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Österreichische Post AG; PZ 18Z041372 P; Biber Verlagsgesellschaft mbH, Museumsplatz 1, E 1.4, 1070 Wien
www.dasbiber.at
MIT SCHARF
MÄRZ
2022
+
QUEERE MIGRAS
+
POLASCHEK IN ZAHLEN
+
DIE IMPFFLÜCHTLINGE
+
DIE
PARKPLATZ-
POSER
GETUNTE KARREN
AM KAHLENBERG
LEHRLINGE GESUCHT!
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3
minuten
mit
amaaena
Anna Antenete Hambira ist
Creative Director, Künstlerin und
Modedesignerin. Über Nacktsein,
Rassismus, „girly“ Farben und
Fashion als Therapie.
Von Amina Reifenauer-Ben Hassen (Foto und Text)
BIBER: Woher nimmst du die Inspiration
für deine Arbeit?
ANNA ANTENETE HAMBIRA: Aus
meinem Umfeld, von meinen
Freunden, aus unterschiedlichen
Subkulturen, aber auch aus meiner
Lebensgeschichte. Die nächste Kollektion
behandelt das Thema „Kindheit“.
Ich bin als Schwarze Frau in
Oberpfalz, in Bayern, aufgewachsen.
Da gehören Rassismus und
Exotisierung zum Alltag. Fragen wie
,,Woher kommst du?’’ oder ,,Darf
ich deine Haare anfassen?’’ habe
ich zu oft gehört. Durch meine
Mode therapiere ich mich selbst.
Du verwendest oft Frotteestoff und
Leinen. Was fasziniert dich gerade
an diesen Materialien?
Ich war letzten Sommer mit
Freunden am Ottensteiner Stausee.
Sonne. Baden. Nackt sein. So bin
ich auf die Idee für meine jetzige
Kollektion gekommen. Diese spielt
in einer fiktiven Poollandschaft, wo
man sich im eigenen Freundeskreis
umarmen und nah zueinander sein
kann und sich auch berühren kann,
ohne dass es sexueller Natur ist.
Am Pool brauche ich ein Handtuch.
Daher der Frotteestoff.
Und was ist mit Leinen?
Ich liebe Leinen, vor allem deswe-
gen, weil ich es cool finde, wenn
Kleidung getragen aussieht. Eine
Zeit lang bin ich immer mit komplett
weißen Outfits rausgegangen.
Mir hat es gefallen, wie man
abends gesehen hat, welchen Tag
das Outfit hinter sich hat. Da habe
ich mich hingesetzt. Hier bin ich
auf mein Knie gefallen. Dort habe
ich einen Drink verschüttet. Wenn
Kleidung durch Farbe oder Material
eine Geschichte erzählt, wird es
spannend.
In deiner aktuellen Kollektion verwendest
du Sätze wie ,,I own my
light pink’. Welche Bedeutung hat
dieser Satz?
Bei einer Ausstellung von mir kam
eine Frau auf mich zu und lobte
meine Arbeit mit rosarotem Denim
und anderen Pastellfarben. Sie
fand das cool, wie ich Farben,
die als typisch ,,girly’’ konnotiert
sind, zurückerobere und sie durch
meine Kleidung eine emanzipierte,
starke Bedeutung bekommen. So
ist die Phrase ,,I own my light pink’’
entstanden.
Wer ist Sie?
Name: Anna Antenete Hambira
Beruf: Modedesignerin
www.amaaena.com
/ 3 MINUTEN / 3
3 3 MINUTEN MIT AMAAENA
Die Designerin Anna Antenete Hambira
im Schnellinterview.
8 IVANAS WELT
Paw Patrol auf Dauerschleife – Covid-19 hat
Kolumnistin Ivana Cucujkić und ihre Familie
zum zweiten Mal erwischt.
POLITIKA
10 DIE IMPF-AUSWANDERER
Tschau mit Au: Wie Österreichs Corona-Politik
Impfgegner ins Ausland treibt.
14 „HERR POLASCHEK, WIE OFT
HABEN SIE EINEN FETZEN IN
DER SCHULE GESCHRIEBEN?“
Biber fragt in Worten, ÖVP-Bildungsminister
Martin Polaschek antwortet in Zahlen.
16 EINER, DER GANZ
GENAU HINSIEHT
Wir besuchten „Plagiatsjäger“ Stefan Weber in
seinem Salzburger Büro.
RAMBAZAMBA
20 SCHNELLER, BRATE!
Der heiße Tuning-Hotspot am
Wiener Kahlenberg.
28 COMING-OUT MIT
HINDERNISSEN
Junge, queere Migrant*innen über ihren Mut,
Normen zu durchbrechen.
34 ALTE MENSCHEN, GÖNNT
UNS DOCH EINFACH!
Warum die Generation Z der „Hustle“-Kultur
endgültig den Kampf ansagt.
14
HERR POLASCHEK, WIE VIELE GÄSTE
WAREN BEI IHRER HOCHZEIT?
ÖVP-Bildungsminister Martin Polaschek in
unserem biber Interview in Zahlen.
10
FLUCHT VOR
DER CORONA-
POLITIK
Impfgegner packen
ihre Sachen und
kehren Österreich den
Rücken zu. Wir trafen
sie vor der Abreise.
IN
38 ARBEITERKIND 3.0
AMS-Kurs und Studium statt Autos reparieren
und Handyshop: Boban Ristić ist ein
Arbeiterkind der neuen Sorte.
SPECIAL
42 GROSSES EMPOWERMENT
SPECIAL
Fünf Autorinnen aus verschiedenen
Communitys über ihren Weg zur
mehr Selbstbestimmung.
44 DIE ERSTGEBORENE
Wie Tekla Scharwaschidze die Erwartungshaltung
an sich als ältestes Kind in ihrer
georgischen Familie durchbrach.
48 „AYIP! DAS GEHÖRT SICH
NICHT!“
Über Anstand und Schande in der
kurdischen Kultur.
20
HALT MÄRZ
2022
NEED FOR
SPEED AUF
WIENERISCH
Shisha, Blaulicht,
Kickdown: Der
Kahlenberg ist der
neueste Hotspot
der illegalen
Tuning-Szene.
52 FREIGETANZT
Amina Reifenauer-Ben Hassen über ihre
Leidenschaft für Voguing und House Dance.
54 „WEIL DU EIN
MÄDCHEN BIST“
Eine anonyme Autorin klagt an, wie in ihrer
Community Mädchen in Richtung Haushalt und
Familie gedrillt werden.
56 FRAUEN, AN DIE
MISCHPULTE!
Gracia Ndona ist keine „Djane“, sondern
einfach DJ. Warum Frauen an den Turntables
das Nachtleben sicherer machen.
TECHNIK
59 KEINE ANGST VOR
CORPORATIONS
Adam Bezeczky liefert die neuesten News aus
der Welt der Technik.
42
WIR BESTIMMEN. PUNKT.
Fünf Autorinnen aus verschiedenen
Communitys berichten von ihren
persönlichen Revolutionen.
© Zoe Opratko, Cover: © Zoe Opratko
KARRIERE&KOHLE
60 DU WILLST EINE
GEHALTSERHÖHUNG?
Šemsa Salioski präsentiert die neuesten
Karrieretipps und Tricks.
66 INVESTMENT FÜR
ANFÄNGER
Investorella-Gründerin Larissa Kravitz zeigt das
große Investment-ABC für Anfänger*innen.
KULTURA
68 KULTURA NEWS
Regisseurin Ebru Tartıcı Borchers im
Kurzinterview, und mehr aktuelle Kulturtipps.
70 BEZIEHUNGSSTATUS: ANGST
Jad Turjman über die moderne, wilde
Datingwelt, der er nicht versteht, aber
verstehen will.
Liebe LeserInnen,
Wie das mit der Impfpflicht ausgeht, weiß gerade keiner: Aber eines ist
klar – Die Menschen, die stv. Chefredakteur Amar Rajković getroffen hat,
haben die Corona-Maßnahmen der Regierung satt und kehren deswegen
Österreich den Rücken. Ob Kroatien oder Bulgarien, der Lebensstandard
ist nicht so hoch wie bei uns, dafür können die Impfflüchtlinge dort „frei
und ungeimpft“ leben. S. 10
Immerhin 14 Prozent der LehrerInnen in Österreich sind (noch) ungeimpft
– das erzählt uns Neo-Bildungsminister Martin Polaschek im Interview
in Zahlen. Was denkt ihr, wie oft geht er zum Friseur? Oder wie hoch
ist die Wahrscheinlichkeit, dass er in der nächsten Regierung den
Bildungsminister stellt? Das Interview hat übrigens die erst 13-Jährige
Melina Katsioulis geführt, die bei uns vier Tage in den Redaktionsalltag
hineinschnuppern konnte. Auf S. 14
„
Sie sieht nicht ein, warum
sie den Haushalt schmeißen
muss, während ihr Bruder
chillen darf – die erst 15-Jährige
Autorin beschreibt eine
Problematik, die sich manch
Erwachsener vor Augen halten
sollte. Eindeutige Leseempfehlung!
S. “ 54
Aleksandra Tulej,
stv. Chefredakteurin
Ihnen sind Zahlen am Zeugnis nicht wichtig, Hauptsache die Anzahl der PS
stimmt. „Raser, Polizeieinsätze, illegal getunte Autos.“ Immer wieder bringt
der Boulevard Schlagzeilen zu berühmt-berüchtigten Tuning-Treffen am
Wiener Kahlenberg. Wir sind raufgefahren und wollten wissen: Wer sind
die Menschen hinter dem Lenkrad? Wie viel kosten ihre Autos? Warum
sind diese Treffen gerade seit der Pandemie so beliebt? Ab S. 20
Unser Empowerment-Special geht in die nächste Runde: der biber-
Podcast „Du bestimmst. Punkt.“ auf Spotify und Apple Music erfreut sich
großer Erfolge. Immer mehr junge Frauen wollen ihre Geschichte erzählen
und andere damit ermutigen, es ihnen gleich zu tun. Diese Geschichten
dürfen nicht ungehört bleiben, das Credo bleibt: Du bestimmst. Und zwar
immer.
Über die Kraft des Tanzes, persönliche Revolutionen, weil man als junge
Frau alles und der kleine Bruder gar nichts im Haushalt erledigt, „Ayip“
(dt.: Schande) in der kurdischen Community, den Druck, der auf den
Schultern der Erstgeborenen lastet, oder den steinigen Weg von jungen
weiblichen DJ’s. Ab S. 42
Übrigens, bald sperren die Clubs auf, der Frühling kommt und alles
wird ein bisschen leichter: Genießt diese Zeit, am besten mit der neuen
Ausgabe.
Bussis,
die Redaktion
© Zoe Opratko
6 / MIT SCHARF /
IMPRESSUM
MEDIENINHABER:
Biber Verlagsgesellschaft mbH, Quartier 21, Museumsplatz 1, E-1.4,
1070 Wien
HERAUSGEBER
Simon Kravagna
KONTAKT: biber Verlagsgesellschaft mbH Quartier 21,
Museumsplatz 1, E-1.4, 1070 Wien
Tel: +43/1/ 9577528 redaktion@dasbiber.at
marketing@dasbiber.at abo@dasbiber.at
WEBSITE: www.dasbiber.at
CHEFREDAKTEURIN:
Delna Antia-Tatić (karenziert)
STV. CHEFREDAKTEURE:
Amar Rajković und Aleksandra Tulej
CHEFREPORTERIN:
Aleksandra Tulej
FOTOCHEFIN:
Zoe Opratko
ART DIRECTOR: Dieter Auracher
KOLUMNIST/IN:
Ivana Cucujkić-Panić, Jad Turjman
LEKTORAT: Florian Haderer
ÖAK GEPRÜFT laut Bericht über die Jahresprüfung im
1. HJ 2021:
Druckauflage 78.667 Stück
Verbreitete Auflage 75.500 Stück
Die Offenlegung gemäß §25 MedG ist unter www.dasbiber.at/
impressum abrufbar.
DRUCK: Mediaprint
REDAKTION & FOTOGRAFIE:
Adam Bezeczky, Nada El-Azar-Chekh, Şeyda Gün, Amina
Reifenauer - Ben Hassen, Boban Ristic, Anna Jandrisevits,
Tekla Scharwaschidze, Semsa Salioski
VERLAGSLEITUNG :
Aida Durić
SOCIAL MEDIA:
Gracia Ndona
REDAKTIONSHUND:
Casper
BUSINESS DEVELOPMENT:
Andreas Wiesmüller
Erklärung zu gendergerechter Sprache:
In welcher Form bei den Texten gegendert wird, entscheiden
die jeweiligen Autoren und Autorinnen selbst: Somit bleibt die
Authentizität der Texte erhalten - wie immer „mit scharf“.
