frankfurter Dissertation<br />
mißt die verschiedenen Faschismusanalysen des<br />
Kreises um Horkheimer aus den Jahren 1932-1942 theorie- und<br />
werkimmanent am eigenen Anspruch, Gesellschaft als Totalität<br />
zu analysieren, die sich durch wechselseitige Abhängigkeiten<br />
der Teilbereiche strukturiert und konstituiert und<br />
innerhalb derer soziale Teilerscheinungen nur aus dem Ganzen<br />
erklärt werden können.<br />
Bei der Analyse der politisch-ökonomischen Schriften des<br />
<strong>Institut</strong>s kann Wilson plausibel nachweisen, daß besonders<br />
DAS ARGUMENT-BEIHEFT '85
118 Soziologie<br />
Pollock und Horkheimer auf dem Hintergrund einer einfachen<br />
Identifizierung von "Basis" mit "Ökonomie" und "Überbau"<br />
mit "Politik", "Staat" und "Ideologie" argumentieren, wenngleich<br />
sie dem Programm der Differenzierung und Revision<br />
des Basis-Überbau-Schemas verpflichtet sind. Pollock entferne<br />
sich vollends vom methodischen Postulat des wechselseitigen<br />
Bezugs der verschiedenen gesellschaftlichen Teilbereiche,<br />
wenn er die politische Ökonomie des Faschismus<br />
auf nationalökonomische Fragen engführe und in dieser Engführung<br />
auch nur die Rolle des Staates betrachte. Wilson<br />
macht auch auf Pollocks und Horkheimers methodischen Fehler<br />
der Erhebung heuristischer Modelle, das sind die Idealtypen<br />
"Markt" und "Plan" als Kategorien <strong>für</strong> die Analyse wirtschaftstechnischer<br />
Alternativen der faschistischen Krisenpolitik,<br />
zu Kategorien von geschichtsphilosophischem Rang<br />
ohne hinreichende theoretische und empirische Prüfung aufmerksam.<br />
Die Integration der Psychoanalyse in die frühe<br />
Kritische <strong>Theorie</strong> analysiert Wilson im Rückgriff auf die<br />
Ergebnisse Dahmers, Horns, Lorenzers und Görlichs. Er<br />
zeichnet die Konzeption der Sozialpsychologie als Hilfsund<br />
Vermjttlungswissenschaft zur Klärung des Zusammenhangs<br />
von ökonomischen Strukturen, Prozessen mit Handlungen und<br />
der Gedanken- und Gefühlswelt nach und stellt die Kategorie<br />
des Charakters als zentral <strong>für</strong> Differenzierung und Operationalisierung<br />
der Frage nach den Triebfedern der gesellschaftlichen<br />
Dynamik heraus. Dabei weist er auf die vorschnelle<br />
Integration von Psychoanalyse und Soziologie in<br />
die materialistische Sozialpsychologie mittels der Gleichsetzung<br />
der Begriffe "sadomasochistischer" und "autoritärer<br />
Charakter" hin.<br />
Forschungsorganisation und <strong>Theorie</strong>bildung der Kritischen<br />
<strong>Theorie</strong> zeigen Wilson zufolge mangelnde Konkretisierung der<br />
Thesen, unzureichende Koordination und Kooperation untereinander<br />
und teilweise undialektisches Vorgehen: Er kritisiert,<br />
daß die verschiedenen Interpretations- und Forschungsansätze<br />
wie "Staatskapitalismus" (Pollocks <strong>kritische</strong><br />
Wendung des Leninschen Begriffs der Übergangsgesellschaft<br />
zur Hervorhebung der Rolle des Staates als Krisenüberwinder),<br />
"Autoritärer Staat" (Horkheimers Konzept des Totalitarismus^,<br />
"Primat der Politik" (Horkheimers und Pollocks<br />
Behauptung, der faschistische Staat habe die Ökonomie als<br />
Triebfeder der historischen Dynamik außer Kraft gesetzt,<br />
das faschistische System und damit die kapitalistische<br />
Wirtschaftsverfassung sei nur noch mit Mitteln der Politik<br />
aufrechtzuerhalten), "Totalitärer Monopolkapitalismus"<br />
(Neumanns und Gurlands Insistieren auf der Beibehaltung der<br />
ökonomischen Dynamik des Kapitalismus) und "Technologische<br />
Rationalität" (Marcuses und Gurlands These von der Durchsetzung<br />
eines neuen Rationalitätsprinzips im Faschismus)<br />
miteinander nicht kompatibel seien. Wilson selbst schlägt<br />
sich in der Kontroverse um die Einschätzung des Nationalsozialismus<br />
auf die Seite Neumanns und Gurlands. Sie orien-<br />
DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83
Kritische <strong>Theorie</strong> 119<br />
tierten sich an der Empirie/Realität, lösten also tendenziell<br />
den Anspruch der Sozialforschung ein und argumentierten<br />
auf dem Hintergrund der Kontinuitätsthese und entgingen<br />
damit dem verkürzten nationalökonomisch und staatspolitisch<br />
ausgerichteten Ökonomiebegriff.<br />
Wilsons Studie zufolge liegt das Scheitern dieses Teils<br />
der Linken der Weimarer Republik in ihrem Unvermögen, ihre<br />
programmatische empirische Forschung und theoretische Konstruktion<br />
praktisch einzulösen. <strong>Das</strong> kategoriale System zur<br />
Lösung der Fragen nach den strukturellen Zusammenhängen zwischen<br />
Einsetzung und Konsolidierung des nationalsozialistischen<br />
Herrschaftssystems und der kapitalistischen Wirtschaftsordnung<br />
stehe mit den Konzepten der Kontinuitätsthese,<br />
des totalitären Monopolkapitalismus und des autoritären<br />
Charakters bereit, es bedürfe nur noch der forschungspraktischen<br />
Realisierung. Karin Willen (Frankfurt/M.)<br />
Hansen, Klaus (Hrsg.): Frankfurter Schule und Liberalismus.<br />
Beiträge zum Dialog zwischen <strong>kritische</strong>r Gesellschaftstheorie<br />
und politischem Liberalismus. Nomos Verlagsgesellschaft<br />
Baden-Baden 1981 (211 S., br.)<br />
Der vorliegende Reader dokumentiert Referate einer Tagung<br />
von 1980 in der Theodor-Heuss-Akademie, bei der das<br />
Verhältnis des politischen Liberalismus in der Bundesrepublik<br />
zur <strong>kritische</strong>n <strong>Theorie</strong> diskutiert wurde. K. Hansen<br />
versucht im einleitenden Beitrag, den Nutzen der <strong>kritische</strong>n<br />
<strong>Theorie</strong> <strong>für</strong> Liberale zu bestimmen. Als gemeinsames zentrales<br />
Motiv wird die Freiheit des Individuums benannt, das<br />
hier als erkenntnisleitendes Interesse und dort als politisches<br />
Programm fungiert. Geht es der <strong>kritische</strong>n <strong>Theorie</strong> angesichts<br />
des Faschismus ursprünglich um den Nachweis der<br />
historischen Gründe, welche das Individuum daran hindern,<br />
nach den Prinzipien der Vernunft zu handeln, verhält sich<br />
der ältere Liberalismus eher als Forderungskatalog zur Beseitigung<br />
wirtschaftlicher Hemmnisse bei der Entfaltung des<br />
Wirtschaftssubjektes, später als gegen jeglichen Totalitarisme<br />
gerichteter Anwalt des politischen Bürgers. Hansen<br />
arbeitet klar heraus, daß <strong>kritische</strong> <strong>Theorie</strong> kein unmittelbarer<br />
Wegweiser <strong>für</strong> Liberale sein kann: "Die <strong>kritische</strong><br />
<strong>Theorie</strong> kann dem politischen Liberalismus eher <strong>kritische</strong>s<br />
Regulativ denn konstruktives Konzept sein" (25).<br />
Während sich der Beitrag von M. Wiggershaus auf eine immanente<br />
Darstellung der Geschichte der Frankfurter Schule<br />
beschränkt, wird in den folgenden Beiträgen das Spannungsverhältnis<br />
von <strong>kritische</strong>r <strong>Theorie</strong> und Liberalismus an ausgewählten<br />
und speziellen Problemfeldern diskutiert. Theo<br />
Schiller vergleicht die Positionen zur Frage der Freiheitdes<br />
Individuums und sieht neben unübersehbaren Differenzen<br />
auch eine <strong>kritische</strong> Öffnung des Liberalismus seit dem Freiburger<br />
Programm der FDP hin zu einer Problemstellung, die<br />
mit der <strong>kritische</strong>n <strong>Theorie</strong> geteilt wird: Es ginge um die<br />
Entwicklung einer "moralischen Ökonomie", die praktische<br />
DAS ARGUMENT-BEIHEFT '85
120 Soziologie<br />
Auswege aufzeigt, um die Entfremdung der Tauschgesellschaft<br />
zu überwinden, das Individuum dabei aber zu retten und<br />
nicht an anonyme Staatsbürokratien auszuliefern. M.T. Grevens<br />
Beitrag greift die Liberalismuskritik der frühen <strong>kritische</strong>n<br />
<strong>Theorie</strong> (überzeugend rekonstruiert in den Beiträgen<br />
von H. Dubiel und A. Söllner) auf und betont den Anachronismus<br />
des älteren Liberalismus, der den Funktionserfordernissen<br />
spätkapitalistischer Gesellschaften nicht mehr gerecht<br />
werde, so daß sich die Frage stellt, "ob sich der Liberalismus<br />
nicht eines Tages in der historischen Position<br />
des Anarchismus wiederfinden wird, und zwar als bloß noch<br />
utopisches Ideal der Freiheit eines Individuums, das schon<br />
längst zum bloßen 'Gehäuse der Hörigkeit' verkommen ist"<br />
(99).<br />
Der vorliegende Reader ist ein mutiger und anregender<br />
Versuch, Denkanstöße zu geben, um sich der philosophischen<br />
Grundlagen dessen zu versichern, was wir als 1 'Liberalität"<br />
zu bezeichnen pflegen: die vernunftbestimmte Autonomie<br />
des bürgerlichen Subjekts. Die Berührungspunkte zwischen<br />
Liberalismus und <strong>kritische</strong>r <strong>Theorie</strong> liegen denn auch weniger<br />
in der sich liberal nennenden Realpolitik der FDP, sondern<br />
in der Tradition einer politischen Philosophie der<br />
Emanzipation des Subjekts aus "selbstverschuldeter Unmündigkeit"<br />
(Kant), die in der Französischen Revolution ihren<br />
Ausgang nahm. Hans-Gerd Jaschke (Frankfurt/M.)<br />
Frankreich<br />
Schmidt, Bernhard: Frankreich-Lexikon. Schlüsselbegriffe zu<br />
Wirtschaft, Gesellschaft, Politik, Geschichte, Kultur,<br />
Presse- und Bildungswesen. Band I: Académie - Jours de<br />
France. Unter Mitarbeit von J. Doli, W. Fekl, E. Gerhards,<br />
U.S. Loewe. E. Schmidt Verlag, Berlin/West 1981 (372 S.,<br />
br.)<br />
Der Frankreich-Brockhaus. Namen, Daten, Fakten von A bis Z.<br />
F.A. Brockhaus, Wiesbaden 1982 (320 S., Ln.)<br />
<strong>Das</strong> "Frankreich-Lexikon" geht von französischsprachigen<br />
Stichworten aus und beschränkt sich auf die im Untertitel<br />
aufgezählten gesellschaftlichen Bereiche. Da anderweitig<br />
bereits verfügbar, wurden Literatur, Kunst, Musik ausgespart.<br />
Greifen wir zunächst das Comité d'entreprise heraus, so<br />
ist anzumerken, daß die umstandslose Ubersetzung als "Betriebsrat"<br />
einer weitverbreiteten Falschübersetzung Vorschub<br />
leistet und besser unterblieben wäre, da das CE im<br />
Unterschied zum Betriebsrat nicht allein von der Belegschaft<br />
gestellt wird, nur Befugnisse der technisch-ökonomisch-finanziellen<br />
Beratung der Betriebsleitung (die zudem<br />
den Vorsitz stellt) und nur im Bereich der betrieblichen<br />
DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83
Frankreich 121<br />
Sozialwerke Kontrollvollmachten besitzt. Diese Tatsachen<br />
sind dem Stichwort zwar zu entnehmen, aber eine "verfremdende"<br />
Übertragung - z.B. als "Unternehmenskomitee" - hätte<br />
wohl besser verdeutlicht, daß CE eben nicht einfach der<br />
französische Begriff <strong>für</strong> "Betriebsrat" ist. - Weiterhin<br />
reicht es hier - wie z.B. auch bei Conseil de prud'hommes<br />
- nicht aus, nur das Gründungsdatum anzumerken, ohne die<br />
geschichtliche Entwicklung und Veränderung mit aufzuzeigen:<br />
So wurde der erste Prud'hommesrat von Napoleon 1806 (und<br />
nicht 1801 ; 190) eingerichtet, jedoch mit vier Arbeitern<br />
und fünf Chefs ; erst nach der 48er Revolution führte die<br />
II. Republik die paritätische Besetzung ein. Und bereits 37<br />
Jahre vor dem politischen Wahlrecht, nämlich im Jahre 1907<br />
konnten Frauen im Betrieb wählen.<br />
<strong>Das</strong> Stichwort Dom-Tom informiert leider nur global über<br />
die äußerst verschiedenartigen französischen Überseedepartements<br />
und -gebiete, ohne auf deren jeweilige Spezifik näher<br />
einzugehen: Auf Martinique und Guadeloupe leben ethnische<br />
Gruppen mit eigener Sprache (Kreolisch), aufgrund der<br />
organisierten Arbeitskräftewanderung in die Metropole lebt<br />
jedoch schätzungsweise ein Drittel der beiden Völker in<br />
Frankreich, weswegen Aimé Césaire von der Parti Progressiste<br />
Martiniquais (und nicht Parti Populaire; 230) von "Ethnozid<br />
durch Substitution" spricht. - In diesem Zusammenhang<br />
hätte sich auch ein Stichwort Immigrés angeboten, das über<br />
die Situation der über 4 Millionen Immigranten in Frankreich<br />
informiert. Äußerst informativ sind Beiträge wie<br />
Grandes écoles, wo deren Auslesecharakter knapp und einleuchtend<br />
verdeutlicht wird: nur 2 Prozent der Studenten<br />
stammen aus Arbeiter- und Angestellten-Familien, weniger<br />
als 5 Prozent der IngenieurStudenten sind Frauen (335).<br />
Die Stichworte schließen mit Literaturangaben, ggf.<br />
Adresse, Anlaufstellen, Öffnungszeiten (z.B. Centre Beaubourg).<br />
Insgesamt betrachtet bietet das Lexikon - neben einigen<br />
eher feuilletonistischen Beiträgen (Autogestion; <strong>Institut</strong><br />
de Recherches Marxistes) - sorgfältig fundierte<br />
Kenntnisse, die weit über die vergleichbarer Werke hinausragen.<br />
So finden sich im II. Band, der die Ereignisse seit<br />
dem Machtwechsel im Mai 81 berücksichtigt, zehn Seiten Informationen<br />
Uber Mai 68 (wobei das GewerkschaftsVerständnis<br />
einen plakativen Eindruck macht, da die alte These von der<br />
Führung, die die Basis mühevoll unter Kontrolle halten<br />
will, wieder aufgewärmt wird).<br />
Der Frankreich-Brockhaus stellt einen Auszug der Stichworte<br />
zu Frankreich aus dem Großen Brockhaus in 12 Bänden,<br />
18. Auflage, dar, die geringfügig "ergänzt und aktualisiert"<br />
wurden. Einen Hauptteil dieses Nachschlagewerks machen<br />
die "großen Persönlichkeiten" aus, Uber die allerdings<br />
nur äußerst grobe und knappe Kurzinfos zu erhalten sind:<br />
Die Reihe der Ludwigs ist vorhanden, über Aragon gibt es<br />
ganze vier einspaltige Zeilen, Uber Brassens ebensowenig,<br />
Jacques Tati gar nur zwei Zeilen. Die Auswahl ist zudem oft<br />
DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83
122 Soziologie<br />
willkürlich, es fehlen der Soziologe Bourdieu, Ariane<br />
Mnouchkine vom Théâtre du Soleil, Louise Michel, Regis Debray,<br />
Benoit Frachon und populäre Chansonsänger/innen wie<br />
Barbara, Jean Ferrat oder Leo Ferré (hingegen hat sich das<br />
Stichwort Monacco hineinverirrt). Selbst als Personenléxikon<br />
ist der Brockhaus also nur begrenzt brauchbar. - Die<br />
Ereignisse des Mai 68 werden Uberhaupt nicht erwähnt, nicht<br />
einmal unter "Französische Geschichte". Ähnlich niederschmetterndes<br />
Ergebnis bei dem Stichwort CGT: Während das<br />
Lexikon von Schmidt u.a. diese größte französische Gewerkschaft<br />
fünf Seiten lang darstellt, finden sich im Brockhaus<br />
ganze fünf Zeilen und die auch nur unter dem Stichwort<br />
"Französische Gewerkschaften". Für Frankreich-Interessierte<br />
ergibt sich damit, nach welchem Lexikon er/sie greift.<br />
Wolfgang Kowalsky (Berlin/West)<br />
Debray, Régis: "Voltaire verhaftet man nicht". Die Intellektuellen<br />
und die Macht in Frankreich. Hohenheim Verlag,<br />
Köln 1981 (292 S., br.)<br />
<strong>Das</strong> Buch wird vorgestellt als erster Teil einer geplanten<br />
mehrbändigen Studie zur "Mediologie" (7), die den Zusammenhang<br />
von bürgerlicher Herrschaft, Staat, Massenmedien<br />
und Intellektuellen untersuchen soll. - Bürgerliche Herrschaft<br />
ist heute, so Debray, Herrschaft mittels Massenmedien,<br />
ist Mediokratie (8), denn diejenigen, die in der Regierung<br />
sitzen, besäßen das Monopol auf Meinungssteuerung<br />
(8). Der Informationsapparat habe innerhalb des gesellschaftlichen<br />
Machtsystems die beherrschende Stelle vor politischen,<br />
gewerkschaftlichen und pädagogischen Apparaten<br />
eingenommen (94). Es gelte Schluß zu machen mit dem nichtssagenden<br />
Ritual der begrifflichen Unterscheidung von Staat<br />
und bürgerlicher Gesellschaft, die nur den tatsächlichen<br />
Machthabern in den Beherrschungsapparaten, den Intellektuellen,<br />
zu einem zynischen Alibi verhelfe (8).<br />
Debray will den "begrifflichen Rahmen der modernen französischen<br />
Intelligentsia" (7) herausarbeiten. Er unterscheidet<br />
mehrere Kopfarbeitertypen. Ärzte, Anwälte, Ingenieure,<br />
hohe Beamte, FUhrungskräfte in der Armee, im Klerus<br />
usw. seien zwar intellektuelle Arbeiter, jedoch keine professionellen<br />
Intellektuelle. "Intelligentsia", das sei die<br />
intellektuelle Aristokratie, die sich zu den intellektuellen<br />
Arbeitern verhält wie die Erfinder zu den Anwendern<br />
(30); Debray nennt Maler, Bildhauer, Schriftsteller, Hochschullehrer,<br />
Journalisten. Er unterscheidet hohe und niedrige<br />
"Intelligentsia"; je nachdem, ob sie das Recht haben,<br />
sich der Massenkommunikationsmittel zu bedienen (41). Unerläßliche<br />
Bedingung <strong>für</strong> den privilegierten Zugang zu den<br />
Massenmedien sei die Zugehörigkeit zum intellektuellen Milieu<br />
(Universität, Verlagswesen, Massenmedien), dessen verschiedene<br />
in ihm geprägte Haltungen Debray beschreibt<br />
(116f.). Der organische Intellektuelle modernen Typs vereinige<br />
Spitzenpositionen dieser drei Bereiche in sich, eine<br />
DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83
Sexualerziehung 123<br />
Position bei den Medien sei dabei die Krönung der Karriere<br />
(120). Der Ort der Macht befinde sich, wo die Asymmetrie<br />
zwischen Sender und Empfänger am größten ist, dort seien<br />
die großen Intellektuellen des Augenblicks anzutreffen,<br />
denn nicht das Ausbildungsniveau mache den Intellektuellen,<br />
sondern das Vorhaben, Menschen zu beeinflussen (148). Dies<br />
bringe sie "reflexmäßig" (165) auf die Seite derer, die<br />
über die Medien verfügen. In einer Gesellschaft, i n der sich<br />
gleicher Lebensstandard nach und nach allen ihren Mitgliedern<br />
aufdränge, bedürfe es nicht länger der Bestechung<br />
durch Geldmittel. "Etwas sein" heiße heute: <strong>für</strong> andere zählen,<br />
wenig sein <strong>für</strong> einige, viel sein <strong>für</strong> viele andere<br />
(169). Daher reiche es aus, wenn die Bourgeoisie die Herrschaftsmittel<br />
Zeitungspapier und elektronische Medien einsetzt.<br />
Die Organisierung von Zustimmung zur bürgerlichen<br />
Klassenherrschaft schrumpft in Debrays Vorstellung zur<br />
"Lenkung der Köpfe" (8, s.a. 140, 223). Die Herrschenden<br />
senden, die Beherrschten empfangen, und "wo das große Medium<br />
ankommt, wächst der militante Revolutionär nicht mehr<br />
nach" (174).<br />
Debrays Reduktion des modernen organischen Intellektuellen<br />
auf ein vom "Ehrgeiz" nach Beeinflussung der Massen gepacktes<br />
Individuum, das der Verlockung, am Ort mit der besten<br />
"Akustik" zu sprechen, nicht entsagen kann, ist aufgrund<br />
des Instrumentalismus ein Rückfall hinter Gramscis<br />
Funktionsbestimmungen der Intellektuellen. Zu einer <strong>Theorie</strong><br />
des Ideologischen, speziell zur Frage, wie ideologische<br />
Vergesellschaftung von Intellektuellen durch Intellektuelle<br />
zu begreifen ist, vermag dieses Buch wenig beizutragen. Es<br />
ist aus çiem verkürzten Blickwinkel einer Anklage der Beeinflussungsapparatur<br />
des herrschenden Blocks unter Giscard d 1<br />
Estaing geschrieben. Die neuen politischen Ereignisse - Regierungswechsel<br />
, Debray avanciert zum Präsidentenberater<br />
Mitterands, ist nun also selbst "Intelligentsia" und "Mediokrat"<br />
- übersteigen den theoretischen Horizont dieses<br />
1979 in Frankreich erschienen Buches.<br />
Jörg Tuguntke (Berlin/West)<br />
ERZIEHUNGSWISSENSCHAFT<br />
Sexualerziehung<br />
Amendt, Günter: <strong>Das</strong> Sexbuch. Weltkreis-Verlag, Dortmund<br />
1979 (252 S., br.)<br />
Cousins, Jane: Make it Happy. Rowohlt Verlag, Reinbek 1980<br />
(206 S., br.)<br />
Jaeggi, Eva: Auch Fummeln muß man lernen. Bund-Verlag, Köln<br />
1980 (76 S., br.)<br />
DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83
124 Erziehungswissenschaft<br />
Kentier, Helmut: Eltern lernen Sexualerziehung. Rowohlt<br />
Verlag, Reinbek 1981 (152 S., br.)<br />
Kunstmann, Antje: Mädchen. Sexualaufklärung emanzipatorisch.<br />
Weismann Verlag, München 1976 (96 S., br.)<br />
Make it happy - Auch Fummeln muß man lernen - Sexbuch -<br />
Mädchen, Sexualaufklärung emanzipatorisch - Eltern lernen<br />
Sexualerziehung - Sexualinformation <strong>für</strong> Jugendliche<br />
Beim ersten Sichten und Durchblättern der Aufklärungsbücher<br />
spüre ich widersprüchliche Gefühle bezüglich der Offenheit<br />
und Deutlichkeit, mit der Liebende in den verschiedensten<br />
Stellungen, beim Vor- und beim Nachspiel, beim Petting und<br />
beim Onanieren gezeigt werden; Querschnitte durch innere<br />
und äußere Geschlechtsorgane von Frauen und Männern; Verhütungsmittel;<br />
Großaufnahmen, wie Pessare eingeführt werden.<br />
Hätte ich mir meine Aufklärung damals in dieser Direktheit<br />
gewünscht?<br />
Ich denke zurück an meine Kindheit, in der es ein heißbegehrtes<br />
Buch, das Gesundheitsbuch meiner Mutter, gab. <strong>Das</strong><br />
einzige in der Familie, das Darstellungen von nackten Männer-<br />
und Frauenkörpern enthielt. Es war, statt wie die anderen<br />
Bücher im Bücherschrank zu stehen, im Wäscheschrank<br />
im Elternschlafzimmer versteckt. Unausgesprochen, aber dennoch<br />
klar, war es <strong>für</strong> uns Kinder verboten, darin zu schmökern.<br />
Deshalb war es besonders anziehend. Oder die Zeitschrift<br />
"Stern". Die war ebenfalls <strong>für</strong> uns Kinder nicht zugänglich;<br />
da wurde angeblich zuviel "Fleischbeschau" betrieben.<br />
Grund genug, um neugierig zu werden. Ich merke,<br />
wie ich die widersprüchlichen Gefühle nach der Seite der<br />
Zustimmung aufzulösen beginne. Endlich Schluß mit der Prüderie<br />
und Geheimniskrämerei.<br />
Was wollen die Sexualaufklärer? - Zunächst Sexualität<br />
befreien. - Sie setzen dabei unterschiedliche Schwerpunkte.<br />
Die einen vermitteln vor allem Wissen über den Körper, über<br />
die Entwicklung zum Geschlechtskörper und die damit verbundenen<br />
Funktionsfähigkeiten, über Verhütungsmöglichkeiten,<br />
Abtreibung, über verschiedene sexuelle Praxen (Selbstbefriedigung;<br />
Homo-, Hetero-, Bisexualität). Andere stellen<br />
die Notwendigkeit in den Vordergrund, sexuelle Erlebnisfähigkeit<br />
zu lernen. Dazu thematisieren sie Gefühle, Wünsche,<br />
Hoffnungen, die wir mit Sexualität verbinden; die Ängste<br />
vor dem "ersten Mal" oder die Angst vor dem sexuellen Versagen.<br />
Es geht außerdem um Lust und Freude sowie um den Genuß<br />
des eigenen und fremden Körpers. Die Bücher fungieren<br />
als praktische Ratgeber, sie vermitteln Techniken. Sexualität<br />
soll enttabuisiert werden. Obwohl ich es "irgendwie"<br />
richtig finde, was in den Aufklärungsbüchern steht, kann<br />
ich meine widersprüchlichen Gefühle doch nicht ganz nach<br />
der Seite der Zustimmung auflösen. Es bleiben Vorbehalte<br />
gegen die vorgeführte "Aufgeklärtheit". Was hindert mich an<br />
begeisterter Zustimmung? Vermutlich die eigene Erfahrung,'<br />
daß meine Gefühle der Scham, meine Ängste und Unsicherheiten<br />
bei der Suche nach "der" sexuellen Identität, sehr viel<br />
tiefer sitzen, hartnäckiger sind, als daß sie allein durch<br />
DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83
Sexualerziehung 125<br />
Vermittlung von Wissen vertrieben werden könnten.<br />
Zum Beispiel die Onanie. - Eva Jaeggi schreibt: "Wenn<br />
auch sexuelle Gefühle schon vielen Jungen im Vorschulalter<br />
bekannt sind - die meisten beginnen erst mit 10, 11 Jahren<br />
sich selbst zu .befriedigen. Von der späten Pubertät an tun<br />
es so gut wie alle. Allerdings mit unterschiedlich gutem<br />
oder schlechtem Gewissen. Obwohl das Onanieren Spaß macht<br />
und keinem schadet" (11). Jaeggi klärt uns auf, Onanie ist<br />
normal, natürlich, alle tun es. Zunächst sind alle Jungen<br />
gemeint. Mit der Versicherung der Normalität arbeitet sie<br />
gegen Schuldgefühle. Problematisch bleibt das Imaginäre des<br />
Sozialen in der Onanie und damit die Be<strong>für</strong>chtung, es möchten<br />
die Schuldgefühle so nicht auflösbar sein, das Verbot<br />
nicht ihre einzige Quelle.<br />
Ein wenig verwirrend fand ich auch die Andeutung von Gefährlichkeit<br />
bei der Onanie durch Versicherung des Gegenteils<br />
mit Verweis auf die Kraft der Jugend: "Macht euch<br />
keine Sorgen darüber, daß Onanieren euch selbst schaden<br />
könnte. Ein junger Organismus ist dadurch nicht umzuwerfen"<br />
(11). "Mancher meint, er sei 'pervers', wenn er mal vor dem<br />
Spiegel onaniert. Oder auch homosexuelle Phantasien hat.<br />
<strong>Das</strong> alles tun aber viele Jugendliche, die später völlig<br />
normale und befriedigende Beziehungen zu Mädchen haben. In<br />
jedem Menschen ist eben auch ein Stück Homosexualität versteckt.<br />
Und im Grunde ist es ganz gut, dies auch mal zu erleben.<br />
Es bewahrt vor dummen Vorurteilen gegenüber der Homosexualität"<br />
(llff.).<br />
Jaeggi vermittelt: Onanie und homosexuelle Phantasien<br />
brauchen nicht beängstigend zu sein, da sie <strong>für</strong> viele<br />
Durchgangsstadium sind. Denn zum Glück werden die meisten<br />
später doch "normal" und leben dann auch "befriedigend"?<br />
Jugendliche sind <strong>für</strong> die Autorin offensichtlich nur Jungen.<br />
Jaeggi benutzt hier die "Perversion" und bestimmt dadurch<br />
Normalität. Die in den Zitaten versteckte Zustimmung zur<br />
Normalität zeigt selbst eine Fragwürdigkeit der rein rationalen<br />
Aufklärung, die das Entstehen der Gefühle nicht mituntersucht:<br />
Diese Gefühle sind so sehr Teil der Persönliqhkeit<br />
geworden, daß die Aufklärende noch in ihren aufklärenden<br />
Worten von ihnen bestimmt ist.<br />
Jaeggi empfiehlt, Ängste vor sexueller Leistungsfähigkeit,<br />
vor möglichem sexuellen Versagen, vor Orgasmusschwierigkeiten<br />
zu artikulieren und sich dadurch den Druck der<br />
Perfektion zu nehmen. Dazu eine knappe Einschätzung der Ursachen<br />
der Angst: "Angst entsteht meistens aus einem zu hohen<br />
Leistungsdruck. Wir bilden uns ein, beim Bumsen müßten<br />
wir genauso funktionieren wie bei der Arbeit. <strong>Das</strong> eine hat<br />
aber mit dem anderen nichts zu tun" (18ff.). "Man muß nicht<br />
immer und jederzeit 'perfekt' bumsen können. Seht das alles<br />
ein wenig einfacher. Vielleicht wie einen langsamen vergnüglichen<br />
Spaziergang" (18). "Wenn der Geschlechtsverkehr<br />
nicht gleich gelingt, sprecht darüber ... Denkt daran: ihr<br />
habt noch viel Zeit bis es 'ganz richtig' klappt" (18).<br />
DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83
126<br />
Erziehungswissenschaft<br />
Empfohlen wird die entspannte Haltung des Spaziergängers,<br />
dessen Entspannung allerdings vorgeschrieben wird. Sie soll<br />
von der Anspannung ablenken, um dann die richtige Entspannung<br />
erreichen zu können. Es muß "richtig sein", aber die<br />
Anstrengung, das "Richtige" zu erreichen, muß entspannt geschehen.<br />
So wird dem Druck, das Richtige zu tun, der Druck<br />
hinzugefügt, keinen Druck zu empfinden 1 .<br />
<strong>Das</strong> Reden über sexuelle Wünsche oder Probleme erinnert<br />
an Gebrauchsanweisungen <strong>für</strong> elektrische Geräte. Die Genauigkeit<br />
der Beschreibung soll die richtige Bedienung garantieren<br />
und Störfaktoren ausschalten. Die Aufforderung, über<br />
alles zu reden, um größtmögliche sexuelle Befriedigung zu<br />
erfahren, macht die einzelnen individuell da<strong>für</strong> verantwortlich<br />
, ob und wie sie diesen Glücksanspruch einzulösen in<br />
der Lage sind.<br />
Genuß. - Zentrale, im sexuellen Bereich handlungsanleitende<br />
Kategorie, ist der individuelle Genuß. Damit Sexualität<br />
Lust und Spaß macht, ist alles erlaubt, was beiden gefällt.<br />
Lediglich eine Einschränkung gilt es zu beachten: Es<br />
darf keinem schaden. Wo bei Wojtyla (vgl. das Kapitel "Kirche<br />
und Sexualität", in: Frigga Haug, Hrsg.: Sexualisierung<br />
der Körper. <strong>Argument</strong> Sonderband 90, Berlin/West 1983) die<br />
Liebespartner durch die wohlwollende Liebe verbunden sind,<br />
und bei Kentier die Sexualität ein Mittel darstellt, den<br />
anderen Menschen zu "erkennen" und selbst "erkannt zu werden"<br />
(14ff.) sind <strong>für</strong> Jaeggi, Cousins und Kunstmann in Liebesbeziehungen<br />
Regelungen vorhanden, die einem Vertrag ähneln.<br />
Die Autoren scheinen anzunehmen, daß zwei Menschen,<br />
die sich kennenlernen, kein anderes Interesse aneinander<br />
haben, als die Befriedigung ihrer individuellen sexuellen<br />
Lust. Dieses Interesse bringt sie zudem in einen Gegensatz<br />
zueinander. Also muß es Regeln geben, damit beide nicht<br />
übereinander herfallen. Die Regeln bestehen darin, jeweils<br />
die eigenen Bedürfnisse zu äußern und dem/der anderen Grenzen<br />
zu_setzen. Als letzte Ethik haben wir ein wechselseitiges<br />
Obligationsverhältnis. Im Kapitel Sklavin (in: Haug<br />
1983 a.a. 0.) haben wir den Begriff diskutiert, der die Fähigkeiten<br />
bezeichnet, solche Regelungen zu kennen und sich<br />
in ihnen zu bewegen: Soziale Kompetenz. Eine Seite der sozialen<br />
Kompetenz war dort die Kenntnis der Grenzen zwischen<br />
sexuell und nichtsexuell aufreizend. Hier, bei den liberalen<br />
Sexualerzieherfji, kommt der Liebespartner als Grenze<br />
vor, die man respektiert, dem man keinen Schaden zufügt.<br />
Die einzige Gemeinsamkeit zwischen Liebenden scheint die zu<br />
sein, sich gegenseitig als Grenze seiner ungezügelten Lust<br />
anzuerkennen.<br />
Auch Helmut Kentier will Aufklärung in Form von Wissen<br />
gegen die komplizierten Zusammenhänge setzen, in denen unsere<br />
Gefühle von Scham, Angst und Ekel entstanden sind und<br />
uns fesseln. Jedoch reduziert er Sexualität nicht auf einfache<br />
Techniken, sondern versucht sie als Lebensform zu begreifen,<br />
in der wir körperlichen Genuß mit emotionaler Be-<br />
DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83
Sexualerziehung 127<br />
reicherung verbinden können. Weder die Ehe noch heterosexuelle<br />
Liebesbeziehungen bleiben bei Kentier die Norm. Die<br />
Perspektive <strong>für</strong> glückliche Liebesbeziehungen liegt <strong>für</strong> ihn<br />
dennoch in langdauernden, monogamen Beziehungen: "Gegenseitiges<br />
Verstehen und Liebe gelten als Voraussetzung <strong>für</strong> die<br />
Aufnahme ernstgemeinter sexueller Beziehungen, dauernde gegenseitige<br />
Treue wird als Hochform eines sexuellen Verhältnisses<br />
angesehen ..." (15).<br />
Nun muß man nicht <strong>für</strong> Promiskuität sein, um diese Aussagen<br />
problematisch zu finden. <strong>Das</strong> Problem liegt auch hier<br />
wieder nicht in dem Vorschlag selbst, sondern in dem selbstverständlichen<br />
Akzeptieren, daß Sexualität in einer monogamen<br />
Beziehung zu leben sei. Ein Ausbrechen aus dieser Konstruktion<br />
würde es ermöglichen, die Frage der Monogamie<br />
ganz anders zu stellen: Welche Lüste und Genüsse wollen wir<br />
in welchen Beziehungen leben? Welche wollen wir in größeren<br />
Kollektiven leben, welche andere Art von Genuß ist das Leben<br />
einer langdauernden Zweierbeziehung? Um Mißverständnissen<br />
vorzubeugen: Ich will an dieser Stelle nicht einer<br />
Trennung in schnelle, kurze, oberflächliche Sex-Beziehungen<br />
und der langdauernden "eigentlichen" Liebe das Wort reden.<br />
Es geht um die Reduktion aller Emotionen zwischen Menschen<br />
auf die zwischen zwei sich sexuell Betätigenden.<br />
Zum Geschlechterverhältnis. - Sexualität wurde uns von<br />
Sexualerziehern als ein oder besser der Bereich vorgestellt,<br />
in dem Glück gesucht wird und erringbar ist. Wie steht es<br />
um das Glück der Frau, wie wird ihre Sexualität vorgestellt?<br />
Die Herrschaft in den Geschlechterbeziehungen ist das Thema,<br />
das die Sexualerzieher hier behandeln müßten.<br />
Günter Amendt stellt beispielsweise fest, daß die meisten<br />
Mädchen später mit der Masturbation beginnen als die<br />
Jungen, manchmal erst als erwachsene Frauen. In der sexuellen<br />
Beziehung zu einem Mann benötigen Frauen ebenfalls mehr<br />
Zeit, ihre sexuelle Erregung verlaufe langsamer. Unterschiede<br />
zwischen männlicher und weiblicher Sexualität führt<br />
der Autor quantitativ vor, die Zeit wird zum Maßstab: früher/später,<br />
langsamer/schneller. Irigarays Behauptung, das<br />
"Männliche" sei der Maßstab <strong>für</strong> das "Weibliche", finden wir<br />
