36 | Podcasts Reden übers Revier: Der BROSTCAST liefert hörenswerte Versenkungen in Ruhrgebiets- Themen mit spannenden Gästen. Max Florian Kühlem stellt ihn vor. Man kann bei Podcasts grob zwischen zwei Typen unterscheiden: Es gibt Laber-Podcasts, in denen Minuten oder Stunden uferlos in assoziativen Wortgef(l)echten ertrinken – Fest & Flauschig von Jan Böhmermann und Olli Schulz ist dafür ein gutes Beispiel. Und es gibt Themen-Podcasts, die sich mit klarem Fokus und Zeitbegrenzung in ein Thema versenken – wie der BrostCast über das Ruhrgebiet. „Reden übers Revier“ heißt der Podcast der gemeinnützigen Brost-Stiftung aus Essen und Journalist Hajo Schumacher setzt für sich und seine Gäste den Rahmen von einer halben Stunde, in der man Interessantes über das Ruhrgebiet zutage fördern will. Um die Kritik gleich schon einmal vorwegzuschicken: Obwohl der Podcast „die gesamte Bandbreite der Gesellschaft abbilden“ möchte, „vielfältig, weiblich und divers“ sein will, hat die Stiftung sich aber doch für einen weißen Mann (und Boomer) als Gastgeber entschieden. Vielleicht der Einfachheit halber, weil sie mit ihm auch schon in anderen Projekten zusammengearbeitet hat. Ein bisschen unklar bleibt außerdem, welchen Bezug Schumacher eigentlich selbst zum Ruhrgebiet hat: Er ist gebürtiger Münsteraner, schrieb seine ersten Sportberichte 1979 für die Münstersche Zeitung, studierte später an der Journalistenschule München, arbeitete zehn Jahre beim Spiegel in Hamburg, wo er auch Chefredakteur des Magazins Max wurde, und lebt heute als freier Journalist in Berlin. Aber jetzt kommt’s: An der Uni Duisburg-Essen wurde er zum Doktor promoviert. Immerhin! In der ersten Folge ist der Philosoph und Bestseller-Autor Wolfram Eilenberger zu Gast, der mal ein Jahr im Ruhrgebiet gelebt hat, um es zu verstehen, „gar lieben zu lernen“. Herausgekom- Foto: Adobe Stock men ist eine Art Hassliebe, denn man könnte seine zwar wohlwollend formulierten Aussagen auch einen Rundumschlag nennen. Er beginnt mit der Tatsache, dass es das Ruhrgebiet als klar kartiertes Gebiet ja gar nicht gibt und ergeht sich in der Kritik der rückwärtsgewandten Erzählung von Bergbau-Mythen über Currywurst und Pommes-Schranke oder den Begriff Ruhri mit denen in der Region Identität konstruiert wird. Daneben gebe man viel Geld aus für Hochkultur, die rund drei Prozent der Bevölkerung interessiere. Potenzial des Ruhrgebiets Doch Eilenberger erkennt auch das Potenzial des Ruhrgebiets. Seine Schmelztiegel-Eigenschaften, die an vielen Ecken zu funktionierendem Zusammenleben unterschiedlichster Kulturen geführt habe, sein erfolgter Strukturwandel im postindustriellen Zeitalter, seine gewachsene Universitäten-Landschaft – das alles könne Vorbild für andere Metropolen sein. Immerhin! Noch optimistischer gibt sich ein anderer Gast, der zur Abwechslung mal ein echter Ruhrgebietsmensch ist: Die Journalistin Hatice Akyün Dr. Hajo Schumacher / Foto: Annette Hauschild/OSTKREUZ wurde 1969 in Ankara geboren, wuchs seit 1972 in Duisburg auf und machte ihre ersten Schreib- Schritte bei der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung. Ihre Ausführungen zum Ruhrgebiet sind eine wirkliche Liebeserklärung: Obwohl sie mittlerweile in Berlin lebt, 2011 mit dem wichtigen Theodor-Wolff-Preis für ihre „klare wie emotional argumentierte Reflexion“ über das Leben als „Vorzeigemigrantin“ ausgezeichnet wurde, hat sie den starken Wunsch, ihren Lebensabend (wenn es einmal so weit ist) wieder in Duisburg zu verbringen. So stark ist die Sehnsucht, sind die schönen Kindheitsbilder. Es ist berührend und ehrlich, wie sie den 70er- Jahre-Alltag in der Gastarbeiterfamilie beschreibt. Die Mutter wollte zu Hause keine deutsche Sprache hören und man saß immer auf gepackten Koffern, weil man „ja bald wieder zurückgehe.“ Zu Eigenständigkeit verhalfen der jungen Frau Vorbilder wie ihre Klassenlehrerin Frau Kruse: „Die trug einen Minirock, hatte kurze Haare und fuhr ihren eigenen VW-Polo. Das war ein völlig anderes Frauenbild, als ich es daheim erlebte.“ Tolle Gespräche wie das mit Hatice Akyün, die dann doch auch mal 50 Minuten dauern dürfen, machen den Brost- Cast hörenswert.
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