GESCHÄFTSFÜHRUNG:
Wilfried Wiesinger
Jeder
Anfang
bringt
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Genau so ist es bei der Jobsuche.
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und bietet mehr Möglichkeiten, einen
Job zu finden.
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In Ivanas WELT berichtet die biber-Redakteurin
Ivana Cucujkić über ihr daily life.
IVANAS WELT
Ivan Minić
BETA, DELTA, OMIKRON.
MUTTI SCHLEICHT SICH KURZ DAVON.
Quarantäne-Status: Ich brauche Ferien auf der Motorhaube
Grillhuhn, Babas Fleischtomaten und Benzin. Die
Aromamischung meiner Kindheit. Die Duftnote von
Leichtigkeit, Sommer und langen Autofahrten in
den Griechenlandurlaub. Unser alter Mazda bis zum
Dach vollgepackt mit allem, was man braucht für
zehn Tage Tsatsiki-Feeling. Da wär‘ ich jetzt gern.
Im kilometerlangen Stau, irgendwo in Makedonien.
Zwischen fünfzig anderen PKWs. Die Kolonne vor
der Grenze lang genug, um die Wartezeit für ein improvisiertes
Picknick auf der Motorhaube zu nutzen.
Doch grad als ich in das krosse Hendl beißen wollte,
das am Tag zuvor noch von Deda durch den Stall gescheucht
und für uns als Reiseproviant geschlachtet
worden war, piept es. Einmal, zweimal, dreimal. Es
hört nie wieder auf. Der Einjährige hämmert unaufhörlich
auf ein technisches Gerät ein, das er aus dem
Stapel alter Magazine, vollgeschnäuzten Feuchttüchern
und aufgerissenen Antigen-Tests fischt.
CORONA-ELTERN
Mein Tagtraum ist brutal vorbei. Statt auf Destination,
bin ich in Isolation. Zum zweiten Mal nun. Corona
hat uns wieder. Neues Jahr, neuer Buchstabe
im Corona-Alphabet. Quarantäne mit zwei Kindergartenkindern
ist ein ganz besonderer Trip. Das ist
die sarkastische, saure Arschloch-Kirsche auf der
Pandemie-Torte, die wir also jetzt auch noch schlucken
müssen.
Wir haben grad mal Quarantäne-Tag drei. Der Vierjährige
zuckt aus. Der Einjährige macht copy-paste.
Home Office? Guter Witz. Die Symptome des Virus
können allerdings nicht mithalten mit der chro-
nischen Wut und der Erschöpfung. Wut auf die Zügel
des Lebens, die mit jedem positiven Corona-Fall im
Kindergarten aus den Händen gleiten. Erschöpft vom
wochenlangen Improvisieren des Alltags. Die Ausnahme
etabliert sich zum Zustand und ich entwickle
eine stabile Aggressivität gegenüber jeder Form von
Ironie in Bezug auf diese ganze Corona-Geschichte.
Dazu fehlt mir schlicht die intellektuelle Energie. In
der Eltern-WhatsApp-Gruppe wird Revolte geübt.
Der gemeinsame Hate auf den Rest der Welt gibt
mir Halt und ersetzt grad so einige Therapiestunden.
PAW PATROL, PARADAJZ, SUPER 95
Meine ganze geistige Kraft geht drauf, als ich versuche,
diesen verdammten Kinderkanal zu programmieren.
Paw Patrol läuft darauf in Dauerschleife,
damit ich meine Alibi-Mail zu einer glaubwürdigen
Tageszeit versenden kann. Leider gelingt es mir
nicht innerhalb der Geduldspanne eines Kleinkindes
mit Suchtverhalten. Es folgt ein perfektionierter ohrenbetäubender,
schriller Quengelton. Mein Körper
erstarrt. Mein Tunnelblick sucht verzweifelt nach
Rettung. Er schweift über diesen Magazinstapel. Ich
schiebe die Windel von letzter Nacht vom Cover.
„Endlich wieder richtig Ferien.“ Ich flüchte mich an
die makedonische Grenze. In unseren Mazda. Old
School, ohne Klima. Und ohne Kindersitz. (Ist jemals
irgendein Kind der 90er in sowas gesessen?) Mama
deckt die Motorhaube. Dedas Lunchpaket und „zwei
scharfe“ für Tata. Tomaten und Abgase liegen in der
Luft. In meiner genesenen Nase. Ich lächle. Urlaub
im Kopf. Für einen Februartag in Quarantäne echt ok.
Rosen, Rakija & Kritik an: cucujkic@dasbiber.at, Instagram: @ivanaswelt
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DIE
IMPFFLUCHT
Ich kann meinen Job, aber
nicht meinen Körper wechseln.“
Nazar Argopyan zippt
sich seine blaue Arbeitsjacke
zu, überprüft die Papiere im Handschuhfach
und richtet den Turm von
Umzugskisten, der vom Beifahrerplatz
aus umzustürzen droht. Der
Himmel an diesem kalten Wintermorgen
verwandelt sich langsam von Rosa in Blau. Der Verkehr
rauscht teilnahmslos am geparkten Volvo vorbei, als würde er
gar nicht wissen, dass hier ein Kapitel endet.
Der Fahrer des Volvos, Argopyan, trägt eine hellblaue Jacke
mit schwarzen Streifen. Er sagt nicht viel. Wenn er etwas
erzählt, klingt es schnell mal philosophisch. Seine pechschwarzen
Haare haben wenig graue Mitstreiter, wenn man bedenkt,
dass der Träger 64 Jahre alt ist. Er arbeitete als Tischtennistrainer
bei der UNO. Nun verlässt Argopyan nach elf Jahren Wien.
Er folgt seiner Frau nach Sofia und will sich dort seinen
zwei Enkelkindern widmen und keinesfalls über Corona reden.
„Der Fernseher wird nicht laufen, wenn ich zu Besuch komme“,
sagt er. Er ist ungeimpft und möchte es weiterhin bleiben.
Darum kehrt er zurück, auch wenn er nicht weiß, wie er Geld
in seiner alten Heimat verdienen soll. 14 Stunden wird er am
Steuer sitzen und über Gott, die Welt und Corona nachdenken.
Er weiß zwar nicht, wie er in Zukunft Geld verdienen wird, doch
eines weiß er ganz genau: In Österreich, dem Land, in dem,
wie er sagt, der Impfstatus mehr als die körperliche Gesundheit
zählt, bleibt er keinen Tag länger.
JEDER WIRD JEMANDEN KENNEN, DER
ÖSTERREICH VERLASSEN HAT
Seit Anfang Februar gilt in Österreich die Covid-19-Impfpflicht,
erst ab Mitte März soll gestraft werden. Kanzler Nehammer
erwägt zwar mittlerweile wieder einen Rückzieher, doch das
hält die Menschen nicht mehr auf, die beschlossen haben,
Österreich den Rücken zu kehren. Ob es Hunderte oder Tausende
sind, dafür gibt es keine belastbaren Zahlen. Telegram-
Gruppen und Geschichten aus dem persönlichen Umfeld
bestätigen den Verdacht: Es werden immer mehr. Manche, wie
Argopyan, kehren zurück in die Heimat. Andere brechen auf in
Obwohl die Impfpflicht wackelt,
flüchten immer mehr Menschen
weg aus Österreich. Um „frei
und ungeimpft“ zu leben, geben
sie alles auf und nehmen eine
ungewisse Zukunft in Kauf.
Text: Amar Rajković und Celina Dinhopl (Mitarbeit)
Fotos: Zoe Opratko
ein Land, das sie vielleicht nur aus
dem Urlaub kennen. Kroatien ist
unter den Auswanderern beliebt,
aber auch Georgien oder Spanien
werden genannt, genau wie
Paraguay und Mazedonien. Über
den Messenger-Dienst Telegram
tauscht man sich aus zu Fragen wie
„Welche Krankenversicherung gilt
in Kroatien?“, „Wo gibt es Waldorfschulen außerhalb Zagrebs?“
oder „Kennt wer einen Zahnarzt in Istrien, der keinen Impfpass
verlangt?“. Alleine die Gruppe „Auswandern-Kroatien“ hat
knapp 1.300 Abonnenten, und an vielen Tagen kommen 30 bis
40 neue hinzu.
DER UNENTSCHLOSSENE
Robert * studiert Angewandte Geowissenschaften an der Montanuniversität
in Leoben. Sein Vater ist Professor, die Mutter
Juristin. Wir treffen ihn auf Zoom. Er kleidet sich schlicht, mit
dünner Weste und Blue Jeans. Er artikuliert sich gewählt und
liest „Zeit“ und „NZZ“. Robert sagt, seine Freundin lacht über
seine Ansichten und tut sie als Spaß ab. In seinem Freundeskreis
sei er einer der wenigen, die noch keine Covid-Impfung
erhalten haben. Er sagt, weder seine Partnerin noch Bekannte
oder Verwandte könnten sich vorstellen, dass er seine Drohung
wahr machen und Österreich verlassen würde. „Die Impfung
schützt vor der Omikron-Variante kaum, warum sollte ich mir
dann eine verpassen lassen?“, sagt er. „Mir ist vor allem der
Schutz anderer wichtig, deswegen lasse ich mich regelmäßig
testen, was man von den meisten Geimpften nicht behaupten
kann.“ Er ärgert sich über den Corona-Schlingerkurs der
Regierung. Österreich zu verlassen sei für Robert das allerletzte
Mittel. Dabei liebe er sein Land über alles. Er sei ein „stolzer
Patriot.“
ÜBER MISSTRAUEN UND MARIONETTEN
Argopyan freut sich auf den blauen Himmel, der ihn auf der
Fahrt in die Heimat begleiten wird. Er schätzte an Österreich
die sicheren Jobs, das gute Gehalt, die sauberen Straßen. Er
erlebte den Kommunismus in Bulgarien, das Misstrauen gegenüber
den herrschenden Eliten hat sich in seine DNA einge-
10 / POLITIKA /
/ POLITIKA / 11
Nargopyan kehrt nach Sofia zurück: Grund: Er möchte sich in
Österreich nicht impfen lassen.
brannt. Er vermutet ein abgekartetes Spiel der „mächtigen,
globalen Politik“, bei dem die österreichische Regierung nur die
Marionetten mimt.
„Es gibt viele Journalisten im Fernsehen, doch die stellen
immer dieselben Fragen. Im Internet findest du ganz andere
Meinungen zur Impfung, auch von renommierten Ärzten und
Wissenschaftlern“, sagt Argopyan. „Du musst impfen, du
musst impfen, du musst impfen“, fasst er die Botschaften in
den Mainstream-Medien knapp zusammen und winkt ab. Nun
zieht er in sein Heimatland zurück. Ohne Plan, ohne Job, aber
„frei“.
BIO-HOF IN KROATIEN
In der Telegram-Gruppe „Auswandern
nach Kroatien“ würde Argopyan viele
Befürworter finden. Die Mitglieder
scheinen genauso bunt gemischt
wie die Demoteilnehmer zu sein, die
mittlerweile fast jedes Wochenende
in Großstädten Europas gegen die
„unmenschliche Corona-Diktatur“
spazieren gehen. Der Umgangston ist
größtenteils respektvoll, nur vereinzelt
verstoßen User gegen die Netiquette.
Videos von „Impflingen“ mit schweren
Impfnebenwirkungen werden dort
wenig kommentiert. Dafür erfahren
Fragen wie „Kann man das Leitungswasser
in Kroatien trinken?“ oder
„Welche Berufe sind gefragt in Kroatien?“
reges Interesse.
Was geschieht, wenn man sich in
dieser Telegram-Gruppe als „besorgter
Vater“ ausgibt, der sich ernsthaft
In einschlägigen Telegram-Gruppen treffen
sich auswanderungswillige User, um Infos
auszutauschen.
überlegt, wegen der Impfpflicht nach Kroatien auszuwandern?
Eine Userin, sie nennt sich Kati * scheint auf jede Frage die
passende Antwort zu haben. Im privaten Chat erzählt sie, dass
sie eine in Deutschland geborene Kroatin ist. Sie und ihr Mann
leben noch in beiden Ländern. Nicht mehr lange. Kati verkauft
gerade all ihren Besitz in Deutschland, um sich ein Leben in
Kroatien zu finanzieren. Dass sie mit ihrem Mann schon mehrere
Häuser und Grundstücke im Land am Balkan besitzt, ist
sicherlich nicht von Nachteil. „Mein Mann will mit seinem Cousin
Häuser bauen und verkaufen. Ich will einen ökologischen
Hof mit kleinen Hütten zum Vermieten aufbauen“, schreibt
Kati. Ein sehr konkreter Plan, von dem andere Impfskeptiker
nur träumen können.