hier bestätigt. Wechseln wir das Subjekt, müßte es etwa<br />
lauten: die Männer brauchen zuwenig Zeit. <strong>Das</strong> zu erreichende<br />
Ziel wäre demnach, beide sollten gleich schnell sein.<br />
Der Ungleichheit der Geschlechter, ihren unterschiedlichen<br />
Geschwindigkeiten, läge die unterschiedliche Erziehung zugrunde:<br />
Nicht die "weibliche Natur", sondern die "lustfeindliche<br />
Erziehung der Mädchen" und die "falsche" "...<br />
Vorstellung, die auch heute noch manche Mutter an ihre<br />
Tochter weitergibt, daß weibliche Sexualität <strong>für</strong> den Mann<br />
dazusein habe" (18). Die "Gleichheit" der Geschlechter wäre<br />
dann durch gleiche Erziehung zu erreichen. Was können die<br />
Frauen nun tun? Sie _können versuchen, "zurückzubiegen", was<br />
in ihrer Erziehung "verbogen" wurde oder um Rücksicht bitten.<br />
DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83
128 Erziehungswissenschaft<br />
An anderer Stelle spricht Amendt von "FrauenunterdrUkkung":<br />
"Im Verhältnis der Geschlechter ist Gewalt gegen<br />
Frauen angelegt" (174). Die sexuellen Praxen zwischen Mann<br />
und Frau vergleicht er mit einem "Ringkampf". Aber: Alltagserfahrungen<br />
würden nicht ausreichen, um die "wirklichen<br />
gesellschaftlichen Ursachen" der Frauenunterdrückung zu erklären<br />
(170). Und er fragt, ob man die Männer schon heute<br />
ändern könne, ohne die Produktionsverhältnisse geändert zu<br />
haben (164). Viele Männer würden im Orgasmus der Frau die<br />
Bestätigung ihrer Potenz sehen, und das führe zu psychischem<br />
Druck und Orgasmusschwierigkeiten der Frauen (83). Nicht<br />
nur die sexuelle Erregung der Frauen verlaufe langsamer,<br />
auch brauchten sie "... einen Zustand von Ruhe und Gelassenheit,<br />
um sich auf einen Sexualpartner einzustellen"<br />
(68f.). Sollen wir daraus schließen, daß die Unterdrückung<br />
der Frau daraus resultiert, daß die Geschlechter unterschiedliche<br />
Geschwindigkeiten haben? Weil die Frauen "langsamer"<br />
sind, besteht die Gefahr, daß die Männer sie unter<br />
Druck setzen, Gewalt anwenden? Die Geschlechterfrage wird<br />
so zu einem Problem der Gleichzeitigkeit oder Ungleichzeitigkeit.<br />
Andere Autoren, wie z.B. Eva Jaeggi, gehen Uber zeitliche<br />
Differenzen zwischen den Geschlechtern hinaus. Fast alle<br />
Jungen befriedigten sich selbst, es mache Spaß und schaffe<br />
ein kleines Stück Freiheit <strong>für</strong> den einzelnen. Dem Kapitel<br />
"Onanie bei Jungen" läßt sie die Selbstbefriedigung der<br />
Mädchen folgen unter der Überschrift: "Leid mit der Lust".<br />
Was hat es mit dem "Leid" der Mädchen auf sich? Nur ungefähr<br />
50 Prozent würden onanieren, zum einen weil sie sich<br />
nicht trauten, d.h. Angst hätten (wovor?), zum anderen<br />
"konzentrieren sich beim Mädchen sexuelle Gefühle nicht so<br />
deutlich auf die Geschlechtsorgane" (13). Die Autorin<br />
schreibt weiter: "Mädchen, die früh onanieren und sich daran<br />
gewöhnen, einen Orgasmus zu haben, haben später weniger<br />
Schwierigkeiten bei Männern" (13). Was den Jungen Lust,<br />
Spaß und ein Stückchen "Freiheit" verschafft, tritt bei den<br />
Mädchen als Gewöhnung an einen Orgasmus auf. Was bei den<br />
Jungen schon das "Eigentliche" ist, ist es bei den Mädchen<br />
noch nicht. Der augenblickliche Genuß steht nicht im Vordergrund,<br />
sondern die Einübung in das spätere Zusammensein<br />
mit einem Mann. Aber dieser spätere, eigentliche Genuß der<br />
Mädchen ist auch gebrochen, da die Autorin von "weniger<br />
Schwierigkeiten" spricht. Weibliche Lust und Leid hängen<br />
hier unmittelbar zusammen, sind ineinander verwoben. Aber<br />
was ist das Leidvolle? Warum geht Jaeggi überhaupt davon<br />
aus, daß es "Schwierigkeiten" geben wird? Und welcher Art<br />
sind sie? Welche Erklärungen bietet uns die Autorin? "<strong>Das</strong><br />
Onanieren ist gerade <strong>für</strong> Frauen mit ihrem etwas komplizierten<br />
Sexualleben eine 'gute Übung' <strong>für</strong> den Orgasmus. Er tritt<br />
anfangs beim Onanieren etwas leichter ein als beim Verkehr<br />
mit dem Mann. <strong>Das</strong> ist aber gut so, weil Frauen dadurch lernen,<br />
sich ihren sexuellen Gefühlen hinzugeben" (13f.).<br />
DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83
Sexualerziehung 129<br />
Selbstbefriedigung wird angeboten als eine gute Übung bzw.<br />
Vorbereitung auf die spätere heterosexuelle Praxis. Frauen<br />
sollen Hingabe lernen - warum ist das "gut"?<br />
<strong>Das</strong> "Komplizierte" lebt von seinem Gegenbegriff, dem<br />
"Einfachen". Was ist einfaches, was kompliziertes Sexualleben?<br />
Welchen Maßstab legt Jaeggi an, nach welchen Kriterien<br />
beurteilt sie und woher nimmt sie diese Kriterien? Man<br />
könnte doch auch sagen, der Mann habe ein kompliziertes Sexualleben,<br />
weil er die Frau nicht so gut befriedige. Auch<br />
Jaeggi spricht vom Standpunkt des Männlichen. Indem von<br />
"etwas kompliziert" die Rede ist, findet zum einen eine Abwertung<br />
der weiblichen Sexualität statt - sie funktioniert<br />
nicht so richtig, wie es sein sollte. Zum anderen wird sie<br />
aufgewertet, sie erfordert Kennenlernen, Übung, sie hebt<br />
sich ab vom Einfachen, Unkomplizierten, dem Männlichen. Eine<br />
Mystifizierung findet statt; man weiß nicht, was das andere,<br />
das Komplizierte ausmacht. <strong>Das</strong> erinnert an die Vorstellung,<br />
jede Frau habe etwas Geheimnisvolles, Unergründliches,<br />
von dem die Männer nicht wissen, was es ist, und<br />
die Frauen selbst meist auch nicht. Jaeggi wertet die Verschiedenheit<br />
der Geschlechter als Mangel der Frau. Ihre Angebote<br />
sind biologisch-technische: übt Selbstbefriedigung.<br />
<strong>Das</strong> Herrschaftsverhältnis wird so bestätigt, ohne daß es<br />
benannt wird.<br />
Antje Kunstmann wendet sich mit ihrem Buch direkt an die<br />
Mädchen: "In der Schule, im Beruf, in der Öffentlichkeit:<br />
überall wirkt sich die Tatsache, daß du eine Frau bist,<br />
wertmindernd aus, werden dir die <strong>für</strong> Männer und Jungen<br />
selbstverständliche Frechheiten verwehrt, gilt eine andere,<br />
strengere Moral <strong>für</strong> dich als <strong>für</strong> den Mann." Die gesellschaftliche<br />
Stellung der Frauen sieht sie wesentlich durchs<br />
(biologische) Geschlecht bestimmt, das Frausein sei nicht<br />
nur eine "sexuelle Angelegenheit" (11). Als Ursache benennt<br />
sie, ebenso wie Amendt, die Erziehung der Mädchen.<br />
Ein Problem sieht die Autorin darin, daß der "gesellschaftliche<br />
Druck" so stark sei, daß Frauen oft ihre "ureigensten<br />
Bedürfnisse" (12) nicht kennen würden. Sie fordert<br />
die Mädchen dazu auf, sich ihre Wünsche einzugestehen, sie<br />
hätten ein Recht darauf. "Wichtig dabei ist nur, daß es<br />
beiden gefällt. Beiden! Wir Mädchen neigen nämlich durchaus<br />
dazu, gegenüber den Jungen zurückzustecken und sind oft<br />
schon zufrieden, wenn nur er recht glücklich dabei ist. <strong>Das</strong><br />
ist verkehrt. Fordere, daß er auf dich eingeht. Du hast ein<br />
Recht darauf. Ganz abgesehen davon, daß Unbefriedigtsein<br />
dich nervös macht und eure ganze Beziehung zerstören kann"<br />
(3). Hier wird ein Kampf angedeutet, aber nicht weiter vorgeführt.<br />
Gemeint sind die zwischen Männern und Frauen existierenden<br />
unterschiedlichen Wünsche, Bedürfnisse, Formen<br />
der Durchsetzung der eigenen Interessen. So ist es sicher<br />
ein Fortschritt <strong>für</strong> Frauen, sich in sexuellen Beziehungen<br />
nicht nur <strong>für</strong>sorglich zu verhalten, dem anderen wohlzuwollen,<br />
die eigenen Bedürfnisse dabei zurückzustellen, sondern<br />
DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83
130 Erziehungswissenschaft<br />
die eigenen Lüste zu entdecken und sie auch zu leben versuchen.<br />
Führt Kunstmann <strong>für</strong> den "öffentlichen" Bereich noch<br />
die Benachteiligung der Frau an und ihre Unterordnung, die<br />
dem Wohl des Mannes diene, gilt das <strong>für</strong> den privaten Bereich<br />
der gegengeschlechtlichen Liebe nicht mehr: Hier wird<br />
die Lust oder Unlust zur entscheidender^ Frage.<br />
Jane Cousins schreibt: '"Sex ist der Preis, den Frauen<br />
<strong>für</strong> die Ehe zu zahlen haben, und die Ehe ist der Preis, den<br />
Männer <strong>für</strong> den Sex zu zahlen haben', war einer von den dummen<br />
Sprüchen, die damals ziemlich üblich waren. Auch heute<br />
noch denken viele Menschen, daß Mädchen oder Frauen weniger<br />
sexuelle Bedürfnisse haben als Männer. Aber Sexualität ist<br />
nicht etwas, das <strong>für</strong> Männer und Frauen völlig gegensätzlich<br />
und unterschiedlich ist. <strong>Das</strong> Wichtigste ist, daß jeder von<br />
uns, gleichgültig ob Junge oder Mädchen, <strong>für</strong> sich herausfindet,<br />
was er gern mag" (73). Cousins sieht keine grundsätzlichen<br />
Unterschiede zwischen weiblicher und männlicher<br />
Sexualität. <strong>Das</strong> Geschlechterverhältnis erscheint bei ihr<br />
als bestimmt durch gesellschaftliche Rollenzuweisungen, die<br />
sie als "unfair" bezeichnet.<br />
Auch und gerade durch die sexuelle Anordnung wird das<br />
Unterdrückungsverhältnis zwischen den Geschlechtern gelebt<br />
und spitzt sich in besonderer Weise zu. Mit Verwunderung<br />
stellten wir fest, daß die Autor/inn/en das Problem nicht<br />
verhandeln. Sie gehen zwar auf die unterschiedliche Sexualerziehung<br />
von Jungen und Mädchen ein, auf unterschiedliche<br />
Gefühle und Wünsche. Aber das Geschlechterverhältnis ist<br />
bei ihnen ein Problem des biologischen Unterschieds, nicht<br />
dagegen ein gesellschaftliches Unterdrückungsverhältnis.<br />
Ein positiver Aspekt in den Sexualaufklärungsbüchern ist,<br />
daß die Autoren sich darum bemühen, die Frauen nicht als<br />
passive Wesen zu verhandeln, die nichts zu fordern hätten.<br />
Die liberalen Sexualerzieher stimmen darin überein, daß<br />
die Andersartigkeit der Frau gesellschaftliche Ursachen habe,<br />
sie sei ein Resultat der Erziehung. <strong>Das</strong> Unterdrückungsverhältnis<br />
in den gegengeschlechtlichen Beziehungen transformieren<br />
sie in eine Frage der Ungleichheit. <strong>Das</strong> Glück<br />
oder Unglück ist in die Hände der einzelnen gelegt, es ist<br />
erlangbar über die Kenntnis und Anwendung technischer Regeln.<br />
Was in der Gesellschaft nicht möglich ist, scheint in<br />
der Privatheit erreichbar: die Gleichheit. Die Handlungsanweisungen<br />
der Sexualerzieher: Entdeckt Eure Bedürfnisse,<br />
sprecht darüber mit Eurem Partner, nehmt Euch Zeit zum<br />
Üben, und Ihr könnt glücklich sein. <strong>Das</strong> Herrschaftsverhältnis<br />
zwischen Mann und Frau wird zu einem äußerlichen Verhältnis,<br />
aus dem man aussteigen kann, wenn man nur genug<br />
Willen hat und fleißig übt. <strong>Das</strong> Geschlechterverhältnis reduziert<br />
sich auf mögliche Mißverständnisse, die durch Reden<br />
und Technik behoben werden können. <strong>Das</strong> Glück ist abhängig<br />
von der Lust bzw. Befriedigung der Lust, und Lust ist die<br />
eine Lust, vereindeutigt auf genitale Praxen. Die Perspek-<br />
DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83
Sexualerziehung 131<br />
tive, das Glück tragen wir quasi schon in uns, es gibt keinen<br />
Kampf mehr, wenig, um das noch gerungen werden muß.<br />
Ursula Lang (Berlin/West) und Erika Niehoff (Hamburg)<br />
Fehrmann, Helma, Jürgen Flügge und Holger Franke: Was heißt<br />
hier Liebe? Ein Spiel um Liebe und Sexualität <strong>für</strong> Leute in<br />
und nach der Pubertät. Kinder- und Jugendtheater Rote Grütze.<br />
Weismann Verlag, München 1977, 1981 (100 S., br.)<br />
<strong>Das</strong> Büch ist ein soziales Ereignis auf wenigstens vier<br />
Ebenen: Als Buch ist es im vierten Jahr in der siebten Auflage<br />
(23.000 Exemplare). Als pädagogisches Lehrstück wurde<br />
es in der BRD in vielen Städten und Jugendheimen aufgeführt.<br />
Die Begutachtungskommission des Theaters <strong>für</strong> Schulen<br />
in Westberlin gab dem Stück das Prädikat "pädagogisch sehr<br />
empfehlenswert"; und schließlich löste es, wo es gespielt<br />
wurde, heftige Diskussionen aus, die teilweise abgedruckt<br />
sind; Flugblätter gegen Sittenverfall und sexuelle Enthemmung<br />
begleiten die Auftritte.<br />
Dabei ist der Inhalt selber denkbar bescheiden. Zwei<br />
fünfzehnjährige Jugendliche mögen einander. Bis sie zusammen<br />
schlafen, gibt es einige Hindernisse, die aus dem Weg<br />
geräumt werden müssen: Verbote der Eltern sind zu umgehen;<br />
ein Ort muß gefunden werden; Unwissenheit und Schüchternheit<br />
werden überwunden. Ein Satz Helmut Kentiers, daß sexuelle<br />
Schwierigkeiten soziale Ursachen haben, bestimmt das<br />
Stück und wird so verstanden: alles ist "normal" und "natürlich",<br />
von der Onanie über gleichgeschlechtliche Liebe<br />
bis hin zur krönenden Vereinigung von Junge und Mädchen. Scham,<br />
Scheu und Angst können leicht überwunden werden, wenn man<br />
nur alles offen ausspricht und gemeinsam handelt. Die beiden<br />
sollen Verhütungsmittel nehmen, zärtlich sein und den<br />
ganzen Körper lieben. Gut gelingt die Verballhornung des<br />
schulischen Sexualkundeunterrichts, aus dem alles Soziale<br />
zugunsten von Funktionsweisen getilgt ist. Die von solchen<br />
Richtlinien gepeinigten Lehrer werden sicher dankbar nach<br />
dem Stück greifen. Dabei könnte man ärgerlich werden angesichts<br />
der Sorglosigkeit, mit der Schulprobleme auf ein<br />
schlechtes Mutter-Sohn-Verhältnis heruntergespielt werden<br />
und Eltern als die Zwingburg gegen die sexuelle Entfaltung<br />
der Kinder erscheinen. Und schließlich beunruhigt die fröhliche<br />
Art, mit der nicht nur alle sonstigen Probleme unter<br />
den Teppich gekehrt werden, sondern in der auch die sexuellen<br />
Praxen selber wie ein angenehmer Sonntagsspaziergang<br />
anmuten, hat man nur die richtige Einstellung. Solche Kritik<br />
trifft das Buch <strong>für</strong> sich genommen. Betrachtet man es in<br />
seinem Wirkungsfeld, werden seine Mängel sicher noch <strong>für</strong><br />
einige Zeit das kleinere Übel sein. Die Szene ist immer<br />
noch bestimmt durch kirchliche Moralvorstellungen, in denen<br />
Jungfräulichkeit, Wert, Sinn und Achtung in einem Atemzug<br />
genannt werden und vorführen, wie Vergesellschaftung auf<br />
dem Sexualtabu auch aufbaut. Durchkreuzt werden diese<br />
Kraftlinien von einer Enttabuisierung, in der hauptsächlich<br />
DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83
132 Medizin<br />
alles einmal ausgesprochen wird, entgeheimnist und banalisiert<br />
zur Funktionskunde im Sexualkundeunterricht. Diese<br />
pädagogischen Versuche spielen vor einem Hintergrund ständigen<br />
sexuellen Reizes durch Werbung, Film, Medien. In diesem<br />
Kontext hat das Buch das Verdienst, einige Schwierigkeiten<br />
von Jugendlichen aufzugreifen und Diskussionen zu<br />
initiieren, die Lösungen vorbereiten können. Die Gängelung<br />
der Gesellschaftsmitglieder durch die Reglementierung des<br />
Sexuellen scheint vorüber durch solche Überführung von Sexualität<br />
in den "angstfreien" Raum des Normalen, Alltäglichen.<br />
Falls das Fundament einer solchen Vergesellschaftung<br />
allerdings in der Isolierung der sexuellen Praxis von allen<br />
anderen sozialen Praxen der Menschen lag, handelt es sich<br />
nur um eine Verschiebung. Frigga Haug (Berlin/West)<br />
MEDIZIN<br />
Frau und Gesundheit<br />
Pinding, Maria und Herrmann Fischer-Harriehausen: Hauskrankenpflege<br />
und Hauspflege in zwei <strong>Berliner</strong> Bezirken. Eine<br />
Untersuchung zum Praxisfeld ambulante Versorgung. <strong>Institut</strong><br />
<strong>für</strong> Sozialmedizin und Epidemiologie, Berichte des Bundesgesundheitsamtes.<br />
Dietrich Reimer Verlag, Berlin/West 1982<br />
(64 S., br.)<br />
Auf Grund des Krankenhausfinanzierungsgesetzes vom 29.6.<br />
1972, dessen Anspruch es ist, die Krankenhäuser zu entlasten,<br />
wurde vom Senat von Berlin in Zusammenarbeit mit den<br />
Verbänden der freien Wohlfahrtspflege das Projekt Modellversuch<br />
Hauskrankenpflege vom September 1978 bis Dezember<br />
1980 durchgeführt. Es sollte damit überprüft werden, ob<br />
dieser Spareffekt durch das Angebot an qualifizierter häuslicher<br />
Pflege erreichbar ist. Qualifiziert bedeutet hier<br />
Hauskrankenpflege, die Grundpflege (Betten, Lagern, Körperpflege)<br />
und Behandlungspflege (z.B. Injektionen, Verbandwechsel,<br />
Spülungen) beinhaltet. Die hier vorliegende wissenschaftliche<br />
Begleituntersuchung wurde im Auftrag des Senators<br />
<strong>für</strong> Gesundheit und Umweltschutz vom Bundesgesundheitsamt<br />
durchgeführt. Folgende Frage werden untersucht: 1.<br />
Wie sieht die Tätigkeit der Pflegekräfte aus? 2. Wovon hängen<br />
Angebot und Nachfrage in der Hauskrankenpflege ab? 3.<br />
Wird Krankenhausaufenthalt hierdurch verkürzt oder vermieden?<br />
Rahmenbedingungen, rechtliche und Finanzierungsfragen,<br />
sowie Qualifikation der Pflegekräfte und die Organisation<br />
des Modellversuchs werden ausführlich dargestellt.<br />
Die von den Krankenpflegekräften in der ersten Phase geführten<br />
Èrhebungsbôgen werden nach folgenden Aspekten aufgegliedert<br />
und die Daten in Statistiken und Diagrammen dar-<br />
jDAS ARGUMENT-BEIHEFT '83
Frau und Gesundheit 133<br />
gestellt: Anzahl der Personen, Alter, Geschlecht, soziales<br />
Umfeld, Krankheit, Art der Behandlungspflege, Anzahl der<br />
Leistungen, Anforderung, Dauer der Pflegezeit, Grund der<br />
Beendigung und Kostenträger. Im Ergebnisteil werden die im<br />
Modell und im Standard gepflegten Fälle miteinander verglichen.<br />
Modell bedeutet: durch eigens <strong>für</strong> den Modellversuch<br />
eingestellte examinierte Krankenschwestern ausgeführte Tätigkeiten;<br />
Standard heißt: Betreuung durch die übrigen<br />
Pflegekräfte. Dies sind zum größten Teil Hauspflegerinnen,<br />
die leichte Pflege und Haushaltstätigkeiten durchführen.<br />
Wir erfahren: Die Nachfrage im Modell ist durch medizinische<br />
Indikation bestimmt, die Pflege ist intensiver, im<br />
Standard führen überwiegend soziale Probleme zur Anforderung<br />
der Hauspflegerin. Während die Krankenschwestern überwiegend<br />
pflegerisch tätig sind, sind die Hauspflegerinnen<br />
vorwiegend mit Haushaltstätigkeit beschäftigt. Wir erfahren,<br />
daß die AOK der größte Finanzträger ist, und daß ältere<br />
und alleinstehende Menschen besonders der Hilfe bedürfen.<br />
In der Mehrzahl werden ältere Frauen gepflegt. In bezug<br />
auf Entlastung der Krankenhäuser, also die zentrale<br />
Fragestellung und Anlaß der Untersuchung, kommt die Studie<br />
zu dem Ergebnis, daß hier<strong>für</strong> die Anzahl der gepflegten Fälle<br />
im Modell mit 156 zu gering ist, um Aussagen darüber zu<br />
machen. Die Autoren vermuten, daß fehlendes Vertrauen von<br />
niedergelassenen Ärzten, Krankenhäusern und Patienten dieser<br />
neuen Einrichtung gegenüber die Ursache <strong>für</strong> die geringe<br />
Inanspruchnahme ist. Meiner Meinung nach hing die geringe<br />
Anzahl der Gepflegten überwiegend an der schlechten personellen<br />
Besetzung und der mangelnden Koordination der Einsatzstellen.<br />
Der Modellversuch wurde in Wilmersdorf und<br />
Neukölln von je fünf Wohlfahrtsverbänden durchgeführt. Bei<br />
nur zwei halbtagsarbeitenden Krankenschwestern pro Einsatzstelle<br />
war die Übernahme von Tätigkeiten am Abend, an Wochenenden<br />
und in der Urlaubszeit problematisch. Ein Versuch<br />
der Krankenschwestern, im Interesse der Versorgung der<br />
Patienten die Zusammenarbeit der verschiedenen Verbände zu<br />
bewirken, verlief ergebnislos.<br />
Dieser wissenschaftliche Forschungsbericht sollte als<br />
Planungsgrundlage <strong>für</strong> die Einrichtung der flächendeckenden<br />
Hauskrankenpflege (Sozialstationen) in Berlin (West) dienen<br />
(20). Patienten und Krankenpflegekräfte sind weder in die<br />
Planung und Formulierung der Zielsetzung der Untersuchung<br />
einbezogen worden noch wurden sie in irgendeiner Phase befragt.<br />
Deshalb sind Fragestellungen, die <strong>für</strong> mich interessant<br />
gewesen wären (ich war als Krankenschwester an diesem<br />
Modellversuch beteiligt) nicht enthalten: z.B. die Frage<br />
nach einer umfassenden, am Wohl des Patienten orientierten<br />
psychosozialen Versorgung. Die <strong>für</strong> uns wichtige Leistung<br />
"psychische Kontaktpflege", die uns die Möglichkeit gab,<br />
mit den häufig isoliert lebenden Patienten längere Gespräche<br />
zu führen, Kontakte zur Außenwelt herzustellen und materielle<br />
Hilfen zu vermitteln, wird als "nur sehr ungenau<br />
DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83
134 Medizin<br />
abgrenzbar" (12) abgetan, und ist als Leistung nicht in das<br />
Konzept der Sozialstationen übernommen worden. Auch nach<br />
den Arbeitsbedingungen bzw. den Befindlichkeiten der Krankenpflegekräfte,<br />
es fand während des Modellversuchs eine<br />
starke Fluktuation statt, wird nicht gefragt. Ich kenne<br />
mehrere Krankenschwestern, die hier eine Möglichkeit sahen,<br />
in ihren Beruf zurückzukehren, doch wfegen der schlechten<br />
Arbeitsbedingungen und der unzureichenden Organisation die<br />
Tätigkeit nach kurzer Zeit wieder aufgaben. Ferner wird<br />
nicht nach der Qualität der medizinischen Versorgung, nach<br />
der technischen Ausstattung und nach der Bereitschaft der<br />
niedergelassenen Ärzte, Hausbesuche zu machen, gefragt.<br />
Deshalb dient diese Untersuchung auch nicht als Grundlage<br />
besserer Versorgung der Menschen, sondern zur Durchführung<br />
von Sparmaßnahmen: So wird inzwischen die am häufigsten angeforderte<br />
Leistung, die Grundpflege, nur noch in Ausnahmefällen<br />
finanziert. Ursula Czock (Berlin/West)<br />
Maschewsky, Werner und Ulrike Schneider: Soziale Ursachen<br />
des Herzinfarkts. Campus Verlag, Frankfurt/M. 1982 (252 S.,<br />
br. )<br />
Der Herzinfarkt ist eine typische Männerkrankheit, insofern<br />
als er bei Männern sowohl häufiger als auch in einem<br />
früheren Lebensabschnitt auftritt als bei Frauen. Untersuchungen<br />
zur Pathogenese des Herzinfarkts werden deshalb<br />
sehr oft ausschließlich an Männerpopulationen ausgeführt.<br />
<strong>Das</strong> gilt insbesondere <strong>für</strong> retrospektive Studien, d.h. <strong>für</strong><br />
Untersuchungen an bereits Erkrankten. Dieser Forschungsansatz<br />
wurde auch in der vorliegenden Studie gewählt, ursprünglich<br />
war auch geplant, nur männliche Arbeiter in die<br />
Untersuchungspopulation aufzunehmen. Aber "durch verschiedene<br />
erhebungstechnische Prozesse bedingt, ergab es sich,<br />
daß eine Fallzahl von n=166 Frauen in der Gesamtuntersuchung<br />
(Männer n=515, S.B.) erhoben wurde" (133). Die erhebungstechnischen<br />
Prozesse werden nicht näher erläutert.<br />
Bemerkenswert wird das Buch u.a. dadurch, daß die Ergebnisse<br />
bei den Arbeiterinnen gesondert analysiert und nicht<br />
wie in sozialmedizinischen Untersuchungen üblich, einfach<br />
nur als statistisch-biologische Kategorie (148) neben die<br />
Ergebnisse der Männer gestellt werden. Die Auswertung der<br />
Männer-Daten nimmt in der vorliegenden Arbeit von der Anlage<br />
her bedingt mehr als doppelt soviel Raum ein wie die der<br />
Frauen-Daten. Hier allerdings soll nur die Frauenperspektive<br />
berücksichtigt werden.<br />
Ausgehend von der Feststellung, daß die "Streß- und Infarktforschung<br />
im engeren Sinne sich fast ausschließlich<br />
auf männliche Untersuchungsgruppen orientieren" (134) wird<br />
die Datenlage zu Herz-Kreislaufkrankheiten von Frauen detailliert<br />
untersucht. Weder <strong>für</strong> die BRD noch <strong>für</strong> die USA<br />
lassen sich eindeutige Morbiditätstendenzen feststellen;<br />
insbesondere <strong>für</strong> die BRD gilt, daß auch vorhandene Daten<br />
kaum nach frauenspezifischen Gesichtspunkten erhoben oder<br />
jDAS ARGUMENT-BEIHEFT '83
Frau und Gesundheit 135<br />
ausgewertet wurden. Aus den vorliegenden Mängeln werden<br />
"Leitlinien einer frauenspezifischen Gesundheitsforschung"<br />
(147) abgeleitet, die sich auf die im Grunde meines Erachtens<br />
banale Forderung reduzieren lassen, es müßten Untersuchungskonzepte<br />
entwickelt werden, die "Krankheit auf dem<br />
Hintergrund der sozialen Lebensbedingungen der Betroffenen<br />
begreifen" (149). r Diese sozialen Lebensbedingungen <strong>für</strong><br />
Frauen werden kurz Eingedeutet und spezifische methodologisch-inhaltliche<br />
Konsequenzen aufgeführt. Dennoch müssen<br />
u.a. sowohl Kumulation von Belastungen aus Erwerbs- und Familienarbeit<br />
als auch Widersprüche in den Anforderungsstrukturen,<br />
sowie Verschränkungen der Berufs- und Familienbiographie<br />
untersucht werden. An der Aufzählung der lebenslagenspezifischen<br />
Probleme und den daraus zu ziehenden Konsequenzen<br />
wird deutlich, daß sie in der traditionellen Belastungsforschung<br />
entweder gar nicht oder nur am Rande vorkommen<br />
.<br />
Die Auswertung der vorliegenden Daten kann nur sehr beschränkt<br />
den vorher postulierten Leitlinien folgen, weil<br />
die Untersuchung <strong>für</strong> Männer konzipiert war, die Fragen an<br />
männlichen Berufsbiographien und männlichen Industriearbeitsplätzen<br />
orientiert waren. Dennoch läßt sich auch bei<br />
den Arbeiterinnen die Hypothese der Arbeitsbedingtheit des<br />
Infarkts bestätigen. Ausgliederungs- und Abqualifikationsprozesse,<br />
"die ganz zu Lasten der betroffenen Frauen und<br />
ihrer'Gesundheit gehen, werden sichtbar" (179). Die aus gesundheitlichen<br />
Gründen dequalifizierten Arbeiterinnen kommen<br />
in der Regel aber nicht auf "Schonarbeitsplätze","sondern<br />
- sofern sie im Erwerbsleben verbleiben - gelangen sie<br />
auf Arbeitsplätze mit starker körperlicher Beanspruchung;<br />
z.B. Reinigungsberufe" (181). Ältere Frauen erweisen sich<br />
generell als stark gesundheitlich beeinträchtigt, unabhängig<br />
davon, ob sie bereits einen Infarkt hatten oder nicht.<br />
<strong>Das</strong> Infarktgeschehen wird nur als "Gipfel eines Eisbergs"<br />
(182) bezeichnet.<br />
Die Schlußfolgerungen aus den Ergebnissen im Hinblick<br />
auf präventive Strategien gipfeln in der Forderung nach<br />
Veränderung der sozialen Lage der Frauen, nach Gleichberechtigung,<br />
die sich nicht von alleine einfindet: "Solange<br />
Frauen nicht lernen und in die Lage versetzt werden, die<br />
Durchsetzung ihrer Interessen selbst in die Hand zu nehmen,<br />
wird sich ihre Lebenssituation und damit auch ihre gesundheitliche<br />
Situation nicht ändern" (182).<br />
In dieser Studie war zunächst die Auswertung der Frauen-<br />
Daten nicht geplant gewesen. Nur durch einen Zufall und<br />
persönliche Beziehungen konnte Ulrike Schneider im Rahmen<br />
eines kleineren Auftrags die bereits erhobenen Daten frauenspezifisch<br />
analysieren. Der Teil über die Männer wurde<br />
von ihrem Mann bearbeitet. In der Sozialmedizin als typischer<br />
Disziplin, die von Männern an Männerpopulationen entwickelt<br />
wurde, können Frauen offenbar nur annähernd angemessen<br />
berücksichtigt werden, wenn Wissenschaftierinnen ihr<br />
DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83
136 Medizin<br />
persönliches Interesse ein- und durchsetzen.<br />
Die Bedeutung dieser frauenspezifischen Analyse liegt<br />
meines Erachtens weniger in ihren speziellen Ergebnissen,<br />
weil sie wenig erbringen können aufgrund des männerorientierten<br />
Untersuchungsdesigns. Ihre Bedeutung liegt vielmehr<br />
darin, daß es sie Uberhaupt gibt und daß aus ihrem Anlaß<br />
Defizite und Perspektiven einer frauenspezifischen Gesundheitsforschung<br />
aufgezeigt werden.<br />
Der Band als Ganzes stellt eine theoretisch sehr ausführlich<br />
und fundiert begründete retrospektive Untersuchung<br />
zu Arbeitsbelastungen im Zusammenhang mit dem Auftreten eines<br />
Herzinfarkts bei Arbeitern und Arbeiterinnen dar, deren<br />
sozialwissenschaftlicher Charakter sich wohltuend von stärker<br />
medizinisch orientierten Studien ähnlicher Art abhebt.<br />
Dennoch kann die vorliegende Arbeit leider nur wenige Antworten<br />
auf die vielen von ihr gestellten Fragen und Forderungen<br />
geben. Sabine Bartholomeyczik (Berlin/West)<br />
Asmus, Gesine (Hrsg.): Hinterhof, Keller und Mansarde. Einblicke<br />
in <strong>Berliner</strong> Wohnungselend 1901-1920. Rowohlt Taschenbuch<br />
Verlag, Reinbek 1982 (302 S., br.)<br />
175 Photographien, die das massenhafte Wohnungselend in<br />
Berlin zu Anfang des Jahrhunderts im Bild festhalten, stehen<br />
- auch umfangmäßig - im Mittelpunkt dieses Buches. Die<br />
Photos sind Teil der Wohnungs-Enquête, die die <strong>Berliner</strong><br />
Ortskrankenkasse Uber einen Zeitraum von 19 Jahren erhoben<br />
und jeweils jährlich einer breiten Öffentlichkeit zugänglich<br />
gemacht hatte. Ziel dieser Dokumentation war es, die<br />
miserable Wohnungssituation zu verändern und damit deren<br />
Krankheitsfolgen zu verringern; sie setzte daher an den unmittelbaren<br />
Interessen der kranken (und der beitragszahlenden)<br />
Kassenmitglieder an. Verantwortlich zeichnete der damalige<br />
Geschäftsführer der AOK Berlin, Albert Kohn. Dieser<br />
hatte den Mut, auch nachdem ein jahrelanger Rechtsstreit<br />
mit dem Preußischen Haus- und Grundbesitzer-Verein im Jahr<br />
1908 mit der Feststellung der Rechtswidrigkeit derartiger<br />
Publikationen endete, diese Enqueten weiterhin Jahr <strong>für</strong><br />
Jahr, quasi "illegal" zu veröffentlichen.<br />
Diese Photographien als Ausgangspunkt und Anschauungsmaterial<br />
benutzend, wird in jeweils einem Textbeitrag Stand<br />
und Entwicklung der damaligen Politik und die sozialen Umbrüche<br />
infolge der Industriellen Revolution (Dießenbacher),<br />
der Sozialversicherung und der Krankenkassenbewegung (Sachße,<br />
Tennstedt) sowie der photographischen Möglichkeiten<br />
(Asmus) dargestellt. In einem vierten Beitrag, auf den ich<br />
näher eingehe, stellt Rosmarie Beier den Alltag der <strong>Berliner</strong><br />
Unterschicht vor.<br />
FUr Beier ist die Photodokumentation Anlaß, die miserable<br />
Lage der Unterschichtsfrauen unter dem Aspekt der Haus-,<br />
Familien- und Heimarbeit zu beleuchten und die daraus resultierenden<br />
(Gesundheits-)Belastungen aufzuzeigen. Bevor<br />
sie die Bilder unter der Fragestellung: "Was können wir aus<br />
jDAS ARGUMENT-BEIHEFT '83
Frau und Gesundheit 137<br />
ihnen zur Arbeitssituation der Frauen erfahren?" (254) betrachtet,<br />
beschreibt sie den engen finanziellen Rahmen, mit<br />
dem die Arbeiterinnen tagtäglich konfrontiert werden. Über<br />
die exemplarische, sehr detaillierte Auflistung der jährlichen<br />
Ausgaben flir Nahrungsmittel und Kleidung kommt sie<br />
mittels der Kleiderfrage sehr anschaulich zum gesellschaftlichen<br />
Verhältnis von Mann und Frau: Männerhaben, so schwer<br />
ihr Erwerbsleben auch sein mag, Freizeit und Möglichkeiten,<br />
an gesellschaftlichen Aktivitäten teilzunehmen und benötigen<br />
daher einen.Anzug. Frauen dagegen sind durch Haushalt,<br />
Heimarbeit und Kinder an die Wohnung gefesselt, benötigen<br />
also - mangels Gelegenheit - kein Ausgeh-Kleid.<br />
Die so begründete gegensätzliche Bedeutung der Wohnung<br />
wird am besten mit folgendem Zitat charakterisiert: "Aber<br />
ein 'Heim' zu haben, bedeutet <strong>für</strong> Mann und Frau durchaus<br />
Unterschiedliches. Die Erholung des Mannes zu Hause, seine<br />
Freizeit, das war die Arbeit der Frau" (253).<br />
Auf diesem Hintergrund stellt Beier fest, daß anders als<br />
bei der entlohnten Heimarbeit auf keinem der Photos eine<br />
Frau bei der Hausarbeit dargestellt ist, was ihren gesellschaftlichen<br />
Stellen(un)wert charakterisiert. Beier macht<br />
auch deutlich, daß die heute geltenden Vorstellungen und<br />
Normen von Hausarbeit nicht auf die Jahrhundertwende Ubertragbar<br />
sind, daß das Ideal eines sauberen, aufgeräumten<br />
und geschmückten Heims damals den BUrgerfrauen vorbehalten<br />