UNPÜNKTLICH, OHNE ZU BLINKEN
Mittlerweile hat noch eine Userin zurückgeschrieben. Sie ist,
ähnlich wie die Aussteigerin mit den Bio-Hof-Ambitionen,
Kroatin aus Deutschland. Lidija * hat sich mit ihren zwei Kindern
(10 und 12) und dem iranischstämmigen Ehemann seit sieben
Wochen in der Nähe von Zagreb angesiedelt. Er fängt bald in
einer Spedition an, sie hat ihren Job bei einer großen deutschen
Fluggesellschaft. Die Kinder gehen in eine internationale
Schule in Zagreb und sind über ihre Mutter in Deutschland
mitversichert. Das Geld für den Anfang generieren sie aus dem
Hausverkauf in Deutschland.
„Die Fahrweise der Kroaten ist etwas frech und gewöhnungsbedürftig.
Sie drängeln, ohne zu blinken, und fahren
einen ganz schön auf. Einen Unfall haben wir schon hinter
uns“, schreibt Lidija mit einem traurigen Smiley hintendran.
Außerdem sei „Pünktlichkeit nicht so ihr Ding.“ Trotzdem habe
die dreifache Mutter (der volljährige Sohn ist in Deutschland
geblieben) keine Sekunde ihre Entscheidung bereut.
Sie schreibt mir von einem anderen deutschen Pärchen,
das in ihrer Nähe lebt. Dieses pendelt noch zwischen Deutschland
und Kroatien hin und her, „werde allerdings auch irgendwann
mal kommen“, ist sich Lidija
sicher, denn „es hätte genauso wenig
Bock auf die Maßnahmen in Deutschland
wie wir.“
UNGEIMPFTE BULGAREN
In Bulgarien ist nicht mal jeder Dritte
geimpft, damit ist das Land auf dem
letzten Platz in der EU. Zum Vergleich:
Österreich liegt mit 72 Prozent im
Mittelfeld, Spitzenreiter ist Portugal
mit über 90 Prozent, Stand Ende Februar.
Wer sich in Bulgarien mit Corona
ansteckt, stirbt besonders häufig,
auch hier ist man trauriger Spitzenreiter
in der EU. Im Jahr 2021 starben in
Bulgarien so viele Menschen wie seit
100 Jahren nicht mehr.
Es gibt viele Gründe für die
Corona-Misere: „Bulgarien wurde vier
Jahrzehnte von Kommunisten regiert,
die Menschen misstrauen der Regie-
12 / POLITIKA /
rung und den staatlichen Institutionen“, sagte Thorsten Geißler,
Leiter der Konrad-Adenauer-Stiftung in Sofia, kürzlich in einem
Interview. Oft versuchten die Menschen, Corona mit „Rakya“
zu bekämpfen. Zu solchen eigenwilligen Methoden werden die
Menschen über die sozialen Medien angeleitet. Die politischen
Brandstifter komplettieren die tödliche Mischung, die dem
bulgarischen Staat momentan zu schaffen macht.
Zwei Wochen sind vergangen, seit Argopyan seine
Umzugskisten in den blauen Volvo gepackt hat. Er verbringt
fast jeden Tag mit seinen Enkelkindern, geht mit ihnen spazieren.
Am Telefon wirkt er genauso stoisch und besonnen wie in
natura. Die Schreckensmeldungen aus seiner Heimat sind ihm
egal. „Ich habe keine Angst, ich habe meine Meinung schon.“
Vor Corona sei man eben an “Grippe, Krebs und anderen
Viren“ gestorben. Na und?
Er vertraue Medien nicht, denn, „wer ist Besitzer dieser
Medien?“ Er betont immer wieder, dass er viel über Corona
nachdenke und seine Entscheidung wohl überlegt gewesen
sei. Eines Tages wird er nach Wien zurückkommen. Ein Freund
von ihm hat eine Wohnung und die kann Argopyan jederzeit
nutzen, wenn er auf Besuch ist. Ob es nur bei einem Besuch
bleibt oder ob er wieder vollbepackt mit seinem blauen Volvo-
Oldtimer die Rückreise antreten wird, steht in den Sternen.
Eines ist gewiss: Argopyan bleibt ungeimpft. ●
* Die Namen sind der Redaktion bekannt und wurden auf Wunsch der
Beteiligten geändert.
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Herr Polaschek,
wie viel Prozent
der LehrerInnen
sind ungeimpft?
Wie oft haben
Sie einen
Fetzen in
der Schule
geschrieben?
Wie viele
Semester
haben Sie Jus
studiert?
Wie viele
Stunden in
der Woche
arbeiten Sie?
Interview in Zahlen: In der Politik
wird schon genug geredet. Biber
fragt in Worten, Bildungsminister
Martin Polaschek (ÖVP)
antwortet mit einer Zahl.
0
8
75
Von Melina Katsioulis, Amar Rajković
Fotos: Zoe Opratko
8 Mal im Jahr besucht Martin Polaschek den Friseur.
2 Mal in der Woche kocht der Rechtswissenschaftler selbst.
Wie oft in
der Woche
kochen Sie?
Wie oft im Jahr
gehen Sie zum
Friseur?
In wie viel
Prozent der
Interviews
werden Sie
auf Ihre Frisur
angesprochen?
Wie viele
Gehröcke
besitzen Sie?
Wie viel
Euro hat Ihr
teuerster
Gehrock
gekostet?
2
8
95
20
450
14 / POLITIKA /
Wie viele Menschen
aus Ihrem
universitären
Umfeld haben
Ihnen geraten,
nicht in die Politik
zu gehen?
Welche Schulnote
geben Sie
der Bundesregierung
in Sachen
Pandemiebekämpfung?
Welche
Schulnote
geben
Sie Ihrem
Vorgänger
Heinz
Faßmann?
Wie hoch schätzen
Sie die Wahrscheinlichkeit
(in
%), dass Sie nach
den nächsten
Wahlen wieder
Bildungsminister
werden?
Wie viele
Male täglich
kommunizieren
Sie mit den
Mitgliedern
der Gecko-
Kommission?
10
2
1
80
1
Martin Polaschek bewertet die Arbeit seines Vorgängers
Heinz Faßmann mit einer „1“.
0 Mal hat der Bildungsminister während seiner Schulzeit
einen Fleck geschrieben.
Wie oft
im Monat
schenken Sie
Ihrer Frau
Blumen?
Wie viele Gäste
waren bei Ihrer
Hochzeit?
Wie viel
Prozent der
Lehrkräfte in
Österreich sind
weiblich?
Wie viel
Prozent der
LehrerInnen
in Ö. sind
ungeimpft?
Wie viele
islamische
Religionslehrer
unterrichten
an Österreichs
Schulen?
4
2
71,8
14
197
/ POLITIKA / 15
Plagiatsjäger Stefan Weber
EINER, DER GANZ
GENAU HINSIEHT
16 / POLITIKA /
Plagiatsgutachter Stefan Weber hat sie schon alle unter die Lupe
genommen: Von Armin Laschet bis Alma Zadić deckte er schon
Schummeleien in wissenschaftlichen Arbeiten von PolitikerInnen auf.
Was ihn genau antreibt, und ob er in der Schule von sich abschreiben
ließ, erfuhren wir bei einem Besuch in seinem Salzburger Büro.
Interview: Nada El-Azar-Chekh, Fotos: Zoe Opratko
BIBER: Wenn man „Plagiatsjäger“ bei
Google sucht, wird als erstes Ihre Dienstleistung
vorgeschlagen. Und die New
York Times titelte, dass Sie die deutschsprachige
Welt „terrorisieren“ würden.
Muss man Sie fürchten?
STEFAN WEBER: Wenn man mich
fürchten müsste, wäre das schon ein
Indiz dafür, dass in der akademischen
Ausbildung etwas schiefgelaufen ist.
Ich habe eine 200-seitige Diplomarbeit,
eine 200-seitige Dissertation und eine
340-seitige Habilitationsschrift geschrieben
und fürchte mich nicht vor Plagiatsjägern.
Vielen bleibt die Möglichkeit einer
universitären Ausbildung leider aus sozialen
oder finanziellen Gründen versagt,
obwohl sie durchaus die Power und den
Grips dazu hätten. Meine Erwartungshaltung
an jeden, der in den Genuss
eines solchen Privilegs gekommen ist,
ist schlicht, dass ordentlich gearbeitet
wurde.
Fast jedes größere Medium hat Sie schon
getroffen. Sind Sie wirklich so getrieben,
wie Sie dargestellt werden?
Es gibt offenbar ein mediales Bild, das
der Sachlage gegenübersteht. Die Leute
glauben vielleicht, dass ich manisch wäre
und mich mit einer Art inneren Besessenheit
an den Fehlern der anderen
ergötzen würde. Und seit 20 Jahren hält
sich das Missverständnis, dass ich die
Einhaltung von Zitierstandards prüfen
würde, so auch im jüngsten Fall unserer
Justizministerin. Alma Zadić hat zu ihrer
Verteidigung angegeben, dass sie nach
Harvard Blueblook zitiert habe. Doch um
die Einhaltung solcher Manuals geht es
nicht im Geringsten. Es geht vielmehr
immer um die Frage, wie sich jemand mit
Texten anderer beschäftigt hat: Darf Frau
Zadić einen Satz aus der Literatur nehmen,
diesen ein bisschen umschreiben
und dann keine Fußnote setzen? Das ist
unabhängig von jeglichen Zitiermanuals
zu beantworten.
Was ist Ihr Antrieb bei der Arbeit?
Es klingt jetzt fast lächerlich. Aber ich
freue mich heute nicht nur auf die Pizza
beim Italiener nebenan, sondern auch
wirklich darauf – so interessant und
selbstreflexiv dieses Gespräch auch ist
–, danach noch 25 Seiten bei der Frau
Zadić zu filetieren. Es ist eine reine
Neugierde, nachzuschauen, ob die Sätze,
die sie nicht mit Fußnoten belegt hat,
tatsächlich von ihr stammen. Wenn ich
mit meinen Möglichkeiten und meinem
Instinkt auf diesen 25 Seiten nichts finde,
ist das auch gut. Mein Antrieb ist ein
detektivischer. Ich will etwas wissen, was
ich vorher nicht gewusst habe.
Empfinden Sie Schadenfreude, wenn Ihre
Gutachten hochrangige Politiker zu Fall
bringen?
Mein Auftrag war es nicht, Frau Aschbacher
aus der Regierung zu entfernen.
Ein wahrer Erfolg wäre es für mich, wenn
sich im wissenschaftlichen Establishment
endlich etwas ändern würde.
Die jüngsten Plagiate wurden etwa bei
Aschbacher, Raab, Baerbock und Zadić
gefunden. Waren das alles bezahlte
Aufträge oder haben Sie in Ihrer Freizeit
geprüft?
Tatsächlich waren diese vier keine
Aufträge, sondern mein Hobby. Ich habe
mich aus eigenem Antrieb heraus für die
Arbeit von Christine Aschbacher interessiert.
In weiterer Folge habe ich mich
natürlich gefragt, wie die Qualität der
Arbeiten unserer Regierung ist. Die Welt
glaubt aber solche Motive nicht. Kogler,
Blümel, Maurer, Faßmann und Nehammer
habe ich mir auch alle angeschaut.
Also kann man nicht behaupten, ich
hätte es nur auf Frauen abgesehen.
„Ich habe es
natürlich nicht
nur auf Frauen
abgesehen“, sagt
Stefan Weber im
Interview. Seit dem
Fall Aschbacher
häuften sich
Hassnachrichten
gegen seine Person.
/ POLITIKA / 17
mir gegeben, die er unter seinem Namen
einreichte. Auf beide bekam er übrigens
ein Sehr Gut. Das war aber 1992, also
lange bevor ich das Problem bei den
Studierenden entdeckte. Ich würde das
heute nicht mehr machen. Damals war
ich aber eben nicht der Abschreib-Verpetzer.
(lacht)
Ein Fach in Webers Regal ist den Büchern prominenter Autoren gewidmet. Annalena
Baerbocks „Jetzt“ wurde nach den Plagiatsvorwürfen aus dem Druck genommen.
Welche Klientel nimmt für gewöhnlich
Ihre Dienste als Plagiats- und Titelprüfer
in Anspruch?
Die allermeisten Anfragen kommen von
Privatpersonen und Anwaltskanzleien.
Meine Kollegin Birgit Kaiserlehner hat
soeben ein Gutachten über eine Wiener
Kinderpsychologin erstellt. Ganze 133
Plagiatsvergehen auf 60 Seiten – einer
der schwersten Fälle bisher. Man muss
aber hier medienrechtlich aufpassen und
die Identität von Privatpersonen wahren.
Über die Kinderpsychologin wird keine
APA-Meldung geschrieben. Das Plagiat
wird medial nur dann interessant, wenn
es um eine Person des öffentlichen
Lebens geht.
Engagieren Universitäten Sie nicht?
Nein, so gut wie nie!
Wie wird man zum Plagiatsjäger?
Ich sage es so: Plagiatsjäger ist wohl
nicht der Berufswunsch eines Fünfjährigen,
wie etwa Feuerwehrmann.
Diese Identität hat sich bei mir erst spät
herausgebildet. Meinen ersten bezahlten
Auftrag einer Plagiatsprüfung habe ich
mit 37 Jahren bekommen. Damals wusste
ich noch nicht, dass das ein dauerhaftes
Geschäft werden kann.
Welche Schritte erfordert die Prüfung
grundlegend?
Ich fange immer mit der marktführenden
Software „Turnitin“ an, welche etwa
auch die Universität Wien und bald die
TU Wien verwenden. Der große Vorteil
gegenüber anderen Programmen ist,
dass Turnitin seit 1999, also seit 23 Jahren,
das Internet speichert. Die Software
vergleicht einen Text mit möglichst vielen
anderen, und man könnte in manchen
Fällen direkt aus dem Programm heraus
schon ein Gutachten erstellen. Praktisch
bedarf es jedoch einer menschlichen
Interpretation und das erfordert ein
gewisses Spezialwissen. Das Programm
alleine zeigt also nur Textübereinstimmungen
an, die Plagiate findet
der Mensch. Momentan werden noch
Tools zur Erkennung von so genannten
Synonymplagiaten und Fremdsprachenplagiaten
ausgearbeitet – aber ich habe
so meine Tricks, um diesen auch auf den
Grund zu gehen.
Haben Sie in der Schule andere
abschreiben lassen?
Kurioserweise ja. Ich war natürlich ein
Streber und habe meinen besten Freund,
der schlecht in der Schule war, abschreiben
lassen. Selbst im Studium ist er auf
mich zugekommen und meinte: Burli,
du musst mir jetzt helfen, ich halte die
Schreiberei nicht mehr aus. Ich hatte als
Zweitfach Politikwissenschaft und habe
ihm zwei fertige Seminararbeiten von
Welche Mängel fallen Ihnen als Lehrender
am Universitätssystem auf?
In einem funktionierenden akademischen
System würde ich mit meiner Tätigkeit
kein Geld verdienen. Viele kritisieren,
dass die sozialistische Bildungspolitik
unter Kreisky und die Öffnung der
Hochschulen zu den heutigen Problemen
geführt hätten. Dem stimme ich
aber nicht zu. Ich stamme selber nicht
aus einem Akademikerhaushalt. Mein
Vater war Buchhalter und meine Mutter
Hausfrau und Trafikantin. Was ich aber
klar sehe, sind zwei Trends, die sich
um die Jahrtausendwende entwickelt
haben: Die Digitalisierung einerseits und
die „Massen-Uni“ andererseits. Ende
der 90er Jahre ist mit dem Internet,
dem erleichterten Zugang zu Texten
sowie dem „Copy-Pasten“ das Plagiieren
wesentlich einfacher geworden. Und die
Universitäten haben hier die Qualitätssicherung
unter Digitalisierungsbedingungen
verschlafen, leider.
Wie sollte man in die Gesetzeslage eingreifen,
um die Situation zu verbessern?
Das Gesetz muss in Österreich geändert
werden, und das kann dauern. Konkret
geht es etwa um den Paragrafen zur
Täuschungsabsicht. Das ist ursprünglich
eine Tradition in Österreich, die aus dem
Allgemeinen Verwaltungsverfahrensgesetz
kommt und in das Hochschulgesetz
übernommen wurde. Demnach kann ein
akademischer Grad erst dann widerrufen
werden, wenn sein Führen „erschlichen“
wurde. Ein subjektiver Tatvorsatz wie
die Absicht zu Täuschen kann aber nur
schlecht bewiesen werden. Im Jahr 2017
wurde nach dem Fall Buchmann zum
letzten Mal ein Doktortitel in Österreich
aberkannt, seitdem kennt jeder den
Trick, die Täuschungsabsicht zu bestreiten.
Nachdem zumindest die Verjährung
von Plagiaten nicht eingeführt wurde,
sollte nun der Erschleichungsparagraf
überdacht werden.
18 / POLITIKA /
Ihre Plagiatsfunde haben ultimativ zum
Rücktritt von Arbeitsministerin Christine
Aschbacher geführt. Sie hat trotzdem
ihren akademischen Titel behalten dürfen.
Was bedeutet das für angehende
AkademikerInnen?
Die Botschaft, die durch den Fall Aschbacher
bei den Menschen angekommen
ist, war: Es ist eh wurscht, was man in
Österreich schreibt, wenn nicht einmal
die Aschbacher ihren Titel verliert. Und
diese Botschaft hat die ÖAWI [Anm.:
Österreichische Agentur für wissenschaftliche
Integrität] total versemmelt.
Ich bin jahrelang einen Kuschelkurs mit
diesen Institutionen gefahren. So geht es
aber nicht weiter.
Die breiten Reaktionen auf Ihre Arbeit
gehen von Schadenfreude über die
Schummeleien der PolitikerInnen bis hin
zu persönlichen Angriffen gegen Sie. Wie
gehen Sie mit Kritik um?
Nach dem Fall Aschbacher habe ich
die erste Morddrohung meines Lebens
erhalten. Ein anderer schrieb mir: „Wenn
ich Sie treffe, sind Sie ein Krüppel!“ Er
Mit dem richtigen Setzen von Fußnoten und dem Zitieren hat sich der
Plagiatsjäger privat intensiv auseinandergesetzt. Ein ganzes Buch ist etwa
nur der Fußnote gewidmet.
wurde wegen gefährlicher Drohung
ausgeforscht. Diese Erfahrung war für
mich neu und ich gebe zu, dass ich in
jener Nacht schlecht geschlafen habe,
weil ich dachte, jetzt ist er gleich da vor
meiner Tür. Das habe ich der Polizei auch
erzählt, damit das ernst genommen wird.
Warum macht man so etwas? Kratze
ich da am Idol einer Person, wenn ich
Mängel beanstande? Oder verstehen
sie mein Geschäft so dermaßen falsch,
dass sie denken, ich werde von dunklen
Mächten engagiert – auf der Suche
nach der verlorenen Fußnote? Annalena
Baerbock schrieb ein Buch darüber, wie
sie Deutschland verändern will, und dann
besteht das Buch schlicht aus Medienberichten
der vergangenen Jahre. So
etwas hervorzuheben finde ich einfach
unglaublich interessant. ●
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„Raser, Polizeieinsätze, illegal getunte Autos.“ Immer wieder bringt
der Boulevard Schlagzeilen zu berühmt-berüchtigten Auto-Tuning-
Treffen am Wiener Kahlenberg. Aber wer sind die Menschen hinter
dem Lenkrad? Wie viel kosten ihre Autos? Warum sind diese Treffen
gerade seit der Pandemie so beliebt? Ein Lokalaugenschein.
Von Aleksandra Tulej, Mitarbeit: Šemsa Salioski, Fotos: Zoe Opratko
20 / RAMBAZAMBA /
Um kurz nach halb zehn
füllt sich der Parkplatz
schlagartig. Plötzlich
versammeln sich
immer mehr Menschen
links und rechts vom Catwalk – also
der Strecke, auf der die Autos vorfahren,
eins nach dem anderen: Ob
Mercedes CLS, 5-er BMW, VW Golf
3 Cabrio oder ein Audi A4 mit einem
albanischen Adler auf der Kühlerhaube
– hier sieht man alles quer durch
die Bank. Was sie alle verbindet: Viel
Rauch, viel Reifenquietschen, lauter
Auspuff, Kickdown. Und wieder von
vorn. Der Catwalk ist eindeutig das
Highlight des Abends. Die Meute
jubelt und applaudiert den vorbeifahrenden
Protzern. Das Geschehen
filmen sie mit ihren Handys, jeder will
in die erste Reihe, von hier hat man
den besten Blick.
„PASS AUF, SONST
KASSIERST DU!“
Es ist ein Freitagabend im Februar am
Kahlenberger Parkplatz. Es ist dunkel,
es ist laut, es ist kalt und windig. Wie
fast jedes Wochenende versammeln
sich hier junge Mitglieder der Tuning-
Szene aus Wien und Umgebung. Über
Telegram-Gruppen und Instagram-Seiten
vernetzen sich jene, die ihre Autos
hier präsentieren wollen, und die, die
einfach nur als Zuschauer:innen vor
Ort sind.
Immer wieder liest man in Tageszeitungen
Schlagzeilen wie „Wiener
Polizei sprengt Tuning-Treffen am
Kahlenberg“ oder „Auto-Freaks randalieren
am Kahlenberg“ oder „Polizei
löst illegales Treffen der Tuning-Szene
auf“. Mal seien es 200, mal 300 junge
Erwachsene, die dort ihren Freitagabend
verbringen. Obwohl es schon
seit Jahren Roadrunner-Rennen bei
der Triesterstraße oder am Gürtel gibt,
hat sich seit der Corona-Pandemie vor
allem der Kahlenberg als Hotspot der
Tuner etabliert.
„Ihr seid fix Zivile, oder?“, fragt
Ahmet uns misstrauisch, als wir auf
ihn und seine Freunde zugehen. Sie
lehnen rauchend an ihrem Auto und
mustern uns von Kopf bis Fuß. Wir
sind mit dem Taxi auf den Kahlenberg-
/ RAMBAZAMBA / 21
Fahrersitz, die Autotür steht offen – das
Türlicht projiziert das Audi-Logo auf
den Asphalt. Der 21-jährige Armenier
steigt aus und zeigt uns seinen Stolz:
„Ich bin aber noch nicht fertig! Ich will
die Scheiben noch schwarz machen,
noch zwei Auspuffstangen dran machen.
Schau, da!“ Für das Tuning hat er „um
die 1200€ ausgegeben. Aber ich muss
mein Auto nicht eintragen lassen. Das,
was ich verändere, ist ja nicht illegal“,
rechtfertigt er sich. Trotzdem hält ihn
die Polizei immer wieder auf. „Die fragen
immer, wie ich dieses Auto finanziert
hab. Ist aber eh typisch, die sehen einen
Schwarzkopf wie mich und suchen ewig,
bis sie was finden“, sagt er schmunzelnd.
Theoretisch muss man getunte
Autos in Österreich eintragen lassen. Das
kostet aber je nachdem, was man modifiziert.
Nicht jeder will dafür bezahlen.
Warum Erik sein Auto getunt hat?
„Es geht einfach um den Sound und um
die Aufmerksamkeit“, sagt er und zupft
an seinem Dreitagesbart. Erik kommt
immer wieder zu den Tuning-Treffen, er
ist verheiratet und hat seit Kurzem auch
eine Tochter. „Was hab‘ ich da in einem
Club verloren? Hier kann man einfach mit
Freunden chillen“, erzählt er. Auch bei
Minusgraden – man kann sich ja im Auto
immer aufwärmen.
Viktoria posiert stolz vor ihrem Chevrolet Camaro
Parkplatz gekommen, ein Anfängerfehler
– das fällt natürlich auf. Als wir ihnen die
Kamera zeigen und erklären, warum wir
hier sind, werden sie lockerer. Sie zeigen
uns ihr Auto, einen weißen Mazda, nicht
getunt und unauffällig. „Normalerweise
sind wir mit einem viel geileren Auto
da, einem AMG. Aber der ist gerade
bei meinem Cousin. So geil ist unseres
heute nicht, wartet mal, bis die anderen
da sind“, winkt Ahmets Freund ab. Die
beiden stammen ursprünglich aus dem
Iran und sind Anfang zwanzig. Wir wollen
wissen, warum sie hier abhängen, wenn
sie schon nicht mit ihrer Karre protzen?
„Na, was sollen wir sonst machen?
Wegen Corona hat ja fast alles zu, keine
Clubs, nix. Hier ist zumindest immer
was los“, zucken sie mit den Schultern.
Plötzlich rast, wie aus dem nichts, ein
orangener BMW an uns vorbei. „Pass
auf, sonst kassierst du!“, schreit Ahmet
lachend.
„DIE SEHEN EINEN
SCHWARZKOPF WIE MICH
IM AUTO UND SUCHEN, BIS
SIE WAS FINDEN.“
Erik ist in seinem schwarz-roten Audi
A3 gekommen. Er sitzt breitbeinig am
„EIN BISSCHEN DRIFTEN-
RIFTEN, DU WEISST.“
Es scheint, als ginge es hier weniger
um die Autos und mehr um den sozialen
Aspekt: Freunde treffen, an der Luft
chillen, hie und da abchecken, wer noch
aller da ist. Aber wirklich weltbewegende
Manöver, wie man sie aus „The Fast
and the Furious“ kennt, lassen auf sich
warten.