war und sich erst allmählich auch in der Arbeiterschaft<br />
durchsetzte. Nach der sehr anschaulichen Darstellung des<br />
Arbeitsablaufs beim Wäsche-Wäschen und Einkaufen wird der<br />
Leserin klar, daß die Belastungen und der Zeitaufwand fUr<br />
die unumgängliche Hausarbeit unter den städtebaulichen Gegebenheiten<br />
Berlins keinen Raum/Kraft/Zeit <strong>für</strong> "schmückende<br />
" Tätigkeiten mehr ließ.<br />
Weil die Arbeiterfrau die alleinige Zuständigkeit <strong>für</strong><br />
den gesamten häuslichen Bereich hatte, beschränkte sich deren<br />
Erwerbstätigkeit, insbesondere die der Mütter, auf Arbeiten,<br />
die gar keine oder nur stundenweise Abwesenheit von<br />
der Wohnung und den Kindern erforderte, so daß Fabrikarbeit<br />
<strong>für</strong> sie die Ausnahme war,und sie zu großen Teilen schlechtbezahlte<br />
und gesundheitsschädliche Heimarbeiten verrichteten.<br />
Auch die Kinderarbeit trennte Jungen und Mädchen nach<br />
unterschiedlichen Arbeitsbereichen, womit die geschlechtsspezifische<br />
Konditionierung schon vorgegeben war: "Gemeinsam<br />
ist all diesen (den Mädchen übertragenen, C.L.) Aufgaben<br />
das Sorgen <strong>für</strong> die unmittelbaren alltäglichen Bedürfnisse<br />
der Familie. Demgegenüber arbeiteten die Jungen mehr<br />
als die Mädchen <strong>für</strong> Geld" (262).<br />
Die räumliche Einteilung der <strong>Berliner</strong> Mietskasernen<br />
(Vorderhaus "belle étage" - Mensch.en erster Klasse; nach<br />
oben, unten und hinten abnehmender Sozialstatus - Menschen<br />
zweiter Klasse) beschreibt Beier als Spiegel der Klassengesellschaft,<br />
in der der Bürger durch die Nähe der unüberseh-<br />
DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83
138 Medizin<br />
baren (lästigen) Not der Arbeiterschaft, sich des Wohnungselends<br />
annahm und dieses zur "Wohnungsfrage" erhob.<br />
Abschließend erwähnt Beier das solidarische Handeln der<br />
Schwachen untereinander, das durch die gewachsenen Sozialstrukturen<br />
ermöglicht wurde, sie kritisiert die langjährige<br />
destruktive Sanierungsweise des <strong>Berliner</strong> Senats und<br />
hofft, daß die erst wieder von den Hausbesetzern an die Öffentlichkeit<br />
gebrachte Kritik daran zu einer verbesserten,<br />
betroffenennahen Wohnungspolitik führen werde.<br />
Es ist erfreulich, daß die immer noch als Randgebiet behandelte<br />
Lage der Frau in diesem Buch einen Schwerpunkt erhalten<br />
hat, den man zunächst nicht erwartete. Wer denkt<br />
schon beim Betrachten von Wohnungsaufnahmen an die Haus-,<br />
Familien- und Heimarbeit sowie an deren Belastungen <strong>für</strong> die<br />
Frau. Diese Arbeitsbereiche umfassend und nicht isoliert<br />
dargestellt, und damit einen Aspekt der Gesundheitssicherung<br />
von Frauen aus der Wohnungssituation abgeleitet zu haben,<br />
ist ein besonderes Verdienst von Beier.<br />
Nach nochmaligem Lesen der anderen Beiträge hätte ich<br />
mir gewünscht, daß in ihnen die unterschiedlichen Auswirkungen<br />
der jeweils dargestellten gesellschaftlichen oder<br />
technischen Veränderungen auf Mann und Frau überhaupt bzw.<br />
stärker herausgearbeitet sein sollten. Empfehlenswert sind<br />
diese Beiträge allemal und meines Erachtens unerläßlich, um<br />
das Entstehen dieser Bilder zu begreifen; dies im doppelten<br />
Sinn: die Entstehung des auf den Photos sich widerspiegelnden<br />
Massenelends und die Entstehung der Wohnungs-Enquête<br />
als politische Dokumentation. Verschüttete Alternativen der<br />
Gesundheitsbewegung aufgespürt, das offensive, unorthodoxe<br />
Vorgehen einer Ortskrankenkasse bei der Aufdeckung von Mißständen<br />
im Lebensbereich ihrer Versicherten dargestellt zu<br />
haben, macht das relativ preiswerte Buch alleine schon lesenswert.<br />
Nicht nur, daß die sozial-hygienische Forschung<br />
der Jahrhundertwende völlig In Vergessenheit geraten ist,<br />
sondern auch ihr Vorgehen, pathogène Arbeits- und Lebensbedingungen<br />
aufzudecken und zu bekämpfen, hat (leider) bis<br />
heute nichts an Aktualität verloren.<br />
Christa Leibing (Berlin/West)<br />
Amendt, Gerhard: Die Gynäkologen. Konkret Literatur Verlag,<br />
Hamburg 1982 (246 S., br.)<br />
Gerhard Amendt, Hochschullehrer <strong>für</strong> Sozialpädagogik und<br />
Vorsitzender des Pro-Familia-Beratungszentrums Bremen, wagt<br />
sich mit seinem Buch "Die Gynäkologen" sozusagen in die<br />
vordersten Linien der "Kampfstätte zwischen Männer und<br />
Frauen" (11) - die Gynäkologenpraxis. "Allein, daß Männer<br />
sich Gynäkologen nennen und Frauen sich Patientinnen, kann<br />
keinen Frieden schaffen und die Zwangsverhältnisse zwischen<br />
beiden beheben ..." Er will die besonders "humanisierungsbedürftige"<br />
deutsche Gynäkologie u.a. dadurch verändern<br />
helfen, daß das Verhältnis weiblicher Patientinnen zu männlichen<br />
Gynäkologen in seinen Verflechtungen durchschaubarer<br />
jDAS ARGUMENT-BEIHEFT '83
Frau und Gesundheit 139<br />
wird, damit es so veränderbar wird. Der Gynäkologe übernimmt<br />
nach Ansicht des Autors als Bevölkerungspolitiker,<br />
als Standesvertreter der Ärzteschaft und vor allem als Mann<br />
eine gesellschaftliche Kontroll- und Machtfunktion. Diese<br />
will er ebenso vor sich und seiner Patientin verbergen, wie<br />
die latente Sexualität in diesem spezifischen Arzt-Patientenverhältnis.<br />
Seine männliche Macht in der ihm übertragenen<br />
Kontrollfunktion muß undurchschaubar bleiben. So sind<br />
diese Gewaltverhältnisse verschleiert, und das angeblich<br />
vertrauensvolle Verhältnis begründet sich nur auf Schweigepflichten.<br />
Charakteristisch <strong>für</strong> standesinterne Zwangsbedingungen<br />
wird von Amendt auch die Bitte der Ärzte um Nichtnennung<br />
der Namen der Informanten eingeschätzt. Während der<br />
Gynäkologe die Frau auf die "Gebärmutter" reduziert, unterstützen<br />
viele Frauen den Gynäkologen in seinem Machtanspruch,<br />
indem sie von ihm die Lösung <strong>für</strong> ihre Lebensprobleme<br />
erwarten. Diese Allmachtfunktion übernimmt der Gynäkologe<br />
gern, denn seine Berufsentscheidung als Mann beinhaltet<br />
das Bedürfnis nach Macht über Mütter, Mutterschaft und<br />
weibliche Sexualität. Solange es ohne Ärzte keine Legalität<br />
gibt, haben sie die Macht, nach eigenen moralischen Wertmaßstäben<br />
über Verhütung, Abbruch und Sterilisation, über<br />
ihre Formen als Belohnung und Strafe <strong>für</strong> erfüllte oder<br />
nichterfüllte "Familienplanungsprogramme" zu urteilen. Gynäkologen<br />
degradieren Frauen zur Passivität. Amendt belegt,<br />
daß sie ihnen kein eigenverantwortliches planvolles Handeln<br />
zutrauen. Sie <strong>für</strong>chten sich als Männer mehr vor dem "Gefummel<br />
mit dem Pessar" als als Ärzte vor den Nebenwirkungen<br />
von Pille und Spirale. Kein Verhütungsmittel an sich kann<br />
sicher sein. Es kann nur durch die richtige Handhabung seinen<br />
Zweck erfüllen, wenn sie nicht durch einen latenten<br />
Kinderwunsch beeinflußt wird. Sexuelle Lust ohne Kinderwunsch<br />
ist von Gynäkologen jedoch <strong>für</strong> Frauen nicht vorgesehen.<br />
Sie verordnen Pillen gegen die schlimme Krankheit der<br />
Gesellschaft: die Absicht der Frau, sich durch Abbruch über<br />
die Normalität (=Kinderwunsch) hinwegzusetzen. Sie entscheiden,<br />
ob mit oder ohne Schmerz geboren wird. Spätestens<br />
der Schmerz legitimiert sie zum Übergriff. Wo er nicht entstehen<br />
muß, induzieren sie ihn mit Prostaglandinen. Sie bestimmen,<br />
wie zu gebären, daß zu gebären und daß es das Problem<br />
unerwünschter Kinder wegen Mutter- und Brutpflegeinstinkten<br />
nicht gibt. Eigentlich sind die Gynäkologen überfordert,<br />
denn sie sind nur Männer. Sie können die Frau mit<br />
ihren Lebensproblemen nicht stärken. <strong>Das</strong> müssen die Frauen<br />
schon selbst machen, indem sie sich über ihre eigenen Wertvorstellungen<br />
und Wertmaßstäbe bewußt werden und sich Lebensbereiche<br />
zurückerobern, die von der Gynäkologie gleich<br />
einem riesigen Geschwür überwuchert werden: Die Gynäkologie<br />
ist die negative Lobby der Fraueninteressen, wie sie sich<br />
darstellt in Illustrierten bis zum Bundestag. Jeder kann<br />
bessere Verhütungsberatung durchführen als Gynäkologen,<br />
weil sie eine besondere soziale Distanz zu den Frauen haben.<br />
DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83
140 Medizin<br />
Deshalb schlägt Amendt vor, den Ansätzen der sozialistischen<br />
Ärzte der Weimarer Republik, der Hausärzte und Allgemeinmediziner<br />
anderer Länder zu folgen, und Bereiche wie<br />
die Verhütungsberatung aus der institutionalisierten Medizin<br />
auszulagern, wie es Pro Familia macht. Die Gegner sind<br />
bekannt: niedergelassene Gynäkologen, Pharma- und Geräteindustrie<br />
sowie vor allem die Vertreter der herrschenden Sexmoral,<br />
die Ejakulation und Erektion als Männerpflicht, Hingabe<br />
der Frauen ans andere Geschlecht und Gebärfunktion als<br />
Frauenleben verteidigen; sie sind sich einig in der Reduktion<br />
der Sexualität als Fortpflanzungsfunktion.<br />
Besonders gut fand i-ch Rückblicke auf die inhumane Tradition<br />
der deutschen Gynäkologie, auch wenn sie mehr nebenbei<br />
als explizit aufgeführt werden: Nirgendwo als in der<br />
deutschen Gynäkologie wurde mit solcher Rigidität die Natur<br />
der Frau, der "Inbegriff ihrer Weiblichkeit", die "Erfüllung<br />
des Muttertriebes" durchgesetzt. Die übertriebene Moralität<br />
deutscher Gynäkologen im Kampf gegen den § 218 ist<br />
zu verstehen aus dem Wunsch, die Geschichte der Ärzteschaft<br />
bezüglich der Vernichtung lebensunwerten Lebens und der<br />
Zwangssterilisation ungeschehen zu machen. Die Absicht<br />
zielt sehr viel weniger auf den Schutz des ungeborenen Lebens<br />
als auf die Rettung der natürlichen Mutterschaft - die<br />
Rettung eines vermeintlich positiven Mutterideals, gegen<br />
das Frauen opponieren, die Uber die Frage, gebären oder<br />
nicht, selbst entscheiden wollen und die sich Familienidealen,<br />
Familienvätern und Männernnicht unterordnen wollen.<br />
Viele Erfahrungsberichte von Frauen, aber auch von Gynäkologen<br />
verdeutlichen anschaulich die geschilderten Herrschafts-<br />
und Unterdrückungsverhältnisse. Amendts Buch hat<br />
das Ziel, die Aktivität der Frauen zu fordern. Sie müssen<br />
den Entstehungsursachen ihrer Probleme selber nachgehen und<br />
Antworten nicht beim Gynäkologen suchen. Sie müssen ihre<br />
eigenen Wertmaßstäbe und Widerstandsformen entwickeln. <strong>Das</strong><br />
zu lernen braucht es allerdings mehr Initiativen als die<br />
Pro Familia, und es ist bedauerlich, daß die Vielfältigkeit<br />
der Widerstandsformen und alternativen Projekte der Frauenbewegung<br />
unberücksichtigt bleibt. Weder werden Frauenhäuser<br />
genannt noch die Initiativen "Gewalt gegen Frauen" mit ihren<br />
Notrufeinrichtungen. Weder taucht die Möglichkeit einer<br />
nicht auf Männer orientierten Sexualität von Frauen auf<br />
noch die Frage, ob die Rückeroberung der männlichen Domäne<br />
Gynäkologie durch weibliche Frauenärzte ein Bestandteil der<br />
zu erkämpfenden Alternativen sein muß. Insofern scheint mir<br />
die Sicht des Schreibers zwar einfühlsam, aber in diesen<br />
Punkten eben doch männlich eingeengt.<br />
Insgesamt fand ich das Buch, das das Schweigen Uber Geheimnisse<br />
von Arzt-Patientinnen-Verhältnissen bricht und Bedeutungen<br />
und historische Zusammenhänge (sexual-)moralischer<br />
Haltungen bewußt macht, sehr nützlich, um mit Schuldgefühlen<br />
von Frauen aufzuräumen, die sich z.B. durch einen<br />
Abbruch gegen die herrschende Moral gestellt haben, und um<br />
jDAS ARGUMENT-BEIHEFT '83
Frau und Gesundheit<br />
141<br />
genug Wut als Kraft <strong>für</strong> Veränderungen zu bekommen.<br />
Marion Ciaren (Berlin/West)<br />
Nohke, Anke und Karl Oeter: Der Schwangerschaftsabbruch.<br />
Gründe, Legitimationen, Alternativen. Schriftenreihe des<br />
Bundesministeriums <strong>für</strong> Jugend, Familie und Gesundheit.<br />
Kohlhammer-Verlag, Stuttgart 1982 (240 S., br.)<br />
Gegenüber dem weitverbreiteten Vorurteil, ungewollte<br />
Schwangerschaften seien lediglich als "Schlamperei" der Betroffenen<br />
anzusehen, liegt mit dieser Untersuchung fundiertes<br />
empirisches Material vor, das auf die wirkliche Not von<br />
Frauen hinzuweisen in der Lage ist - auf die Not von Frauen<br />
in einer Situation, in der sie im allgemeinen alleingelassen<br />
sind - oder sogar noch unter einen ungehörigen wie ungeheuren<br />
Druck ihrer Lebensgefährten, Ehemänner oder Freunde<br />
gestellt werden. Daß hier erst einmal hinzuhören ist<br />
auf das, was Frauen zu sich und dem werdenden Kind in ihrem<br />
Bauch zu sagen haben, bevor Urteile oder gar Verurteilungen<br />
ausgesprochen werden, ist einer der Ausgangspunkte der Studie:<br />
Es wurden Intensiv-Interviews mit betroffenen Frauen<br />
geführt, die teilweise (in längeren Auszügen) im Buch abgedruckt<br />
sind, und es meines Erachtens gerade auch <strong>für</strong> selbstbetroffene<br />
Frauen und Nicht-Wissenschaftlerinnen interessant<br />
machen. Zusätzlich zu diesen Interviews, die die Entscheidungen<br />
<strong>für</strong> einen Schwangerschaftsabbruch verständlich<br />
machen und auf die gesellschaftlichen Hintergründe verweisen,<br />
die eine ungewollte Schwangerschaft zu einer Konfliktsituation<br />
machen ("Egoismus" der Partner, ökonomische Zwänge,<br />
enge Wohnungen, berufliche Situation etc.), wurde per<br />
Fragebogen-Erhebung eine Untersuchung zum selben Problembereich<br />
durchgeführt, die ergänzendes Material liefert und<br />
zusammen mit den Gesprächen aufgeschlüsselt wird. Die Fragebogen-Erhebung<br />
dient vor allem der Sicherung der Repräsentativität<br />
der Studie und der Beantwortung der Frage, ob<br />
und inwiefern sich die Durchführung von Schwangerschaftsabbrüchen<br />
in holländischen und bundesdeutschen Kliniken unterscheiden.<br />
Ein interessantes Buch <strong>für</strong> jede Frau, wie auch<br />
<strong>für</strong> diejenigen, die beruflich mit Schwangerschaftsabbrüchen<br />
beschäftigt sind; die Studie ist zu empfehlen. - (Eine sehr<br />
kurze Fassung in Form eines Vortrages, in dem allerdings<br />
die Interviews nicht enthalten sind, ist kostenlos erhältlich<br />
beim Ludwig-Boltzmann-<strong>Institut</strong> <strong>für</strong> Medizinsoziologie<br />
beim <strong>Institut</strong> <strong>für</strong> Höhere Studien, Stumpergasse 56, 1060<br />
Wien.) Margarete Maurer (Wien)<br />
Palazzoli, Mara Selvini: Magersucht. Von der Behandlung<br />
einzelner zur Familientherapie. Klett-Cotta Verlagsgemeinschaft,<br />
Stuttgart 1982 (332 S., br.)<br />
In ihrer bis heute etwa zwanzigjährigen Arbeit mit magersüchtigen<br />
Patientinnen hat die Autorin eine radikale Abwehr<br />
von stark psychoanalytisch orientierten Einzelbehandlungen<br />
hin zu einer systemisch (s.u.) orientierten Fami-<br />
DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83
142 Medizin<br />
liensichtweise und -therapie vollzogen. Dies regulierte den<br />
Aufbau der erweiterten Fassung, die um ein neueres Kapitel<br />
zur Familientherapie ergänzt wurde; in diesem stellt Palazzoli<br />
einige vorläufige Ergebnisse ihrer Arbeit am Mailänder<br />
Zentrum <strong>für</strong> Familienforschung (im Team mit Boscolö, Cecchin<br />
und Prata) vor und begründet die Notwendigkéit weiterer und<br />
erweiterter Familienforschung. Ich möchte der Akzentuierung<br />
der Autorin folgen und mich hauptsächlich mit diesem neueren<br />
Teil auseinandersetzen.<br />
Palazzoli beginnt mit einem historischen Rückblick, demzufolge<br />
Magersucht erstmals von Morton 1689 mit dem Terminus<br />
"nervöse Atrophie" detailliert beschrieben wurde; weitere<br />
Versuche, die Krankheit zu identifizieren, folgten.<br />
Interessant dabei die Information, daß Janet 1903 vermutete,<br />
die Magersüchtige weigere sich, die weibliche Geschlechts-<br />
"rolle" zu übernehmen; eine Vermutung, die heute von vielen<br />
einverständig als Tatsache betrachtet wird. Ab diesem Zeitpunkt<br />
habe sich auch das Bemühen verstärkt, die Psychogenese<br />
der Magersucht zu rekonstruieren und damit einhergehend<br />
eine angemessene therapeutische Einstellung zu suchen. In<br />
diesem Zusammenhang sei die Arbeit Bruchs (1952-1971) zentral<br />
.<br />
Nach einer Beschreibung des Krankheitsbildes und klinischer<br />
Aspekte betont Palazzoli, daß der Begriff "Aneroxia<br />
nervosa" eher unangemessen sei. "Anorexis" (gr.) heiße<br />
"fehlendes Verlangen". Die Mädchen hätten aber das bewußte<br />
Verlangen, abzunehmen. Der Begriff der Pubertätsmagersucht<br />
scheint ihr wesentlich angemessener. Sie widerspricht energisch<br />
der Vorstellung, Magersüchtige wollten in die Kindheit<br />
zurückkehren und ihre Weiblichkeit ablehnen. <strong>Das</strong> Gegenteil<br />
sei der Fall: Sie hätten den zwar verzerrten, aber<br />
starken Wunsch, eine selbständige Erwachsene zu werden, indem<br />
sie "jene Aspekte der weiblichen Körperlichkeit ablehnen,<br />
die die erschreckende Aussicht heraufbeschwören, sie<br />
könnten sich in einen Succubus, ein passives Gefäß verwandeln"<br />
(92). Hauptziele der Magersüchtigen seien Macht und<br />
Sicherheit; weitere wichtige Motive das Streben nach Freiheit,<br />
die Ästhetik der Schlankheit (und der damit verknüpften<br />
"Werte" wie Echtheit, Offenheit, Schlichtheit), Intelligenz<br />
bzw. intellektuelle Macht einschließlich des Sieges<br />
des Geistes Uber den Körper. Über vielfältige psychogenetische<br />
Erklärungsvorschläge sowie sehr plastischer Fallbeschreibungen,<br />
in denen sie auch ehemalige Patientinnen selber<br />
sprechen läßt, führt Palazzoli die Leserin fast unmerklich<br />
zu ihrer heutigen familiendynamischen Sichtweise. Auch<br />
im Buch vollzieht sich dabei die Verwandlung psychiatrischer<br />
Störungen von Einzelpersonen zu Interaktionsstörungen<br />
zwischen Mitgliedern eines Systems wie z.B. der Familie.<br />
Kurz führt sie die systemische Sichtweise vor: Ein System<br />
(wie die Familie) kennzeichne sich durch Ganzheit in dem<br />
Sinne, daß es nicht nur mehr als die Summe seiner Teile<br />
jDAS ARGUMENT-BEIHEFT '83
Frau und Gesundheit 143<br />
sei, sondern auch unabhängig von diesen. Es unterliege kybernetischen<br />
Prozessen (Selbstregulation) mit starker Tendenz<br />
zur Konstanz. Widerstand gegen Veränderung werde in<br />
Regeln gefaßt, innerhalb derer die Regel der Regeln laute:<br />
Über Regeln wird nicht kommuniziert, und sie werden nicht<br />
kommentiert.<br />
Palazzolis Untersuchungen der letzten Zeit richteten<br />
sich auf die Frage, ob die Familien Magersüchtiger ein typisches<br />
System darstelle. Angeregt dazu hätten die Untersuchungen<br />
Haleys zu Familien Schizophrener. Durch die psychotherapeutische<br />
Untersuchung von 12 Familien mit magersüchtigen<br />
Mitgliedern stellte sie vorläufig eine Spezifik fest,<br />
die sich besonders auf die Ablehnung als Kommunikationscharakteristikum<br />
bezieht. Jedes Familienmitglied lehne die<br />
Botschaften anderer Mitglieder stark und häufig ab, sowohl<br />
bezüglich der inhaltlichen als auch der Beziehungsebene.<br />
Diese Ablehnung fände ihre Entsprechung in der Ablehnung<br />
von Nahrung durch die designierte Patientin. Ein weiteres<br />
zentrales Problem dieser Familien sei auch das Problem der<br />
Bündnisse. Bündnisse innerhalb der Familie gegen einen<br />
Dritten seien streng verboten, tabu und existierten dennoch.<br />
Diese Bündnisse seien gleichzeitig die geheimste<br />
Grundlage aller Regeln in der Familie.<br />
Neben der Untersuchung der Familien griff das Team auch<br />
therapeutisch ein. Es seien sehr erfolgreich paradoxe Interventionen<br />
erprobt worden, ebenso wie die Verordnung von<br />
Familienritualen und die Verordnung des Symptoms. Aus diesen<br />
double-bind-Situationen könne die Patientin nur entrinnen,<br />
indem sie sich gegen die Therapeuten auflehne und ihr<br />
Symptom aufgebe. Hier reduziert Palazzoli meines Erachtens<br />
das Kriterium <strong>für</strong> Erfolg einer Therapie auf die Aufgabe des<br />
Symptoms. Auch wenn Magersucht eine lebensbedrohende Krankheit<br />
ist, müßte doch geklärt werden, welche anderen Therapieziele<br />
verfolgt werden. Sie beschreibt oft die Notwendigkeit<br />
der Trennung der Töchter von ihren Familien, verbunden<br />
mit dem Ziel größerer Selbständigkeit. Was aber heißt das<br />
und wie ging sie therapeutisch vor, um den Patientinnen zu<br />
mehr "Selbständigkeit" zu verhelfen?<br />
Palazzoli richtet ihren Blick in einem Schlußkapitel auf<br />
die Bedeutung der sich wandelnden sozialen Umwelt <strong>für</strong> Familien<br />
von Magersüchtigen. Alle 12 untersuchten Familien hätten<br />
ein gemeinsames Merkmal: Sie versuchten, ländlich-patriarchalische<br />
Werte, Rollen, Regeln und Tabus in einer<br />
städtisch-industriellen Umgebung aufrechtzuerhalten. Dabei<br />
sei der höchste aller Werte die Selbstaufopferung. Hier<br />
finde ich es bedauerlich, daß Palazzoli das ihr zur Verfügung<br />
gestellte Material nicht besser nutze, um sich der interessanten<br />
Frage zu nähern, warum gerade Frauen/Mädchen<br />
magersüchtig werden. Heißt "Selbstaufopferung" <strong>für</strong> Männer<br />
und Frauen nicht Unterschiedliches? In einem kurzen geschichtlichen<br />
Rückblick zeigt sie, daß das Auftreten von<br />
Magersucht mit sich wandelnden sozialen Anforderungen/Be-<br />
DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83
144 Geschichte<br />
dingungen und also auch der sich wandelnden Stellung der<br />
Frau zusammehänge: Die ersten klinisch unangreifbaren Berichte<br />
Uber die typisch weibliche Krankheit der Magersucht<br />
erschienen 1873 in London (Gull), zu einer Zeit großer kultureller<br />
Krisen durch Industrialisierung, einhergehend mit<br />
einer Frauenbewegung.<br />
Dieser Zusammenhang müßte meines Erachtens ebenfalls<br />
präziser betrachtet werden. Warum werden Frauen zu Zeiten,<br />
da sich Anforderungen an sie ändern, magersüchtig und nicht<br />
gynäkologisch krank? Welche Bedeutung hat die Klassenzugehörigkeit<br />
<strong>für</strong> diese Krankheit(en)? Sie schlägt vor, die Familientherapie<br />
als Ausgangspunkt zur Erforschung immer größerer<br />
gesellschaftlicher Einheiten zu nutzen. Familie wird<br />
hier meines Erachtens als eine vieler beliebiger Möglichkeiten/Existenzweisen<br />
von den (o.g.) Systemen begriffen.<br />
Ist aber nicht die Form der Familie eine spezifische, Frausein<br />
in der Familie nicht etwas "Besonderes"? Befremdend<br />
wirkte auf mich, daß trotz minutiöser Leidensbeschreibungen<br />
in und aus der Familie diese als Form nicht befragt wird.<br />
Ich denke, daß Palazzoli <strong>für</strong> die praktische klinische<br />
Arbeit sehr wertvolles Material, sehr bedenkenswerte Sichtweisen<br />
und Gedankenanstöße liefert. Praktische klinische<br />
Arbeit darf aber meines Erachtens nicht heißen, beispielsweise<br />
der Geschlechterfrage kaum Beachtung zu schenken oder<br />
der Klassenfrage oder der Frage, warum gerade diese Krankheit.<br />
Insofern spiegelt das Buch ein vorherrschendes Praxisverständnis<br />
wider. Anknüpfend an Palazzoli sollten weitere<br />
Forschungen angestellt werden, die Materialfülle noch<br />
besser ausgenutzt werden. Insgesamt hätte ich mir das Buch<br />
straffer gewünscht, zu oft entsteht "lückenhafte Redundanz".<br />
Beispielsweise wird ihr Entscheidungsprozeß <strong>für</strong> die familiendynamische<br />
Sichtweise nicht deutlich, die Beschreibung<br />
der Eltern z.B. zu oft quasi wiederholt.<br />
Birgit Jansen (Marburg)<br />
GESCHICHTE<br />
Arbeiterbewegung und Arbeiterkultur<br />
Achten, Udo und Siegfried Krupke (Hrsg.): An Alle! Lesen!<br />
Weitergeben ! Flugblätter der Arbeiterbewegung von 1848 bis<br />
1933. Verlag Dietz, Bonn 1982 (256 S., br.)<br />
Eine sehr schöne und nützliche (aber leider auch recht<br />
teure) Sammlung von Flugblättern der Arbeiterbewegung von<br />
der Zeit der bürgerlichen Resolution bis 1933, der Zeit des<br />
Nationalsozialismus, liegt mit diesem Buch vor. In der Einleitung<br />
geben die Herausgeber eine kurze politisch-historische<br />
Einführung zum Flugblatt bzw. zur Flugschrift. Schon<br />
DAS ARGUMENT-BEIHEFT >R7,
Arbeiterbewegung und Arbeiterkultur 145<br />
im Mittelalter (Bauernkrieg) habe es Flugblätter gegeben,<br />
die von da an bis zur Gegenwart ein wesentlicher Bestandteil<br />
zur Schaffung von 'Gegenöffentlichkeit' und 'wirklicher<br />
Öffentlichkeit' (1) gewesen seien. Flugblätter seien<br />
relativ billig in der Herstellung gewesen, waren weniger<br />
bedroht von Zensur als beispielsweise Zeitschriften und<br />
hätten dadurch Kommunikation schaffen können auch "von unten<br />
nach oben" (1). Flugblätter sollten zur Agitation dienen<br />
(damals wie heute) und dokumentierten, "wie die jeweiligen<br />
gesellschaftlichen Verhältnisse von ihren Herausgebern gesehen<br />
wurden oder wie sie wollten, daß sie von den Lesern<br />
gesehen werden sollten" (5). Mit ihrem Band und der Auswahl<br />
der Flugblätter wollen Achten/Krupke versuchen, "die Aspekte<br />
von legaler und illegaler (beispielsweise während Inkrafttreten<br />
des Sozialistengesetzes, S.A.) Arbeit" (5) in der<br />
Arbeiterbewegung zu berücksichtigen.<br />
Der Band ist aufgeteilt in vier historische Abschnitte:<br />
die Entstehung und Entwicklung der Arbeiterbewegung/Nationalismus,<br />
Krieg und Frieden/Novemberrevolution und Konterrevolution/Die<br />
Weimarer Republik - eine Hoffnung und ihre<br />
Zerstörung. Jedem Zeitabschnitt voran steht ein sehr kurzer<br />
historischer Einführungsteil, der sich beschränkt auf die<br />
wesentlichen historischen Daten und die Hauptkontroversen<br />
der entsprechenden Zeit. Im letzten Teil wird beispielsweise<br />
der Frage nachgegangen, was die 'Machtergreifung' der<br />
Nationalsozialisten ermöglichte bzw. was einen Widerstand<br />
auf der Seite der Arbeiterbewegung dagegen verhinderte. Neben<br />
wirtschaftlichen Begründungen wird die Spaltung in der<br />
Arbeiterbewegung als ein Grund mit angegeben <strong>für</strong> die Schwäche<br />
der damaligen Arbeiterbewegung. "Die Sozialfaschismusthese<br />
der KPD einerseits, die die Sozialdemokraten als 'soziale<br />
Faschisten' bezeichnete, und die Gleichsetzung der<br />
Kommunisten mit den Faschisten als 'gemeinsame Feinde der<br />
Demokratie' durch die SPD andererseits, vertieften die<br />
Spaltung der Arbeiterklasse. Beide Positionen erwiesen sich<br />
als falsch und verhinderten eine geschlossene Front gegen<br />
den Faschismus" (113). Deutlich wird an diesem Zitat auch,<br />
daß das Buch <strong>für</strong> jedermann und jederfrau fast voraussetzungslos<br />
verständlich ist. Zwar sind die Informationen zu<br />
den jeweiligen Zeitabschnitten nicht sehr ausführlich - dadurch<br />
können viele kontroverse und umkämpfte Positionen<br />
rund um die (Geschichte) der Arbeiterbewegung auch nicht<br />
aufgenommen werden - das Buch enthält jedoch ausreichend<br />
Informationen, um die Flugblätter historisch grob einordnen<br />
zu können. Punkte, die den Leser/die Leserin besonders interessieren,<br />
müssen notfalls mit anderem historischen Material<br />
ergänzt werden.<br />
Weitaus wichtiger als die Kommentare sind die Flugblätter<br />
selbst. Dies entspricht auch der Intention der Herausgeber.<br />
Die ca. 200 Flugblätter, die meist in Originalgröße<br />
und -aufmachung abgedruckt sind, stellen schon einen optischen<br />
Genuß dar. Die Herausgeber haben darauf verzichtet,<br />
DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83
146 Geschichte<br />
jedes einzelne Blatt zu kommentieren; es gibt einen ausführlichen<br />
Anhang, der Angaben zum Erscheinungsdatum, Herausgeber<br />
etc. des jeweiligen Blattes enthält. Achten und<br />
Krupke selbst verfolgen nicht den Anspruch, mit ihrem Buch<br />
eine neue Art der Geschichtsschreibung zu liefern, sie verstehen<br />
die Flugblattsammlung als eine "sinnvolle Ergänzung<br />
zur wissenschaftlichen Geschichtsschreibung und Korrektiv<br />
mündlicher Überlieferung" (7) und schlagen vor, das Buch<br />
als solches zu nutzen. Die Vielfalt der Arbeitsmöglichkeiten<br />
mag auch daran deutlich werden, wie wir in einem Hamburger<br />
Frauenseminar mit dem Buch arbeiteten. Wir beschäftigten<br />
uns mit unterschiedlichen Formen, in/mit denen verschiedene<br />
politische Inhalte vermittelt werden können. In<br />
einer Arbeitsgruppe versuchten wir herauszuarbeiten, welche<br />
Schritte notwendig sind, um ein gutes, d.h. ansprechendes<br />
und informatives Flugblatt zu machen. Wir suchten uns<br />
ein Flugblatt aus dem vorliegenden Band aus, das uns besonders<br />
gefiel und analysierten es auf Aufbau, Machart etc.,<br />
und machten ein eigenes Blatt in Anlehnung daran. Unter anderem<br />
stellten wir bei dieser Arbeit fest, daß sich die<br />
'Machart' von Flugblättern im Laufe der Zeit nicht besonders<br />
verändert hat, daß die Inhalte sich wandeln, die Formen<br />
aber ähnliche bleiben. Dies nur als eine Möglichkeit,<br />
mit diesem Sammelband zu arbeiten. Jedem/r Historiker/in<br />
mag das Buch als Ergänzung zu seinem anderen Material dienen.<br />
Entsprechend der Rolle der Frauen in der Arbeiterbewegung<br />
gibt es nur sehr wenige Flugblätter, in denen die besonderen<br />
Belange der Frauen berücksichtigt werden. Wenn,<br />
werden die Frauen angerufen als Mütter oder Arbeiterinnen,<br />
die sich den Kommunisten oder Sozialdemokraten anschließen<br />
sollen, damit sie Brot <strong>für</strong> ihre Familien haben. Auch mit<br />
diesem 'Nichtvorkommen' der Frauen in diesem Band kann gearbeitet<br />
werden, zumal das ja nicht etwa dem Band angelastet<br />
werden kann, sondern der damaligen (wie heutigen?)<br />
praktischen Politik. Sünne Andresen (Hamburg)<br />
van der Will, Wilfried und Rob Burns: Arbeiterkulturbewegung<br />
in der Weimarer Republik. Eine historisch-theoretische<br />
Analyse der kulturellen Bestrebungen der sozialdemokratisch<br />
organisierten Arbeiterschaft. Ullstein Verlag, Frankfurt-<br />
Berlin-Wien 1982 (272 S., br.)<br />
Dies.: Arbeiterkulturbewegung in der Weimarer Republik.<br />
Texte - Dokumente - Bilder. Ullstein Verlag, Frankfurt-Berlin-Wien<br />
1982 (280 S., Abb., br.)<br />
Während die Erforschung der Arbeiterkulturgeschichte bis<br />
1914 - wie die Geschichte der Arbeiterbewegung überhaupt -<br />
in befriedigend großem Umfang geleistet wurde, gilt dies<br />
nicht <strong>für</strong> die Zeit der Weimarer Republik. Die Lücke betrifft<br />
insbesondere die Geschichte der Sozialdemokratie,<br />
der Gewerkschaften sowie deren Kulturorganisationen. Unter<br />
dem Primat einer angeblich nur im Umfeld der KPD zu finden-<br />
DAS ARGUMENT-BEIHEFT >R7,
Arbeiterbewegung und Arbeiterkultur 147<br />
den sozialistischen Kulturtradition wird etwa die sozialdemokratische<br />
"Arbeiterdichtung" (Bröger, Schönlank, etc.)<br />
nahezu überall als "kleinbürgerlich-reformistisch", wenn<br />
nicht gar als "präfaschistisch" bezeichnet. Dokumentation<br />
und Untersuchung von Will/Burns setzen sich zum Ziel, "die<br />
relative historische Gewichtung der sozialdemokratischen<br />
Kulturorganisationen und deren künstlerische Aktivitäten<br />
gegenüber den heute bevorzugt untersuchten kommunistischen<br />
einer gerechteren historischen Beurteilung zuzuführen" ( ! )<br />
(11).<br />
Die Arbeit versteht sich dabei nicht nur in der Themenwahl,<br />
sondern auch im Untersuchungsansatz als wegweisend:<br />
ausgehend von einem Kulturbegriff, der Kultur als Gestaltung<br />
des gesellschaftlichen Lebens und der Natur begreift,<br />
will sie vor allem am Material des Sprechchors als spezifisch<br />
proletarischer Kunstform das Zusammenwirken von materieller<br />
Lage der Arbeiterklasse, ihrer Kulturtheorie und<br />
ihren Vereinen und Organisationen analysieren. Dazu greifen<br />
die Autoren auch auf bislang nur schwer zugängliches Material<br />
zurück, z.B. die nur noch in wenigen Exemplaren vorhandenen<br />
Zeitschriften "Kulturwille", "Sozialistische Bildung"<br />
oder "Arbeiter-Turnzeitung" sowie die selten in Bibliotheken<br />