Das erzählt der 25-jährige Niederösterreicher
Johnny, der mit seinem
Kumpel Max hier ist: „Es ist schon bissi
Möchtegern hier. Ein paar Idioten gibt’s
schon, die machen dann extra riskante
Überholmanöver und so. Im Sommer ist
es aber immer bummvoll!“ Johnny und
Max haben früher ihre Freitagabende in
Clubs verbracht, seit der Pandemie geht
das nicht mehr so richtig. Deshalb hängen
sie hier am Parkplatz ab. Richtig aufregend
finden sie es aber nicht. „Oida,
mach was mit dem Auto, so geil klingt
das nicht!“, schreit Johnny plötzlich
22 / RAMBAZAMBA /
„
Es geht einfach um den Sound
und um die Aufmerksamkeit.
“
Zu Rauch und quietschenden Reifen gesellen
sich immer wieder Patrioten auf vier Rädern.
/ RAMBAZAMBA / 23
was ihnen nicht gefällt.“ Seine Freunde
Serdo und Aslan stimmen ihm nickend
zu. Auch sie sind Anfang zwanzig, genau
der Altersschnitt hier. Die Clique kommt
auf den Kahlenberg, um „einfach bissi zu
chillen, und zu schauen, was so abgeht
– wohin sollen wir sonst, wenn alles
geschlossen hat?“, fragt Enes. Wenn
es nach der Polizei geht, nicht hierher.
Die Autos, die den Parkplatz verlassen
wollen, werden kontrolliert. Die Meute
scheint sich gegen 23:30 aufzulösen, es
wird immer leerer. „Da kommt ihr jetzt
fix bis zwei in der früh nicht mehr runter
ohne Auto, ge, die lassen keinen raus“,
lacht Luan, der gerade an seinem Audi
A5 lehnt und Shisha raucht. „Oder seid
ihr Zivile?“, fragt er uns im selben Atemzug
und bläst den Rauch aus.
Dem Besitzer dieses Autos ist es scheinbar wichtig, dass alle
Verkehrsteilnehmer wissen, dass er Albaner ist
lachend einem Renault Megane nach,
der an uns quietschend vorbeifährt.
In dieser Atmosphäre von Reifenquietschen,
Rauch und Beleuchtung
fallen uns die Lichter der anderen Art
zuerst nicht auf. Doch dann wird klar: Die
Polizei ist hier. Es ist ja nicht illegal, sich
auf dem Parkplatz aufzuhalten. Es hatte
bloß Anrainer:innen-Beschwerden wegen
der Lautstärke gegeben, wie wir später
am Abend von zwei Polizeibeamten vor
Ort erfahren. Aber nicht nur deswegen
sind sie hier, meint Enes: „Mayer, jetzt
nehmen die fix wieder wem das Kennzeichen
ab, weil er seinen Wagen nicht
eingetragen hat und keiner darf raus.
Wie immer!“, verdreht Enes, der gerade
an seinem 3er BMW lehnt, die Augen.
Enes selbst kann davon ein Lied singen.
„Drei Monate hatte ich kein Kennzeichen.
Aber egal, jetzt hab‘ ich‘s ja wieder“,
erzählt er, während er sich seine Kapuze
über den Kopf zieht.
Enes ist Automechaniker und tunt
sein Auto selbst in seiner Werkstatt.
„Ich hab‘ einfach paar mehr PS, 300!,
auf dem Tacho, da kann man halt ein
bisschen Driften-Riften, du weißt“, sagt
er und zwinkert. „Das ist jetzt nicht so
schlimm. Aber weißt eh, wie das ist mit
der Polizei: Die sehen drei Kanaken im
Auto und suchen, bis sie was haben,
„WARUM HABEN SIE KEIN
AUTO? WEGEN DIESEM
UMWELT-ABDRUCK?“
Nachdem wir ihm klar machen, wer wir
sind, bietet er uns an, mit seinen Freunden
Jovan und Hamoudi bei ihnen zu
chillen, bis der Einsatz vorbei ist. „Welches
Auto haben Sie eigentlich?“, fragt
Luan uns. „Gar keins!“ - „Was?“, fragt er
erstaunt. „Verdienen Sie als Journalisten
so wenig? Oder ich weiß: Fix wegen
diesem Umwelt-Abdruck, oder?“ Die Antwort,
dass man unserer Meinung nach in
Wien kein Auto braucht, nehmen sie nur
stirnrunzelnd an.
Mit dieser Ansicht sind wir hier
alleine. Der Parkplatz scheint mittlerweile
schon leer zu sein, als wir Viktoria treffen.
Die 19-Jährige zeigt uns stolz ihren
weiß-grün-schwarzen Chevrolet Camaro.
„Das ist mein Winter-Auto, mein Baby.“
Viktoria fährt mit ihrer Hand über den
Lack. „Aber das, was ich hier getunt hab,
also der Body-Kit, ist eh eingetragen. Ich
hab‘ keine Lust auf irgendwelche Anzeigen“,
erklärt uns die blonde Wienerin.
Mittlerweile ist es kurz nach Mitternacht:
Die Polizei ist weg, Luan
hatte uns umsonst gewarnt, dass wir
hier nicht „wegkommen“ würden. Der
Parkplatz ist wieder menschenleer. Von
dem Gequietsche, Rauch, Gejubel und
Trubel ist nichts mehr zu spüren. Was bei
uns bleibt, ist der Eindruck, dass diese
„illegalen Tuning-Treffen“ am Kahlenberg
wenig mit spektakulären Szenen, die
man aus Filmen kennt, oder mit Auto-
24 / RAMBAZAMBA /
Erik möchte noch Auspuffstangen und getönte
Fensterscheiben in seinem Audi einbauen.
/ RAMBAZAMBA / 25
Erstmal einen fetten Zug an der Shisha machen und dann die volle Konzentration auf die aufgemotzten Karren auf dem Catwalk.
rennen zu tun haben. Es sind einfach
Jugendliche, die mit ihren Autos protzen,
hier abhängen und sehen und gesehen
werden wollen. Die Mini-Ausführung
der Tuning- und Roadrunner-Szene
eben. Eine Frage bleibt für uns aber
offen – keiner unserer Gesprächspartner
konnte oder wollte sie uns beantworten:
Wie können sich junge Menschen
Auto-Tuning leisten? „Die nehmen die
Autos ihrer Eltern oder sparen halt. Oder
kennen wen in der Werkstatt, der wen
kennt“, erleuchtet uns unser Taxifahrer
Burak, der uns vom Kahlenberg nachhause
bringt. Es ist das erste Mal, dass
er jemanden von einem Tuning-Treffen
abholt. „Kein Wunder, dass die euch für
Zivile gehalten haben!“, lacht er kopfschüttelnd.
Für das nächste Mal wissen
wir Bescheid: Ohne Protzer-Karre bist du
dort oben ein Niemand. ●
NACHGEFRAGT: Was sagt die Polizei?
Warum war die Polizei dort?
Es gab an jenem Abend ein erhöhtes
Verkehrsaufkommen am Kahlenberg.
Mehrere Polizeistreifen waren in weiterer
Folge dort anwesend. Nachdem
die Beamten mit einigen Personen
gesprochen hatten, erklärten sich diese
bereit, die Örtlichkeit zu verlassen. Es
folgte ein Abstrom der Fahrzeuge.
Wie viele Anzeigen gab es?
Es liegt keine Statistik vor, da es sich
um einen adhoc-Einsatz handelte. Ein
PKW soll so genannte „Burn-outs“
gemacht haben, sodass sich eine
Rauchwolke bildete. Im Anschluss
musste das Folgetonhorn mehrmals
betätig werden, bis der Lenker sein
Fahrzeug anhielt. Er wurde wegen des
Verursachens von ungebührlichem
Lärm und wegen des Missachtens
der Haltezeichen mittels Lautsprecher
angezeigt.
Welche Strafen sind hier gängig?
Im Zuge einer polizeilichen Kontrolle
gibt es grundsätzlich die Möglichkeit,
die etwaigen Beanstandungen anzuzeigen.
Die jeweilige Strafe wird dann
im Zuge eines Verwaltungsstrafverfahrens
festgelegt. Im Gesetz sind auch
gegebenenfalls Zwangsmaßnahmen,
wie etwa die Kennzeichenabnahme
oder die Untersagung der Weiterfahrt,
vorgesehen. Es gibt auch die Möglichkeit,
die Landesfahrzeugprüfstelle
anzufahren, um etwaige technische
Veränderungen zu prüfen.
26 / RAMBAZAMBA /
Entgeltliche Einschaltung
D A M I T S I E
I H R E W O H N U N G
B E H A L T E N
Die Corona-Pandemie hat auch viele Mieter*innen im Gemeindebau vor große Herausforderungen gestellt.
Wer dadurch kein Geld im Börsel hat und die Miete nicht zahlen kann, findet Hilfe bei der
Wiener Wohnungssicherungsstelle unter der Telefonnummer 01 4000 11420.
Mehr Infos über alle Unterstützungsmöglichkeiten für Gemeindebaumieter*innen: wienerwohnen.at/hilfe
Sollten Sie Betroffene kennen, bitte weitersagen - helfen Sie uns beim Helfen!
Service-Nummer 05 75 75 75
wienerwohnen.at
QUEERE MIGRAS
„Ich hatte mich innerlich
von meiner Familie
verabschiedet.“
Jakub : „Mir wurde in
Polen eingeredet, dass
ich in die Hölle komme,
weil ich schwul bin.“
28 / RAMBAZAMBA /
Händchen halten, sein Date in der Öffentlichkeit küssen
oder den Eltern von der ersten Liebe erzählen. Was für viele
normal ist, bereitet jungen, queeren Menschen nach wie vor
Kummer und Sorgen. Ebru, Jakub, Narin und Emir erzählen
von ihrem Coming-Out und dem Mut, zu sich selbst zu stehen.
Von Milica Joskić, Fotos: Zoe Opratko
Man wird als
Einwandererkind
regelrecht
dazu erzogen,
seiner Familie sein Leben
schuldig zu sein. Es soll so
früh wie möglich ein ‚guter
Mann‘ her und danach gleich
Enkel gezeugt werden“, so
Ebru, Lehramtsstudentin und
Tochter türkisch-bulgarischer
Eltern. Erwartungen wie diese
sind in migrantischen Communitys
gang und gäbe, auch
ich kenne sie. Das Leben ist
in den Köpfen der Eltern und
Verwandten vorgeplant: bis
spätestens Ende 30 einen
anständigen Partner finden,
den Eltern Enkelkinder schenken
und eben ein normales
Familienleben führen. Der
Druck, seine Familie nicht zu
enttäuschen, ist groß. Ebru hat
sich ihrer Mutter mit 14 Jahren
zunächst als bisexuell geoutet,
damit sie ihr die Hoffnung auf
einen Schwiegersohn nicht
gänzlich nimmt. Sie selbst
wusste jedoch von Anfang an,
dass sie ausschließlich Frauen
mag. Erst als sie mit ihrer festen Freundin
nachhause kam, wurde es ernst.
„Mein Vater redete auf meine Mutter ein
und bewegte sie dazu, mich nieder zu
machen. Sie wollten mir den Kontakt zu
meiner Freundin verbieten.“
FARBE BEKENNEN AUF
SOCIAL MEDIA
Über ihren Alltag als queere Musikerin
spricht Ebru als „schwesta_ebra“ auf
„Sie wollten mir den Kontakt mit meiner Freundin verbieten“
ihren Social-Media-Kanälen offen. Am
„Lesbian Visibility Day“ schreibt sie unter
einem Insta-Post: „Ich bin lesbisch und
habe einen Migrationshintergrund. Meine
Familie kommt aus einem Land, in dem
es die gleichgeschlechtliche Ehe nicht
gibt. Es wird als Krankheit angesehen.“
Mit ihrer Stimme wirkt Ebru der fehlenden
Repräsentation queerer Migranten
auf Social Media entgegen. „Ich möchte
Menschen erreichen, die mit ähnlichen
Situationen zu kämpfen haben
wie ich früher. Sie sollen
sehen, dass man Migrationshintergrund
haben und lesbisch
sein kann, ohne von der
Familie verstoßen zu werden.“
Als Ebru und ihre Familie den
Kontakt zu ihrem Vater abbrechen,
hören auch die Anfeindungen
auf. „Ich weiß, dass
meine Mutter und mein Bruder
heute zu mir stehen“, heißt es
weiter im Post.
Auch Yavuz Kurtulmus,
queerer Aktivist und Gründer
des Transition Film Festivals,
pocht auf die Wichtigkeit der
Vorbilder im Alltag: „Es wird
mittlerweile zwar mehr über
queere Migras gesprochen,
doch sie kommen selten selbst
zu Wort. Wir müssen Gesicht
zeigen, im Alltag auftauchen.
Wie Lieben wir? Wie streiten
wir? Wir müssen unsere
Geschichten selbst erzählen,
die traurigen, aber auch die
schönen“, betont Kurtulmus.