zu findenden Sprechchöre Bruno Schönlanks. Mit<br />
der erstmals ausführlichen Darstellung dieser Sprechchoreinrichtung<br />
kann die weitverbreitete These widerlegt werden,<br />
das sozialdemokratische Arbeitertheater habe "keine<br />
eigenständige Kunstform entwickelt" (G.A. Ritter/C. Rülcker).<br />
Dennoch "soll die These von der hervorragenden Bedeutung<br />
des kommunistischen Theaters" von den Verfassern "eher qualifiziert<br />
als radikal in Frage gestellt werden" (122). Solches<br />
Sowohl-als-auch rührt von einer tendenziell verabsolutierten<br />
Bestimmung der Arbeiterkultur im Kontext der "erweiterten<br />
Subsumtion der Arbeit" (12ff.). Diese Sichtweise<br />
verhindert letztlich die angekündigten "theoretisch-methodologischen<br />
Neuansätze" (10). Trotz eines in der Abgrenzung<br />
zu semiologischen, idealistischen und marxistischen Strukturalisten<br />
(Barthes, Lévi-Strauss, Althusser) (!) gewonnenen<br />
Kulturbegriffs, der nicht nur "Spitzenproduktionen<br />
schöpferischer Gestaltung" ( 10) erfassen will, gelingt es<br />
den Autoren nicht, den entscheidenden Unterschied zwischen<br />
bürgerlicher und Arbeiterkultur herauszuarbeiten, wie ihn<br />
etwa die nicht berücksichtigten Kulturtheoretiker R. Williams<br />
oder E.P. Thompson beschreiben. Deren weiter, prozeßhafter<br />
Kulturbegriff scheint aber gerade in der neueren<br />
Diskussion zur Arbeiterkultur kaum verzichtbar zu sein. Der<br />
Ansatz der "erweiterten Subsumtion" läßt bei Will/Burns dagegen<br />
sogar die "zweite Kultur" als teilweise im Dienst<br />
ideologische Zustimmung sichernder Strategien des Kapitals<br />
erscheinen (vgl. 18). <strong>Das</strong> Dilemma dieses Ansatzes wird offenkundig,<br />
wenn man Versuche der sozialdemokratischen Kulturarbeit,<br />
sich die humanistischen Potentiale der klassischen<br />
bürgerlichen Kulturarbeit anzueignen, als "geborg-<br />
DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83
148 Geschichte<br />
te(s) Werkzeug aus bürgerlichen Verseschmieden" bezeichnet,<br />
aber im gleichen Satz konzediert werden muß, daß auch dies<br />
"bereits ein kleiner Sieg ist, insofern die Arbeiter" in<br />
der Arbeiterfestkultur "nicht mehr unmittelbar dem Kommando<br />
des Kapitalherrn unterstehen" (26). Schwerer noch fällt es<br />
den Autoren, in dem mit der Geselligkeit bei der Festkultur<br />
zum Ausdruck kommenden Gemeinschafts- und Reproduktionsbedürfnis<br />
der Arbeiter mehr als nur "kompensatorische Momente<br />
kapitalistischer Ausbeutung" (45) zu sehen, obwohl sie eingestehen,<br />
daß die "Befriedigung bestimmter realer menschlicher<br />
Bedürfnisse (...) von der Arbeiterbewegung sonst weitgehend<br />
vernachlässigt worden" (151) sei.<br />
Die Untersuchung ist also ständig gezwungen, die behandelte<br />
Literatur gegen die Vorwürfe zu verteidigen, die aus<br />
ihrem verabsolutierten Ansatz der erweiterten Subsumtion<br />
herrühren. Dieser verhindert aber, daß die Autoren den Entwicklungsprozeß<br />
der sozialdemokratischen Arbeiterkultur<br />
adäquat erfassen und führt notwendig dazu, die kulturellen<br />
Leistungen der Arbeiterschaft nur nach dem Grad ihrer Distanzierung<br />
vom Kapital zu werten. Damit kommen sie aber<br />
nicht über eine graduelle Verschiebung altbekannter Reformismus-Revisionismus-Vorwürfe<br />
hinaus. So erklären sich die<br />
an sich unnötigen Beteuerungen, die "hervorragende Bedeutung"<br />
kommunistischer Arbeiterkultur nicht schmälern zu<br />
wollen. Dort finden die Autoren denn auch, was <strong>für</strong> die<br />
"Kultursozialisten" in der SPD zwar auch - aber eben nur<br />
<strong>für</strong> sie - als vorhanden bewiesen wurde: das Konzept einer<br />
"operativen Kulturtheorie (...), die eine Funktionalisierung<br />
der Kunst und Kultur zum Nutzen der Partei anstrebte",<br />
wohingegen die offizielle Linie der SPD solches Ansinnen<br />
angeblich zurückwies (237) und der KPD damit den "Bereich<br />
der proletarischen Klassenkultur" überließ (240).<br />
Aber nicht nur methodologische Unzulänglichkeiten und<br />
eine "edukationistisch" verstandene Instrumentalisierung<br />
von Kultur lassen die Autoren zu letztlich bekannten und<br />
weiterhin fraglichen Ergebnissen kommen; eine trotz der benutzten<br />
entlegenen Quellen ungenügende Materialbasis und<br />
ihre oberflächliche Auswertung tun ein übriges: z.B. findet<br />
keines der in die Hunderte gehenden Stücke des Arbeiterlaientheaters<br />
(etwa aus dem Arbeiterjugendverlag oder aus dem<br />
Arbeitertheaterverlag Jahn) Berücksichtigung; der Arbsiterjugendbewegung,<br />
dem Hauptträger und -publikum (74) der sozialdemokratischen<br />
Arbeiterkulturbewegung, werden nur wenige<br />
Zeilen eingeräumt. Dem entspricht ein weiterer Mangel an<br />
wissenschaftlicher Seriosität: unvollständiges und allzu<br />
häufiges, in vielfacher Hinsicht fehlerhaftes oder gar<br />
sinnentstellendes Zitieren. Dieses setzt sich fort im Materialienband,<br />
der knappe Textauszüge zur Arbeiterkulturtheorie,<br />
zu Arbeitersport, -musik, -theater und zur Fest- und<br />
Feierkultur sowie fünf Sprechchöre von Eisner, Toller,<br />
Schönlank und das "Wanderlied" von Hermann Claudius enthält.<br />
Weder sind die in den Texten vorgenommenen Kürzungen kennt-<br />
DAS ARGUMENT-BEIHEFT >R7,
Arbeiterbewegung und Arbeiterkultur<br />
149<br />
lieh gemacht, noch sind beispielsweise die Sprechchöre repräsentativ<br />
ausgewählt; sie dokumentieren einen Minimalausschnitt<br />
noch heute bekannter Autoren und vernachlässigen<br />
die Vielzahl heute unbekannterer, aber gerade deswegen interessanter<br />
Texte. Dokumentarisch geradezu unbrauchbar ist<br />
das vielfach unleserliche und schlecht reproduzierte Bildmaterial.<br />
Die selten zu sehenden programmatischen Titelbilder<br />
und -texte des "Kulturwillen" werden so zu nichtssagenden<br />
Illustrationen degradiert (bes. 26 ff.).<br />
Claudia Albert (Berlin/West) und Uwe Hornauer (Tübingen)<br />
Kaiser, Jochen-Christoph: Arbeiterbewegung und organisierte<br />
Religionskritik. Klett-Cotta Verlagsgemeinschaft, Stuttgart<br />
1981 (380 S., Ln.)<br />
Die These, daß die Arbeiter sich im ausgehenden 19.<br />
Jahrhundert von der Kirche "entfernt" hätten, gehört bereits<br />
zu den zum Allgemeingut herabgesunkenen Anschauungen<br />
über das Verhältnis von Kirche und Arbeiterbewegung. Sie<br />
suggeriert, daß es die Arbeiter waren, die sich von der<br />
Kirche losgesagt hätten, daß sie also der aktive Teil des<br />
Trennungsprozesses von Kirche und Arbeiterschaft gewesen<br />
wären. Damit verstellt sich aber gerade der Blick auf das<br />
eigentliche Subjekt dieses Entfremdungsprozesses und auf<br />
den Charakter der damaligen Kirche. Es war das landesherrlich<br />
organisierte, mit dem preußischen wie mit dem wilhelminischen<br />
Kaiserreich amalgamierte Kirchentum, das die Arbeiter,<br />
wenn Uberhaupt, dann doch immer nur zum Objekt<br />
seelsorgerischer Zuwendung und kirchlicher Fürsorge herabwürdigte,<br />
unmündig hielt und so aus der Kirche trieb. Diese<br />
Kirche mußte zwangsläufig Loslösungsversuche provozieren.<br />
Wie dies auf religiös-kirchlichem Gebiet zur Gründung von<br />
Arbeiterfreidenkervereinen führte, so machte die Enttäuschung<br />
der Arbeiterschaft Uber die Kirche einen Faktor aus,<br />
der zum Auszug der Arbeiter aus den kulturellen Bindungen<br />
der bürgerlichen Gesellschaft Uberhaupt und zum Aufbau einer<br />
eigenen Arbeiterkultur fUhrt. Die Kirche erschien als<br />
Hauptstütze des Klassenstaats, gleichzeitig mußte der Inhalt<br />
ihrer VerkUndigung notwendig auf diesem Hintergrund<br />
gedeutet werden. Aus der Kritik an der Kirche erwuchs die<br />
Kritik der Religion, wie aus dieser die Kritik an der Kirche.<br />
Es existiert bereits eine Reihe von Untersuchungen über<br />
den Problemkomplex 'Kirche und soziale Frage 1 . Kaiser wirft<br />
aus der bisher kaum eingenommenen Perspektive der Arbeiterbewegung<br />
Licht auf das Verhältnis des Proletariats zur Religion.<br />
Kaiser wendet sich in seiner Untersuchung den proletarischen<br />
Freidenkerverbänden zu, die die Kritik an Kirche<br />
und Religion in vereinsmäßig organisierter Gestalt artikulierten.<br />
Er hat dabei als erster die Quellen aufgearbeitet<br />
und eine umfassende Organisationsgeschichte des proletarischen<br />
Freidenkertums vorgelegt, die dem "politischen<br />
Stellenwert dieser Religionsgeschichte von links" (19)<br />
DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83
152 Geschichte<br />
gilt. Aus dem Umstand, daß dieses Problemfeld nach seiner<br />
Quellenlage noch kaum bearbeitet ist, rechtfertigt sich die<br />
organisationsgeschichtliche Annäherung an das Thema. "Über<br />
Wirkung und 'Erfolg' der sozialistischen Freidenkerverbände<br />
wird man nur urteilen können, wenn die Organisationen<br />
selbst in ihrer Struktur und den darin handelnden Personen<br />
dargestellt werden" (19). Organisationsgeschichte und Geschichte<br />
der 'eigentlichen Arbeiterbewegung' (vgl. <strong>Argument</strong><br />
106, S. 860ff.) müssen also keine Alternativen sein, diese<br />
kann nur unter Mithilfe jener geschrieben werden. "Als Einstieg<br />
in ein bislang nicht aufgearbeitetes Thema behält die<br />
Organisationsgeschichte ihren Wert" (21).<br />
Zu einer der wichtigsten Aufgaben des Freidenkertums gehörte<br />
seit Anfang des 20. Jahrhunderts die Propagierung des<br />
Kirchenaustritts. Daneben wurde von den Freidenkern die<br />
Forderung nach der Feuerbestattung, ein Gestus freidenkerischer<br />
Gesinnung seit der Französischen Revolution, aufgegriffen.<br />
Kirchenaustrittsbewegung und Feuerbestattung hängen<br />
eng mit der Entwicklung der proletarischen Freidenkerverbände<br />
zusammen. Durch sie erlebten die Verbände nach dem<br />
ersten Weltkrieg einen Aufschwung an öffentlicher Bedeutung,<br />
sie zeigen aber auch die Schwierigkeiten, denen die<br />
Freidenkerverbände ausgesetzt waren. Kaiser ordnet dem<br />
Hauptteil seiner Untersuchung, der "Organisationsgeschichte<br />
der proletarischen Freidenkerverbände zwischen 1905/08 und<br />
1933" (81-278), ein Kapitel über "Kirchenaustritt als Paradigma<br />
freigeistiger Aktion" und "Feuerbestattung und Freidenkertum"<br />
vor. Die proletarischen Freidenkerverbände, die<br />
sich 1908 vom 'Deutschen Freidenkerbund' gelöst hatten und<br />
den 'Zentralverband deutscher Freidenkervereine' (ab 1911<br />
'Zentralverband proletarischer Freidenker Deutschlands')<br />
gegründet hatten, erlebten erst nach dem ersten Weltkrieg,<br />
mit dem Ende des Bündnisses von Thron und Altar, einen Zuwachs<br />
an Mitgliedern. Nach dem Wegfall des landesherrlichen<br />
Kirchenregiments (der Landesherr ist nach diesem Modell<br />
auch der oberste Kirchenherr) war eine zur Konvention erstarrte<br />
Kirchlichkeit obsolet geworden, die Zahl der Kirchenaustritte<br />
nahm stark zu. Andererseits war der Sozialdemokratie<br />
nicht mehr an einer feindlichen Beziehung zur Kirche<br />
gelegen, in weltanschaulichen Fragen legte sie sich<br />
Zurückhaltung auf. Die Freidenkerverbände lagen nun im<br />
Spannungsfeld zwischen der durch die Kirchenaustrittsbewegung<br />
begünstigten Entwicklung ihrer Vereine und der Zurückhaltung<br />
der Sozialdemokratie, an die sie sich doch immer<br />
angelehnt hatten. Politischen Rückhalt fanden die Kirchenaustrittsbewegung<br />
und mit ihr die Freidenkerverbände<br />
schließlich nur noch bei der USPD und der KPD. Eingepaßt in<br />
die Klassenkampfstrategie der KPD verlor sie jedoch ihr eigenes<br />
Profil. Die KPD versuchte Freidenkerverbände <strong>für</strong> die<br />
Politisierung der Arbeiter gegen die Sozialdemokratie zu<br />
benutzen, in der das freidenkerische Ansinnen nur noch Vehikel<br />
der Strategie war. Die Sozialdemokratie bestätigte<br />
DAS ARGUMENT-BEIHEFT >R7,
Arbeiterbewegung und Arbeiterkultur<br />
151<br />
hingegen auf dem Kieler Parteitag 1927 ihre auch bisher geübte<br />
Abstinenz in weltanschaulichen fragen. Der Kampf <strong>für</strong><br />
den Sozialismus sei von weltanschaulichen Fragen abhängig.<br />
Ende der zwanziger Jahre kam es schließlich zu einer Trennung<br />
von sozialdemokratisch orientierten und kommunistischen<br />
Freidenkerverbänden, dem entsprach die Spaltung der<br />
Internationalen Freidenkerverbände 1930. Der Herausbildung<br />
der kommunistischen Opposition innerhalb der deutschen<br />
Freidenkerverbände und dem internationalen Freidenkerzusammenschluß<br />
widmet Kaiser je ein eigenes Kapitel. Die Frage<br />
der Feuerbestattung beleuchtet ein zweite Schwierigkeit,<br />
mit der die Freidenkerverbände zu tun hatten. Triebkraft<br />
des Aufschwunges der Feuerbestattung nach dem ersten Weltkrieg<br />
war nicht die freigeistige Weltanschauung, sondern<br />
die "wirtschaftliche Not einkommensschwacher Bevölkerungsgruppen"<br />
(78). Der 1905 in Berlin gegründete 'Verein der<br />
Freidenker <strong>für</strong> Feuerbestattung' verstand sich, wie er die<br />
Bezeichnung 'proletarisch' schon nicht im Titel führte,<br />
nicht als ein ausgesprochen weltanschaulicher Verband, sondern<br />
als eine Form der Bestattungsversicherung. 1933 wurde<br />
der Verein der 'Neuen deutschen Bestattungsklasse 1 eingegliedert,<br />
ohne daß viele seiner Mitglieder an den Austritt<br />
dachten. Dies zeigt, wie neben dem geringen Stellenwert,<br />
der der kulturellen Revolutionierung der Gesellschaft auf<br />
dem Gebiet der organisierten Religionskritik in den politischen<br />
Strategien der Parteien zukam - nach der Revolution<br />
würde sich die Religion sowieso auflösen -, auch das religions<strong>kritische</strong><br />
Anliegen von der Arbeiterbewegung selbst<br />
kaum aufgenommen wurde. Der politische Anspruch der Freidenker<br />
"hätte von denen angenommen und in ihre politische<br />
Konzeption integriert werden müssen, denen das 'Angebot'<br />
des proletarischen Freidenkertums galt: der organisierten<br />
Arbeiterbewegung" (338).<br />
Ralph Möllers und Joachim von Soosten (Marburg)<br />
Henkel, Martin und Rolf Taubert: Maschinenstürmer. Ein Kapitel<br />
aus der Sozialgeschichte des technischen Fortschritts.<br />
Syndikat Autoren- und Verlagsgesellschaft, Frankfurt/M.<br />
1979 (263 S., br.)<br />
Während die Geschichte der organisierten Arbeiterbewegung<br />
seit vielen Jahren in der Geschichtswissenschaft einen<br />
mittlerweile recht breiten Raum einnimmt, erlangt die Erforschung<br />
des Lebens und der sozialen Kämpfe der unteren<br />
sozialen Schichten oder Klassen in Deutschland noch kaum<br />
jene Aufmerksamkeit, wie sie ihr etwa in der französischen<br />
oder angelsächsischen Historiographie zuteil wird. Die lesenswerte<br />
Studie von Henkel/Taubert gibt in der Kritik vorherrschender<br />
Perspektiven bei der Erforschung der Geschichte<br />
der unteren Klassen Gründe <strong>für</strong> die weitgehende wissenschaftliche<br />
Vernachlässigung der sozialen Verhaltensmuster,<br />
Normen, Widerstandsformen, Lebens- und Arbeitsweisen: Sowohl<br />
die marxistisch-leninistische Geschichtswissenschaft<br />
DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83
152 Geschichte<br />
wie die "bürgerliche" zeichnen sich nach ihrer Ansicht<br />
durch einen mehr oder minder ausgeprägten Fortschrittsoptimismus<br />
aus, der bewußt oder unbewußt als Maßstab <strong>für</strong> die<br />
Qualifizierung des Verhaltens sozialer Gruppen dient. Soziales<br />
Verhalten (etwa "zünftierisches" oder technikfeindliches)<br />
wird dann als "rückwärtsgewandt" u.ä. apostrophiert,<br />
wenn es dem Aufrechterhalten der sozialen Ordnung einer<br />
"vergangenen" Epoche dient, andere Verhaltensmuster und Bewußtseinsstrukturen<br />
gelten dann als "fortschrittlich", als<br />
"bewußt", wenn sie als Indiz einer Überwindung oder Ablösung<br />
eben jener früheren Stadien erscheinen, als "Keimformen"<br />
oder "Vorläufer" nachfolgender Bewußtseinsstufen oder<br />
Organisationsentwicklungen diagnostiziert werden können.<br />
Solche Perspektiven sind Henkel/Taubert zufolge Geschichtsmythologien,<br />
die dem Legitimationsbedürfnis veränderter Gesellschaftsformationen<br />
dienen, aber den wirklichen Interessen<br />
der unterdrückten und ausgebeuteten Menschen Gewalt antun.<br />
Henkel/Taubert werden sich damit gegen eine Betrachtungsweise<br />
aus der Vogelperspektive: "Historiker, welcher<br />
politisch-wissenschaftlicher Provenienz auch immer, pflegen,<br />
bevor sie sich an Teiluntersuchungen machen, ein mehr<br />
oder weniger festes Bild von den großen historischen Epochen<br />
zu haben, denen sich die Ergebnisse der spezielleren<br />
Forschungen anpassen müssen, was sich denn auch regelmäßig<br />
mit der größten Leichtigkeit ergibt. Bestimmte ökonomische,<br />
geistes- oder sozialgeschichtliche Zusammenhänge werden zu<br />
übergeordneten Größen hypostasiert, deren Höhepunkte beliebteste<br />
Objekte des Forscherfleißes sind; was vorher und<br />
nachher geschah, was daneben vielleicht sonst noch passierte<br />
, wird dann von diesen Höhepunkten her und auf sie hininterpretiert"<br />
(10).<br />
Die vorliegende Arbeit zielt in ihren methodischen und<br />
materialen Erörterungen primär auf eine Kritik der teleologischen<br />
Geschichtsbetrachtung - die entsprechenden Partien<br />
dieser Arbeit zeichnen sich allerdings durch eine beträchtliche<br />
Redundanz aus. In dem Versuch einer strukturanalytischen<br />
Darstellung gesellschaftlicher Subsysteme (30) eines<br />
bestimmten Zeitraumes wollen die Autoren zeigen, wie eine<br />
"hoffentlich vorurteilsfreie sozialgeschichtliche Darstellung<br />
aussehen müßte" (29). Gegenstand der Studie sind zwei<br />
in der historischen Forschung schon wiederholt aufgegriffene<br />
"Vorfälle": Der größere Abschnitt von Martin Henkel befaßt<br />
sich mit der Entstehung, dem Verlauf und den Folgen<br />
der Zerstörung einer Schermaschine in der von der Textilindustrie<br />
geprägten Industriestadt Eupen im Jahr 1821, der<br />
kleinere von Rolf Taubert mit einem Streik von Solinger<br />
Schleifern 1826, bei dem es zentral um die Wiedereinführung<br />
von Entlohnungsformen des Zunftsystems ging. Den Autoren<br />
geht es dabei vor allem darum, das Verhalten der Arbeiter<br />
aus ihren konkreten Interessenslagen heraus verständlich zu<br />
machen, um damit auch einer vorschnellen Bewertung des Ar-<br />
DAS ARGUMENT-BEIHEFT >R7,
Faschismus und Widerstand 153<br />
beiterverhaltens aus epochenübergreifenden "Ubergeordneten"<br />
Perspektiven entgegenzutreten. Die "Maschinenstürmer" werden<br />
hier nicht zu technik- oder fortschrittsfeindlichen Individuen,<br />
sondern zu Menschen, die sich ihrer Interessen<br />
wohl bewußt waren und gezielt ihnen geeignete Maßnahmen zur<br />
Sicherung ihrer Arbeitsplätze ergriffen hatten.<br />
Bei der Rekonstruktion der Geschichte der sozialen Kämpfe<br />
der Arbeiter - die auch durch die breite, detaillierte<br />
Dokumentation zeitgenössischen Materials fUr den Leser anschaulich<br />
und nachprüfbar geleistet wird - geht es den Autoren<br />
aber auch zugleich um eine regionalgeschichtliche<br />
Einbettung der Klassenkämpfe in die wirtschaftliche und politische<br />
Situation der Industrieregionen Eupen und Solingen.<br />
Insofern wird der Anspruch eines sozialgeschichtlichen<br />
Verfahrens Uberzeugend eingelöst. Die Informationen Uber<br />
das alltägliche Verhalten der Arbeiter werden allerdings<br />
aus Berichten und Dokumentationen der politisch Herrschenden<br />
herausgefiltert. Trotz des behutsamen quellen<strong>kritische</strong>n<br />
Umgangs mit diesen Texten gelingt den Autoren nur gelegentlich<br />
eine authentische Rekonstruktion des Alltäglichen -<br />
zumal eben nicht alles, was fUr die Arbeiter bedrückend und<br />
wichtig war, auch in den Regierungsakten steht. Über den<br />
Alkoholismus der Arbeiter etwa, von dem auch Henkel und<br />
Taubert behaupten, sie würden ihn nicht ignorieren, erfährt<br />
man nichts in diesem Buch. Die quellen- und ideologie<strong>kritische</strong><br />
Reinigung von regierungsamtlichen Verlautbarungen u.<br />
ä. reicht allein nicht <strong>für</strong> eine Darstellung des alltäglichen<br />
Lebens der Unterschichten aus. - Ein anderes Problem<br />
dieser Studie liegt darin, daß die Autoren über das von ihnen<br />
verwendete methodische und begriffliche Arsenal kaum<br />
Aufschluß geben. Zwar lehnen sie in ihrer Kritik zumal marxistisch-leninistischer<br />
Forschungsarbeiten deren zentrale<br />
Klassifikationen ab, hantieren aber gleichwohl selbst mit<br />
dem begrifflichen Instrumentarium der Marxschen Klassenanalyse,<br />
dessen Produktivität sich dabei recht aufschlußreich<br />
erweist. Hartmann Wunderer (Gronau)<br />
Faschismus und Widerstand<br />
Hübner, Irene: Unser Widerstand. Deutsche Frauen und Männer<br />
berichten über ihren Kampf gegen die Nazis. Röderberg Verlag,<br />
Frankfurt/M. 1982 (235 S., br.)<br />
Der Titel des Buches signalisiert einen Zusammenhang,<br />
der hierzulande, im Unterschied etwa zu Frankreich oder<br />
Italien, alles andere als selbstverständlich ist: das, worüber<br />
die von Irene Hübner befragten Menschen berichten,<br />
ist deren antifaschistischer Kampf gewesen, der unser politisches<br />
und kulturelles Erbe ist. Erbe ist tot, solange<br />
nicht die Anstrengung unternommen wird, es anzueignen. Ein<br />
DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83
154 Geschichte<br />
Stück zu dieser Aneignung beizutragen, ist die Absicht der<br />
vorliegenden Veröffentlichung. Gerade vor dem Hintergrund<br />
der offiziellen Geschichtsschreibung des antifaschistischen<br />
Widerstandes, die sich vor allem dadurch auszeichnet, wenn<br />
nicht totzuschweigen, dann jedenfalls zu klittern, in antikommunistischer<br />
Manier zu dividieren in 'guten' und<br />
'schlechten' Widerstand, erscheint das von Hübner gewählte<br />
Rekonstruktionsverfahren, die Subjekte des antifaschistischen<br />
Kampfes selbst sprechen zu lassen, nur zu vernünftig.<br />
Hübner hat sich bei der Auswahl der Interviewpersonen<br />
von dem der Oral History eigenen Prinzip leiten lassen, die<br />
Befragten nicht danach auszuwählen, ob sie irgendeiner statistischen<br />
Regel entsprechen, sondern danach, ob sie in der<br />
Lage sind, bestimmte historische Prozesse exemplarisch zu<br />
verdeutlichen. Damit ist nicht nur der Aspekt historischer<br />
Rekonstruktion, sondern zugleich der der Didaktik, der Hilfestellung<br />
zur Aneignung, hier des antifaschistischen Erbes,<br />
ins Licht gerückt. Rekonstruktions- und Didaktikaspekt<br />
sind innerhalb der Oral History ernstlich nicht zu trennen.<br />
Hübner hat diesen inneren Zusammenhang bei der Anlage und<br />
Aufbereitung des Buches wohl bedacht und ein Buch 'komponiert'<br />
, das als ein Kapitel dokumentarischer Literatur mit<br />
operativen Intentionen, unterbliebene Aneignung des antifaschistischen<br />
Widerstandes nachholen zu helfen, gelesen werden<br />
kann. Hübner stellt in den Mittelpunkt themen-, ereignis-<br />
und prozeßbezogene Erinnerungen "aktiver antifaschistischer<br />
Zeugen" (230). Aber sie reiht nicht einfach die<br />
bandprotokollierten 'mündlichen Überlieferungen' aneinander,<br />
sondern greift strukturierend ein. Schon die Auswahl<br />
der Befragten und Anlage der Interviews erfolgen im Zeichen<br />
theoretischer Bezugspunkte, so daß Oral History hier nicht<br />
zu beliebigem Herumstochern in privaten Erinnerunge denaturiert.<br />
"Grundlage <strong>für</strong> die Gespräche mit aktiven Antifaschisten<br />
waren die Ergebnisse der Widerstandsforschung, auch<br />
der regional—räumlichen" (230). Es dürfte der Mentalität<br />
der befragten Antifaschisten entsprochen haben, die subjektiv<br />
erinnerten Tätigkeiten, Erlebnisse, Ereignisse und Folgen<br />
sozial und politisch zu perspektivieren. Und so lesen<br />
sich denn die dokumentierten Erinnerungen weder wie privatförmige,<br />
intimisierte Autobiographien noch wie privatförmig<br />
organisierte Memoirenwelten. Daß weder Leidenspathographien<br />
noch historische Kammerdiener- oder Prominentenanekdoten<br />
präsentiert werden, verdankt sich natürlich wesentlich den<br />
Biographien der befragten Zeitzeugen selbst. Sie sind bis<br />
zum Zeitpunkt der Befragung politische Subjekte geblieben,<br />
in deren Erinnerungs- und Erzählweise selbst der soziale<br />
Prozeß- und Strukturzusammenhang zwischen antifaschistischem<br />
Widerstand und aktuellen politischen Kampffeldern und<br />
-aufgaben mit gesetzt ist. An diese ausdrücklich gesellschaftliche<br />
Erfahrungs- und Erzählform, der Einheit von Rekonstruktion<br />
und Didaktik, knüpft Hübner in der Präsentationsform<br />
des Buches an. Sie strukturiert die erinnerten<br />
DAS ARGUMENT-BEIHEFT >R7,
Faschismus und Widerstand 155<br />
Berichte der antifaschistischen Zeitzeugen zum einen nach<br />
chronologischen Gesichtspunkten der Geschichte des Widerstandes,<br />
zum anderen sind die subjektiven Berichte nach<br />
Maßgabe typischer Kristallisationsformen des deutschen antifaschistischen<br />
Widerstandes geordnet. Darin liegt kein<br />
Willkürakt derjenigen, die mündliche Überlieferung dokumentiert<br />
hat, sondern es entspricht der Strukturierungsform<br />
wesentlicher Partien des antifaschistischen Kampfes selbst.<br />
Seine Kristallisationsform ist eben vornehmlich der "organisierte<br />
Widerstand" (230) gewesen, was die Erinnerungen<br />
eindeutig belegen. Von hier aus rückt, und auch dies geben<br />
die subjektiven Berichte zu erkennen, der "Alltagswiderstand"<br />
ins historische Licht. Beides sind unterschiedliche<br />
Momente innerhalb der gesamten antifaschistischen Kraftentfaltung;<br />
Hübner hat sich auf den "organisierten Widerstand"<br />
- und dies in seinen abdifferenzierten Erscheinungsformen<br />
und Positionen - konzentriert. Dieser Differenziertheit<br />
entsprechend hat sie auch die einzelnen Kapitel geordnet,<br />
ohne unsinnige Schnitte 'telefonbuchpolitologischer' Art zu<br />
machen. Der antifaschistische Widerstand ist, dies veranschaulichen<br />
die Berichte, eine - wenn auch nicht konfliktfreie<br />
und problemlose - Kampffront Uber politisch-weltanschauliche<br />
Positionsgrenzen hinweg gewesen. Was die Lektüre<br />
der vorliegenden Berichte so aufschlußreich macht, ist gerade<br />
das Sichtbarwerden der im Zuge antifaschistischer Tätigkeit<br />
gewonnenen Erfahrung und Einsicht, daß ohne praktische<br />
Bündnis-Bildung wenig oder gar nichts geht. Dies sprechen<br />
die Befragten, die heute noch teilhaben an den politischen<br />
Auseinandersetzungen, im Verlauf ihrer Erinnerungen<br />
in die Gegenwart hinein.<br />
Es verdankt sich schließlich auch dem kollektiven Charakter<br />
des Widerstandes, daß in den Erinnerungen an keiner<br />
Stelle eine Neigung zur Hagiographie oder Heldenlegende zu<br />
spüren ist. Der phrasenlose, lakonische Erzählstil tut das<br />
seinige dazu. Dies kommt einer praxismotivierenden Aneignung<br />
des antifaschistischen Erbes ebenso zugute, wie das<br />
von HUbner folgerichtig verwendete Darstellungsprinzip. Sie<br />
stellt die erzählten Erinnerungen jeweils in einen interpretierten<br />
historisch-politischen Verweisungszusammenhang;<br />
dieser wird verdeutlicht durch zeitgenössisches dokumentarisches<br />
Material, Tabellen, Fotos, Aktennotizen und literarische<br />
Texte. Vervollständigt wird das Ensemble der Veranschaulichungsmittel,<br />
die der Rekonstruktion wie der Didaktik<br />
dienlich sind, durch instruktive sozio-individuelle<br />
Kurzviten der befragten Antifaschisten.<br />
Was Hübner vorgelegt hat? Ein Kapitel aus dem Alltag des<br />
organisierten Widerstandes und seiner Umsphäre, dessen Lektüre<br />
insbesondere dadurch spannend wird, daß in den Erzählungen<br />
subjektive Motivierung und Entwicklung von Fähigkeiten<br />
anschaulich werden. Daß diese Fähigkeiten alles andere<br />
als gering gewesen sind, davon zeugen nicht zuletzt die Akten<br />
der faschistischen Verfolgungsbehörden.<br />
Friedhelm Kröll (Nürnberg)<br />
DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83
156 Geschichte<br />
Adolph, Walter: Geheime Aufzeichnungen aus dem nationalsozialistischen<br />
Kirchenkampf 1935-1943. Bearb. von Ulrich v.<br />
Hehl. Veröffentlichungen der Kommission <strong>für</strong> Zeitgeschichte.<br />
Band 28. Matthias-Grünewald-Verlag, Mainz 1980 (XLII, 304<br />
S., Abb., Ln.)<br />
In aller Regel wird von kirchlicher Seite die Haltung<br />
der katholischen Bischöfe und anderer führender Geistlicher<br />
gegenüber der Naziherrschaft in rosigem Lichte dargestellt.<br />
Vor allem - so heißt es - wären sie den Angriffen auf die<br />
katholische Kirche, der Einschränkung ihrer Tätigkeit und<br />
der Verfolgung der Seelsorger - gemeinhin als Kirchenkampf<br />
bezeichnet - energisch begegnet. In ebensolchem Sinne hätten<br />
sie sich zu den brennenden Fragen der Zeit geäußert.<br />
Auch Adolph beteiligte sich daran, dieses Bild zu verklären<br />
und <strong>kritische</strong>n Betrachtungen, Einwänden und Darstellungen<br />
zu parieren. In einer seiner Schriften wandte er sich 1963<br />
unter dem Titel "Verfälschte Geschichte" gegen Rolf Hochhuths<br />
Drama "Der Stellvertreter". In anderen Publikationen<br />
zitierte er des längeren mit gleicher Absicht aus seinen<br />
zeitgenössischen Aufzeichnungen. In ihnen hielt er die ihm<br />
zufließenden Kenntnisse und Eindrücke fest. Denn als Ratgeber,<br />
Sendbote und Vertrauter des <strong>Berliner</strong> Bischofs Konrad<br />
Graf von Preysing kannte Adolph intim die kirchenpolitische<br />
Szenerie jener Jahre. Auch war er damals <strong>für</strong> die katholischen<br />
Zeitungen in Berlin und darüber hinaus zuständig, da<br />
Preysing als der <strong>für</strong> die Pressearbeit verantwortliche deutsche<br />
katholische Würdenträger fungierte.<br />
Aus der - laut dem Bearbeiter - vollständigen Veröffentlichung<br />
von Adolphs damaligen Notizen gehen neben schon bekannten<br />
Details über Nazivorstöße das Zögern und die Zurückhaltung<br />
des Vorsitzenden der Bischofskonferenz, Adolf<br />
Kardinal Bertram, hervor. Ebenso fixieren sie Gerüchte, der<br />
Leiter der Polizeiabteilung im preußischen Innenministerium,<br />
Erich Klausener, hätte sich am Staatsstreich des 20.<br />
Juli 1932 beteiligt. Vor allem jedoch sind Adolphs Bemerkungen<br />
Uber den päpstlichen Vertreter in Berlin, eine Reihe<br />
von Bischöfen und deren enge Mitarbeiter beachtenswert, die<br />
ihre Haltung anders als in den eingangs erwähnten Publikationen<br />
erscheinen lassen. Über den Nuntius Cesare Orsenigo<br />
meinte er beispielsweise, "daß er im Innersten Faschist sei<br />
und bei der Ähnlichkeit der beiden politischen Systeme von<br />
vornherein <strong>für</strong> eine günstige Beurteilung des Nationalsozialismus<br />
disponiert war" (28). In solchem Licht muß Orsenigos<br />
vom Verfasser mehrfach vermerktes Zurückweichen vor<br />
Naziangriffen gesehen werden. Über den Bischof von Münster,<br />
Clemens August Graf von Galen, später von kirchlicher Seite<br />
immer wieder als ihre große Widerstandsfigur herausgestellt,<br />
notierte Adolph unter anderem, "daß er letzten Endes doch<br />
mit dem nationalsozialistischen System sympathisiere" (201).<br />
Ursachen seien Haß gegen den Parlamentarismus und den Marxismus<br />
sowie Autoritätsbewußtsein gewesen (22 und 229). An<br />
anderer Stelle notierte der zeitgenössische Betrachter:<br />
DAS ARGUMENT-BEIHEFT >R7,
Faschismus und Widerstand<br />
157<br />
"Clemens von Galen, Conrad (Gröber - K.D.) von Freiburg,<br />
Albert Coppenrath (<strong>Berliner</strong> Pfarrer - K.D.) und Erich Klausener<br />
waren aber Freunde des Regimes in seinem Beginn" (57).<br />
Selbst von Preysing, dessen Versuche, einen anderen Ton anzuschlagen,<br />
sein Vertrauter ständig heraushob, hielt er die<br />
Äußerung fest, die Nazis hätten die Religion und Sittlichkeit<br />
gefährdende Agitation des Sozialismus und Kommunismus<br />
beseitigt (46).<br />
Eine solche Stelle verband Adolph mit dem Gedanken, eine<br />
künftige Geschichtsschreibung müsse "genau klarlegen", warum<br />
und in welchem Maße sich Katholiken dem Naziregime zur<br />
Verfügung gestellt hätten (57). Diese Anregung, zu der auch<br />
seine Aufzeichnungen beitragen könnten, wurde freilich von<br />
ihm selbst später nicht befolgt und noch weniger in den<br />
apologetischen Schriften aus mancher katholischer Feder<br />
aufgenommen. Klaus Drobisch (Berlin/DDR)<br />
Peukert, Detlev: Die Edelweißpiraten. Protestbewegungen jugendlicher<br />
Arbeiter im Dritten Reich. Bund-Verlag, Köln<br />
1980 (240 S., br.)<br />
Die Geschichte des Widerstandes junger Leute gegen den<br />
NS-Staat, der jugendlichen Opposition gegen die Hitlerjugend,<br />
gehört bis heute zu den besonders vernachlässigten<br />
Kapiteln der wissenschaftlichen Aufarbeitung der deutschen<br />
Erfahrungen mit dem Faschismus. Die Weiße Rose gilt auch in<br />
der Fachliteratur hierzulande vielleicht noch als die nahezu<br />
absolute Ausnahme, die die Regel der jugendlichen Zustimmung<br />
zum Dritten Reich zu bestätigen scheint. Dieser<br />
Version im westdeutschen Geschichtsbewußtsein steht eine<br />
andere in der DDR-Geschichtsschreibung gegenüber, die immerhin<br />
(verdienstvollerweise) den Widerstand organisierter<br />
junger Kommunisten und Sozialisten würdigt, dabei allerdings<br />
einer Blickverengung unterliegt: als Jugendopposition<br />
gegen den etablierten Faschismus wird hier allzu einseitig<br />
nur die unmittelbar politische, an die traditionellen Organisationen<br />
der Arbeiterbewegung anknüpfende Aktivität begriffen.<br />
Der historischen Realität entspricht auch diese<br />
Version nicht. Tatsächlich war nämlich die illegale Fortsetzung<br />
kommunistischer oder sozialistischer Jugendgruppen<br />
herkömmlichen Stils ab 1935 auf wenige Restbestände reduziert;<br />
die terroristische Zerschlagung auch der jugendlichen<br />
Kader durch die NS-Organe war zu nachhaltig und die in<br />
der kommunistisch-sozialistischen Illegalität zunächst vorherrschende<br />
Konzeption von der Weiterführung der Jugendverbände<br />
im Untergrund zu wirklichkeitsfern, als daß breitere<br />
und längerfristige Erfolge denkbar gewesen wären. Völlig zu<br />
Recht vermuteten freilich die Leitungen der KPD und der SAP<br />
und etlicher kleinerer sozialistischer Organisationen in<br />
der Emigration ab etwa 1936, daß sich unter dem deutschen<br />
Faschismus eine neuartige und spontane Form der Jugendopposition<br />
herausbilden werde und daß diese ihren sozialen Boden<br />
vor allem in der Arbeiterjugend finden könne.<br />
DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83
158 Geschichte<br />
Diese (organisationstraditionell kaum zu definierende)<br />
Ausformung jugendlichen Protestverhaitens gegen den NS-<br />
Staat und gegen die HJ hat nun mit dem Buch von Peukert eine<br />
erste gründliche Darstellung gefunden. In einer kommentierten<br />
Dokumentation vor allem aus Unterlagen und internen<br />
Materialien der Gestapo, der Justiz und der NS-Reichsjugendführung<br />
wird jener bedeutende Zweig der spontanen Jugendopposition<br />
vorgestellt, der unter dem Namen "Edelweißpiraten"<br />
im Rhein-Ruhrgebiet in den Kriegsjahren Dimensionen<br />
annahm, die den Herrschaftsanspruch der NS-Staatsjugend<br />
massiv in Frage stellten. Junge Leute aus den Arbeiterquartieren<br />
an Ruhr und Rhein entzogen sich in diesen Gruppen in<br />
großer Zahl dem Zugriff der HJ-Sozialisation, entwickelten<br />
im Rückgriff auf Lebens- und Gruppenformen der bündischen<br />
Jugend ein attraktives und "ansteckendes" subkulturelles<br />
Milieu, das nicht nur Verweigerung, sondern auch offenen<br />
Protest bedeutete. Die Organe des NS-Staates sahen in'dieser<br />
spontanen neuen Jugendbewegung vor allem deshalb eine<br />
Gefahr, weil hier in einem wichtigen Teil der nachwachsenden<br />
Generation sich eine ganz eindeutige Ablehnung von<br />
Kriegsdienst, vormilitärischer Erziehung und Rüstungsarbeit<br />
bzw. Kriegshilfseinsatz ausbreitete, also der Folgebereitschaft<br />
der Jugend <strong>für</strong> den faschistischen Krieg der Boden<br />
entzogen wurde. Peukert arbeitet plausibel heraus, daß es<br />
vor allem drei Eigenschaften waren, die "wilde Jugendgruppen"<br />
vom Typ der Edelweißpiraten zum Risiko <strong>für</strong> den NS-<br />
Staat werden ließen: Hier sammelten sich Jugendliche, die<br />
nicht die 1933 verbotenen Organisationen fortführten, sondern<br />
- schon unter dem NS "erzogen" - eigenen, neuen Impulsen<br />
folgten; diese Gruppen waren formell kaum organisiert,<br />
von daher schwer faßbar; die in den "wilden Gruppen" lebenden<br />
Jugendlichen hatten <strong>für</strong> die (weit über den NS hinaus<br />
und längst vor ihm wirksamen) "heroischen", auf Arbeitsund<br />
Kriegsdisziplin fixierten "Nationaltugenden" nur noch<br />
Spott übrig, sie waren nicht mehr erreichbar <strong>für</strong> jene überkommene<br />
Moral, mit deren Ansprüchen sich mancher politische<br />
Gegner des NS in der älteren Generation der Arbeiterschaft<br />
trotz allem identifizierte. Bezeichnend hier<strong>für</strong> ist auch<br />
das freiere Verständnis von Liebe und Sexualität bei den<br />
"Edelweißpiraten".<br />
Für die Geschichte des antifaschistischen Widerstandes<br />
liefert Peukerts Buch einen wichtigen, längst fälligen Beitrag.<br />
Möglicherweise hätte das Thema darüber hinaus Einsichten<br />
in noch kaum entdeckte Entwicklungslinien einer Sozialgeschichte<br />
der Jugend mit sich bringen können, wenn<br />
Peukert die Edelweißpiraten intensiver auf ihren widerspruchsvollen,<br />
dennoch engen Zusammenhang mit der Jugendbewegung<br />
vor 1933 hin untersucht hätte.<br />
Arno Klönne (Paderborn)<br />
DAS ARGUMENT-BEIHEFT >R7,
Faschismus und Widerstand 159<br />
Sozialistische Erziehung contra Nazi-Verführung. Ergebnisse<br />
15. Ergebnisse-Verlag, Hamburg 1981 (124 S., br.)<br />
Der Titel des Heftes ist irreführend. Es handelt sich<br />
nicht um eine integrierend-vergleichende Analyse von sozialistischer<br />
und faschistischer Erziehung, sondern um zwei<br />
nicht aufeinander bezogene Einzelaufsätze über sozialistische<br />
Kindererziehung in der Zeitschrift "Die Gleichheit"<br />
von 1905 bis 1913 (Ulrike Krauth) und Uber die Mädchendisziplinierung<br />
durch den "Bund Deutscher Mädel" (BDM) nach<br />
1933 (Helga Braun). Lediglich die kurze Einführung versucht<br />
beide Untersuchungsbereiche in einen Gesamtzusammenhang von<br />
Frauen-, Kindheits- und Zeitgeschichte zu stellen, gibt jedoch<br />
ziemlich unvollständige Hinweise auf entsprechende Literatur<br />
(Bodo von Borries).<br />
Die beiden Hauptaufsätze sind ideologiegeschichtliche<br />
Studien, die sich im wesentlichen auf eine Auswertung offizieller<br />
Darstellung beschränken: die von Clara Zetkin geleitete<br />
sozialistische Frauenzeitschrift "Die Gleichheit"<br />
einerseits und BDM-Publikationen sowie Veröffentlichungen<br />
von NS-Ideologen andererseits. Kaum werden das propagierte<br />
Mutter-Kind-Bild und die Erziehungspostulate an der gesellschaftlichen<br />
Realität gemessen. Welches sind die Resultate<br />
dieser Erziehungsratschläge und Anweisungen? Wie sah die<br />
pädagogische Praxis in einem Arbeiterhaushalt, in der Kinder-<br />
oder Jugendgruppe, in Schule und Freizeit aus? Solche<br />
Fragen werden ansatzweise erörtert, kaum jedoch beantwortet.<br />
Dazu wären weitere methodische Zugriffe notwendig: empirische<br />
Untersuchungen von Schule und Alltag, vergleichende<br />
Analysen der bürgerlichen Jugenderziehung usw. Von diesem<br />
Hauptmangel, der auch einem unterentwickelten Forschungsstand<br />
geschuldet ist, abgesehen sind die Arbeiten<br />
von Krauth und Braun informative und wertvolle Beiträge zur<br />
Geschichte der Sozialisation von Frauen und zur Geschichte<br />
der Kinder- und Jugenderziehung in Deutschland vor 1945. -<br />
Die längere Arbeit von Krauth weist nach, wie sich Clara<br />
Zetkin zusammen mit Käthe Duncker, Heinrich Schulz, Otto<br />
Rühle und Edwin Hoernle um den Aufbau einer neuen proletarischen<br />
Familienerziehung bemühte. In der sozialdemokratischen<br />
Modellfamilie von 1907 "findet (der Vater) nach der<br />
Arbelt Zeit und Kraft zu optimistischen politisch-erzieherischen<br />
Gesprächen im Familienkreis; die Mutter ist nicht<br />
... behaftet mit religiösen Vorurteilen, die ein ernstes<br />
Hindernis im Proletarierhaus bildet" (27). Wenn auch der<br />
Mutter die Hauptaufgabe der Erziehung zugesprochen wurde,<br />
sollte sie dennoch einer außerhäusliehen Berufstätigkeit<br />
nachgehen können. <strong>Das</strong> erforderte einen massiven Ausbau des<br />
Arbeiterinnenschutzes, die Reduzierung der Arbeitszeit fUr<br />
beide Elternteile und kommunale Einrichtungen (Kinderkrippen<br />
und -gärten, Schulspeisung, Schulärzte). Clara Zetkin<br />
vollzog in dieser Frage einen interessanten Meinungswandel.<br />
Hatte sie noch in den neunziger Jahren der Arbeiterbewegung<br />
jegliche Möglichkeit, die Kinder selbst zu erziehen, abge-<br />
DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83
160 Geschichte<br />
sprochen, so forderte sie nun, daß gerade die Erwerbstätigkeit<br />
der Ehefrau sie zur Erziehung befähige. Diese müsse<br />
vom "einseitigen Mutterwerk zum gemeinsamen Elternwerk"<br />
werden. Voraussetzung da<strong>für</strong> sei allerdings das gleichberechtigte<br />
Zusammenleben von Mann und Frau. Der/die heutige<br />
Leser/in kann anhand von Zetkins Erziehungsgrundsätzen<br />
selbst überprüfen, wieweit die Fortschritte in den letzten<br />
80 Jahren gediehen sind: Mitwirkung des Mannes bei der Erziehung/Erziehung<br />
ohne Prügel/Doppelrolle der Mutter als<br />
Vorbild und Freundin/Keine Militärspielzeuge/Erziehung<br />
durch produktive Arbeit/Abbau der geschlechtsspezifischen<br />
Rollenbestimmung unter Geschwistern/Förderung des gemeinschaftlichen<br />
Spiels und des Solidaritätsgefühls/Kritische<br />
Begleitung der Schule (Aufgabenhilfe).<br />
In vermeintlicher Annäherung an sozialistische Vorstellungen<br />
und in Abgrenzung zur "liberalistisch erzogenen"<br />
Frau der Weimarer Zeit projizierten Nazi-Ideologen das Bild<br />
der "mobilen Allround-Frau" (94), die nicht nur im Haushalt,<br />
sondern bei Bedarf in der Produktion, bei staatlichen<br />
Wohlfahrtsarbeiten und im Kriege einsetzbar sei. Brauns Untersuchung<br />
zeigt die Rolle des BDM bei der Eingliederung<br />
der Frau in die rassische Volks- und Wehrgemeinschaft.<br />
Weibliche Tugenden waren neben Zucht, Abhärtung, Leistungswillen<br />
ein "Höchstmaß an Ertragenkönnen" und eine "Gleichgültigkeit<br />
gegen körperliche Bedürfnisse und Schmerzen"<br />
(102). Körperlich, geistig und sozial Schwaches wurde verachtet<br />
- ebenso wie Sinnlichkeit und Sexualität, der "Inbegriff<br />
'jüdischer' und 'feministischer Zersetzung'" (103).<br />
Der traditionellen Familie mit ihrer Betonung der Privatsphäre<br />
und der Individualität wurde die Ehe als "Produktionskameradschaft"<br />
zur Erzeugung neuer Arbeitskräfte gegenübergestellt.<br />
Nach "völkischer Sexualethik" war es keine<br />
Schande, außerhalb der Ehe sexuelle Kontakte zu haben, vorausgesetzt,<br />
sie dienten dem Ziel, dem Führer "rassenreine"<br />
Nachkommen zu schenken. Bemerkenswert bleibt, daß sich auch<br />
unter dieser antihumanistisch-autoritären Erziehungsideologie<br />
bei vielen BDM-Mädchen emanzipatorische Tendenzen entwickeln<br />
konnten (108f.). Urs Rauber (Zürich)<br />
Naumann, Uwe (Hrsg.): Lidice - ein böhmisches Dorf. Röderberg<br />
Verlag, Frankfurt/M. 1983 (160 S., Abb., Ln.)<br />
Mit überwältigender marktwirtschaftlicher Konsequenz<br />
wird in diesem Jahr in den Medien der Bundesrepublik der<br />
Machtübergabe an die Nazis gedacht. Alleine in der Fülle<br />
von Gedrucktem ist es schwierig, diejenigen Bücher herauszufinden,<br />
die dazu beitragen, Faschismus und Antifaschismus<br />
erweitert begreifen zu lernen. "Lidice - ein böhmisches<br />
Dorf" ist ein solches Buch. Traurig und erschreckend genug:<br />
es ist das erste Lidice-Buch, das überhaupt in jenem Land<br />
erscheint, in dem das Erbe der Täter vornehmlich verwaltet<br />
wird: 41 Jahre nach dem historischen Massaker.<br />
<strong>Das</strong> Buch hinterläßt starke Eindrücke: Es schildert nicht<br />
DAS ARGUMENT-BEIHEFT >R7,
Faschismus und Widerstand 161<br />
nur in vielen Facetten, was der faschistische Massenmord<br />
und die Vernichtung des Dorfes <strong>für</strong> die Nazis bedeuteten,<br />
wie sie beides mit perfider Akribie und deutscher Gründlichkeit<br />
durchführten und bis zur Ausbeutung der Leichen<br />
verwalteten. Es dokumentiert vor allem auch die weltweite<br />
Solidarität, das Mitleiden, das Anklagen, das Gedenken und<br />
die Aktivierung, die das unglaubliche Gewaltverbrechen 1942<br />
und in der Folge auslöste, in Peru zum Beispiel oder in<br />
Brasilien, den USA oder England, Kuba oder Panama. Die Bundesrepublik<br />
kommt hierbei mit sichtbaren Aktivitäten kaum<br />
vor. Da<strong>für</strong> ist sie in anderer Hinsicht reichlich präsent:<br />
als alte und neue Heimat eines Teils der Täter, die sich<br />
recht wohlig wieder in ihr einrichten konnten.<br />
Eindrucksvoll ist das Buch aber vor allem auch durch die<br />
Methode, mit der hier Geschichte verarbeitet und vermittelt<br />
wird. Naumann läßt die Betroffenen sehr direkt zu Wort und<br />
auch ins Bild kommen. Stellvertretend <strong>für</strong> die vielen Opfer<br />
erinnern sich vier Frauen aus Lidice an die Nazi-Verbrechen<br />
gegen die Menschlichkeit, an die Ermordung der Männer des<br />
Dorfes, an die Deportationen in die Konzentrationslager, an<br />
die Verschleppung der Kinder, von denen nur wenige überlebten.<br />
In zwei Fotoblöcken unter den Überschriften "Ein Dorf<br />
in Böhmen" und "... ist dem Erdboden gleichzumachen", ist<br />
die Situation des Dorfes vor und nach der Durchführung des<br />
Massakers hinterelnandermontiert. Der Eindruck der Bilder<br />
wird durch die bewußt spärlich kommentierenden Unterschriften<br />
eher noch verstärkt. Und auch in dem Kernstück des Buches,<br />
der umfangreichen Sammlung von literarischen und publizistischen<br />
Texten zu Lidice, die Naumann ausgegraben und<br />
zusammengestellt hat, kommt durchweg das Entsetzen und die<br />
Betroffenheit der Autoren deutlich zum Ausdruck: in den<br />
Auszügen aus der Rede, die Thomas Mann über den damaligen<br />
"Feindsender" BBC an die Weltöffentlichkeit richtete, ebenso<br />
wie in der Entlarvung des NS-Rechtsverständnisses als<br />
Unrecht in höchster Potenz, die Robert Jungk 1942 unter<br />
Pseudonym <strong>für</strong> die Schweizer "Weltwoche" verfaßte, in den<br />
Texten von Alexander Abusch, Alfred Kantorowicz, Heinrich<br />
Mann, Bruno Frei, Bertolt Brecht, aber auch von bei uns unbekannteren<br />
Autoren wie Cecil Day Lewis oder Edna St. Vincent<br />
Millay, die mit ihren lyrischen Beiträgen zu einer<br />
Lidice-Anthologie vertreten sind, die das internationale<br />
Zentrum des P.E.N. erstmals 1944 in London veröffentlichte.<br />
Ein eigenes Kapitel ist den Solidaritätsaktionen der<br />
britischen Gewerkschafter gewidmet, die unter dem Slogan<br />
"Lidice shall live!" zu einer wahren Volksbewegung in England<br />
wurde, nicht zuletzt auf dem Hintergrund bitterer Erfahrungen<br />
der eigenen Betroffenheit durch die faschistische<br />
Aggression. Besonders markanter Ausdruck dieser Bewegung:<br />
Die Bewohner des walisischen Dorfes Cwmgiedd spielten damals<br />
das Schicksal Lidices aus ihrer Sicht vor der Filmkamera<br />
nach. Mit dem 36minütigen Streifen "The Silent Village"<br />
entstand das wohl eindrucksvollste Dokument der in-<br />
DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83
162 Geschichte<br />
ternationalen Lidice-Solidarität.<br />
Bildende Künstler sind mit Fotos ihrer Arbeiter vertreten,<br />
Willi Sitte etwa, Joseph Beuys, Wolf Vostell, H.P. Alvermann;<br />
Journalisten, Schriftsteller und Filmemacher erinnern<br />
sich daran, wann und wie sie zum ersten Mal konfrontiert<br />
wurden mit diesem Symbol <strong>für</strong> die mörderische Gewaltherrschaft<br />
der Nazis; Bilder und Texte schildern den<br />
schwierigen Wiederaufbau des Dorfes und die Arbeit seiner<br />
noch lebenden und neuen Bewohner an der Auseinandersetzung<br />
mit der Geschichte. Jedes Dokument drückt komprimiert ein<br />
Stück Geschichte des Dorfes und des Faschismus, aber auch<br />
seiner Gegner aus. Erfahrbar wird dabei auf den verschiedensten<br />
Ebenen, daß Historie von Menschen erlebt, erlitten<br />
und gemeistert wird. - Lidice konkretisiert zu haben, es<br />
als geschichtliche Erfahrung vor allem auch den Nachgeborenen<br />
anschaulich zur Verfügung gestellt zu haben, ist das<br />
große Verdienst dieses Buches. Die Erinnerungsarbeit der<br />
einen verschmilzt mit dem Appell der anderen, "Lidice shall<br />
live!", dessen Realisierung auch heute noch nicht weniger<br />
Anstrengung bedarf. In seinem "telegram" von 1980 hat Robert<br />
Jungk diesen Zusammenhang in Sprache gefaßt: "auch<br />
lidice und mylai/wurden dem erdboden/gleichgemacht/wehe den<br />
gleichmachern". Siegfried Zielinski (Berlin/West)<br />
Frauen suchen ihre Geschichte<br />
Honegger, Claudia und Bettina Heintz (Hrsg.): Listen der<br />
Ohnmacht. Zur Sozialgeschichte weiblicher Widerstandsformen.<br />
Europäische Verlagsanstalt, Frankfurt/M. 1981 (454 S.,<br />
br.) •<br />
C. Honegger und B. Heintz präsentieren dem deutschen Publikum<br />
neueste Aufsätze aus Amerika, England und Frankreich<br />
zur Sozialgeschichte der Frauen. <strong>Das</strong> Verdienstvolle dieser<br />
Edition besteht nicht nur darin, daß der Schwerpunkt aller<br />
Beiträge auf dem besonders vernachlässigten Gebiet der<br />
nichtorganisierten Frauen liegt und vielschichtige Voraussetzungen<br />
und Konsequenzen der Verdrängung von Frauen aus<br />
dem "öffentlichen Leben" behandelt werden, sondern auch<br />
darin, daß differierende Ansätze und Methoden ein breites<br />
Spektrum von <strong>für</strong> die heutige Frauenforschung wichtigen Fragestellungen<br />
bieten. Der zeitliche Rahrrten ist weit und<br />
reicht von der Französischen Revolution bis zum 20. Jahrhundert.<br />
Als Ordnungsprinzip obsiegte eine Zweiteilung, indem<br />
zunächst auf die mit der Industrialisierung einhergehende<br />
Verdrängung der Frauen und ihren vielfältigen Oppositionsformen<br />
eingegangen und in einem zweiten Komplex beispielhaft<br />
gezeigt wird, wie sich Frauen mit der gesellschaftlich<br />
streng reglementierten Frauenrolle abfanden, wie<br />
sie resignierten oder ohnmächtig rebellierten. In einer umfangreichen<br />
Einleitung stellen die Herausgeberinnen diese<br />
DAS ARGUMENT-BEIHEFT >R7,
Frauen suchen ihre Geschichte 163<br />
z.T. recht disparaten Beiträge kritisch vor, sie vermitteln<br />
der Leserschaft aber darüber hinaus noch einen eigenen feministischen<br />
Erklärungsansatz, indem sie vor allem auf die<br />
sozialen, psychischen wie physischen Konsequenzen abheben,<br />
die Festigung und Dominanz der bürgerlichen Familie <strong>für</strong> die<br />
Masse der Frauen gehabt hätten. Die Fülle der thematisierten<br />
Aspekte läßt es angezeigt erscheinen, in der folgenden<br />
Besprechung auf alle 15 Beiträge kurz einzugehen.<br />
Der erste Komplex Widerspenstigkeit und Ausschluß wird<br />
mit einem Essay von M. Perrot eingeleitet, der den "rebellischen<br />
Weibern", den Frauen aus den französischen Städten<br />
des 19. Jahrhunderts gewidmet ist. Welche gesellschaftliche<br />
Bedeutung Hausfrauen zunächst noch besaßen (Verwaltung des<br />
Lohns, Teilnahme an sog. Brotunruhen, Kampf gegen Mietwucher<br />
und den Neueinsatz von Maschinen), welche Rolle dabei<br />
das Waschhaus spielte, diese traditionelle Bastion der<br />
Frauen, - darauf wird eingegangen, bevor die Konsequenzen<br />
der Industrialisierung, der Trennung von Wohn- und Arbeitsplatz<br />
<strong>für</strong> die Geschlechter und insbesondere <strong>für</strong> die Lage<br />
der Frauen erläutert werden: Die Entwicklung habe in der<br />
weitgehenden Verbannung der Frauen aus dem öffentlichen Leben<br />
und ihrer Fixierung auf Haushalt und Mutterschaft gegipfelt.<br />
Nur schade, daß in dieser Interpretation soziale<br />
Differenzen ebenso wenig Eingang fanden wie veränderte ökonomische<br />
und politische Konstellationen.<br />
J.W. Scott und L.A. Tilly setzen sich in ihrem komparatistisch<br />
angelegten Beitrag zu Familienökonomie und Industrialisierung<br />
im Europa des 19. Jahrhunderts mit der These<br />
auseinander, daß eine neue individualistische Ideologie die<br />
Arbeit von Frauen der Arbeiterklasse gefördert und verbreitet<br />
habe. Demgegenüber vertreten die Verfasserinnen die<br />
These, daß gerade vorindustrielle Wertvorstellungen sowie<br />
die Kontinuität traditioneller Verhaltensweisen und die <strong>Institut</strong>ion<br />
der Familie selbst fördernd auf die Berufstätigkeit<br />
von Frauen gewirkt hätten, ohne dadurch zur Emanzipation<br />
beizutragen. Tatsächlich seien dadurch die alten Verhältnisse<br />
stabilisiert worden; eine These, die von den neuen<br />
sozialen Erfahrungen der Frauen abstrahiert, die sie als<br />
Arbeiterinnen, getrennt von familiären Verbindungen,zwangsläufig<br />
machten: "Ob sie außer Hause arbeiten oder nicht,<br />
verheiratete Frauen definierten ihre Rolle innerhalb des<br />
Rahmens der Familienökonomie. Arbeiterfrauen scheinen in<br />
der Tat so etwas wie die Bewahrerinnen vorindustrieller<br />
Werte gewesen zu sein" (122).<br />
0. Hufton beschränkt ihren Beitrag auf werktätige Frauen<br />
in der Französischen Revolution: Dem Sansculotten stellt<br />
sie das weibliche Pendant gegenüber. Obwohl ihre Ausführungen<br />
über Bedingungen, Aktionsformen und die Spezifik des<br />
Engagements von Frauen in den ersten Revolutionsjähren sehr<br />
instruktiv sind, ist doch unübersehbar, daß die Dokumentationsschwierigkeiten<br />
bei der Rekonstruktion des weiblichen<br />
Teils der Volksbewegung noch größer sind als bei dem männ-<br />
DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83
164<br />
Geschichte<br />
liehen. Insofern sind ihre letzten Bemerkungen Uber eine<br />
1795 zu verzeichnende sehr weitreichende Religiosität gerade<br />
unter den Sansculottinnen, die Hufton mehr aus Hunger,<br />
Krankheit, Not und Leiden als aus bewußt anti- oder konterrevolutionärem<br />
Engagement erklärt, sehr wenig abgesichert<br />
und ihre wenigen Beispiele erlauben keine Verallgemeinerungen.<br />
D. Thompsons "Spurensicherung" deckt auf, in welchem Maß<br />
Frauen zunächst die chartistische Bewegung in England mittrugen.<br />
Allerdings wurden sie um die Jahrhundertmitte weitgehend<br />
aus den Vertretungsorganen und den öffentlichen Versammlungen<br />
verdrängt, was die Verfasserin ziemlich pauschal<br />
und ungenau auf eine "Formalisierung" und "Modernisierung"<br />
"der Politik" zurückführt, die der Industriekapitalismus<br />
auch den Gewerkschaften aufgezwungen hätte.<br />
Welche Auswirkungen die weitgehende Ausschaltung aus dem<br />
öffentlichen Leben auf den Alltag englischer Arbeiterfrauen<br />
von 1890 bis 1914 hatte, untersucht P.N. Stearns: Gerade in<br />
dieser Phase hätten sie weitere gesellschaftliche und private<br />
Einbußen hinnehmen müssen, insbesondere den weitgehenden<br />
Verlust der Kontrolle Uber das Haushaltsgeld, worauf<br />
sie mit wachsender Resignation und steigendem Desinteresse<br />
an der Haushaltsführung reagiert hätten; mit einem Verhalten<br />
also, das in seiner individuellen Passivität nur als<br />
hilflos charakterisiert werden kann.<br />
In einer sehr interessanten Fallstudie analysiert E.<br />
Jameson schließlich das Spannungsverhältnis zwischen Klassenbewußtsein<br />
und bürgerlicher Familienideologie in der<br />
amerikanischen Bergbaustadt Cipple Creek um die Jahrhundertwende,<br />
als die große einflußreiche, klassenkämpferische<br />
Bergwerksgewerkschaft nach mehreren Streiks zerschlagen<br />
wurde. Die Frauen der Arbeiterklasse, zu denen neben den<br />
Lohnarbeiterinnen und den Prostituierten auch die weiblichen<br />
Mitglieder der Arbeiterfamilien gerechnet werden, hätten<br />
diesen Kampf der organisierten Arbeiterschaft nach Ansicht<br />
der Verfasserin wirkungsvoller unterstützen können,<br />
wenn sie bei der Formulierung der Klassenziele mitgewirkt<br />
und die Arbeitsteilung innerhalb der Familie nicht als eine<br />
natürliche, sondern als eine historische, d.h. veränderbare<br />
begriffen hätten. Dann wären sie nicht ausschließlich auf<br />
karitative Bereiche festgelegt gewesen.<br />
Die folgenden acht Aufsätze stehen unter dem Motto Sanfte<br />
Subversion und Gegenwelten und stellen Handlungsspielräume<br />
von Frauen dar, deren Rolle als Hausfrau und Mutter<br />
weitgehend reglementiert war. E. Showalter liest aus "Bestseller-Listen"<br />
des viktorianischen Englands heraus, wie<br />
groß unter bürgerlichen Frauen das Interesse <strong>für</strong> Ehebruch,<br />
Mord und Bigamie gewesen sein muß, wie hoch das Potential<br />
von nichteingelösten "Ausbruchsphantasien". C. Smith-Rosenberg<br />
beleuchtet den engen Zusammenhang zwischen der besonders<br />
unter Frauen des Bürgertums im 19. Jahrhundert verbreiteten<br />
Hysterie und der unbefriedigenden, strapaziösen<br />
DAS ARGUMENT-BEIHEFT >R7,
Frauen suchen ihre Geschichte<br />
165<br />
und psychisch belastenden Rolle als Hausfrau und Mutter,<br />
der sie sich vielfach auf diese selbstzerstörerische Weise<br />
entzogen. Die Krankheit ermöglichte ihnen nicht allein,<br />
sich der verhaßten und gesellschaftlich nicht sonderlich<br />
hoch bewerteten Pflichten zu entledigen, sie verlieh ihnen<br />
zugleich die ohnmächtige Macht von Kranken. Innerhalb der<br />
Geschlechterbeziehungen scheinen sich aber gewisse Veränderungen<br />
im 19. Jahrhundert zugunsten der Frauen vollzogen zu<br />
haben, wie es D. Scott Smith an der Geburtenbeschränkung<br />
und Sexualkontrolle im 'viktorianischen Amerika' abliest:<br />
Der Rückgang der Geburten signalisiere neben engeren emotionalen<br />
Beziehungen zu den Kindern einen Machtzuwachs der<br />
Frauen, die familiäre Sexualität zu regulieren. Langfristig<br />
hätte dieser Einfluß den Frauen Freiräume <strong>für</strong> anderweitige<br />
gesellschaftliche Tätigkeiten erschlossen. Formen dieses<br />
typisch weiblichen und von der amerikanischen Gesellschaft<br />
tolerierten und geförderten Engagements behandelt B. Welter,<br />
die <strong>für</strong> den Zeitraum 1800-1860 geradezu eine "Feminisierung<br />
der Religion" feststellt, wobei sie auf den wachsenden Einfluß<br />
von Frauen auf die Gemeindearbeit der zahlreichen protestantischen<br />
Sekten Amerikas abhebt. Ein anderes Betätigungsfeld,<br />
auf das sich Frauen mit großem Eifer und Geschick<br />
kaprizierten, war das Gebiet der öffentlichen Moral:<br />
Insbesondere Familienmütter engagierten sich als Wächterinnen<br />
über Sitte und Anstand. Welchen Einfluß derartige Moralisierungskampagnen<br />
erlangen konnten, zeigt M.P. Ryan am<br />
Beispiel von Utica. Zugleich aber wird deutlich, wie ambivalent<br />
derartige Aktivitäten tatsächlich waren: Denn mit<br />
dem Erfolg ihrer Bemühungen trugen die Frauen nur zur Verfestigung<br />
einer besonders die Frauen benachteiligenden repressiven<br />
Sexualmoral bei.<br />
Neben einem öffentlichen Engagement in genau festgelegten<br />
Bereichen tolerierte die Gesellschaft in ihrer scharfen<br />
Trennung von Frauen- und Männerwelt auch das Entstehen von<br />
Frauenfreundschaften. Auf der Basis der Korrespondenz von<br />
dreißig ausgewählten Familien weist C. Smith-Rosenberg nach,<br />
wie verbreitet derartige Beziehungen waren und wie intensiv<br />
und dauerhaft solche Freundschaften sein konnten. Nicht<br />
selten überdauerten sie sogar spätere heterosexuelle Verbindungen.<br />
Der letzte Beitrag beschäftigt sich mit dem interessanten<br />
Phänomen einer New Yorker Frauengewerkschaft,<br />
in der <strong>für</strong> kurze Zeit lohnabhängige Frauen mit Frauen aus<br />
dem Bürgertum zusammenarbeiteten. N. Schrom Pye zeigt auf,<br />
daß aber das Konfliktpotential zwischen Klassen- und Geschlechtssolidarität<br />
zu groß gewesen sei, als daß dieses<br />
außergewöhnliche Bündnis längerfristige Perspektiven besessen<br />
hätte.<br />
Der breite zeitliche Rahmen, in dem diese sozialgeschichtlichen<br />
Beiträge angesiedelt sind, die Unterschiede<br />
der nationalen Entwicklungen in ökonomischer, sozialer und<br />
politischer Hinsicht hätten es ebenso wie die Fülle der<br />
thematisierten Aspekte und die differierenden Standpunkte<br />
DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83
166 Geschichte<br />
und Methoden wünschenswert gemacht, in der Einleitung mehr<br />
Hintergrundinformationen zu vermitteln. Zumindest wäre ein<br />
stärkeres Eingehen auf die wichtigsten Thesen und Fragestellungen<br />
<strong>für</strong> die weitere Forschung sicherlich sinnvoller<br />
gewesen als der von den Herausgeberinnen gewählte Weg, sich<br />
in einem recht abgehobenen Beitrag auf die Konsequenzen der<br />
bürgerlichen Familie <strong>für</strong> die Frauen zu konzentrieren.<br />
Die Auswahlkriterien <strong>für</strong> die insgesamt lobenswert umfangreiche<br />
Bibliographie, in der viele neue Studien vor allem<br />
aus dem angelsächsischen Bereich aufgeführt werden,<br />
hätten genannt werden sollen, da nicht nur neueste Forschung<br />
Berücksichtigung fand, sondern auch sehr allgemeine<br />
Titel, wodurch ein Eindruck von Unvollständigkeit, insbesondere<br />
im französischen, aber auch im deutschen Bereich<br />
entsteht. Bedauerlich ist es, daß das bislang fünfbändige<br />
Werk von Jürgen Kuczynski, Geschichte des Alltags des Deutschen<br />
Volkes, Köln 1980-1982, nicht erwähnt wird, das umfangreiche<br />
Kapitel zur Lage der Frauen enthält. Schließlich<br />
wäre es interessant gewesen, mehr Uber die Autorinnen zu<br />
erfahren, über ihre Biographie ebenso wie über ihre bisherige<br />
und künftige wissenschaftlichen Arbeit. Gewinnbringend<br />
ist aber die Lektüre dieser Aufsätze allemal, insbesondere<br />
deshalb, weil sie sich in ihren Aspekten und Ansätzen ergänzen,<br />
widersprechen und zur weiteren Forschung anregen.<br />
Susanne Petersen (Hamburg)<br />
Hausen, Karin (Hrsg.): Frauen suchen ihre Geschichte. C.H.<br />
Beck 1 sehe Verlagsbuchhandlung, MUnchen 1983 (279 S., br.)<br />
Zwei große Forschungsstränge - in unterschiedlichen Ländern<br />
verankert - ziehen sich durch die feministische historische<br />
Forschung: eine "eher" strukturalistische, diskursanalytische,<br />
in Frankreich betriebene und Arbeiten, die<br />
sich mit dem "Sichtbarmachen" von Frauenleben auseinandersetzen,<br />
hervorgegangen aus den "women studies" in den USA.<br />
Um die letzte Forschungsweise geht es in dem vorliegenden<br />
Buch. Karin Hausen will, "daß Frauen in wichtigen Bereichen<br />
ihres Lebens sichtbar werden und die gleitenden Übergänge<br />
zwischen den nur scheinbar getrennten privaten und öffentlichen<br />
Handlungsfeldern von Frauen deutlich zutage treten"<br />
(12). Wie dann das "Zutagegetretene" nützlich - z.B. politisch<br />
- verwendet werden kann, sagt sie nicht. Für mich<br />
gliederte sich das Buch in zwei Teile: in eine theoretische<br />
Formulierung der Aufgaben und einen "Durchführungsteil".<br />
Gisela Bock gibt zu Anfang einen ausgezeichneten problemorientierten<br />
LiteraturUberblick, indem sie die Anforderungen<br />
an die historische Frauenforschung im Spannungsfeld von<br />
"historischen Einzelproblemen" und der Behandlung von<br />
"grundsätzlichen Fragen" begreift (26). Vieles sei ins Wanken<br />
geraten: Die Kategorien "Männer" und "Frauen" erwiesen<br />
sich in ihrer sozialen Konstruierthèit als falsche und zu<br />
bezweifelnde Selbstverständlichkeiten. Bei ihrer Verhandlung<br />
des Problems "Biologie und Geschichte", das sich als<br />
DAS ARGUMENT-BEIHEFT >R7,
Frauen suchen ihre Geschichte<br />
167<br />
"Dichotomie zwischen 'weiblicher' Biologie und 'männlicher'<br />
Kultur" (42) herausstellt, kommt sie zu einer - gerade <strong>für</strong><br />
Frauen - bedenkenswerten Kritik: Biologismus und seine Indienstnahme<br />
<strong>für</strong> "soziale Interventionen im Sinn einer manipulierbaren<br />