Der ehemalige Versicherungskaufmann
gründete 2009
einen Verein namens MiGay,
der auf die Bedürfnisse migrantischer
Queers spezialisiert war.
FLUCHT AUS DER
LGBTQ- HÖLLE
„Wir reden zu wenig über die Probleme
und Sorgen, mit denen sich die queere
Migra-Community herumschlägt“, findet
Jakub. Der 20-Jährige ist vor zwei Jahren
von Polen nach Wien gezogen und
hatte in seiner Jugend niemanden, mit
/ RAMBAZAMBA / 29
„
Wenn wir Leute finden,
die uns ähnlich sind,
gibt uns das Kraft.
“
Ebru : „Ich komme aus einem Land, in dem Homosexualität als Krankheit
angesehen wird“
dem er sich identifizieren hätte können.
„Mir wurde eingeredet, dass ich in die
Hölle komme, dass ich krank bin. Ich
habe mir dafür die Schuld gegeben und
war sauer auf mich selbst“, erinnert er
sich zurück. „Ab dem Tag, an dem mir
klar geworden war, dass ich schwul war,
verstellte ich mich täglich. Sobald ich
mein Zimmer verließ, setzte ich eine
Maske auf, und mit jedem Tag, an dem
ich nicht ich selbst sein konnte, bröckelte
sie.“ Seine mentale Gesundheit verschlechterte
sich. Während dieser Zeit
kam er sogar mit einem Mädchen zusammen.
„Ich wollte dadurch versuchen,
wieder ‚normal‘ zu werden“, erzählt
er. Aber bald zog er nicht nur in der
Beziehung den Schlussstrich. „Ich habe
lange damit gekämpft, ich selbst sein zu
können, ich hatte eine Freundin, meine
Mutter schickte mich zu so genannten
Konversionstherapien mit Exorzisten
und allem. Ich wollte mir mehrmals das
Leben nehmen. Hätte ich so weiter
gemacht, würden wir dieses Gespräch
jetzt nicht führen.“
Jakub kehrte nach dieser Erkenntnis
Polen den Rücken und zog zu seinem
Vater nach Österreich. Zuflucht gefunden
hat er in Facebook-Gruppen von
Stars wie Nicki Minaj oder Lana Del Rey.
Dort hat er zum ersten Mal mit Leuten
gechattet, denen es ähnlich ging wie
ihm: „Durch den Kontakt mit den ganzen
queeren Teenagern wusste ich: Ich bin
gut, so wie ich bin, es ist sogar fucking
geil!“, gibt er lachend zu. „Gleichgesinnte
sind unglaublich wichtig“, bestätigt auch
Yavuz Kurtulsmus. Durch die Arbeit in
seiner ehemaligen Initiative „Migay“ half
er zusammen mit seinem Team, jungen
und queeren Wienern einen ‚Safe Space‘
zu finden. „Wenn wir irgendwann Leute
finden, die uns ähnlich sind, gibt es uns
Kraft. Wir wissen dann endlich, dass wir
nicht alleine, keine Krankheit sind.“
Polen erklärte Anfang 2020 ein Drittel
des Landes zur „LGBT-freien Zone“.
Das Bundesland, in dem Jakub bis vor
zwei Jahren gelebt hat, gehört in solch
eine Zone. „Wenn ich mit autochthonen
Österreicher:innen spreche, sind
die jedes Mal schockiert davon, wenn
ich ihnen Storys über den Umgang mit
Queers in Polen erzähle. Seiner Meinung
nach fehlt es bei Queers ohne Migrationshintergrund
an Verständnis: „Die
verstehen nicht, dass wir einfach nicht
dieselben Probleme haben. Ich hatte
keinen Support, es war Glück, dass
ich es da raus geschafft habe“, so der
20-Jährige.
Momentan schreibt Jakub sein erstes
Buch und erzählt darin seine Geschichte
und möchte vor allem anderen jungen
Queers damit helfen: „Ich schreibe es
für die neue Generation derer, die damit
kämpfen, sich zu akzeptieren. Für die
Eltern, die überfordert sind und ihr Kind
verstehen wollen. Und natürlich für die
cis-Männer, die unsere Realität kennen
sollten“, ergänzt er.
SINE, WANN HEIRATEST
DU ENDLICH?
„Was, wenn mich ein Bekannter meiner
Eltern dabei sieht, wie ich einen Mann
küsse? Diese ständige Verfolgungsangst
hat mich wahnsinnig gemacht und hatte
dazu geführt, dass ich mich immer mehr
von meiner Familie distanziert habe. Die-
30 / RAMBAZAMBA /
„
Ich war damit beschäftigt,
ein ‚guter Österreicher‘
zu sein.
“
Emir: „Ich habe mit meinem Outing ein Tabu in meiner bosnischen Familie gebrochen“
se Spannung in der Brust habe ich nicht
ausgehalten. Ich wollte Freiheit“, erzählt
Emir Dizdarević. Ursprünglich kommt der
32-Jährige aus Bosnien, seine Familie
ist Anfang der Neunzigerjahre vor
dem Jugoslawienkrieg nach Österreich
geflüchtet, wo Emir aufgewachsen ist.
Heute ist er Vorsitzender der Kulturkommission
Josefstadt, politisch bei den
Grünen Andersrum aktiv – und lebt offen
homosexuell. Doch das war nicht immer
so: Bei seinem Outing vor 10 Jahren
ging er vom Schlimmsten aus. „Ich
hatte Homophobie jahrelang miterlebt.
Ich habe mich aus Liebe heraus geoutet,
um die Beziehung zu meinen Eltern
zu retten, und musste gleichzeitig mit
absolutem Liebesverlust rechnen.“ Nach
einem Moment der Stille gibt er zu: „Ich
hatte mich innerlich von meiner Familie
verabschiedet.“
Dass er auf Männer steht, merkte
Emir bereits als Kind. „Ich war neidisch,
wenn der Nachbarsjunge lieber mit meiner
Schwester spielte als mit mir“, gibt er
lachend zu. Sobald er in Worten fassen
konnte, was das zu bedeuten hatte, ging
der innere Kampf los. Wie viele andere
kennt auch er den Druck, immer ein bisschen
besser sein zu müssen als seine
österreichischen Klassenkolleg:innen.
„Neben dem Druck, sich anpassen zu
müssen und in der Schule abzuliefern,
musste ich dann auch noch damit ringen,
meine Gefühle zu akzeptieren. Ich beneidete
andere 16-Jährige, die ihre ersten
Dates hatten und sich ausprobierten.
Ich hingegen war damit beschäftigt, ein
‚guter Österreicher‘ zu sein“, gibt der
Austrobosnier zu.
„Die Gesellschaft diktiert Migranten
ständig vor, wie sie zu sein haben. Dieser
Druck, sich als ‚anständiger Ausländer‘
zu beweisen, den eigenen Namen ständig
erklären zu müssen oder der Drang
‚überhöflich‘ zu sein, begleitet uns unser
Leben lang“, kommentiert Yavuz Kurtulmus.
„Zu dieser Belastung kommt dann
noch, dass man im Alltag ständig daran
erinnert wird, sich irgendwann outen zu
müssen.“ Das merkte auch Emir früh:
Als er das heiratsfähige Alter erreicht,
beginnt das typische Familienverhör à la:
„Hast du eine Freundin? Wann willst du
heiraten? Die Metzgerstochter ist single,
willst du Mal mit ihr ausgehen?“ Irgendwann
hatte es Emir eindeutig satt – und
outete sich seiner Familie. „Es gab ein
Familienmitglied, welches aus Überforderung
durch mein Outing ein Jahr nicht
mit mir sprechen konnte. Das war damals
echt hart. Ich wusste aber, dass ich der
Erste in ihrem Leben war, der homosexuell
war und so für sie ein Tabu gebrochen
hatte. Mittlerweile ist alles wieder cool
zwischen uns“, so Emir.
Die eigene Kultur ist migrantischen
Familien sehr wichtig. „Es gibt eine
enorme Angst davor, seinen kulturellen
Halt zu verlieren“, erklärt Yavuz Kurtulmus
und führt weiter aus: „Sich zu outen
ist keine Einbahnstraße. Wir müssen
unseren Familien auch Zeit geben, unsere
Sexualität zu begreifen.“ Das weiß er
aus eigener Erfahrung nur zu gut. Er ist
in einer türkischen Gastarbeiterfamilie
mit vielen Geschwistern aufgewachsen.
Emirs Mutter machte schlussendlich
nach einiger Zeit deutlich: „Wer ein Problem
mit meinem schwulen Sohn hat, darf
nicht mehr über meine Türschwelle!“
/ RAMBAZAMBA / 31
„
Die Sorgen vor dem
Outing sind bei Bio-
Österreichern und
Migranten im Grunde
ähnlich.
“
NICHT MEIN PROBLEM!
Die 20-jährige Narin studiert Lehramt,
hat kurdische Wurzeln. „Zuerst habe
ich mich meiner Schwester anvertraut,
doch selbst da hatte ich lange mit mir
gekämpft, bevor ich mich überwinden
konnte. Es war eine Erleichterung zu
wissen, dass sie zu mir steht. Und auch,
dass sie es nicht gleich meinen Eltern
weitergesagt hat“, meint Narin. Sie
wusste ab ihrer Pubertät, dass sie auch
Gefühle für Frauen hatte, schob diesen
Gedanken aber sofort weg. „Da es für
meine Familie sowieso Sünde ist und
Homosexualität von ihnen nicht als etwas
Normales angesehen wird, habe ich
diese Erkenntnis nicht weiter beachtet.
Es war keine Option.“ Vor der Pandemie
ist Narin mit ihren Eltern einmal im Jahr
nach Kurdistan gefahren, um ihre Familie
zu besuchen. Ihren Verwandten hat sie
ihre sexuelle Neigung auch nicht erzählt,
im Gegenteil: „Wenn ich dort bin, achte
ich sehr auf meine Wortwahl, meine Art
mich zu kleiden und wie ich rüberkomme.
Meiner Mutter zu Liebe nehme ich
dann eine Rolle ein. Ich möchte nicht,
dass sie wegen mir dumme Sprüche
abbekommt.“
„Die Sorgen vor dem Outing sind
bei Bio-Österreichern und Migranten im
Grunde ähnlich. Nur sitzt uns oft unsere
Kultur im Nacken“, erklärt Yavuz Kurtulmus.
In vielen Haushalten hat zudem
Religion einen hohen Stellenwert. „Als
Moslem schwul zu sein, ist nicht immer
leicht, dass weiß ich aus eigener Erfahrung.
Viele haben Angst, sich nach dem
Outing von Kultur und Tradition trennen
zu müssen, doch das muss nicht sein. Du
kannst queer sein und trotzdem deinen
traditionellen Tee trinken“, lacht Kurtulmus.
Mittlerweile lässt sich auch Narin
ihre Kultur nicht mehr nehmen und ist
Narin: „Für meine kurdische Familie ist Homosexualität eine Sünde“
heute gut vernetzt: „Ich habe erst nach
meinem Outing gemerkt, wie groß die
kurdische LGBT-Community ist. Schon
ein paar Leute zu kennen, die den gleichen
Background und dieselben Sorgen
haben, ist so viel Wert.“ Seitdem sie sich
mit Menschen umgibt, die ihre Interessen
und Ansichten teilen, ist die 20-Jährige
selbstbewusster denn je. Sie hat sich vor
zwei Jahren auch ihren Eltern geöffnet:
„Deren Problem, wenn sie nicht akzeptieren,
wen ich liebe.“
Emir, Ebru, Narin und Jakub haben
ihren Weg gefunden und zeigen sich
der Welt so, wie sie sind. Dass es mehr
Sichtbarkeit und Repräsentation von
Queers aus der migrantischen Community
braucht, da sind sich alle einig.
Schließlich profitieren alle davon, wenn
Vielfalt und Diversität medial mehr
Fläche bekommen. Sie alle kennen die
Angst, den Frust, das Versteckspiel und
die Maske, die man aus Selbstschutz
aufsetzt. Sie wissen allerdings auch, wie
befreiend es ist, endlich auszubrechen
und sein wahres Ich zu zelebrieren. ●
32 / RAMBAZAMBA /
Wenn ich ans Impfen
denke, bekomme ich
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„Alte
Menschen,
gönnt uns
doch einfach!“
34 / RAMBAZAMBA /
Wir schicken Memes statt E-Mails, verschieben Deadlines für die
mentale Gesundheit und werden alles tun, nur nicht für einen Job
40 Stunden arbeiten – die Generation Z macht es anders als ihre
Vorgänger*innen und sagt dem Kapitalismus den Kampf an.