Zukunft" müsse als "genuine 'lebensgesetzliche'<br />
Sozialtheorie verstanden werden, als Realität und 'Mythos<br />
des 20. Jahrhunderts': als Sexismus und Rassismus, bzw. Andro-<br />
und Ethnozentrismus" (42f.). Vielleicht sind das<br />
Aspekte, unter denen die neueren Versuche von Genmanipulationen<br />
(sogenannte "Retortenbaby-Diskussion") begriffen<br />
werden können.<br />
Was so theoretisch bestechend formuliert wurde, kann in<br />
den folgenden Werkstattpapieren - nichts anderes sind die<br />
Aufsätze - nicht eingehalten werden. Durchweg sind es noch<br />
erste "Ausgrabungsarbeiten", die beweisen (?) sollen, daß<br />
es Frauen gab, daß sie lebten und arbeiteten, glücklich und<br />
gehindert waren.<br />
Gudrun Schwarz beschreibt die wissenschaftliche Konstituierung<br />
des Gegenstands homosexuelle Frau ("Mannweiber" in<br />
Männertheorien). Eine Frau, die "aus freiem Antrieb in der<br />
Irrenabteilung" Hilfe sucht, da sie ihre Freundin "einmal<br />
ordentlich herzen und küssen" wollte (Zitate sind Materialstücke),<br />
bildet den "Fall", aus dem beschreibend die Kriterien<br />
<strong>für</strong> "frauenliebende Frauen" gewonnen werden. Die Ergebnisse<br />
bildeten die "Grundlage der Forschung über lesbische<br />
Frauen und homosexuelle Männer in den folgenden 50<br />
Jahren" (62). Die Autorin leistet hier die Konkretisierung<br />
des schon feministisch aufgedeckten Dualismus-Denkens: Etwas,<br />
was nicht wirklich weiblich ist, muß männlich sein.<br />
Anneliese Bergmann arbeitete die "Gebärstreikdebatte der<br />
SPD im Jahre 1913" auf - sehr materialreich, aber ohne Auswertung.<br />
Und am Ende kommt sie unvermittelt mit dem "Uterusneid"<br />
der Männer als Erklärung <strong>für</strong> ihr fehlendes Engagement<br />
in der Diskussion um die Geburtenkontrolle. <strong>Das</strong> erzeugt<br />
auch Gefühle des Absurden, wenn in der Verschiebung<br />
vom Penisneid jetzt der Uterusneid zur Triebkraft der Geschichte<br />
erklärt wird. Im Kapitel "Arbeit ohne Feierabend"<br />
werden Bauernmägde, Frauen in der Jutespinnerei, Beamtenfrauen<br />
ins "Licht" gerückt, manchmal mit ermüdenden Details<br />
(wie genau wurde die Wäsche gewaschen, wie lag das Eßbesteck<br />
auf dem Tisch usw.).<br />
Die Unlust, den Autorinnen zu folgen - die sich bei mir<br />
einstellte - hängt wohl mit dem Fehlen von Fragestellungen<br />
zusammen, die Leserin erfährt unterwegs nicht, wo es hingehen<br />
soll und die vielen unausgewerteten Materialstücke (in<br />
Form von Biographien, Gesetzestexten, Organisationsgeschichten<br />
usw.) fügen sich nicht zu einem neuen Entwurf der<br />
weiblichen oder gar Menschheitsgeschichte. <strong>Das</strong> gleiche gilt<br />
<strong>für</strong> die Untersuchungen der "Organisation und Politik" der<br />
Frauen. Alle Texte behandeln die Zeit Ende des 19. Jahrhunderts<br />
bis zur Weimarer Republik. Auf dem Weg, die Klassenund<br />
Geschlechterfrage zusammen historisch zu begreifen, ih-<br />
DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83
168 Geschichte<br />
re Überlagerungen zu fassen und sie <strong>für</strong> heutige Kämpfe in<br />
nützliches Wissen umzuformulieren, gibt es noch viel zu<br />
tun. Dieses Buch belegt zumindest, daß es eine sehr gut<br />
durchgearbeitete Fragestellung braucht, sonst droht das Ertrinken<br />
im Material. Kornelia Hauser (Hamburg)<br />
Borneman« Ernest (Hrsg.): Arbeiterbewegung und Feminismus.<br />
Berichte aus vierzehn Länder. Ullstein Verlag, Frankfurt-<br />
Berlin-Wien 1982 (259 S., br.)<br />
Die Beiträge dieses Buches sind die Veröffentlichungen<br />
der Referate von der '14. Internationalen Tagung der Historiker<br />
in Linz'. Sie verfolgen den Integrationsprozeß von<br />
Frauen in die Arbeiterbewegung und deren Kämpfe <strong>für</strong> die<br />
Frauenbefreiung am Beispiel von 12 europäischen Ländern,<br />
der UdSSR und Japan. In den meisten Beiträgen findet sich<br />
eine Aneinanderreihung von geschichtlichen Fakten: Wieviele<br />
Frauen waren wann wie organisiert, an welchen Kämpfen nahmen<br />
sie teil, welche Unterstützung bekamen sie von Seiten<br />
der Männer innerhalb der Organisationen ... Warum sich die<br />
Beiträge zur Erforschung der damaligen Frauenkämpfe (z.B.<br />
um das Wahlrecht, um das Recht auf Bildung) auf die Frauen<br />
der Arbeiterbewegung konzentrieren und die Kämpfe der<br />
nichtsozialistischen Frauenbewegung außer acht gelassen<br />
werden, wird in dem Vorwort von Ernest Borneman begründet.<br />
Er untersucht die Trennung der bürgerlichen von der proletarischen<br />
Frauenbewegung, da "die heutigen Differenzen zwischen<br />
einander befehdenden Frauengruppen" nur auf dieser<br />
Grundlage zu verstehen seien (9). Dabei geht er - unter Berufung<br />
auf die Klassiker Engels und Bebel - von der These<br />
aus, daß "die Befreiung der Frau von der Diktatur des Mannes<br />
... nur in der Form der Befreiung beider Geschlechter<br />
von der Diktatur der einen Klasse über die andere möglich"<br />
sei (20). Auf dieser Grundlage befragt er die Kämpfe der<br />
Frauen, ob sie den Klassenkampf unterstützen oder nicht und<br />
kommt so zu der häufig wiederholten Aussage, daß nichtsozialistische<br />
Feministinnen nicht zur Lösung der Frauenfrage<br />
beitrugen/beitragen, weil sie eben keinen Klassenkampf<br />
führten/führen (z.B. 29 und 36). Will Borneman auf all<br />
diese Frauen und ihre Befreiungskämpfe verzichten? Damit<br />
negierte er die Vielfältigkeit der Herrschaftsstrukturen,<br />
deren Überlagerungen und Verschränkungen. Er behauptet eine<br />
Universallösung, wo mehrfachbestimmte Kämpfe notwendig<br />
sind. Nach seiner Meinung braucht man nicht nach den Befreiungskämpfen<br />
dieser Feministinnen zu fragen, da die<br />
Frauen aus unterschiedlichen Klassen "kaum noch als Mitglieder<br />
des gleichen Geschlechtes zu fassen" seien (27),<br />
bzw. die Unterdrückung der Frau richte sich nicht gegen die<br />
Frauen, sondern gegen das Proletariat (32).<br />
Die Bearbeitung unserer Geschichte ist notwendig und<br />
wichtig, um Veränderungen und damit Veränderbares begreifen<br />
zu können. Leider fehlt den meisten Beiträgen dieses Buches<br />
ein Zugriff auf das historische Material. Ohne eine Frage-<br />
DAS ARGUMENT-BEIHEFT >R7,
Frauen suchen ihre Geschichte<br />
169<br />
Stellung, z.B. was uns das Wissen über unsere Vergangenheit<br />
heute nützt, verführt diese Materialanhäufung dazu, daß man<br />
sich nach der "geschichtlichen Wahrheit" fragt: Ist es<br />
richtig, was Borneman am Beispiel von' Österreich um die<br />
Jahrhundertwende behauptet, "es gab nicht einmal Konflikte<br />
(zwischen den Frauen aus beiden Bewegungen, M.W.) - es gab<br />
überhaupt kein gemeinsames Gesprächsthema" (22), oder hat<br />
die österreichische Referentin recht, "die Beziehungen zur<br />
bürgerlichen, fortschrittlichen Frauenbewegung waren im übrigen<br />
positiv und durchaus von Kontakten begleitet" (83)?<br />
Die feministische Politik und ihre Fehlschläge beruhen<br />
nach Ernest Borneman darauf, daß diese Frauen "nicht klug<br />
und nicht konsequent genug" seien (34). Im Gegensatz zu<br />
dieser Annahme steht die Untersuchung von Atina Grossmann<br />
und Elisabeth Meyer-Renschhausen, einer der wenigen nützlichen<br />
Beiträge dieses Buches. Sie belegen die andersartigen<br />
Politikformen von Frauen mit deren Lebensweise und den im<br />
privaten Bereich der Familie angesiedelten Problemen. Die<br />
Handlungen von Frauen seien bewußt andere, was aber nicht<br />
bedeute, daß Frauen sich aus den Arbeitskämpfen heraushielten,<br />
sondern daß in diesem Bereich nicht ihr alleiniger<br />
Schwerpunkt läge (58). Damit stellen sie auch einen Politikbegriff<br />
infrage, der sich nur an "Organisationen orientiert<br />
und lediglich die <strong>für</strong> das Kapital profitbringende<br />
Produktionssphäre sieht" (55). - Leider fehlen den meisten<br />
Beiträgen und den darin vorgeführten Materialansammlungen<br />
die Quellenangaben. Dieser Mangel ist hinderlich <strong>für</strong> jede<br />
weitere Bearbeitung. Margret Wolfrum (Hamburg)<br />
Warner, Marina: Maria - Geburt, Triumph, Niedergang. Rückkehr<br />
eines Mythos? Trikont-Dianus Verlag, München 1982 (483<br />
S., Abb., br.)<br />
"Für alle fünfzig- bis sechzigjährigen Frauen gibt es im<br />
christlichen Götterhimmel keine verwirrendere Gestalt als<br />
die Jungfrau Maria", so eröffnete 1976 die US-Autorin Francine<br />
du Plessix Gray die Besprechung des Buches ihrer englischen<br />
Kollegin Marina Warner "Alone of all her Sex". Und<br />
sie fährt fort, wie hätten wir als katholische Schulmädchen<br />
- einst knieend die Himmelskönigin preisend - ahnen können,<br />
daß das edelste Objekt unserer Verehrung bald zum widersprüchlichen<br />
Symbol des christlichen Glaubens werden sollte?<br />
Man bedenke den Widersinn: Es gibt kein überwältigenderes<br />
urweibliches und gleichzeitig ergötzlicheres Idol <strong>für</strong><br />
radikale Feministinnen als eine Große Mutter, die ein Kind<br />
zur Welt bringt, ohne es von einem Mann empfangen zu haben.<br />
Und: Wo immer sich das Christentum ausbreitete, brachte es<br />
den tödlichen Keim des Antifeminismus mit sich (Elisabeth<br />
G. Davis 1971).<br />
Die Engländerin Marina Warner schreibt in ihrem Buch<br />
zwar auch aus einer progressiven Perspektive, aber sie wägt<br />
klug und vorsichtig die <strong>Argument</strong>e. Sie kritisiert scharf<br />
jede Verzerrung des Demutideals in der Mariengestalt zu<br />
DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83
170 Geschichte<br />
weiblicher Unterwürfigkeit und Versklavung der Frau. Die<br />
Fülle des ausgebreiteten Materials ist so groß wie die Liebe<br />
zum Detail und zum Gegenstand der einstigen kindlichen<br />
Verehrung. In fünf breit gegliederten Abschnitten über die<br />
Jungfrau, die Königin, die Braut und dann die Mutter und<br />
schließlich die Fürsprecherin zeigt die Verfasserin die<br />
grenzenlosen Kombinationen der matriarchalischen Kraft der<br />
Maria mit archaisch und ursprünglich Erfahrbarem in ihrer<br />
Verschmelzung und Verkehrung mit patriarchalischen Zwangsvorstellungen<br />
wie den Verdrängungen der unerlösten Phantasien<br />
ihrer zölibatären Väter. Der Teufelskreis religiöser<br />
Ängste, in den die gläubigen Christen eingezwungen und<br />
durch männliche Blindheit <strong>für</strong> liebende Hingabe zu Opfern<br />
patriarchaler Machtverhältnisse geworden waren, wurde vor<br />
allem zu einem patriarchalen Gefängnis <strong>für</strong> die Frauen.<br />
"Eva, zum Kindergebären verflucht ..., wurde mit der Natur<br />
identifiziert, eine Form niederer Materie, die die Seele<br />
des Mannes die geistige Leiter hinunterzerrt. In Fäkalien<br />
und Urin der Geburt - so Augustinus' Ausspruch - zeigt<br />
sich die Nähe der Frau zu allem, was niedrig, gemein, verderbt<br />
und körperlich ist, in konzentrierter Form; der<br />
'Fluch' der Menstruation machte sie den Tieren ähnlich; die<br />
Verlockungen ihrer Schönheit waren nichts als ein Aspekt<br />
des Todes, den ihre Verführung Adams mit sich gebracht hatte"<br />
(89). Doch die unversehrte und reine Jungfräulichkeit<br />
Mariens sollte die Gegenwart Gottes beweisen und zum Schlüssel<br />
der orthodoxen Christologie werden. Die Frühkirche bot<br />
den Frauen noch brüderliche Gleichberechtigung an, solange<br />
sie den christlichen Kodex akzeptierten und die darin enthaltene<br />
Ansicht über Sexualität und Geburt hinnahmen.<br />
Als engagierte Kunsthistorikerin stößt Marina Warner auf<br />
eine Unzahl von Illustrationen zu ihrem Text, die sie dem<br />
Buch beigibt. Eins ihrer interessantesten Kapitel widmet<br />
sie in der bebilderten Untersuchung dem Bedeutungswandel<br />
der Muttermilch heidnischer Göttinnen und der Jungfrau der<br />
katholischen Kirche, gleichsam als "komprimierte Geschichte<br />
der Haltungen, die die Christen zum weiblichen Körper eingenommen<br />
haben" (229f.). Marias Muttermilch wird - in später<br />
Nachdichtung jahrtausendealter heidnischer Symbolik<br />
himmlischer Nahrung - zu immerwährender Gnadennahrung der<br />
Kirche. Die Bilder zeigen, wie mit fortschreitender Renaissance<br />
die Darstellungen der säugenden Jungfrau in der Kunst<br />
verblassen; die Nacktheit weiblicher Schönheit in der Renaissance<br />
wird im 16. Jahrhundert von wiederbelebter Askese<br />
als Gotteslästerung bekämpft: Papst Paul IV. bekleidet die<br />
Nackten in der Sixtinischen Kapelle.<br />
"Der Mythos ist die Geschichte seiner Schöpfer, nicht<br />
seiner Objekte", er stellt das Leben der Völker dar, die<br />
diesen Mythos hervorbringen, lautet ein Vorspruch, den die<br />
Autorin zitiert. In ihren mythischen Gestalten stellen die<br />
Menschen Geschichte dar, in der sie leiden oder triumphieren.<br />
Beides finden wir in Warners vielschichtigem Buch. Die<br />
DAS ARGUMENT-BEIHEFT >R7,
Frauen suchen ihre Geschichte 171<br />
Crux der Geschichte der Maria liegt - nach Warner (385) -<br />
in der Herauslösung ihres Symbolgehalts aus jeglichem "soziologischen<br />
und kulturellen Kontext". Maria sei kein aus<br />
natürlicher Veranlagung entstandener Archetypus des Weiblichen,<br />
kein fleischgewordener Traum, wenn Empfängnisverhütung<br />
und Unterwerfung der Frau unter den Mann postuliert<br />
würden; sie sei das Instrument in der starken Beweisführung<br />
der katholischen Kirche über eine Gesellschaftsstruktur,<br />
die diese Kirche als gottgegebenes Gesetz ausgebe. Sie war<br />
eine Gestalt, die die Menschen in Entzücken versetzte und<br />
in ihnen die edelsten Gefühle des Mitleids, der Ehrfurcht<br />
und der Liebe erweckt, und deren Verehrung wir erhabenste<br />
Kunstwerke verdanken. Jetzt sei sie gerade dabei, Vergangenheit,<br />
Geschichte zu werden, eine Legende lyrischer Gefühlskraft,<br />
doch bar jeder moralischen Bedeutung und realer<br />
Macht Uber das Wohl und Wehe der Gläubigen.<br />
Wenn dreitausend Jahre Männerherrschaft die Weltgeschichte<br />
bis zur tausendfachen Overkill-Bedrohung in unverhüllter<br />
Todesverehrung und Selbsthaß wie im größenwahnsinnigen<br />
Gotteskomplex (H.E. Richter) <strong>für</strong> sich alleine reklamiert,<br />
dann sollte man ihr schon aus dem fast zweitausendfach<br />
älteren Erbe weiblicher Dominanz in fünf Millionen<br />
Jahren Menschheitsentwicklung einige Erlösungshilfen zur<br />
gemeinsamen Rettung wünschen. Deshalb kann ich die Bitte,<br />
die der Dianus-Trikont Verlag diesem Buch mit auf den Weg<br />
schickt, nur unterstreichen: "Auch die lobenden Ansätze der<br />
neuen Frauenspiritualität laufen die Gefahr, sich zu erschöpfen,<br />
wenn die Frauen sich die Urbilder, die in unseren<br />
Kulturen noch lebendig sind, nicht vertraut machen und in<br />
ihnen nicht den Versuch wagen, sich wiederzuerkennen."<br />
Gewünscht hätte ich dazu dem Buch noch einen hinweisenden<br />
Anhang mit weiterführender Literatur, die in deutschen<br />
Buchläden greifbar ist, wie etwa E. Borneman, <strong>Das</strong> Patriarchat;<br />
Mary Daly, Gyn/Ökologie; Otfried Eberz, Vom Aufgang<br />
und Niedergang des männliches Weltalters, und Sophia-Logos<br />
und der Widersacher; R. Fester u.a., Weib und Macht; Heide<br />
Göttner-Abendroth, Die Göttin und ihr Heros; E.G. Davis, Am<br />
anfang war die Frau; Ester Harding, Frauen-Mysterien einst<br />
und jetzt; R. Hochhuth, Frauen und Mütter, in Lysistrata<br />
und die Nato; L. Kofier, Der asketische Eros; T. Moser,<br />
Gottesvergiftung; Christa Mulack, Die Weiblichkeit Gottes;<br />
H.E. Richter, Der Gotteskomplex; Josefine Schreier, Göttinnen;<br />
Zeitschrift "Feministische Studien" Heft 1/83.<br />
Hans-Joachim Koch (Leverkusen)<br />
DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83
172<br />
ÖKONOMIE<br />
Hausarbeit - Lohnarbeit<br />
Kittler, Gertraude: Hausarbeit. Zur Geschichte einer "Natur-Ressource".<br />
Verlag Frauenoffensive, München 1980 (202<br />
S., br.)<br />
Getraude Kittler schreibt zum Zusammenhang von Hausarbeit<br />
und Ökonomie. Ihre Fragestellung ist sozialistisch-feministisch:<br />
Wie können wir Hausarbeit (oder "private Reproduktionsarbeit")<br />
begreifen als ein besonderes Produktionsverhältnis<br />
innerhalb der kapitalistischen Produktionsweise?<br />
In der deutschen Frauenbewegung war diese Problemstellung<br />
bis dahin ungewöhnlich (Anke Wolf-Graaf, Frauenarbeit im<br />
Abseits, ist erst 1981 erschienen).<br />
Im ersten historischen Teil verfolgt Kittler die Entstehung<br />
des bürgerlichen und des proletarischen Haushalts als<br />
getrennte Wege. Hausarbeit als Hausfrauenarbeit im heutigen<br />
Sinn habe es "vor dem 20. Jahrhundert nicht gegeben" (25).<br />
Wie in einer "regelrechten Kampagne zur Umstrukturierung<br />
der weiblichen Persönlichkeit" (16) protestantischer Mutterschaftskult,<br />
Medizin, Philosophie und literarische Massenkultur<br />
zusammenarbeiten, referiert sie kurz mit dem Ergebnis<br />
der Trennung der Bereiche in öffentliches Leben und<br />
Berufsarbeit des bürgerlichen Mannes sowie einen um- und<br />
aufgewerteten Bereich des Heims, der Innenwelt, worin die<br />
Frau <strong>für</strong> die Bürgerfamilie Müßiggang repräsentierte. <strong>Das</strong><br />
ging einher mit einer strikten Trennung von Handarbeit, die<br />
tabuisiert war, und Haushaltsführung (17). Fürs Grobe hatten<br />
sie Dienstboten, Dienstmädchen vor allem. Der proletarische<br />
Haushalt mit seiner "Organisierung des täglichen<br />
Elends" stellte einen "Anti-Typ" dar. Wie kam es zur Verallgemeinerung?<br />
Wie und warum die Arbeiterfamilie die Bürgerfamilie<br />
"adoptiert", bleibt offen, wenngleich Kittler<br />
einige mehr oder minder bekannte Hinweise gibt: Dienstmädchen<br />
finden in Fabrikarbeit eine Alternative zur Haus(hand)<br />
arbeit ("Fabrikluft macht frei") und gründen eigene Haushalte.<br />
Mit gestiegenem Realeinkommen imitieren Arbeiter den<br />
bürgerlichen Lebensstil ("Meine Frau braucht nicht zu arbeiten").<br />
Dieses "Zugeständnis" an die Lohnarbeiter, nämlich<br />
eine Hausarbeiterin <strong>für</strong> ihre Reproduktion zu haben,<br />
sei eine Form der Lösung der "sozialen Frage" gewesen (23).<br />
<strong>Das</strong> sieht Getraude Kittler in ihren abschließenden Überlegungen<br />
als Aussöhnung zwischen Kapital und männlicher Arbeiterklasse<br />
- die "Domestizierung der Frau" als "Ersatz<br />
<strong>für</strong> die Besitzlosigkeit an Produktionsmitteln" (136). In<br />
den Worten des US-amerikanischen Wirtschaftstheoretikers<br />
Galbraith war die massenhafte Abstellung weiblicher Arbeitskraft<br />
<strong>für</strong> die persönlichen Dienste am Mann "eine ökonomische<br />
Leistung ersten Ranges".<br />
Wie griff damals die Frauenbewegung ein? Statt die im<br />
DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83
Hausarbeit-Lohnarbeit 173<br />
folgenden dargestellten Konzepte der Frauenbewegung zu Beginn<br />
dieses Jahrhunderts und in den 20er Jahren (Einküchenbewegung,<br />
Lohn-<strong>für</strong>-Hausarbeit, Rationalisierung der Hausarbeit<br />
und Anerkennung der Hausarbeit als Beruf) im Zusammenhang<br />
mit der Verallgemeinerung der Hausfrauenarbeit zu untersuchen,<br />
breitet Kittler das Material über viele Seiten<br />
einfach aus. Gleichwohl wird deutlich: Mit dem Großhaushalt<br />
(Einküchenbewegung) sollte die "Reinheit" des Familienlebens<br />
durch eine Art Wiederholung des bürgerlichen Modells,<br />
hier der Trennung von (kollektiver) Hausarbeitszeit und<br />
(familiärer) Freizeit gefördert werden. Mit der Rationalisierung<br />
und Ökonomisierung der Hausarbeit (nach Taylor)<br />
wurden Prinzipien der Lohnarbeit hereingeholt und zugleich<br />
die Hausarbeit durch Umwandlung des "Heims" in eine "Werkstatt<br />
der Frau" (Idee des Architekten Taut) attraktiver gemacht<br />
(61ff.). In der Schwierigkeit, "den emanzipativen Gehalt<br />
der Rationalisierungsbestrebungen" einzuschätzen, hält<br />
Gertraude Kittler die "Erfordernisse des sich formierenden<br />
Spätkapitalismus" <strong>für</strong> maßgebend (77). <strong>Das</strong> scheint mir, gemessen<br />
an den eigenen Absichten und Anstrengungen, ein sehr<br />
reduzierter Schluß zu sein. Hier müßte unbedingt weitergearbeitet<br />
werden darüber, wie Arbeiter- und wie Frauenbewegung<br />
in ihren Politiken oder als Effekt derselben diese<br />
verallgemeinerte Hausarbeit als Hausfrauenarbeit im Kontext<br />
der Familie historisch und aktuell mit herstellen. In diesem<br />
Band findet sich da<strong>für</strong> mehr Material als ausgewertet<br />
ist.<br />
Die Auseinandersetzungen mit neueren <strong>Theorie</strong>n zur Hausarbeit<br />
fand ich sehr instruktiv: Fast alle arbeiten mit Kategorien<br />
von Marx. Allen weist Kitler ungenaue Rezeptionen<br />
nach. Einfache Übertragung z.B. der "produktiven Arbeit"<br />
auf die Hausarbeit führt sie als Analogien ohne Erkenntnisgewinn<br />
vor. Gegen die in der Frauenbewegung verbreitete Gebrauchswertkategorie<br />
(Hausarbeit sei eine andere Ökonomie,<br />
bedürfnisorientiert, empathisch usw.) argumentiert sie mit<br />
Marx zugleich politisch: Es gibt keinen Gebrauchswert ohne<br />
Tauschwert, die Begriffe sind nur im widersprüchlichen Zusammenhang<br />
kapitalistischer Warenproduktion von analytischem<br />
Wert - und Hausarbeit bildet keinen außerökonomischen<br />
Raum. Kittler selbst schlägt vor, Marx im 3. Band des "Kapital"<br />
über die'Grundrente neu zu lesen und vom Begriff der<br />
"Gesamtarbeit der Arbeiterklasse" auszugehen (128). Eine<br />
<strong>Theorie</strong> der Hausarbeit im Rahmen der Politischen Ökonomie<br />
müsse aber zugleich den Fehler von Marx vermeiden, Ökonomie<br />
und geschlechtsspezifische Arbeitsteilung zu trennen. Anknüpfend<br />
an Heidi Hartmann will sie Hausarbeit im Rahmen<br />
kapitalistischer und patriarchalischer Verhältnisse untersucht<br />
wissen. Für die Frage nach der "inneren Beziehung"<br />
(134) schlägt sie zwei zentrale Komplexe vor: "erstens die<br />
Bedeutung der häuslichen Frauenarbeit <strong>für</strong> den Mann im Kontext<br />
der Lösung der 'sozialen Frage' und zweitens die unmittelbaren<br />
ökonomischen Vorteile, die das Kapital aus der<br />
DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83
174 Ökonomie<br />
<strong>Institut</strong>ionalisierung dieser Arbeit zieht" (135). Auch hier<br />
fand ich wichtige Vorstöße wie die These der Transformation<br />
der Mutter-Kind-Beziehung auf das Reproduktionsverhältnis<br />
zwischen Frau und Mann sowie die Aufforderung, in Dokumenten<br />
der Arbeiterbewegung über die "Alleinzuständigkeit der<br />
Frau <strong>für</strong> die Glücksproduktion der männlichen Massen" nachzulesen<br />
(136). Aber es bleibt doch mehr eine Aufforderung.<br />
Die Begriffe bewegen sich immer wieder eng an der von ihr<br />
selbst skizzierten Gefahr des Reduktionistischen entlang,<br />
"das Kapitel" ist allzu globale Handlungsmacht (nach seinem<br />
Bedarf gehen die Frauen in die Erwerbsarbeit und wieder<br />
heraus, 146).<br />
Viele gute Analysen, Forschungseinrichtungen, offene<br />
Fragen - der Band fordert zur Beteiligung an dem auf, was<br />
Gertraude Kittler am Ende als Aufgaben stellt: eine "Realanalyse"<br />
der Hausarbeit (147) zu erstellen und eine sozialistische<br />
Perspektive zu erarbeiten (sie nennt es eine "gesamtgesellschaftliche")<br />
<strong>für</strong> Frauen und Männer, <strong>für</strong> Produktion<br />
und Reproduktion (152). Hannelore May (Berlin/West)<br />
Meyer, Sibylle: <strong>Das</strong> Theater mit der Hausarbeit. Campus Verlag,<br />
Frankfurt/M. 1982 (176 S., br.)<br />
Untätige Salondamen, die alle hauswirtschaftlichen Arbeiten<br />
delegierten und lediglich die Dienstboten kontrollierten<br />
- dieses Bild über das Leben bürgerlicher Frauen um<br />
die Jahrhundertwende vermutet die Autorin in unseren Köpfen.<br />
Mit dem Buch will sie diesem "Mythos vom Müßiggang<br />
bürgerlicher Frauen" (10) entgegentreten. Es läßt sich einreihen<br />
in die Bemühungen, die "wahre" Geschichte der Frauen<br />
auszugraben, Licht in das Dunkel unserer weiblichen Vergangenheit<br />
zu bringen. Sie untersucht Wohnungspläne, Benimmbücher<br />
und Frauenseiten aus Familienzeitschriften als Quellen,<br />
um die Geschichtslüge durch die Rekonstruktion des<br />
Alltags der Frauen, "ihrer Arbeits- und Lebensbedingungen"<br />
zu widerlegen. Anhand der Quellen deckt sie auf, daß die<br />
Frauen in den weniger bemittelten bürgerlichen Familien -<br />
sie nimmt vor allem Beamten- und Offiziersfamilien - aufwendige<br />
Arbeiten leisten mußten und daß sie gleichzeitig<br />
dazu gezwungen waren, ihre Arbeiten zu verschleiern. Diesen<br />
"Zwang" zur Verschleierung der Hausarbeit stellt die Autorin<br />
in Zusammenhang mit den Aufstiegschancen der Männer.<br />
Sie führt vor, daß das Dienstverhältnis der Beamten nicht<br />
nur die unmittelbare Arbeit umfaßte, sondern seine ganze<br />
Person, sein ganzes Leben durchdrang. Für seine berufliche<br />
Qualifikation war der Mann selbst zuständig. Die Produktion<br />
und Sicherung des "standesgemäßen Lebens" gehörte zu den<br />
Aufgaben der Ehefrau. Standesgemäßheit bedeutete in diesem<br />
Sinne nach außen hin reich zu wirken und die Etikette einzuhalten,<br />
um die Zugehörigkeit zur bürgerlichen Klasse immer<br />
wieder nachzuweisen und Zugang zu den "sozialen Kreisen"<br />
des Bürgertums zu finden und zu behalten. "Die offizielle<br />
Aufgabe der Ehefrau war es, den guten Ruf ihres Man-<br />
DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83
Hausarbeit-Lohnarbeit 175<br />
nes durch ihr Auftreten zu bestärken und seinen sozialen<br />
Status im Rahmen der Gesellschaft zu festigen. Sie hatte zu<br />
repräsentieren und zu glänzen und verlieh so ihrem Mann<br />
nicht nur den Hintergrund von Wohlanständigkeit, sondern<br />
auch von ökonomischer Potenz" (21). Dieser Aufgabe konnte<br />
sie nur gerecht werden, indem sie ihre Arbeit verschleierte<br />
und gegenüber der Öffentlichkeit Müßiggang als Zeichen <strong>für</strong><br />
Wohlstand repräsentierte. Verborgen bleiben damit ihre Arbeiten,<br />
die ein "standesgemäßes" Auftreten in der Öffentlichkeit<br />
erst möglich machten. Die Tätigkeiten der Frauen<br />
reichten von der Herstellung des repräsentativen Salonschmucks<br />
über das Nähen von Kleidern bis zur Vorbereitung<br />
des Festessens, täglichem Saubermachen und Aufräumen des<br />
<strong>für</strong> die Öffentlichkeit zugänglichen Teils der Wohnung. Kompetenzen<br />
aneignen mußten sich die Frauen auch im Umgang mit<br />
sozial gleichrangigen und höhergestellten Personen. Dabei<br />
ging es um die Einhaltung der "Gesetze des 'guten Tons'"<br />
(47). "Vorstellungen über vollendete Höflichkeit bezogen<br />
sich nicht nur auf Verhaltensregeln und sprachliche Wendungen,<br />
sondern schlössen Vorschriften der Körperhaltung, des<br />
Tons, Blicks mit ein" (48). Dies alles nennt S. Meyer die<br />
Arbeit "vor den Kulissen". Daß die Repräsentation eines<br />
nicht vorhandenen Reichtums eine Kehrseite "hinter den Kulissen"<br />
hat, führt die Autorin im weiteren vor. Sie sieht<br />
den bürgerlichen Lebensstil dadurch gekennzeichnet, daß die<br />
"Trennung von Öffentlichkeit und Privatheit ... einerseits<br />
ein repräsentatives, standesgemäßes Auftreten nach außen<br />
und andererseits ein sparsames karges Auskommen nach innen<br />
erzwang" (11). Gerade weil es auf den Pfennig ankam, sollten<br />
die Hausfrauen selbst die Verantwortung übernehmen <strong>für</strong><br />
billige Einkäufe, wohlschmeckende, wenig kostspielige und<br />
gesunde Ernährung und <strong>für</strong> die Vorratshaltung. Alles in allem<br />
sei dies "die Versorgung als tägliche Pflicht" der Frau<br />
gewesen (125ff.).<br />
Was haben wir gewonnen, wenn wir wissen, daß die Beamtenfrauen<br />
hart arbeiteten und ihre Arbeit auch noch verschleiern<br />
mußten? Sibylle Meyer betont im wesentlichen, daß<br />
die Verschleierung der Hausarbeit von ihrer Unterbewertung<br />
begleitet sei, die "ihre Fortsetzung in der Einschätzung<br />
heutiger Hausarbeit findet" (11). Dabei bleibt mir das Ziel<br />
der Autorin unklar. Vorhandene Ansätze in der feministischen<br />
Literatur zur Hausarbeitsdebatte gehen implizit in<br />
ihre Bewertungen ein. Sie arbeitet aber nicht explizit mit<br />
ihnen. Den hergestellten Zusammenhang zwischen sozialem<br />
Aufstieg und der Hausfrauenarbeit finde ich am interessantesten.<br />
Leider beleuchtet sie nur die eine Seite dieses<br />
Prozesses: Die Unterstellung des Mannes unter den Staat<br />
"zwänge" die Frau zu endlosen Arbeiten und zur Verschleierung<br />
derselben. Nichts wird darüber gesagt, welche Effekte<br />
die geschlechtsspezifischen Arbeitsteilungen z.B. <strong>für</strong> das<br />
Verhältnis der Geschlechter hatte.<br />
<strong>Das</strong> Anliegen der Autorin, den Alltag der Frauen durch<br />
DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83
176 Ökonomie<br />
die Vorführung vielfältigen Materials zu rekonstruieren,<br />
finde ich nützlich. Durchgängig habe ich aber das Problem,<br />
daß das Material häufig nicht theoretisiert wird, bzw. unausgewertet<br />
bleibt und hauptsächlich vorgeführt wird, um<br />
die Leitthese zu belegen. Dort, wo die Autorin über das Material<br />
hinausgeht, sind ihre Thesen oft nicht begründet<br />
oder belegt. So z.B. in ihrer Behauptung, daß das Versprechen,<br />
die Hausarbeit könne durch Technisierung reduziert<br />
werden, "lediglich eine neue Form der Verschleierung" (98)<br />
darstelle. Hier fände ich anstelle der Verkündung von<br />
"Wahrheiten" Forschungsfragen interessanter.<br />
Gisela Heinrich (Hamburg)<br />
Pust, Carola, Petra Reichert, Anne Wenzel u.a.: Frauen in<br />
der BRD. Beruf, Familie, Gewerkschaften, Frauenbewegung.<br />
VSA-Verlag, Hamburg 1983 (224 S., br.)<br />
Die Autorinnen der Sozialistischen Studiengruppen (SÖST)<br />
wollen mit ihrem Buch eine Bilanz ziehen, "wie sich die Situation<br />
von Frauen in diesem Land in den letzten 30 Jahren<br />
in Erwerbstätigkeit, Ausbildung, Alter, Familie, Gewerkschaft,<br />
Politik und Frauenbewegung entwickelt und verändert<br />
hat" (9). In ihrer die Untersuchung leitenden These gehen<br />
sie davon aus, daß die Situation der bundesdeutschen Frauen<br />
"durch einen eigentümlichen Widerspruch charakterisiert"<br />
(7) ist: Auf der einen Seite gebe es Frauendiskriminierung,<br />
auf der anderen Seite habe sich die Situation der Frauen in<br />
den letzten 30 Jahren erheblich verändert, gleich verbessert.<br />
Diese Verbesserungen der gesellschaftlichen Situation<br />
der Frau sollen anhand empirischer Daten aufgezeigt werden.<br />
Da die Autorinnen davon ausgehen, daß "Frauenarbeit Lohnarbeit<br />
ist" (12) und die "Berufstätigkeit von Frauen weitgehend<br />
gesellschaftlich anerkannt ist" (10) beziehen sie ihre<br />
Untersuchung nicht auf die generelle Arbeitssituation von<br />
Frauen in Hausarbeit und Lohnarbeit, sondern lediglich auf<br />
ihre Situation in der Erwerbsarbeit, zu der sich ihre Arbeit<br />
in Haus und Familie als "Doppelbelastung" addiert. Die<br />
Leserin/der Leser findet denn auch im 1.-3. Kapitel reichlich<br />
empirisches Material (Statistiken, Umfrageergebnisse)<br />
über die Entwicklung der Erwerbspersonen, der Erwerbsstruktur,<br />
der Qualifikations- und Einkommensstruktur und über<br />
die Situation alter Menschen/Frauen. <strong>Das</strong> vorgestellte Material,<br />
auch in dieser Zusammenstellung, ist bekannt und findet<br />
sich sogar in einer Broschüre des Bundesfamilienministeriums<br />
"Frauen '80" (1980). Problematisch ist die Interpretation<br />
des empirischen Materials durch die Autorinnen;<br />
dies will ich anhand des Kapitels 1.4. Lohndiskriminierung<br />
aufzeigen: Anscheinend ungeprüft werden Üntersuchungsergebnisse<br />
von J. Langkau (Lohn- und Gehaltsdiskriminierungen<br />
von Arbeitnehmerinnen in der Bundesrepublik Deutschland,<br />
Bonn 1979) übernommen. Dieser behauptet, daß die Einkommensdiskriminierung<br />
von Frauen um 66% (1976) geringer wäre,<br />
würden Frauen eine genauso lange Wochenarbeitszeit haben<br />
DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83
Hausarbeit-Lohnarbeit 177<br />