Von Anna Jandrisevits, Collagen: Zoe Opratko
Munira schaut auf ihren Google-Kalender,
der randvoll mit unterschiedlichen bunten
Termineinträgen ist. Die Woche ist durchgeplant,
mit einem geringfügigen Job bei
einer NGO und zwei Studiengängen – Politikwissenschaften
und internationales Recht – passt da gerade mal ein Mittagessen
rein. Aber irgendwas davon aufgeben? Kommt nicht
infrage! Das Doppelstudium ist ja nur logisch: Einen Studiengang
macht man aus Interesse und einen, um irgendwann
davon leben zu können. Munira, die im Jahr 2000 geboren
ist, hat also rund um die Uhr Stress. Als ich sie dann
aber frage, ob sie sich vorstellen könnte, für immer einen
40-Stunden-Job zu machen, kann sie nur lachen: „Niemals!“
„Arbeit ist Ausbeutung“
Ich weiß, Boomer (Anm.: Menschen, die ca. 1946-1965
geboren sind) und Millennials (Geburtsjahre ca. 1980-1997)
sind jetzt extrem verwirrt und fragen sich: In welcher Welt
ergibt das Sinn? Ich erkläre es euch. Denn anstatt andauernd
nur über die „fehlende Arbeitsmoral“ der Generation Z zu
sprechen, arbeite ich tatsächlich mit ihnen zusammen. Seit
einem halben Jahr bin ich Chefin
vom Dienst bei „die_chefredaktion“
auf Instagram. Wir machen Journalismus
von jungen Leuten für junge
Leute. Obwohl es keine genaue Definition
gibt, werden der Generation Z
überwiegend jene zugerechnet, die
von 1997 bis 2012 zur Welt gekommen
sind. In unserer Redaktion sind
alle unter 25 und das merkt man,
nicht nur an den Themen, sondern
vor allem an der Arbeitsweise.
Wir kommunizieren über Sprachnachrichten
und Memes, Meetings
werden öfter mal verschoben, weil
Gen Zs wie Munira sich andere Prioritäten
setzen und von 9 bis 17 Uhr
arbeiten die wenigsten. Die Generation
deshalb als faul oder respektlos
abzustempeln, ist aber falsch: Ein
Arbeitsplatz wird einfach niemals ihre alleinige Priorität sein.
In einer Studie des deutschen Zukunftsinstituts aus 2021
über die Generation Z in der Arbeitswelt wünschen sich 48 %
der befragten 16- bis 25-Jährigen flexible Arbeitszeitmodelle,
74 % wollen ihr Leben selbst bestimmen und trotz ihres Jobs
unabhängig sein.
Dass man Deadlines kurzfristig verschiebt oder unzuverlässig
arbeitet, ist meist natürlich nicht in Ordnung, so viel
gleich vorweg. Ich habe mir schon oft gedacht, dass die jungen
Menschen in meinem beruflichen Umfeld Dinge tun und
sagen, die ich mich in 100 Jahren nicht getraut hätte. Aber
sie tun und sagen auch Dinge, für die ich ihnen applaudiere.
Ich unterstütze ihren Willen nach Veränderung. „Arbeit ist
Ausbeutung!“, sagt mir etwa Marlena, Jahrgang 1998, sie ist
Jus-Studentin und arbeitet Teilzeit in einem Tattoo-Studio.
„Im Endeffekt kannst du dir im Kapitalismus, wenn du die
Mittel hast, nur aussuchen, ob du von jemandem ausgebeutet
wirst oder dich selbst ausbeutest, indem du selbstständig
wirst.“ Gerade unter Millennials, die im Zeitraum der frühen
1980er bis zu den späten 1990er Jahren geboren wurden,
boomt das Modell der Selbstständigkeit: Arbeit, die den eigenen
Interessen und Vorstellungen
entspricht. Das klingt erstmal cool,
aber selbst wenn in dem Geschäftsmodell
Nachhaltigkeit und Moral
eine Rolle spielen, müsste man bis
zu einem gewissen Grad kapitalistisch
denken, sagt Marlena. Überhaupt
habe der Ansatz, sein Hobby
zum Beruf zu machen, „damit sich
kein Tag wie Arbeit anfühlt“, in der
Generation Z nichts verloren: „Das
führt nur dazu, dass du das, was
du eigentlich liebst, am Ende auch
hasst, weil du davon abhängig bist.“
Nie wieder Hustle
In der so genannten „Hustle-Culture“,
die Millennials auf Instagram
jahrelang groß gemacht haben, wird
der Selbstwert über die Produktivität
/ RAMBAZAMBA / 35
am Arbeitsmarkt definiert – wer keine Leistung erbringt, ist
für diese Gesellschaft nicht gut genug. Völlig zurecht hat die
Generation Z das Wort „Hustle“ aus ihrem Vokabular verbannt,
wir wollen uns nicht ins Burn-out arbeiten. Auch viele
unserer Eltern, die zur Boomer-Generation gehören, haben
sich ihr Leben lang in ein und derselben Firma kaputt gearbeitet.
„Wir Arbeiter*innenkinder wissen, wie schwer unsere
Eltern gearbeitet haben. Das wollen wir für uns nicht“, sagt
Munira. Vielleicht kann sich diese Generation diese neue
Arbeitsweise also auch aufgrund der Arbeit unserer Vorgenerationen
leisten. Ebenjener Menschen, die uns oft unterstellen,
faul und unzuverlässig zu sein. Für Munira macht
das keinen Sinn: „Wieso gönnen uns alte Menschen nicht
einfach? Ist doch ur gut, dass wir nicht ihre Probleme haben,
uns nicht körperlich und psychisch fertigmachen. Als würden
wir ein gutes Leben nur verdienen, wenn wir arbeiten, bis
nichts mehr von uns übrig ist.“
Gen Zs gehen es also anders
an. Statt sich an ein Unternehmen
zu binden, versuchen sie,
sich ganz viele unterschiedliche
Standbeine aufzubauen, weil
sie jetzt schon wissen: In der
Zukunft wird es nicht den einen
Job geben, der sie für immer
glücklich macht. Diese Einstellung
kann aber natürlich nicht
auf die gesamte Generation
zutreffen. Eine 21-jährige Steirerin,
die in der Landwirtschaft
arbeitet, hat wahrscheinlich
trotzdem ein anderes Bild von
Arbeit, als die Gen Zs aus der
Hauptstadt. „Es hat auch nichts
mit fehlendem Respekt zu tun,
egal in welchem Alter, man sollte
vor seinen Vorgesetzten und
Mitarbeiter*innen immer Respekt
haben“, sagt Viktoria, Jahrgang
1999, die neben dem Publizistik-
Studium ein 40-Stunden-Praktikum
in einem Büro macht. Ihre
Kolleg*innen sind meist älter als 35, sie unterschätzen den
enormen Stress, den Viktoria durch das Studieren und Arbeiten
hat. Wenn ihr irgendwas zu viel wird, traut sie sich aber
noch nicht, etwas zu sagen. „Ich glaube, wenn ich jüngere
Kolleg*innen hätte, würde ich mich eher trauen. Die verstehen
mich vielleicht mehr, weil sie selbst damit konfrontiert
sind.“
Mentale Gesundheit hat einen unfassbar hohen Stellenwert
für die Generation Z und das ist gut so. Als ich selbst
ein 40-Stunden-Praktikum absolvierte und währenddessen
umgezogen bin, eine Masterarbeit geschrieben und an einem
Studienprojekt gearbeitet habe, ging meine Psyche den Bach
runter. Ich wünschte, ich hätte nur einmal den Mut gehabt,
es meiner damaligen Vorgesetzten zu sagen, aber ich war
die Jüngste und hätte mich nie getraut. Anders als Leyli, die
mir letztens eine Sprachnachricht geschickt hat: Sie kann die
Deadline für eine Reportage nicht einhalten, weil sie so viele
Prüfungen hat und sich komplett überfordert fühlt. Dass ich
deshalb unseren Redaktionsplan umstellen musste, war das
Letzte, woran ich in diesem Moment dachte. Viel mehr war
ich froh darüber, dass Leyli ehrlich zu mir ist. Dass mir meine
Kolleg*innen vertrauen und keine Angst vor mir haben. Das
klingt für manche vielleicht normal, aber das ist nicht der
Standard.
Mehr Verständnis
Und deshalb nehme ich gerne verschobene Meetings und
Deadlines in Kauf. In sechs Jahren in dieser Branche habe
ich nie so viel Kreativität, Mut und Talent erlebt, wie von
Menschen aus der Generation Z. Aber natürlich: Auch wir
müssen vielleicht noch lernen, das Verständnis, das wir so
oft von unserem Umfeld einfordern,
anderen entgegenzubringen.
Es ist richtig und wichtig,
dass wir es anders machen
wollen als unsere Vorgenerationen,
aber manchmal sind auch
wir noch zu egoistisch. „Wir
müssen wegkommen von diesem
individualistischen Denken, bei
dem jede*r nur auf sich und den
eigenen Erfolg schaut. Wir sollten
uns als Teil von etwas großem
Ganzen sehen, bei dem wir ein
Verantwortungsgefühl gegenüber
der Gesellschaft haben und Solidarität
eine Rolle spielt“, erklärt
mir Marlena, passenderweise in
einer Sprachnachricht. „Ich wünsche
mir, dass wir eine Gesellschaft
bilden können, in der alle
ihren Fähigkeiten und Interessen
entsprechend einer Tätigkeit
nachgehen können, von der die
ganze Gemeinschaft profitiert.
Damit wir erkennen, dass wir als
Einzelperson dann aufblühen, wenn unsere Community aufblüht.“
Das klingt doch nach einem schönen Arbeitsplatz. ●
Anna Jandrisevits ist Chefin vom Dienst bei der Chefredaktion,
einem Instagram-Medium, das von Ex-Biber-Redakteurin
Melisa Erkurt gegründet wurde. Inzwischen verfolgen bereits
25.000 Follower*innen die Inhalte der Chefredaktion. Wer
jungen und diversen Journalismus unterstützen und gleichzeitig
einen exklusiven Newsletter erhalten möchte, schaut bei Steady
vorbei: www.steadyhq.com/de/diechefredaktion
36 / RAMBAZAMBA /
LIFE & STYLE
Mache mir die Welt,
wie sie mir gefällt
Von Aleksandra Tulej
Routine-Tipp
RITUELLE
REINIGUNG
NOSTALGIE-SPALTE
DAS SPOTIFY
DER 2000ER:
DIE
RAFFINIERTE
CD-HÜLLE
© Zoe Opratko, Rituals, Ebay.com
MEINUNG
Nerv’ mich nicht
nach 18 Uhr.
„Hey, gehen wir am Mittwoch was
trinken?“ Nachrichten dieser Art
lassen mich mein Gesicht verziehen,
meine Augen rollen und mein
Handy weit weg von mir schleudern.
Ich bewundere diese Menschen,
die unter der Woche nach einem
Arbeitstag immer noch motiviert für
soziale Kontakte sind. Ich bin’s nicht.
Um diese Uhrzeit bin ich schon
fertig, verschwitzt, mein Make-up
ist runter geronnen, ich hab‘ den
ganzen Tag schon mit Leuten zu tun
gehabt und mich wie ein funktionierendes
Mitglied der Gesellschaft
verhalten. Dann ist Feierabend. Aber
bitte zuhause. In den Wintermonaten
hält sich meine Einsiedlerkrebs-
Gattung ab 18 Uhr nur mehr auf
dem Sofa vor Netflix auf und jeder
notwendige Schritt nach draußen
wird mit einem Seufzen getätigt. Auf
einen Spritzer kann man außerdem
auch nicht mehr mit mir gehen,
da Madame in diesem hohen Alter
schon nach drei Schluck einen Kater
hat. Habe ich mich jetzt so unsympathisch
wie möglich gemacht?
Exzellent. Aber: Bald ist Sommer und
da wird ja bekanntlich alles anders.
tulej@dasbiber.at
Ich werde in ein paar Monaten
30 und ich kann mich nicht mehr
wehren: Meine Skin-Care-Routine
aus der Drogerie tut’s einfach
nicht mehr. Deshalb beschloss ich,
das erste Mal in meinem Leben
in ein fancy Gesichts-Waschgel
zu investieren und Kinder, es hat
sich gelohnt. Der Velvetly Smooth
Cleansing Foam (12,99 €) von
Rituals gehört ab jetzt zu meiner
Morgenroutine. Okay - ich hab keine
Morgenroutine, aber ich fange jetzt
damit an, die Gesichtspflege ist der
erste Schritt. Es riecht gut, es macht
die Haut total weich und trocknet sie
nicht aus. Und wenn man schon mal
in dem Laden ist, kann man (=ich)
nicht ohne die Rituals-Duftstäbchen
(14,99€) raus. Auf einmal riecht
meine Wohnung wie ein exklusives
SPA und meine Haut kriegt ihre
altersgerechte Pflege. Dieses Ritual
führe ich gerne weiter.