wie Männer. Dies klingt zwar plausibel, kann jedoch nicht<br />
die Lohndiskriminierung in den Bruttostundenlöhnen erklären,<br />
da in den bundesdeutschen Statistiken nur Vollzeitbeschäftigte<br />
berücksichtigt werden, d.h. unterschiedliche Arbeitszeiten<br />
in die Berechnungen nicht miteinfließen. Desweiteren<br />
führen die Autorinnen vereint mit J. Langkau die<br />
Lohndiskriminierung auf die mangelnde Qualifikation von<br />
Frauen zurück. Auch diese These ist nicht haltbar, denn mit<br />
steigender Qualifikation nimmt die Lohndiskriminierung der<br />
Frauen zu, wie auch das hier angeführte statistische Material<br />
(46, Tab. 8) zeigt.<br />
Der Versuch der Autorinnen, nur noch Reste von Diskriminierungen<br />
im Erwerbsleben zu erklären, kann als gescheitert<br />
bezeichnet werden: Carola Pust u.a. unternehmen hier nicht<br />
einmal den Versuch, die in den letzten Jahren innerhalb der<br />
sozialistisch-feministischen bzw. feministischen Bewegung<br />
entwickelten Thesen zu den Ursachen der Frauenunterdrückung<br />
zur Kenntnis zu nehmen oder sie, wenn auch ablehnend, aufzuarbeiten.<br />
Für die Autorinnen reduzieren sich die Erfolge<br />
der autonomen Frauenbewegung (das sei "bürgerliche Frauenbewegung"<br />
, wie anhand der Leserinnenumfrage von Emma und<br />
Courage "belegt" wird) auf ein gewandeltes Körperbewußtsein:<br />
"Jazz-Gymnastik, Jogging, Aerobic und verschiedenste<br />
Diätvorschläge sind die sichtbarsten Äußerungen eines gewandelten<br />
Körperbewußtseins" (195). Die Auseinandersetzung<br />
der Frauen um selbstbestimmte Sexualität und Verhütung und<br />
um die Sexualisierung der Körper auf "Brigitte-Rezeptvorschläge"<br />
zu reduzieren, muß als Unverschämtheit zurückgewiesen<br />
werden. Es reicht den SOST-Autorinnen aus, auf die<br />
Thesen von Marx, Engels und Zetkin zurückzugreifen: Frauendiskriminierung<br />
ist der Nebenwiderspruch zum Hauptwiderspruch<br />
von Kapitel und Arbeit. Die notwendige Analyse der<br />
gesellschaftlichen Arbeitsteilung unter den Bedingungen der<br />
geschlechtsspezifischen Diskriminierung der Frauen reduziert<br />
sich <strong>für</strong> die SOST-Frauen auf eine Untersuchung der<br />
Doppelbelastung der Frauen. Diese existiert aus der Sicht<br />
dr SÖST nur deshalb noch, weil die kapitalistische Gesellschaft<br />
nicht genug Einrichtungen wie z.B. Kindergärten zur<br />
Verfügung gestellt hat, um die berufstätige Frau zu entlasten.<br />
Daß die erwerbstätige Frau doppelbelastet ist, weil<br />
der Ehe-Mann keine bzw. fast keine Hausarbeit erledigt,<br />
bleibt unerwähnt. Gleichzeitig kommen die Autorinnen zum<br />
Ergebnis, daß sich die Doppelbelastung in den letzten Jahren<br />
erheblich verringert hat, da die Familie an Bedeutung<br />
verloren (Single- und Wohngemeinschaftsbewegung) und die<br />
Technisierung des Haushalts die Hausarbeit verkürzt habe.<br />
Tätigkeiten wie Kochen und Wohnungsherrichtung hätten von<br />
daher eine neue Dimension bekommen: "Der Wunsch, sich ein<br />
'Zuhause' zu schaffen, das man sich nach seinem Geschmack<br />
und den eigenen Bedürfnissen einrichten, und wo man sich<br />
wohlfühlen kann, ist Ausdruck der entwickelteren Persönlichkeit"<br />
der Frau (141). Der Zusammenhang von Frauendis-<br />
DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83
178<br />
Ökonomie<br />
kriminierung und Sexualität wird von den Autorinnen auf<br />
diesen Satz reduziert: "Der hohe Anteil von Vergewaltigungen<br />
und ihre Verharmlosung, von sexueller Gewalt auch in<br />
der Ehe, sowie 'Bewältigungsversuche ', die irl körperlicher<br />
und seelischer Mißhandlung ihren Ausdruck finden, sind Fakten,<br />
über deren Verbreitung nur unsichere Vermutungen bestehen,<br />
die aber in ihrer Ausbreitung nicht geringgeschätzt<br />
werden dürfen" (151). Was tut Frau also, um "noch" vorhandene<br />
Diskriminierung abzubauen? Sie geht lohnarbeiten und<br />
kämpft in den Gewerkschaften um die Abschaffung des Hauptund<br />
Nebenwiderspruchs.<br />
<strong>Das</strong> Buch ist all denen zu "empfehlen", die die Erkenntnisse<br />
und Diskussionen der feministischen und sozialistischen<br />
Frauenbewegung nicht zur Kenntnis nehmen oder die<br />
sich wieder einmal richtig ärgern wollen.<br />
Sigrid Pohl (Berlin/West)<br />
Eckert, Roland (Hrsg.): Geschlechtsrollen und Arbeitsteilung.<br />
Mann und Frau in soziologischer Sicht. C.H. Beck'sehe<br />
Verlagsbuchh., München 1979 (308 S., br.)<br />
Die vorliegende, laut Untertitel "soziologische" Sammlung<br />
von Einzelbeiträgen steht im Zusammenhang mit zwei<br />
weiteren Sammelbänden, die biologische und psychologische<br />
Forschungsschwerpunkte einer Studiengruppe "Geschlechtsrollen"<br />
im Rahmen der Werner-Reimers-Stiftung dokumentieren.<br />
Hier sollen nur die im engeren Sinne soziologisch-psychologisch<br />
argumentierenden Beiträge besprochen werden.<br />
Welche Aussagen zum Stellenwert der Geschlechterrollen<br />
und zu deren Begründung - sowohl in der gesamtgesellschaftlichen<br />
als auch in der familiären Arbeitsteilung - tragen<br />
nun zur Analyse von Frauendiskriminierung bei oder weisen<br />
darüber hinaus Wege zur politischen und sozialen "Befreiung"?<br />
Einschränkend muß noch der relativ veraltete Diskussionsstand<br />
in diesem Sammelband (1979) angemerkt werden,<br />
der die inzwischen verstärkt eingetretenen Restriktionen<br />
auf politischer und finanzieller Ebene noch nicht mitreflektieren<br />
kann. Von entgegengesetzten Positionen hinsichtlich<br />
der Geschlechtsrollen gehen R. Eckert (Geschlechtsrollen<br />
im Wandel gesellschaftlicher Arbeitsteilung) und E.<br />
Beck-Gernsheim (Männerrolle, Frauenrolle ...) aus, um paradoxerweise<br />
am Ende zu den gleichen Ergebnissen zu kommen.<br />
Für R. Eckert ist die gesellschaftliche Arbeitsteilung<br />
Grundlage auch <strong>für</strong> die geschlechtsspezifischen Normen in<br />
Beruf und Familie. Geschlechtsrollen wiederum lassen sich<br />
aus seiner Sicht letztlich immer auf die auf biologischen<br />
Voraussetzungen beruhenden Produktions- und Reproduktionsaufgaben<br />
reduzieren und mithin auch nicht aufheben. Zum<br />
Problem wird ihm aber das Phänomen des Abbaus geschlechtsspezifischer<br />
Rollenvorgaben, der zunehmenden Individualisierung<br />
bei den privilegierten Klassenfraktionen und die<br />
damit verbundenen Unsicherheiten und Risiken <strong>für</strong> die Gültigkeit<br />
des gesellschaftlichen Normensystems. Seine Vermu-<br />
DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83
Hausarbeit-Lohnarbeit 179<br />
tung, daß die durchschnittliche Orientierung an den traditionellen<br />
Geschlechterrollen wegen des relativ hohen Niveaus<br />
dieser Veränderungsprozesse nicht tangiert werde,<br />
veranlaßt R. Eckert zu der Folgerung, daß insofern eine<br />
langfristige und dauerhafte Änderung des Wertesystems auch<br />
nicht zu erwarten sei. Im Unterschied dazu stellt E. Beck-<br />
Gernsheim fest, daß durch die seit den 60er Jahren ins Wanken<br />
geratenen Rollendefinitionen im Phänomen der Aussteiger,<br />
der angestiegenen Scheidungsziffern auf Betreiben der<br />
Frauen, der Eroberung gehobener Berufspositionen von Frauen<br />
das Modell geschlechtlicher Rollendifferenzierung nicht<br />
mehr durchgängig aufrechtzuerhalten sei. Die geschlechtsspezifische<br />
Arbeitsteilung aber ist es, die nach E. Beck-<br />
Gernsheim letztlich eher eine Zementierung als weniger eine<br />
Auflösung der traditionellen Geschlechterrollen bewirke -<br />
womit sie zum gleichen Schluß wie R. Eckert kommt. Hinsichtlich<br />
einer differenzierenden Analyse des Begriffs "Geschlechterrolle"<br />
auf Basis funktionierender Stereotype im<br />
Sinne von reflexiven Vorverständnis widmet sich B. Neuendorff-Bub<br />
den Themen "Biographie, intellektuelles Lösungsverhalten,<br />
kommunikatives Verhalten, soziales Handeln" und<br />
weist hier interessante Details nach. Die <strong>kritische</strong> Auseinandersetzung<br />
mit dem funktionalistischen Konzept geschlechtstypischer<br />
Arbeitsteilung nach Parsons und Bales (1966) von<br />
B. Zahlmann-Willenbacher bestätigt nur die in diesem Band<br />
so oft festgestellte Unveränderlichkeit der Geschlechterstereotype<br />
auf Basis der Lebensbedingungen westlicher Industriegesellschaften.<br />
Ihre Kritik an der Einteilung in die<br />
expressive (=weibliche) und instrumentelle (=männliche)<br />
Rolle macht sie lediglich an den empirisch nicht so schematisch<br />
aufteilbaren Verhältnissen in Familie und Beruf und<br />
im kulturellen Vergleich fest, ohne aber das Rollenmodell<br />
als solches selbst anzugreifen.<br />
Außer beobachtbaren Abgrenzungen und Überschneidungen<br />
von weiblicher Hausarbeit mit Erwerbsarbeit kommen explizite<br />
Konzepte zum Thema "Arbeitsteilung" eigentlich in allen<br />
hier betrachteten Beiträgen nicht vor; es werden zwar subjektiv-individuelle<br />
Bewußtseinsprozesse analysiert, deren<br />
Konkretisierung im Arbeitsvollzug erscheint aber auf diesem<br />
Hintergrund nur mehr als Folgewirkung, weniger aber als integrativer<br />
Bestandteil der wissenschaftlichen Verarbeitung<br />
selbst. Lediglich B. Neuendorff-Bub führt aus (94-96), daß<br />
der wachsende politisch-ökonomische Druck auf dem Arbeitsmarkt,<br />
die gering qualifizierende Schul- und Berufsausbildung<br />
und die von ihnen wenig getragenen Betrieb^- und Interessenvertretungen<br />
die Frauen weiter benachteiligen wird;<br />
wenigstens hier werden die bestehenden Bedingungen der Erwerbsarbeit<br />
<strong>für</strong> Frauen beim Namen genannt und von dieser<br />
Ebene her mit den spezifisch weiblichen Sozialisationsmustern<br />
verknüpfbar.<br />
Insgesamt gesehen ist dieser Sammelband geeignet zum<br />
Studium der angesprochenen Themen in der psychologisch aus-<br />
DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83
180 Ökonomie<br />
gerichteten Sozialisationsforschung, weniger aber kann er<br />
als Orientierungshilfe gelesen werden, die Frauen in ihrem<br />
täglichen Kampf um persönliche und berufliche Identität gebrauchen<br />
können. Gisela Hartwieg (Berlin/West)<br />
Beck-Gernsheim, Elisabeth: Der geschlechtsspezifische Arbeitsmarkt.<br />
Zur Ideologie und Realität von Frauenberufen.<br />
Campus Verlag, Frankfurt/M. 2 1981 (182 S., br.)<br />
Während die Autorin in ihrem letzten Buch "<strong>Das</strong> halbierte<br />
Leben" (1980, rez. in: "<strong>Das</strong> <strong>Argument</strong>", Beiheft 82) sich und<br />
den Frauen die persönlich-politische Frage stellte: Was<br />
bringt uns der Beruf - was nimmt er uns? (12), so geht sie<br />
in der hier in 2. Auflage vorliegenden Untersuchung in eher<br />
definitorischer Absicht dem Thema des weiblichen Arbeitsvermögens<br />
generell, seiner Konstitution (Kap. II), seinen<br />
beruflichen Charakteristika (Kap. III, 1) und seiner gesellschaftlichen<br />
Struktur (Kap. III, 2) nach. Elisabeth<br />
Beck-Gernsheim sucht einen neuen Erklärungsansatz <strong>für</strong> Inhalte<br />
und Besonderheiten des weiblichen Arbeitsvermögens,<br />
indem sie von der Diskrepanz formaler gesellschaftlicher<br />
Gleichheit bei faktisch bestehender sozialer Diskriminierung<br />
ausgeht. In vier Thesen (9-12) wird das Grundkonzept<br />
der vorliegenden Studie umrissen: 1. Nicht die Sozialisationsprozesse,<br />
sondern die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung<br />
ist Ursache <strong>für</strong> die sekundäre Bedeutung der weiblichen<br />
Berufsarbeit; 2. geschlechtsspezifische Orientierungen<br />
und Dispositionen bestimmen die berufliche Situation der<br />
Frau; 3. die gegensätzlichen Anforderungen von beruflichem<br />
Aufstiegs- und Karrieremuster und familiär-privaten Bedürfnissen<br />
führen zu Konflikten der Frau in Berufs- und Hausarbeit;<br />
4. und zentrale These: "Frauen ... besitzen ... stärker<br />
als Männer ein Engagement zu arbeitsinhaltlicher Aufgabenerfüllung,<br />
daß sie deshalb weniger als Männer über Fähigkeiten<br />
verfügen, Einkommens-, Status- und Karriereinteressen<br />
durchzusetzen. <strong>Das</strong> hieße: Gerade die Bereitschaft und<br />
Fähigkeit der Frauen, andere Personen und ihre Bedürfnisse<br />
wahrzunehmen und ihre Arbeit daran auszurichten, führt -<br />
über ihre betriebliche Nutzung und berufliche Einpassung -<br />
zu den zahlreichen Formen ihrer beruflichen Unterprivilegierung"<br />
(11-12).<br />
Diesen Thesen folgt der Aufbau der Untersuchung: <strong>Das</strong><br />
weibliche Arbeitsvermögen als vorrangig reproduktionsbezogenes,<br />
weniger aber als berufsorientiertes Ergebnis der Sozialisation<br />
in Familie und Schule (Kap. II) findet seinen<br />
Ausdruck in typischen Formen der Berufsauffassung und Berufspraxis<br />
von Frauen (Kap. III, 1). Daraus leiten sich<br />
wiederum typische Strukturmerkmale von Frauenberufen ab;<br />
Fähigkeiten wie Personenbezogenheit, Hilfsbereitschaft und<br />
Mitmenschlichkeit werden von der Autorin als inhaltliche<br />
Momente herausgearbeitet, deren sozialer Stellenwert mit<br />
Begriffen wie "geschäftsfördernde Fassade" (138) und "Festschreibung<br />
einer geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung<br />
DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83
Hausarbeit-Lohnarbeit 181<br />
zwischen anordnenden und ausführenden Funktionen" (139) bewertet<br />
werden. Die eigentlich gesellschaftliche Ebene ihres<br />
Themas erreicht die Autorin erst mit den Kap. III, 2,' 2<br />
(Sozialstatus von Frauenberufen) und Kap. III, 3 ("Geschlechtswandel"<br />
von Berufen): Hier stellt sie eine Parallelität<br />
von beruflicher Hierarchisierung und geschlechtsspezifischer<br />
Verteilung im Bereich des beruflichen Spektrums<br />
fest. Ursachen dieser Phänomene glaubt sie im Vorrang<br />
inhaltlicher Aufgabenbearbeitung vor berufsständischer Interessenvertretung<br />
zu erkennen. Bei der Frage nach den Ursachen<br />
beruflicher Diskriminierung macht sich m.A. nach das<br />
überwiegende sozialisationstheoretische Erkenntnisinteresse<br />
der Autorin bemerkbar; sie führt die geringere Disposition<br />
der Frauen zu organisierter und subjektiver Interessenvertretung<br />
hauptsächlich auf die Sozialisationsmerkmale weiblicher<br />
Arbeit (vgl. Kap. II) zurück. Im gleichen Maße hätte<br />
hier aber vom gesellschaftlichen Interesse an einer primären<br />
Festlegung der Frau auf die Reproduktionsfunktionen und<br />
am Charakter beruflicher Frauenarbeit als billige und verschiebbare<br />
"Reservearmee" die Rede sein müssen, die sich<br />
aus den Verwertungszwängen kapitalistischer Produktionsweise<br />
ergibt und die sich als ständige Revolutionierung der<br />
Produktionsmittel, als Absorption und Repulsion von Arbeitskräften<br />
und als entsprechend veränderte Anforderungen<br />
auch auf das weibliche Arbeitsvermögen niederschlagen. Zwar<br />
benennt die Autorin an mehreren Stellen den geringen<br />
Tauschwert des weiblichen Arbeitsvermögens und sieht ihn<br />
auch als wesentliches Merkmal der gesellschaftlichen Bewertung<br />
von Frauenarbeit an, hat ihn aber merkwürdigerweise<br />
auf der Ebene beruflicher Bedeutung von Frauenarbeit wieder<br />
aus den Augen verloren und schon gar nicht mehr im Blick<br />
hinsichtlich seiner politischen Konsequenzen (Frauen in<br />
Parteien, Gewerkschaften, Verbänden, Selbsthilfe?). Seinerzeit<br />
(1976) neu und heute noch lohnend <strong>für</strong> genauere Ausarbeitung<br />
sind die Überlegungen der Autorin zum "Geschlechtswandel"<br />
von Berufen (Kap. III, 3) im Zusammenhang mit veränderten<br />
Berufsinhalten und entsprechend auf- bzw. abgewertetem<br />
Sozialstatus von Frauen: Die familiär-reproduktionsbezogenen<br />
Berufe wie Krankenpflege, Schul- und Bibliotheksdienst<br />
werden in ihrem Sozialstatus dann angehoben, wenn<br />
eine "Maskulinisierung" stattfindet, ebenso wie sich bei<br />
der Einführung neuer Technologien in Verwaltungsberufen<br />
(Post, Bank) der dequalifizierte Teil zu einer "weiblichen",<br />
der höher qualifizierte Teil zu einer "männlichen" Tätigkeit<br />
entwickelt. Leider fehlt hier der Versuch, die beschriebenen<br />
Phänomene auch auf ihre ökonomischen Ursachen<br />
hin zurückzuführen, sondern die Darstellung verbleibt auf<br />
der Erklärungsebene von männlich-weiblichen Dispositionen<br />
oder karrierebezogenen-berufsinhaltlichen Strukturbeschreibungen<br />
.<br />
Wenn auch von der politischen und ökonomischen Seite her<br />
manches offen bleibt, so eröffnet diese erste Untersuchung<br />
DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83
182<br />
Ökonomie<br />
von Elisabeth Beck-Gernsheim doch einen sozialisationstheoretisch<br />
begründeten und empirisch fundierten Zugang zum<br />
weiblichen Arbeitsvermögen. Gisela Hartwieg (Berlin/West)<br />
Yohalem, Alice M. (Hrsg.): Die Rückkehr von Frauen in den<br />
Beruf. Maßnahmen und Entwicklungen in fünf Ländern. Verlag<br />
Neue Gesellschaft, Bonn 1982 (262 S., br.)<br />
Eine interessante, vergleichende Studie über die Rückkehr(-möglichkeiten)<br />
von Frauen ins Erwerbsleben in Frankreich,<br />
Großbritannien, Schweden, der Bundesrepublik Deutschland<br />
und den USA. Die die Untersuchung leitende These ist,<br />
daß sich die Rolle der Frau in den entwickelten Industriestaaten<br />
im letzten Jahrzehnt gewandelt hat und die Frauen<br />
deshalb nach einer Phase der Nichterwerbstätigkeit - die<br />
häufig mit der Eheschließung oder spätestens mit der Geburt<br />
des ersten Kindes beginnt - verstärkt ins Erwerbsleben zurückkehren<br />
oder erstmals den Arbeitsmarkt betreten wollen.<br />
Diese These knüpft an das von A. Myrdal und V. Klein in den<br />
50er Jahren entwickelte 1 Drei-Phasen-Modell 1 an. Mit Ausnahme<br />
der schwedischen Autorinnen wird in den Aufsätzen die<br />
gesellschaftliche Zuweisung der Frau auf die Hausarbeit und<br />
Kindererziehung weder thematisiert noch als Diskriminierung<br />
der Frau kritisiert. Es geht den anderen Autor (en) innen um<br />
eine Untersuchung und um Vorschläge, wie die spezifische<br />
Situation von Frauen - Hausarbeit und Erwerbsarbeit miteinander<br />
verbinden zu wollen - verbessert werden kann.<br />
Die Autorinnen gehen davon aus, daß eine international<br />
vergleichende Studie nur dann erfolgreich sein kann, wenn<br />
einerseits gleiche Fragen und Probleme erörtert, andererseits<br />
aber auch die nationalen Besonderheiten herausgearbeitet<br />
werden. Um dies zu gewährleisten, wurden neben der<br />
Auswertung von statistischem und institutionellem Material<br />
auch Interviews durchgeführt und in die Untersuchung mit<br />
einbezogen.<br />
In den fünf Aufsätzen werden folgende Komplexe untersucht:<br />
"- Ausmaß des Ausscheidens von weiblicher Arbeitskraft<br />
aus dem Erwerbsleben sowie des Wiedereintritts und<br />
Neueintritts von Frauen ins Erwerbsleben, - spezielle Probleme,<br />
auf die die verschiedenen Gruppen der Rückkehrerinnen<br />
stoßen, - programmatische Reaktionen spezifischer Art<br />
innerhalb des Rahmens der nationalen Beschäftigungspolitiken<br />
als Antwort auf diese Probleme und - Empfehlungen mit<br />
dem Ziel, die Rückkehr in den Beruf zu fördern" (5).<br />
Aus dem vorgestellten umfangreichen empirischen Material<br />
läßt sich jedoch nur sehr bedingt eine Bestätigung der Arbeitsthese<br />
herauslesen: Während in den USA und Großbritannien<br />
die Frauen ihr Leben tatsächlich nach dem 'Drei-Phasen-Modell'<br />
zu organisieren versuchen (die Erwerbsquote der<br />
25-35jährigen Frauen sinkt um ca. 15%punkte (um 1975) und<br />
steigt wiederum 13-15%punkte bei den über 35jährigen Frauen),<br />
gibt es <strong>für</strong> die BRD, Schweden und Frankreich keine Bestätigung<br />
der These. In diesen drei Ländern gilt, daß die<br />
DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83
Hausarbeit-Lohnarbeit 183<br />
Zahl der Frauen, die ihre Erwerbsarbeit mit der Eheschließung<br />
bzw. der Geburt des ersten Kindes aufgeben, abnimmt<br />
und daher die Erwerbsquote von Frauen auf einem relativ hohen<br />
Niveau (Schweden 19,77 um 75%, BRD 1976 um 52%, Frankreich<br />
1975 um 50% - neueres Zahlenmaterial, was angesichts<br />
der steigenden Arbeitslosigkeit in all diesen Ländern interessant<br />
wäre, wird nicht geboten -) verbleibt und dann<br />
mit zunehmendem Alter der Frauen (35 und. älter) langsam<br />
sinkt.<br />
trotz dieser, von der Untersuchung ungenügend beachteten<br />
Differenzierung der Ergebnisse, ist es <strong>für</strong> frau interessant<br />
zu erfahren, welche familien- und arbeitsmarktpolitischen<br />
Maßnahmen in anderen Ländern ergriffen werden, um die Erwerbsarbeit<br />
von Frauen zu fördern bzw. welche Forderungen<br />
in diesen Ländern von Frauen erhoben werden. Mit Ausnahme<br />
von Schweden gilt <strong>für</strong> alle untersuchten Länder, daß sich<br />
die Arbeitsmarktpolitik an den Bedürfnissen der (jungen)<br />
Männer orientiert; daß es kaum oder keine spezifischen Fördermaßnahmen<br />
<strong>für</strong> Frauen gibt, ja daß die vorhandenen Maßnahmen<br />
sich teilweise gegen die Frauen richten (z.B. das<br />
Arbeitsförderungsgesetz in der BRD, nach dem nur diejenigen<br />
gefördert werden, die direkt vor der Förderung erwerbstätig<br />
waren, also Hausfrauen nicht). Ganz anders in Schweden:<br />
Dort wird die Erwerbsarbeit von Frauen z.B. durch Quotenregelungen<br />
und Subventionspolitik, aber auch durch familienpolitische<br />
Maßnahmen wie Elternurlaub, Kampf der geschlechtsspezifischen<br />
Arbeitsteilung und Erziehung gefördert,<br />
was jedoch nicht heißt - wie die Autorinnen deutlich<br />
machen -, daß es in Schweden keine geschlechtsspezifische<br />
(Arbeitsmarkt-)Diskriminierung mehr gibt.<br />
<strong>Das</strong> Buch gibt eine Menge Anregungen und Hinweise <strong>für</strong><br />
mögliche, die Diskriminierung von Frauen angehende Politikforderungen<br />
- z.B. Arbeitslosenhilfe <strong>für</strong> alle, die eine Erwerbsarbeit<br />
suchen, d.h. auch <strong>für</strong> Hausfrauen. Diese erwerben<br />
ihren Anspruch auf Arbeitslosenhilfe durch ihre Hausarbeitsleistung<br />
-, was <strong>für</strong> uns in der gegenwärtigen "Wende"-<br />
Situation von besonderem Interesse ist.<br />
Sigrid Pohl (Berlin/West)<br />
Kurbjuhn, Maria und Carola Pust: Emanzipation durch Lohnarbeit?<br />
Eine Untersuchung über Frauenarbeit im öffentlichen<br />
Dienst. Berlin Verlag Arno Spitz, Berlin/West 1983 (278 S.,<br />
br. )<br />
Die vorliegende Studie trägt zwar einen Titel in Frageform,<br />
entpuppt sich dann aber als ein eher affirmativ wirkendes<br />
Werk zum Thema Bewußtseins-Konstituierung aus den<br />
Sozialistischen Studiengruppen (SÖST), diesmal variiert in<br />
der Tonart "Frauen": <strong>Das</strong> Gesellschaftsbewußtsein der Lohnabhängigen<br />
insgesamt reflektiert den kapitalistischen Widerspruch<br />
zwischen den restriktiven Arbeitsbedingungen einerseits<br />
und den entwickelten Möglichkeiten der menschlichen<br />
Persönlichkeit andererseits, hier "modifiziert" um die<br />
DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83
184<br />
Ökonomie<br />
Tatsache, daß die besonderen Verhaltensweisen und Wahrnehmungsstrukturen<br />
der lohnarbeitenden Frauen noch um ein<br />
Vielfaches widersprüchlicher erscheinen und ein besonderes<br />
Spannungsverhältnis bilden. Frauen sehen ihre Doppelbelastung<br />
durch Familie und Beruf, ihre Benachteiligung bei<br />
Aufstieg und Karriere, ihr Defizit an wirklicher Freizeit<br />
und persönlichen Interessen, sie erkennen ihre gesellschaftliche<br />
Passivität, ohne daß daraus Engagement <strong>für</strong> die<br />
kollektive Interessenvertretung und <strong>für</strong> politisches Handeln<br />
entsteht. Welche Erklärungen können die Autorinnen zu diesen<br />
Phänomenen beitragen, die sie hier als empirische Untersuchung<br />
vorgelegt haben? Welche Ergebnisse lassen sich<br />
aus den Antworten ablesen, die auf ca. 70 Interviewfragen<br />
von 104 weiblichen Angestellten der Vergütungsgruppen BAT<br />
VIII-Vc im <strong>Berliner</strong> öffentlichen Verwaltungsdienst gegeben<br />
wurden?<br />
Nach der Lektüre der "theoretischen Vorbemerkungen" ahnt<br />
man/frau es schon: verblüffend wenige. Schon der grundlegende<br />
Gedankengang verheißt nichts Gutes: "FUr die weiblichen<br />
Lohnabhängigen ergeben sich darüber hinaus (über das<br />
widersprüchliche Gesellschaftsbewußtsein hinaus, G.H.) spezifische<br />
Modifikationen ihrer sozialen Lage, da sie die Berufstätigkeit<br />
unter anderen Voraussetzungen als die männlichen<br />
Lohnabhängigen verrichten" (29). Also nur von der<br />
männlichen Normalität her lassen sich die weiblichen "Modifikationen"<br />
in ihrem systematischen Zusammenhang erkennen?<br />
Die Frau - ein "abgeleiteter" Mann? - Schnell weiter zum<br />
empirischen Teil. Die hier herausgearbeiteten Differenzierungen<br />
zwischen Verwaltungsangestellten einerseits und<br />
Schreibkräften andererseits entlang der Linie: qualifiziertere<br />
Ausbildung/Berufstätigkeit - weniger traditionelle<br />
Vorurteile, weniger Familienfixiertheit, mehr persönliche<br />
und berufliche Motivation und Flexibilität führen zum Ergebnis,<br />
daß das gesellschaftspolitische Engagement (hier<br />
gemeint: Aktivitäten in Gewerkschaften und Frauenbewegung)<br />
fast durchweg nicht vorhanden ist. Trotzdem insistieren die<br />
Autorinnen auf einem umfassenden gewerkschaftlichen Forderungskatalog<br />
zum Ausweg <strong>für</strong> die Frauen aus dieser Misere<br />
(232ff.): bessere Ausbildungs- und Aufstiegbedingungen,<br />
mehr soziale Leistungen, Teilzeitarbeit, Mischarbeit, frauengerechte<br />
Tarifpolitik. So dringend diese Forderungen auch<br />
zu stellen wären, so wenig ist doch eine derartige Politik<br />
dann durchsetzbar, wenn lohnarbeitende Frauen als Betroffene<br />
offenbar eine aktive Mitarbeit in der Gewerkschaft <strong>für</strong><br />
sich selbst ablehnen, wie es in den Interviewantworten herauskommt.<br />
Hier hätten die Untersuchenden ihre Voreingenommenheit<br />
<strong>für</strong> gewerkschaftliche Lösungen selbst hinterfragen<br />
können: Setzen die Frauen im öffentlichen Dienst ihre Interessen<br />
am Arbeitsplatz nicht auf ganz andere Weise durch?<br />
Zum Beispiel durch inoffizielle bedürfnisgerechte Arbeitseinteilung<br />
und Vertretung auf Kollegenebene, durch Beeinflussung<br />
der Personalratsarbeit (die in der Untersuchung<br />
DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83
Hausarbeit-Lohnarbeit 185<br />
völlig ignoriert wird), durch Intrigen und Tricks auf allen<br />
im öffentlichen Dienst zwanghaft gehüteten Hierarchie-Ebenen?<br />
Egal, wie diese (Überlebens-)Strategien am Arbeitsplatz<br />
auch persönlich und politisch zu bewerten sein mögen,<br />
den etwas grobmaschigen Fragen der Untersuchung sind hier<br />
viele interessante Tatsachen zum Thema Gesellschaftsbewußtsein<br />
entgangen.<br />
Leider ist auch die erhobene Spannungs- und Widerspruchsstruktur<br />
der Aussagen zu Beruf und Familie allzusehr<br />
mechanisch nur als ein "Einerseits-andererseits" interpretiert,<br />
ohne daß überhaupt einmal der Versuch einer Rekonstruktion<br />
von Zusammenhängen gemacht worden wäre. Es fehlt<br />
so ganz die systematische Verweisung auf sozialisationsbedingte<br />
Wahrnehmungsweisen und Charakterstrukturen, auf das<br />
Vorhandensein emotionaler Bedürfnisse oder auch auf die besonderen<br />
Arten weiblicher Konfliktbewältigung, die eben das<br />
immer wieder beschworene "Widersprüchliche" der getrennten<br />
Lebenssphären . als zusammengehörig und kohärent <strong>für</strong> die<br />
Frauen erscheinen läßt. Mögen diese vielleicht typisch<br />
weiblichen Bewußtseinsstrukturen auch als "widersprüchlich"<br />
klassifizierbar sein, so scheinen sie doch eher geeignet,<br />
einen angemesseneren Zugang zu den Interview-Aussagen zu<br />
eröffnen, als es die im anderen Zusammenhang erarbeiteten<br />
Bewußtseinstheorien des SÖST vermöchten. Mögliche Ergebnisse<br />
im Sinne weiblicher Spezifität des Wahrnehmens und Denkens<br />
wurden eher verstellt, denn es kommt im empirischen<br />
Teil nichts anderes heraus als das, was nach den "theoretischen<br />
Vorbemerkungen" nicht schon hätte gewußt werden können.<br />
Schade! eine weniger "patriarchalisch" argumentierende<br />
Untersuchung wäre dem interesanten Thema angemessener gewesen.<br />
Gisela Hartwieg (Berlin/West)<br />
Thomas, Carmen (Hrsg.): Die Hausfrauengruppe oder Wie elf<br />
Frauen sich selbst helfen. Frauen aktuell, Rowohlt Taschenbuch<br />
Verlag, Reinbek 1983 (156 S., br.)<br />
<strong>Das</strong> Buch ist schon in vierter Auflage erschienen, in<br />
33 000 Exemplaren. Es gibt also einen großen Bedarf, vielleicht<br />
nicht nur, aber vermutlich doch auch, von Hausfrauen,<br />
sich miteinander zu organisieren. In dèt^ elf Berichten<br />
der Frauen dieser Gruppe erzählen sie allé, daß es ihr<br />
Wunsch war, aus ihrem engen familiären Kreis herauszutreten<br />
und neue Erfahrungen zu machen. Dabei ist es gleichgültig,<br />
ob sie studiert haben (die wenigsten) oder nach der Hauptschule<br />
eine Berufsausbildung machten (die meisten). Ihr Leben,<br />
wie sie es beschreiben, hat einen sehr gemeinsamen<br />
Verlauf: In Kleinfamilien groß geworden (ausnahmsweise nur<br />
bei der Mutter), meist ein Geschwisterkind, verunsichernde<br />
Schulzeit, meist lustlos, von Vater oder Mutter zur Berufsausbildung<br />
gedrängt, meist gegen den eigenen Berufswunsch<br />
- dann irgendwann, früher oder später, meist Mitte 20, lernen<br />
sie "ihren Mann" kennen. Irgendwie war das immer schön,<br />
großes Glück und Erfüllung von Träumen. Meist "kommt" nach<br />
DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83
186 Ökonomie<br />
wenigen Jahren das erste Kind und scheint zunächst das<br />
Glück vollkommen. Ist es dann aber nicht, wird schnell Gewohnheit,<br />
einsam, langweilig, immer dasselbe. Fast alle beschreiben<br />
selbstkritisch, wie sie nur noch ein Thema haben,<br />
den Mann langweilen, sich unterfordert fühlen.<br />
Kindererziehung ist das Thema. Einige Frauen treten darüber<br />
nach draußen, schulen sich in Mütterfortbildungskursen,<br />
beraten sich mit anderen Müttern, lesen Bücher, engagieren<br />
sich im Elternbeirat des Kindergartens. Gegen das<br />
Gefühl der Unterforderung und Langeweile suchen die meisten<br />
wieder Erwerbsarbeit, finden aber nicht den ersehnten Anschluß<br />
an andere. "Es blieb oberflächlich." Die Frauengruppe<br />
wird als Wende beschrieben, als Vorstoß, wirklich etwas<br />
zu tun, über den "Hausfrauentratsch" hinauszukommen.<br />
Nur eine der Frauen sagt, sie komme aus der Arbeiterklasse.<br />
Sie ist zugleich die einzige, die die Reaktionen<br />
des Mannes auf die Frauengruppe als ablehnend beschreibt.<br />
Bei den anderen scheinen die Männer mehr oder weniger aufgeschlossen,<br />
loben gar die Veränderung, welche die Frau in<br />
der Gruppe durchmache, als förderlich <strong>für</strong> interessantere<br />
Gespräche und eine gleichberechtigtere Partnerschaft. Die<br />
Frauen räumen den Männern in ihrem Buch Platz <strong>für</strong> Stellungnahmen<br />
ein, fünf nutzen das. Sie bestätigen die Partnerschaftsförderung<br />
durch die Frauengruppe. <strong>Das</strong> Lob von Louis<br />
sagt vielleicht nicht nur etwas über Männererwartungen ein<br />
die Frauenbewegung, sondern auch über die Zahmheit dieses<br />
Konzeptes hier: "Die Hausfrauengruppe als neue Tanzschule<br />
der Nation ist wichtig: Erst Lernschritte miteinander in<br />
der Gruppe und dann Lernschritte zueineinder in der jeweiligen<br />
Partnerschaft: ein Pas de deux der Befreiung" (113).<br />
Katharinas Bericht hat mir am besten gefallen. Sie<br />
schreibt streng gegen sich selbst und in einer <strong>für</strong> Frauenpolitik<br />
ungeheuer ermutigenden, spontan-gesellschaftlichen<br />
Weise. Als sie ihre zwei behinderten Töchter (sie können<br />
nicht sprechen und nicht gehen) in ein Heim gibt, fällt sie<br />
in ein "Loch". "Ich wollte in dem Gefühl der Belastung verharren,<br />
weil es mir so vertraut war, und weil ich glaubte,<br />
es meinen Kindern schuldig zu sein" (52). "Ich kann nur sagen,<br />
daß es keinen Zweck hat, sich in seine Wohnung zu verkriechen<br />
und über die eigenen Probleme zu grübeln ... Es<br />
hat auch keinen Zweck, ständig die Gesellschaft anzuklagen<br />
und Hilfe zu fordern" (54). In der Frauengruppe ist <strong>für</strong> sie<br />
das Problem, daß sie nicht wußte, "wohin mit Händen und<br />
Füßen, und ich wünschte mir dauernd einen schönen großen<br />
Tisch" (52). <strong>Das</strong> Rollenspiel, welches im Zentrum der Gruppenaktivitäten<br />
steht, interessiert sie "mehr in Richtung<br />
Theater - Laienspiel. Andererseits war es jedoch die Suche<br />
nach einer Möglichkeit, mehr aus meinem Leben zu machen, zu<br />
lernen, selbst bestimmen zu können, nicht nur zu reagieren<br />
oder zu resignieren" (53). Die meisten Frauen beschreiben<br />
nur abstrakt, daß sie "selbstbewußter", "sicherer" und "offener"<br />
geworden seien dank der Rollenspiele. Sie hätten ge-<br />
DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83
Zur Werttheorie bei Marx<br />
187<br />
lernt, daß es in jeder Situation mehrere Verhaltensmöglichkeiten<br />
gäbe. <strong>Das</strong> brachte sie zu immer mehr Verständnis vieler<br />
Verhaltensweisen. Dieses "Verstehen" liegt Uber allen<br />
Darstellungen wie eine dicke Wolke, auch wenn gesagt wird,<br />
sie hätten das Streiten gelernt. Auch die Herausgeberin<br />
wird von den anderen verstanden, daß sie Uber ihr privates<br />
Leben schweigt, weil sie im öffentlichen tätig ist. Insgesamt<br />
verging mir beim Lesen nicht das Gefühl, mehr einer<br />
Zähmung als einer Befreiung beizuwohnen. Zunächst dachte<br />
ich, leidvolle Erfahrungen bei Befreiungsanstrengungen seien<br />
einfach ausgespart - aber vielleicht kamen sie gar nicht<br />
vor? Vielleicht ist das "Rollenspiel" fUr Frauengruppen,<br />
was die Sozialgesetzgebung von Bismarck <strong>für</strong> die deutsche<br />
Arbeiterbewegung war: die Versöhnungsstrategie im Geschlechterkampf!?<br />
Hannelore May (Berlin/West)<br />
Zur Werttheorie bei Marx<br />
Lippl, Marco: Value and Naturalism in Marx. New Left Books,<br />
London 1979 (136 S., br.)<br />
Steedman, Ian, u.a.: The Value Controversy. Verso Editions,<br />
London 1981 (300 S., br.)<br />
Lippi versucht, einem breiteren Leserkreis die <strong>kritische</strong>n<br />
Implikationen der mathematischen Reformulierung der<br />
Marxschen ökonomischen Lehre vorzustellen. Spätestens Sraffa<br />
hat gezeigt, daß Produktionspreise und Durchschnittsprofitrate<br />
ohne Bezug auf Werte bestimmt werden können. Damit<br />
muß die Rolle der Werttheorie bei Marx neu überdacht werden,<br />
denn sie hat keine Funktion bei der Preisbestimmung<br />
mehr und das traditionelle Problem der Transformation von<br />
Werten in Produktionspreise ist hinfällig. Lippi mustert<br />
Inhalt und Intention der Marxschen Kapitalismuskritik auf<br />
ihre Abhängigkeit von der Arbeitswertlehre hin durch und<br />
kommt zu dem Resultat, daß sich die letztere ohne Schaden<br />
<strong>für</strong> den Rest der <strong>Theorie</strong> opfern läßt.<br />
Er fragt weiter, warum Marx so zäh an der Arbeitswertlehre<br />
festgehalten habe. Schließlich habe sie schon <strong>für</strong><br />
Marx ersichtlich keine unmittelbar empirische Relevanz besessen,<br />
sondern lange Konstruktionen abverlangt, die die<br />
Reduktion von faktischen Preisen auf verausgabte Arbeit ermöglichen<br />
sollten. Lippi erklärt sich Marx' Starrsinn aus<br />
dessen Naturalismus, der zu dem "unhaltbaren Versuch (führt),<br />
das Wertgesetz aus Beobachtungen Uber die Produktion im<br />
Allgemeinen zu deduzieren" (130), d.h. ein historisch spezifisches<br />
Gesetz aus einem überhistorischen Naturgesetz<br />
herzuleiten. <strong>Das</strong> Naturgesetz besteht aus der "Idee, daß Arbeit<br />
die wirklichen Kosten der produzierten Güter konstituiert"<br />
(63), und der Naturalismus aus der Anwendung dieser<br />
Idee auf die Erklärung von Preisen. Marx muß demgemäß "ver-<br />
DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83
188 Ökonomie<br />
suchen, die wirklichen Tauschwerte auf Arbeit zu reduzieren.<br />
Dann kann die Preisbildung, sowohl hinsichtlich der<br />
einheitlichen Verteilung der Profite als auch hinsichtlich<br />
der Bestimmung des kommerziellen Profits als das Resultat<br />
einer Umverteilung des Gesamtmehrwerts ... verstanden werden"<br />
(ibd.). Dieser Erklärungsgang führt direkt in die<br />
Sackgasse des falsch gestellten Transformationsproblems.<br />
Für Lippi schließt sich ein Kreis: Der Marxsche Naturalismus<br />
ist <strong>für</strong> den vergeblichen Versuch verantwortlich, Preise<br />
aus Werten abzuleiten, und muß von dieser Konsequenz her<br />
als brüchige Grundlage einer ansonsten bewahrenswerten,<br />
weil <strong>kritische</strong>n <strong>Theorie</strong> preisgegeben werden.<br />
Soweit der Kern der <strong>Argument</strong>ation von Lippi. Im Gegensatz<br />
zu anderen "Sraffa-Marxisten" operiert er in einem<br />
Problemhorizont, in dem es über die Aufgabe der Preisbestimmung<br />
hinaus um die Funktionen der Wertlehre <strong>für</strong> die<br />
Marxsche <strong>Theorie</strong> insgesamt geht. Erst in einem solchen Rahmen<br />
kann überprüft werden, was von dieser <strong>Theorie</strong> als hinfällig<br />
gelten muß, wenn denn die Wertlehre nicht repariert<br />
werden kann. Mit der Öffnung dieses Problemhorizonts hat<br />
sich Lippi aber übernommen. Abgesehen vom Naturalismusvorwurf<br />
blendet er alle philosophischen und gesellschaftstheoretischen<br />
Fragen der Fundierung der Wertlehre aus. Zudem<br />
läßt sich jener Vorwurf selbst nur aus einem Steckenbleiben<br />
in einer engen fachökonomischen Sichtweise verstehen, in<br />
der sich beide Seiten in der Sraffa-vs.-Marx-Debatte eines<br />
naiven Wertbegriffs bedienen. Arbeitswerte werden in linearen<br />
Produktionsmodellen mit Hilfe der Fiktion berechnet,<br />
als seien Produkte in einem physischen Sinne Resultat allein<br />
von Arbeit. Kritiker wiesen daher darauf hin, daß man<br />
mit dem gleichen Verfahren Produkte auch als Vergegenständlichungen<br />
von Erdnüssen darstellen könne. Worauf die Anhänger<br />
der Arbeitswertlehre zü erwidern wußten, daß Arbeit eine<br />
besondere Rolle spiele, weil allein Arbeitsmengen die<br />
"wirklichen gesellschaftlichen Kosten" einer Produktion<br />
wiedergäben. Dieses Konzept der "wirklichen Kosten" hält<br />
Lippi <strong>für</strong> naturalistisch und unterstellt es bei Marx, auch<br />
als Grundlage der kapitalismusspezifischen Werttheorie.<br />
Nun mag man Lippi zustimmen, daß Marx so etwas wie ein<br />
Naturgesetz der gesellschaftlichen Produktion kennt, wonach<br />
es einen Zwang zur Arbeit und ihrer Proportionierung gibt.<br />
Trotzdem greift der NaturalismusVorwurf nicht, weil Marx<br />
aus der Trivialität, daß die Menschheit als Gattung auf Aneignung<br />
der Natur durch Arbeit (noch?) angewiesen ist, keine<br />
kapitalismusspezifischen Gesetze ableitet.<br />
Tatsächlich kritisiert Lippi den vorgeblichen Marxschen<br />
Naturalismus auch nicht direkt, sondern von seinen Konsequenzen<br />
her, den Schwierigkeiten mit der Arbeitswertlehre<br />
als Basis <strong>für</strong> die Preisbestimmung. Wer diese Schwierigkeiten<br />
noch nicht zur Kenntnis genommen hat, kann sich anhand<br />
dieses Buches gut informieren. Wer auf der Suche nach dem<br />
Naturalismus bei Marx ist, sollte lieber woanders suchen.<br />
DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83
Zur Werttheorie bei'Marx<br />
189<br />
Wer den Naturalismus in der ökonomischen <strong>Theorie</strong> kritisieren<br />
will, könnte bei Lippi und anderen Freunden der Auffassung<br />
anfangen, daß die Kenntnis der Gebrauchswertstruktur<br />
der Produktion und einer Verteilungsvariablen ausreiche, um<br />
Preise zu erklären.<br />
Ian Steedman hat in seinem Buch "Marx after Sraffa"<br />
(1977) die an Sraffa orientierte Marx-Kritik schärfer und<br />
ausführlicher vorgetragen als Lippi. Die Diskussion um dieses<br />
Buch gab Anlaß zu der Konferenz 1978 in London, aus der<br />
die elf Aufsätze der vorliegenden Sammlung hervorgingen.<br />
Obwohl die Kontroverse um die Marxsche Arbeitswertlehre anhält,<br />
bietet die Sammlung mit z.T. direkt auf einander bezogenen<br />
Beiträgen einen guten Überblick Uber das Spektrum<br />
der Auffassungen. Offenbar waren alle Autoren zudem gehalten,<br />
ihre <strong>Argument</strong>e ohne den sonst Üblichen Aufwand an mathematischer<br />
Formalisierung vorzutragen, so daß die aus der<br />
Arbeitsteilung zwischen mathematischen Ökonomen und sonstigen<br />
marxistischen Sozialwissenschaftlern geborene Ignoranz<br />
der letzteren hinsichtlich der Kritik der ersteren an<br />
Grundlagen der Marxschen <strong>Theorie</strong> fortan ohne Entschuldigung<br />
bleibt - es sei denn, man fällt nicht nur angesichts von<br />
Formeln in Ohnmacht, sondern liest auch kein Englisch.<br />
Nach Steedman (11-19) ist die Arbeitswertlehre nicht nur<br />
inkonsistent (wegen der falschen Bestimmung der allgemeinen<br />
Profitrate und damit der Preise), sondern auch redundant,<br />
weil Mengen von vergegenständlichter Arbeit <strong>für</strong> die Preisbestimmung<br />
keine Rolle spielen. Schließlich hat fUr Steedman<br />
und seine Mitstreiter (Hodgson und Bandyopadhyay) die<br />
Arbeitswertlehre auch keine exklusive Funktion in der Begründung<br />
von Ausbeutung. Die Existenz von Ausbeutung läßt<br />
sich ohne Rekurs auf Werte aufzeigen, wie Cohen (202-223)<br />
mit viel pseudostrengem Scharfsinn demonstriert. Aus all<br />
dem folgt <strong>für</strong> Steedman et al., daß die Arbeitswertlehre gerade<br />
im Interesse einer materialistischen Kapitalismuskritik<br />
endlich ad acta gelegt werden muß. Gegen Rettungsversuche,<br />
die den unterstellten Begriff von Arbeitswert <strong>für</strong> zu<br />
naiv halten, um so weitreichende Folgen zu transportieren,<br />
formuliert Steedman noch eine Herausforderung: "Wenn Marxisten<br />
in der Absicht, Marx' Werttheorie zu regten, alle Verbindungen<br />
zwischen Marx' 'Werten' und Menget verkörperter<br />
Arbeit leugnen, kommen sie in große Schwierigkeiten ...<br />
Verteidiger der Marxschen Werttheorie müssen erst noch zeigen,<br />
daß es einen Mittelweg gibt zwischen deren Öffnung gegenüber<br />
der oben entfalteten Kritik einerseits und ihrer<br />
Entleerung von jeglichem Inhalt andererseits" (18).<br />
Dieser Mittelweg könnte dort gesucht werden, wo die<br />
Funktion der Werttheorie über die (unstrittig von Marx beabsichtigte)<br />
Funktion einer Grundlegung der Preisbestimmung<br />
hinausgeht. Allerdings muß dann geklärt werden, wieweit die<br />
letztere Funktion nicht Voraussetzung ist <strong>für</strong> die Plausibilität<br />
des Wertbegriffs insgesamt. In den Beiträgen der<br />
Marx-Verteidiger (Sweezy, Itoh, de Vroey, Mohun/Himmelweit,<br />
DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83
190 Ökonomie<br />
Shaikh) wird diese Frage oft nur implizit aufgeworfen, obwohl<br />
ein gemeinsamer Grundtenor in dem Verweis auf die<br />
"qualitativen" Aspekte der Wertlehre besteht. Für Sweezy<br />
münden diese qualitativen Aspekte in der Eigenschaft der<br />
Marxschen <strong>Theorie</strong> der kapitalistischen Entwicklung als "histoire<br />
raisonée". Für Wright bestehen sie (u.a.) in der Affinität<br />
von Wert- und Klassentheorie, wobei letztere beim<br />
Arbeitsprozeß und den Produktionsverhältnissen, nicht à la<br />
Weber bei Marktpositionen ansetze. Itoh meint, daß in der<br />
ganzen Kontroverse der Marxsche Begriff von Form und Substanz<br />
des Werts unverstanden geblieben sei, um dann selbst<br />
Unverständliches über den "aus Wertformen zusammengesetzten<br />
Warenmarkt" (168) zu äußern. De Vroey setzt sich von einem<br />
Verständnis des Werts als "bloßer Verkörperung von Arbeit"<br />
ab und bezieht den Wertbegriff auf "die Anerkennung von<br />
Privatarbeit" (176). Himmelweit/Mohun hängen an der bei den<br />
Sraffianern nicht präsenten Unterscheidung zwischen abstrakter<br />
und konkreter Arbeit das prinzipielle <strong>Argument</strong><br />
auf, wonach in der Marx-Kritik als logische Widersprüchlichkeit<br />
erscheine, was in Wirklichkeit ein Widerspruch<br />
zwischen Werten und ihrem Ausdruck als Produktionspreise<br />
sei (261). Shaikh betont, daß der Kategorie der abstrakten<br />
Arbeit eine Realabstraktion in Austausch und Produktion <strong>für</strong><br />
den Austausch zugrunde liege. Er schließt daraus auf die<br />
reale Präsenz und Determinationskraft des Werts (273). Im<br />
übrigen ist Shaikh der einzige wirklich orthodoxe Marx-Verteidiger,<br />
<strong>für</strong> den es wie <strong>für</strong> Steedman keinen Mittelweg gibt<br />
zwischen der Bewahrung der wesentlichen Erklärungsansprüche<br />
von Marx und der Annahme der sraffianischen Kritik. Deshalb<br />
hält er an der Stichhaltigkeit der Wertgrößenbestimmung<br />
fest und geht zum Gegenangriff über, indem er den Sraffianern<br />
ein affirmatives Verhältnis zur neoklassischen<br />
Gleichgewichtstheorie vorhält.<br />
Ersichtlich wird, daß die Marx-Verteidiger im Gegensatz<br />
zu den Kritikern keine einheitliche <strong>Argument</strong>ation anbieten,<br />
schon gar nicht eine, die die Einheit der Marxschen Lehre<br />
bewahren könnte. Neben eher diskreditierenden Rettungsversuchen<br />
à la Wright (dessen Eklektizismus von Hodgson und<br />
Bandyopadhyay genußvoll demonstriert wird), finden sich<br />
aber Interpretationen der Werttheorie, die die Debatte zumindest<br />
offenhalten können. Ob deren Ausgang allerdings zur<br />
Rettung der Marxschen Werttheorie als Grundlage einer Bestimmung<br />
von Produktionspreisen im Gleichgewicht führen<br />
wird, kann mit guten Gründen bezweifelt werden.<br />
Heiner Ganßmann (Berlin/West)<br />
DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83
Preisverzeichnis der rezensierten Bücher<br />
(alphabetisch nach Autoren/Herausgebern mit S e i t e n a n g a b e )<br />
Achten/Krupke<br />
( m )<br />
Adolph<br />
(156)<br />
AG Elternarbeit (113)<br />
Alves<br />
( 81)<br />
Amendt 1979<br />
(136)<br />
Amendt 1982<br />
(123)<br />
Anz/Stark<br />
(105)<br />
Arnold<br />
Arzberger<br />
Asmus<br />
Atteslander<br />
( 93)<br />
( AI)<br />
(136)<br />
( 39)<br />
Becker<br />
(106)<br />
Beck-Gernsheim (180)<br />
Beiträge<br />
( 30)<br />
Börger u.a.<br />
( 63)<br />
Börsch<br />
Bösel<br />
( 74)<br />
(115)<br />
Borneman<br />
Brackert/Stückrath<br />
Brand<br />
Brandes/Schön<br />
( 1 6 8 )<br />
( 85)<br />
( 17)<br />
( 26)<br />
Brenner<br />
Brinker-Gabler<br />
Bütler/Häberlin<br />
Burns/van der Will<br />
Caudmont<br />
Coulmas<br />
Cousins<br />
Droescher<br />
( 1 0 8 )<br />
( 34)<br />
( 29)<br />
(146)<br />
( 67)<br />
( 70)<br />
(123)<br />
( 73)<br />
Dunayavskaya ( 9)<br />
Dybowski u.a. ( 24)<br />
Eckert<br />
(178)<br />
Elster<br />
( 55)<br />
Fehrmann<br />
(131)<br />
Gerhardt<br />
( 76)<br />
Grüber<br />
( 43)<br />
Guadelupe Martinez ( 51)<br />
Hansen<br />
(119)<br />
Hausen<br />
(166)<br />
Henkel/Taubert (151)<br />
Hoffmann u.a. ( 95)<br />
Hollstein<br />
( 14)<br />
Holz 1980<br />
( 60)<br />
Holz 1982<br />
( 60)<br />
Honegger/Heintz (162)<br />
Hübner<br />
(153)<br />
Jaeggi<br />
(123)<br />
Kaiser<br />
(149)<br />
Kentier<br />
(124)<br />
je<br />
je<br />
je<br />
39,— D U Kimmerle<br />
38,—0M Kittler<br />
39,— D M Klotz u.a.<br />
10,— DM Kocyba<br />
12,80DM Koebner<br />
19,60DM Krechel<br />
85,— DM Kofier<br />
17,50DM Kunstmann<br />
32,— DM Kurbjuhn<br />
16,80DM Léger<br />
26,—DM Lippi<br />
16,80DM L öh<br />
24,— DM Marcus-Tar<br />
14,— D M Maschewsky/Schneider<br />
29,80DM Masini<br />
38,-0« Matzner<br />
28,—DM Mehlich<br />
16,80DM Meyer<br />
14,80DM Moltke/Visser<br />
22,80DM Morgner<br />
14,80DM Moser u.a.<br />
68,— DM Naumann<br />
12,80DM Nohke/Oeter<br />
28,5Sfr Palazzoli<br />
19,80DM Peukert<br />
68,— DM Pinding/Fischer-H.<br />
10,—DM Poniatowska<br />
6,80DM Pust u.a.<br />
54,—OM Rosellini<br />
10,95 $ Sanders<br />
8,—DM Soeffner<br />
19,80DM Sozialist. Erziehung<br />
54,—DM Schenk<br />
8,80DM Schläpfer<br />
10,80DM Schmidt, B.<br />
14,80DM Schmidt, S.J. ( 87)<br />
12,80DM Schorske<br />
29,—DM Steedman u.a.<br />
22,—DM Steigerwald<br />
29,80DM Thomas<br />
6,50DM Unseld<br />
16,—0M Wagner<br />
10,—DM Wahl u.a. 1980<br />
15,— DM Wahl u.a. 1982<br />
29,80DM Warner<br />
19,80DM Wilson<br />
8,80DM Yohalem<br />
118,—DM Zago<br />
5,80DM Zahn<br />
( 53) 18,—DM<br />
(172) 16,—DM<br />
(110) 21,— DM<br />
( 57) 22,—DM<br />
( 97) 18,—DM<br />
( 13) 12,80DM<br />
( 25) 12,80DM<br />
(124) 9,80DM<br />
(183) 25,-DM<br />
( 8) 33,— FF<br />
(187) 7,50 £<br />
( 46) 6,80DM<br />
( 99) 58,— DM<br />
(134) 44,—DM<br />
( 90)<br />
( 38)<br />
( 20)<br />
(174)<br />
( 44)<br />
( 83)<br />
( 64)<br />
(160)<br />
(141)<br />
(141)<br />
(157)<br />
(132)<br />
( 47)<br />
(176)<br />
( 91)<br />
( 65)<br />
( 69)<br />
(159)<br />
( 33)<br />
( 67)<br />
(120)<br />
42,- u<br />
(102)<br />
(187)<br />
( 2 2 )<br />
(185)<br />
(103)<br />
(101)<br />
(113)<br />
(113)<br />
(169)<br />
(117)<br />
(182)<br />
( 49)<br />
( 78)<br />
7000Lire<br />
58,—OM<br />
68,-Sfr<br />
26,— DM<br />
24,— DM<br />
38,—DM<br />
24,80DM<br />
18,—DM<br />
28,—DM<br />
38,—DM<br />
24,80DM<br />
38,— D M<br />
24,80DM<br />
16,80DM<br />
14,80DM<br />
29,80DM<br />
42,—DM<br />
8,50DM<br />
16,80DM<br />
36,—OM<br />
38,—DM<br />
48,—DM<br />
78,—DM<br />
4,95 £<br />
14,80DM<br />
5,80DM<br />
28,—DM<br />
32,—DM<br />
7,80DM<br />
18,-^üM<br />
42,—DM<br />
39,— DM<br />
58,— DM<br />
5,—DM<br />
46,80DM<br />
DAS ARGUMENT-BEIHEFT '83
ARGUMENT — STUDIENHEFTE SH<br />
SH 1<br />
SH<br />
SH<br />
SH<br />
SH<br />
SH 6<br />
SH 7<br />
SH 8<br />
SH 9<br />
SH 10<br />
SH 11<br />
SH 12<br />
SH 13<br />
SH 14<br />
SH 15<br />
SH 16<br />
SH 17<br />
SH 18<br />
SH 19<br />
SH 20<br />
SH 21<br />
SH 22<br />
SH 23<br />
SH 24<br />
SH 25<br />
SH 26<br />
SH 27<br />
SH 28<br />
SH 29<br />
SH 30<br />
SH 31<br />
SH 32<br />
SH 33<br />
SH 34<br />
SH 35<br />
SH 36<br />
SH 37<br />
SH 38<br />
SH 39<br />
SH 40<br />
SH 41<br />
SH 42<br />
SH 43<br />
SH 44<br />
SH 45<br />
SH 46<br />
SH 47<br />
SH 48<br />
SH 49<br />
SH 50<br />
SH 51<br />
SH 52<br />
SH 54<br />
SH 55<br />
SH 56<br />
SH 57<br />
SH 58<br />
SH 59<br />
Altvater/Haug/Herkommer/<br />
Holzkamp/Kofler/Wagner<br />
Friedrich Tomberg<br />
M. v. Brentano<br />
W.F. Haug<br />
Wolfgang Abendroth<br />
Mason/Czichon/Eichholtz/<br />
Gossweiler<br />
Heinz Jung<br />
Haug/Vöiker/Zobl<br />
Thomas Metscher<br />
Dreltzel/Furth/Frigga Haug<br />
Erich Wulff<br />
Volkmar Sigusch<br />
Peter Fürstenau<br />
Heydorn/Konneffke<br />
Frigga Haug<br />
Friedrich Tomberg<br />
Thomas Metscher<br />
Michael Neriich<br />
Warneken/Lenzen<br />
W.F. Haug<br />
Axel Hauff<br />
BdWi/Marvin/Theißen/<br />
Voigt/Uherek<br />
Erich Wulff<br />
Gleiss/Heintei/Henkei/<br />
Jaeggi/Maiers/Ohm/Roer<br />
Reinhard Opitz<br />
SchnSdelbach/Krause<br />
Eisenberg/Haberland<br />
Werner Krauss<br />
Tjaden/Grlepenburg/<br />
KOhnl/Opitz<br />
Marcuse/Abendroth/<br />
Gollwitzer/Stolle/u.a.<br />
BdWi u.a.<br />
Helmut Ridder<br />
W.F. Haug<br />
Erich Wulff<br />
Abholz/Böker/Frie&em/Jenss<br />
Haug, Marcuse, u.a.<br />
Projekt Automation und<br />
Qualifikation<br />
D. Henkel/D. Roer<br />
H. Gollwitzer<br />
H. Gollwitzer<br />
D. Borgers (Hrsg.)<br />
G. Mattenklott<br />
Schagen u.a.<br />
Überregional. Frauenprojekt<br />
Herms/Paul<br />
F. Haug (Hrsg.)<br />
B. Kirchhoff-Hund<br />
W. D. Hund<br />
D. Herms<br />
G. Bachmann u.a.<br />
W. Goldschmidt<br />
Wulf D. Hund<br />
B. Johansen<br />
U. Schreiber<br />
Frauenredaktion (Hrsg.)<br />
Überregional. Frauenprojekt<br />
F. Heidenreich<br />
G. Wegner<br />
Wozu „Kapltar-Studium? 3,50 DM<br />
Was heiBt bürgerliche Wissenschaft? 2,50 DM<br />
Philosophie, <strong>Theorie</strong>streit, Pluralismus. 3,50 DM<br />
Kampagnen-Analysen (1). 5,00 DM<br />
Faschismus und Antlkommunismus. 2,50 DM<br />
Faschismus-Diskussion. 4,50 DM<br />
Strukturveranderungend.westdt.Arbeiterklasse.3,50DM<br />
Der Streit um Hanns Eislers »Faustus«. 3,50 DM<br />
Kritik des literaturwissenschafti. Idealismus. 2,50 DM<br />
Diskussion Ober die Rollentheorien. 4,00 DM<br />
Der Arzt und das Geld. 2,50 DM<br />
Medizinische Experimente am Menschen. 2,50 DM<br />
Zur Psychoanalyse d. Schule als <strong>Institut</strong>ion. 2,50 DM<br />
Bildungswesen im Spätkapitalismus. 4,50 DM<br />
Für eine sozialistische Frauenbewegung. 3,-50 DM<br />
Basis u. Überbau im histor. Materialismus. 4,50 DM<br />
Ästhetik als Abbildtheorie. 4,00 DM<br />
Romanistik und Antikommunismus. 3,50 DM<br />
Zur <strong>Theorie</strong> literarischer Produktion. 3,50 DM<br />
Die Einübung bürgerlicher Verkehrsformen bei Eulenspiegel.<br />
2,50 DM<br />
Die Katastrophen des Karl Valentin. 4,50 DM<br />
Die NofU - Arbeitsweise der Rechtskräfte an der Uni.<br />
5,00 DM<br />
Transkulturelle Psychiatrie. 4,50 DM<br />
Kritische Psychologie (I). 8,00 DM<br />
Der Sozialliberalismus. 5,00 DM<br />
Ideologie-Diskussion. 4,00 DM<br />
Linguistik. 3,00 DM<br />
Literaturgeschichte als geschichtl. Auftrag. 4,50 DM<br />
Faschismus-Diskussion (II). 5,00 DM<br />
Studentenbewegung - und was danach? 5,00 DM<br />
Demokratische Hochschulreform. 4,00 DM<br />
Zur Ideologie der »Streitbaren Demokratie«. 4,50 DM<br />
Ideologie/Warenästhetik/Massenkultur. 4,00 DM<br />
Psychiatrie und Herrschaft. 4,00 DM<br />
Arbeitsmedizin. 6,00 DM<br />
Emanzipation der Frau. 8,00 DM<br />
Bildungsökonomie und Bildungsreform. 8,00 DM<br />
Sozialepidemiologie psychischer Störungen. 4,00 DM<br />
Christentum/Demokratie/Sozialismus (I). 7,00 DM<br />
Christentum/Demokratie/Sozialismus (II). 7,00 DM<br />
Gesundheitspolitik und Dritte Welt. 7,00 DM<br />
Nach Links gewendet. Neuere Literatur. 4,50 DM<br />
Medizinerausbildung. 4,50 OM<br />
Frauengrundstudium. 5,00 DM<br />
Politisches Volkstheater der Gegenwart. 8,00 DM<br />
Frauen — Opfer oder Täter? Diskussion. 5,00 DM<br />
<strong>Theorie</strong>n sozialer Ungleichheit. 7,00 DM<br />
Interesse und Organisation. 7,00 DM<br />
Grundkurs Englisch. 9,80 DM<br />
Umweltfragen - Kommentierte Bibliographie (1). 7,00 DM<br />
Staatstheorien. 7,00 DM<br />
Materialien zur Staatstheorie. 7,00 DM<br />
Islam und Staat. 5,00 DM<br />
Die politische <strong>Theorie</strong> A. Gramscis. 9,80 DM<br />
Frauenpolitik. Opfer/Täter-Diskussion 2. 7.00 DM<br />
Frauengrundstudium 2. 6,00 DM<br />
Arbeiterbildung und Kulturpolitik, 9,80 DM<br />
Bauern, Kapital und Staat in Kenia. 9,80 DM
ARGUMENT-SONDERBÄNDE (AS)<br />
Die Taschenbuch-Reihe im ARGUMENT-Verlag<br />
AS 1/1 <strong>Argument</strong>-Reprint 1-17; 8,00 DM<br />
AS 1/2 <strong>Argument</strong>-Reprint 18-21; 8,00 DM<br />
AS 2 G e w e r k s c h a f t e n im Klassenkampf<br />
AS 4 E n t w i c k l u n g u. Struktur des G e s u n d h e i t s w e s e n s ; Soziale Medizin V<br />
AS 5 H a n ns Eisler<br />
AS 6 Zur <strong>Theorie</strong> des M o n o p o l s / S t a a t und M o n o p o l e I<br />
AS 7 Projekt A u t o m a t i o n und Q u a l i f i k a t i on I: A u t o m a t i o n in der BRD;<br />
18,50 DM/15,- f.Stud.<br />
AS 8 J a h r b u c h <strong>für</strong> <strong>kritische</strong> Medizin 1<br />
AS 9 Versuche <strong>kritische</strong>r A n g l i s t i k; Gulliver 1<br />
AS 10 M a s s e n / M e d i e n / P o l i t i k<br />
AS 11 Brechts Tui-Kritik<br />
AS 12 Lohnarbeit, Staat, G e s u n d h e i t s w e s e n ; Soziale Medizin VII<br />
AS 13 Kritik der F r a n k r e i c h f o r s c h u n g. H a n d b u c h<br />
AS 14 H u m a n i s i e r u n g der Lohnarbeit? Zum Kampf um die A r b e i t s b e d i n g u n g en<br />
AS 15 Kritische Psychologie II, hrsg. v. Klaus Holzkamp<br />
AS 16 Probleme der m a t e r i a l i s t i s c h e n Staatstheorie; Staat und M o n o p o l e II<br />
AS 17 J a h r b u c h <strong>für</strong> <strong>kritische</strong> Medizin 2<br />
AS 19 Projekt A u t o m a t i o n und Q u a l i f i k a t i on II: E n t w i c k l ung der Arbeit<br />
AS 20 <strong>Argument</strong>-Register 1970-1976 und Autorenregister 1959-1976;<br />
18,50 DM/f.Stud. 15,- DM<br />
AS 21 R e f o r m p ä d a g o g i k und Berufspädagogik; Schule und Erziehung VI<br />
AS 22 USA im Jahre 201; Gulliver 3<br />
AS 23 M a s s e n / K u l t u r / P o l i t i k<br />
AS 24 A n g e w a n d t e Musik 20er Jahre<br />
AS 25/26 Habermas - Darstellung und Kritik seiner <strong>Theorie</strong>, v. B. T u s c h l i n g ;<br />
33,60 DM/f.Stud. 27,60 DM<br />
AS 27 J a h rbuch <strong>für</strong> <strong>kritische</strong> Medizin 3<br />
AS 28 Forum Kritische Psychologie 3, hrsg. v. Klaus Holzkamp<br />
AS 29 Die roten 30er Jahre; Gulliver 4<br />
AS 30 Soziale Medizin VIII<br />
AS 31 Projekt A u t o m a t i o n und Q u a l i f i k a t i on III: <strong>Theorie</strong>n über A u t o m a t i o n s a r b e i t<br />
AS 32 G e s e l l s c h a f t s f o r m a t i o n e n in der G e s c h i c h t e<br />
AS 33 Englisch: Unterrichts- und Studienreform; Gulliver 5<br />
AS 34 Forum Kritische Psychologie 4, hrsg. v. Klaus Holzkamp<br />
AS 35 Alternative W i r t s c h a f t s p o l i t i k : M e t h o d i s c he Grundlagen<br />
AS 36 S t a a t s m o n o p o l i s t i s c h e r K a p i t a l i s m u s; Staat und M o n o p o l e III<br />
AS 37 J a h rbuch <strong>für</strong> <strong>kritische</strong> Medizin 4<br />
AS 38 30 Jahre Bildungspolitik; Schule und Erziehung VII<br />
AS 39 Shakespeare i n m i t t e n der Revolutionen; Gulliver 6<br />
AS 40 Projekt Ideologie-<strong>Theorie</strong>: <strong>Theorie</strong>n über Ideologie<br />
AS 41 Forum Kritische Psychologie 5, hrsg. v. Klaus Holzkamp<br />
AS 42 Musik 50er Jahre<br />
AS 43 Projekt A u t o m a t i o n und Qualifikation IV: A u t o m a t i o n s a r b e i t : Empirie 1<br />
AS 44 E u r o k o m m u n i s m u s und m a r x i s t i s c h e <strong>Theorie</strong> der Politik<br />
AS 45 Frauenformen. A l l t a g s g e s c h i c h t e n und <strong>Theorie</strong> weiblicher Sozialisation<br />
AS 46 Literatur und Politik in Irland. Sean O'Casey; Gulliver 7<br />
AS 47 M aterialistische Kulturtheorie und A l l t a g s k u l t ur<br />
AS 48 B d W i - G e s u n d h e i t s t a g u n g 1979; J a hrbuch <strong>für</strong> <strong>kritische</strong> Medizin 5<br />
AS 49 H a n d l u n g s s t r u k t u r t h e o r i e; Forum Kritische Psychologie 6<br />
AS 50 A k t u a l i s i e r u ng Brechts<br />
AS 51 Sozialliberalismus oder rechter Populismus?<br />
AS 52 Alternative W i r t s c h a f t s p o l i t i k 2: Probleme der Durchsetzung<br />
AS 53 J a h rbuch <strong>für</strong> Kritische Medizin 6<br />
AS 54 Materialistische W i s s e n s c h a f t s g e s c h i c h t e : Evolutionstheorie<br />
AS 55 Projekt A u t o m a t i o n und Qualifikation V: A u t o m a t i o n s a r b e i t , Empirie 2<br />
AS 56 Alternative U m w e l t p o l i t ik<br />
AS 57 C o m m o n w e a l t h und Dritte Welt; Gulliver 8<br />
AS 58 Die Wertfrage in der Erziehung; Schule und Erziehung VIII<br />
AS 59 Therapie; Forum Kritische Psychologie 7<br />
AS 60 Projekt Ideologie-<strong>Theorie</strong>: F a s c h i s m u s und Ideologie 1<br />
AS 61 Selbstverwaltung, Internationale Sozialismus-Diskussion 1<br />
AS 62 Projekt Ideologie-<strong>Theorie</strong>: F a s c h i s m u s und Ideologie 2<br />
AS 63 Entstehung der Arbeiterbewegung<br />
AS 64 Prävention — Gesundheit und Politik; Soziale Medizin IX<br />
AS 65 »Zweite Kultur« in England, Irland, Schottland, USA; Gulliver 9
ARGUMENT-SONDERBÄNDE (AS)<br />
Die Taschenbuch-Reihe im ARGUMENT-Verlag<br />
AS 66 H a n d l u n g s t h e o r i e — Fortsetzung; Forum Kritische P s y c h o l o g ie 8<br />
AS 67 Projekt A u t o m a t i o n und Q u a l i f i k a t i on VI: A u t o m a t i o n s a r b e i t , Empirie 3<br />
AS 68 Die I n f l a t i o n s b e k ä m p f u n g ; Alternative W i r t s c h a f t s p o l i t i k 3<br />
AS 70 Projekt Ideologie-<strong>Theorie</strong>: Bereichstheorien<br />
AS 71 Frauenstudien; Gulliver 10<br />
AS 72 H a n d l u n g s t h e o r i e , A n t h r o p o l o g i e ; Forum Kritische Psychologie 9<br />
AS 73 Organisierung zur Gesundheit; J a h r b u c h <strong>für</strong> <strong>kritische</strong> Medizin 7<br />
AS 74 Deutsche A rbeiterbewegung vor d e m F a s c h i s m u s<br />
AS 75 Die 'Ästhetik des W i d e r s t a n d s ' lesen. Über Peter Weiss; LHP 1 "<br />
AS 76 F a s c h i s m u s k r i t ik und D e u t s c h l a n d b i l d im Exilroman; LHP 2*<br />
AS 77 Alternative Medizin<br />
AS 78 Neue soziale Bewegungen und M a r x i s m u s; Internat. Sozialismus-Diskussion 2<br />
AS 79 Projekt A u t o m a t i o n und Q u a l i f i k a t i on VII: Empirie 4 * *<br />
AS 80 Projekt Ideologie-<strong>Theorie</strong>: F a s c h i s m u s und Ideologie 3 * *<br />
AS 81 Literaturdidaktik; Gulliver 11<br />
AS 82 Psychologische <strong>Theorie</strong>bildung; Forum Kritische Psychologie 10<br />
AS 83 Nachkriegsliteratur in W e s t d e u t s c h l a n d 1945-49, LHP 3'<br />
AS 84 Rethinking Ideology (engl.); Internat. Sozialismus-Diskussion 3<br />
AS 85 W e s t e u r o p ä i s c h e G e w e r k s c h a f t e n , hrsg. v. Detlev Albers<br />
AS 86 Pflege und Medizin im Streit; J a h r b u c h <strong>für</strong> <strong>kritische</strong> Medizin 8<br />
AS 87 Georg Forster in seiner Epoche; LHP 4*<br />
AS 88 Arbeiterkultur; Gulliver 12<br />
AS 89 Staatsgrenzen; Alternative W i r t s c h a f t s p o l i t i k 4<br />
AS 90 Frauenformen 2. Die Sexualisierung der K ö r p e r * *<br />
AS 91 Partei-Entstehung. Projekt Parteien-<strong>Theorie</strong>**<br />
AS 92 Literatur des 20. Jahrhunderts: Entwürfe von Frauen; LHP 5*<br />
AS 93 Kontroversen über Ideologie und Erziehung; Forum Kritische Psychologie 11<br />
AS 94 Arbeiteralltag in Stadt und Land, hrsg. v. Heiko H a u m a n n<br />
AS 95 Neue Technik und Sozialismus; Internationale Sozialismus-Diskussion 4<br />
Programm 1983<br />
AS 96 Die verborgene Frau, von Inge Stephan und Sigrid Weigel, LHP 6*<br />
AS 97 Landeskunde und Didaktik; Gulliver 13<br />
AS 98 <strong>Das</strong> Subjekt des Diskurses, hrsg. v. M. Geier/H. Woetzel<br />
AS 99 A n e i g n u n g . Leontjew; Forum Kritische Psychologie 12<br />
AS 100 A k t u a l i s i e r u ng Marx', hrsg. v. A r g u m e n t . Prokla, spw<br />
AS 101 Erfahrung und Ideologie in der Massenliteratur; LHP 7"<br />
AS 102 A m b u l a n t e Medizin/Gruppenpraxis<br />
AS 103 Kultur/Volk/Bürger, hrsg. v. J u t t a Held<br />
AS 104 Alternativen der Ö k o n o m i e — Ö k o n o m i e der Alternativen<br />
AS 105 1984; Gulliver 14<br />
AS 106 Reden und Schreiben über Praxis; Forum Kritische Psychologie 13<br />
AS 107 Arbeit und Gesundheit; J a h r b u c h <strong>für</strong> <strong>kritische</strong> Medizin 9<br />
AS 108 Literatur der siebziger Jahre, hrsg. v. G. Mattenklott/G. Pickerodt; LHP 8*<br />
AS 109 Rethinking Marx (engl.) ; Internat. Sozialismus-Diskussion 5<br />
AS 110 Frauenbewegung und A r b e i t e r b e w e g u n g<br />
AS 111 Projekt Ideologie-<strong>Theorie</strong>: Bereichstheorien 2<br />
* LHP = Literatur im historischen Prozeß, Neue Folge, hrsg. v. Karl-Heinz Götze, Jost Hermand,<br />
Gert Mattenklott, Klaus R. Scherpe, Jürgen Schutte und Lutz Winckler<br />
* " Diese Bände erscheinen Frühjahr 1983<br />
Preise: 16,80 DM/13,80 DM f.Stud. pro Band (zzgl. Versandkosten)<br />
AS-Auswahlabo: mind. 3 Bände aus der J a h r e s p r o d u k t i o n. Preis pro Band 13,80 DM/<br />
Stud. 11,80 DM (zzgl. Versandkosten). Gesondert abonniert werden können: Literatur im historischen<br />
Prozeß (LHP) mit 3 Bänden pro Jahr, Kritische Medizin, Forum Kritische Psychologie<br />
und Gulliver mit je 2 Bänden pro Jahr. A b o n n e n t e n dieser Fachreihen erhalten alle anderen<br />
AS-Bände auf W u n s c h z um Abo-Preis.<br />
<strong>Das</strong> <strong>Argument</strong>-Beiheft '79, '80, '81 und '82: jeweils ca. 100 Besprechungen der w i c h t i g s t e n<br />
wissenschaftlichen Neuerscheinungen. Je 192 S., 16,80 DM, f. Stud. 13,80 DM. A b o n n e n t e n<br />
der Zeitschrift bzw. der AS: 13,80/bzw. 11,80 DM (zzgl. Versandkosten).<br />
<strong>Argument</strong>-Vertrieb, Tegeler Str. 6, 1000 Berlin 65, Tel.: 030/4619061