Als ich um die 12 Jahre alt war,
habe ich alles von Jordi Labanda
besessen: Notizbücher, Hefte,
Mappen, Tagebücher. Das Erkennungsmerkmal
der Marke waren
langbeinige, gut angezogene, raffinierte
Frauen, die mich gleichzeitig
an meine MyScene-Puppen erinnert
haben. „So will ich mal sein, wenn
ich groß bin!“, war damals mein
Credo. Ein Utensil war aber besonders
unentbehrlich: Die CD-Tasche,
in der ich all meine Avril Lavigne und
Bravo-Hits-CDs bei mir hatte, um sie
auf meinem Discman zu hören. Dass
diese CDs irgendwann alle durcheinander
reingeworfen waren und
folglich zerkratzt und voller Fingerabdrücke,
gehörte zu meinem rebellischen
Teenager-Ich. Was hat sich
seitdem geändert? Ähm, zum Glück
gibt es heute Spotify und zum Glück
hat mein iPhone eine Panzerglasscheibe.
Soviel zu mir als raffinierte,
erwachsene Frau.
/ LIFESTYLE / 37
ARBEITERKIND
3.0
38 / RAMBAZAMBA /
So früh wie möglich heiraten und Kohle machen: Diese Zukunft war für
Boban vorbestimmt. Zumindest wenn es nach seiner Balkan-Familie geht.
Aber er schlug seinen eigenen Weg ein: Ein Arbeiterkind auf Umwegen
zwischen dem Job in der Gemüseabteilung und Geschichte-Studium.
Von Boban Ristić, Fotos: Matthias Nemmert
Ich musste früh in meinem Leben arbeiten. Meine Mutter
vermittelte mir mit 16 Jahren eine Lehre bei einer
großen Supermarktkette, wo sie auch selbst hinter der
Fleischtheke arbeitete. Rückblickend war ich damals viel
zu jung und grün hinter den Ohren. Ich war nie gut darin, den
Einkauf zu scannen und abzukassieren. Das „Schönen Tag
noch!“ zum Abschied klang in meinem Mund wie eine Drohung.
Außerdem breitete sich bei mir damals die Angst vor
dem Frust aus, welchen ich bei älteren Arbeitskollegen beobachtete.
Wie soll man auch nicht deprimiert sein? Die Arbeit
ist eintönig und der Lohn im Einzelhandel eher bescheiden.
Lebender Beweis dafür waren die pensionierten Samstagskräfte,
die mit dem zusätzlichen Lohn ihre mickrige Pension
aufbessern wollten. Ich wollte nicht so wie sie enden. Wenn
schon ausgebeutet werden, dann in einer Arbeit, die mir
Spaß macht.
„HR. RISTIĆ BITTE IN DIE
GEMÜSEABTEILUNG KOMMEN“
Meine konservative Arbeiterfamilie hatte erwartet, dass ich,
so wie jeder junge “Balkaner”, so schnell wie möglich Kohle
verdiene und eine Familie gründe. „Wann gibt‘s endlich
Enkel, Bobane?“, hörte ich jeden Tag als Frage. Nicht heute.
Eigentlich wollte ich studieren und mein Leben auf die Reihe
kriegen, bevor ich an eigene Kinder denke. Stattdessen
machte ich eine Einzelhandelskaufmann-Lehre und war
todunglücklich. Zu Hause wurde es immer ungemütlicher.
Die Lage spitzte sich zu als ich die Lehre im letzten Jahr
abbrach. Mein Stiefvater, der sich für gewöhnlich nobel
zurückhielt, verlor die Geduld mit mir. Unsere Beziehung
wurde nicht besser, als ich mich in die Matura-Abendschule
einschrieb und untertags den AMS-Kurs „EDV-Systemtechnik“
besuchte. Danach ging es in den Käfig
zum Basketball spielen. Der Platz zu Hause
wurde immer enger, vor allem für meine
jüngere „Seka“ (serb. für „Schwesterherz“),
die langsam in die Pubertät kam und sich über
ein eigenes Zimmer gefreut hätte. Dies und
der Druck meiner Eltern waren letztlich ein
„
Ich wollte studieren
und mein Leben auf
die Reihe kriegen.
“
Floridsdorf: Hier fühlt sich Boban am wohlsten
Antrieb für mich, aus dem Hotel Mama endgültig auszuchecken.
Glücklicherweise bot mir eine Freundin damals an, in
ihre Garconniere-Wohnung im 21. Bezirk einzuziehen. Nach
Floridsdorf! Kein Problem, als Donaustädter kannte ich das
raue Klima von Transdanubien. Die Abmachung mit der Wohnungsbesitzerin:
Ich bezahle die Rechnungen,
während sie ein paar entspannte Jahre in
Serbien verbringt. Fantastischer Deal.
FLEISSIG UND HIGH
Meine Familie sah nicht ein, warum sie meine
Emanzipationsversuche mit ihrem hart ver-
/ RAMBAZAMBA / 39
dienten Geld unterstützen sollten. Auf einer Bolt-Fahrt klärte
mich ein alter Jugo über eine besondere Zweideutigkeit in
unserer Sprache auf und darüber, warum er selber immer
arbeitete wie ein Pferd. Das Serbische “ti si vredan“ bedeutet
übersetzt „du bist fleißig“ – es heißt aber auch „du bist
wertvoll“. Den Ursprung des Wortes nahm sich meine Familie
anscheinend besonders zu Herzen. Für sie war jemand
nur dann was wert, wenn er fleißig war und vor allem gut
verdiente. Geld sei der Beweis für den Fleiß. Mir war es nicht
wichtig, ein teures Auto zu fahren oder pompös zu heiraten.
Ich fing an, mich für die Studienberechtigungsprüfung für
kulturwissenschaftliche Studien vorzubereiten.
Ein paar Monate später schlenderte ich voll high auf Koffein
durch die Gänge der Hauptuni Wien und fühlte mich wie
in einem Traum. Endlich konnte ich das machen, wovon ich
mein ganzes Leben lang geträumt hatte. Weil das Selbsterhalter-Stipendium
nicht alle meine Kosten decken konnte,
arbeitete ich erst recht wieder samstags in der Gemüseabteilung.
Aber in diesem Fall wusste ich, das war nur Mittel zum
Zweck. Am Ende des Weges erwartet mich ein akademischer
Titel und ganz viel neues Wissen.
NATO-BOMBARDEMENT UND
GESCHICHTE-VORLESUNG
Ich wurde 1995 in Požarevac, damals Jugoslawien, geboren
und habe den Kosovo-Krieg und die NATO Angriffe 1999 live
miterlebt. Die Sirenen und in Panik flüchtende Menschen
haben sich in mein Gedächtnis gebrannt. Und so stellte
ich zu Hause Fragen, auf die ich keine Antworten bekam.
Fragen, die mir später in der Schule auch kein Geschichtsbuch
oder Lehrer beantworten konnte. Warum das keiner
schaffte, erklärte mir ausführlich Geschichtsprofessor Dr.
Stefan Zahlmann im Rahmen seiner 3,5-stündigen Vorlesung
“Theorien und Geschichte schriftlicher
Quellen und Medien”. In dieser schrieb ich
einige Essays zum Thema, warum es keine
allgemeingültige Wahrheit in der Geschichte
geben könne. Der Einblick in die geschichtsphilosophische
Metaphysik half mir,
Vorbehalte, die sich über die Jahre gegen
Journalisten und andere Kulturschaffende
gebildet hatten, zu verlieren und ich habe
seither angestrebt, auch einer von dieser
Sorte zu werden. Deswegen entschied ich
mich für Journalismus. Das Geschichtsstudium
erwies sich als eine elegante Lösung. „Ein Drittel der
Absolventen endet in der Medienwelt“, sagte man mir in den
Info-Vorlesungen.
Meine Bachelor-Ambitionen bekamen bald die harte Realität
zu spüren. Die Doppelbelastung aus schlecht bezahlten,
körperlichen Jobs und akademischen Lehrinhalten trieben
mich beinahe ins Burnout. Ich verlor 15 Kilo, konnte kaum
einschlafen und fühlte mich dauerschlapp. Im dritten Semester
klagte ich einer Bekannten mein Leid: „Ich werde weder
zu Ende studieren, noch Karriere als irgendwas machen. Ich
sollte einfach das machen, was alle von mir erwarten. Autos
reparieren oder Handyshop aufmachen oder sowas.“ Adriana
„
Die Doppelbelastung
aus schlecht bezahlten,
körperlichen Jobs und
akademischen Lehrinhalten
trieben mich
beinahe ins Burnout.
“
Das Serbische “ti si vredan“ bedeutet übersetzt „du bist
fleißig“ – es heißt aber auch „du bist wertvoll“.
konnte mein Selbstmitleids-Lied nicht mehr
hören und erzählte von der biber-Akademie.
Dort müsse man sich nicht verstellen und
kann seine eigene Geschichte erzählen und
dabei was lernen. Sie sah mich mit leuchtenden
Augen an und erzählte mir, dass ich
genau zu biber passen würde. Drei Jahre
später sitze ich in der Redaktion, blicke auf
das Maria-Theresien-Denkmal gegenüber
und fühle mich angekommen. Ich darf
Artikel schreiben, Menschen auf der Straße
interviewen, über aktuelle Themen wie Impfpflicht, Novak
Djoković oder den besten Burek Wiens schreiben. Endlich
gebe ich meiner Mutter einen guten Grund, stolz auf mich
zu sein. Alleine deswegen hat sich das Praktikum bei biber
ausgezahlt. ●
40 / RAMBAZAMBA /
I geh ins Kino, du gehst ins Kino.
Zusammen gemma impfen.
jetzt-miteinander.at
Mit Unterstützung von
Die Autorinnen (v.l.n.r.):
Şeyda Gün, Gracia Ndona,
Tekla Scharwaschidze,
Amina Reifenauer-Ben
Hassen und eine Autorin,
die ihre Geschichte
anonym erzählen möchte.
© Zoe Opratko
42 / EMPOWERMENT SPECIAL /
DU
BESTIMMST
IMMER.
PUNKT.
Veraltete Rollenbilder durchbrechen, neues Terrain entdecken und seine ganz
persönliche Leidenschaft verfolgen: Weibliche Selbstbestimmung hat viele Gesichter,
und kann auf unterschiedlichsten Wegen passieren. Fünf starke, junge Autorinnen aus
verschiedenen Communitys erzählen von ihren persönlichen Revolutionen und was sie
dafür in Kauf nehmen mussten. Von der Freiheit, die das Tanzen einem verleihen kann,
über die Erkenntnis, dass das Ansehen der Familie nicht alleine auf den Schultern der
Erstgeborenen lastet, bis hin zur Sicherheit, die man als Frau hinter dem Mischpult in
die Clubs trägt.
Das Projekt „Du bestimmst IMMER. Punkt!“ findet im Rahmen des Aufrufs „Maßnahmen
zur Stärkung von Frauen und Mädchen im Kontext von Integration“ des Österreichischen
Integrationsfonds statt. Dieses Projekt wird durch den Österreichischen Integrationsfonds
(ÖIF) finanziert. Die redaktionelle Verantwortung liegt allein bei biber.
/ EMPOWERMENT SPECIAL / 43
DIE ERSTGEBORENE
DIE WAHRHEIT HINTER DEM VORBILD
44 / EMPOWERMENT SPECIAL /
Ehrgeizig. Verantwortungsbewusst. Verständnisvoll.
Leistungsstark. Aber auch nachgiebig. Wie die Tatsache,
die älteste Tochter in einer georgischen Familie zu sein,
die Persönlichkeit unserer Autorin Tekla Scharwaschidze
geprägt hat. Und wie sie die Erwartungshaltung durchbrach.
Von Tekla Scharwaschidze, Foto: Zoe Opratko
Ich wurde in Georgien geboren.
Damals war ich nicht nur die Erstgeborene,
sondern auch das allererste
Enkelkind in meiner Familie.
Während meiner Geburt versammelte
sich eine große Gruppe an Verwandten
und Bekannten vor dem Krankenhaus
und sangen meiner Mutter, vor dem
offenen Fenster ihres Zimmers, georgische
Volkslieder zu. Es war eine warme
Herbstnacht und der Mond schien hell
am Himmel. Ich erinnere mich natürlich
nicht an das Ereignis, aber wir haben
eine alte Kassettenaufnahme, die schon
unzählige Male abgespielt wurde.
REBELLIN ODER PEOPLE-
PLEASER
Das Leben der Erstgeborenen in Georgien
ist von großer Erwartungshaltung
und starkem Verantwortungsbewusstsein
geprägt. Das hat sich bei unserer
Emigration nach Österreich auch nicht
geändert. Ich würde sogar meinen, dass
sich die Ansprüche und Erwartungen
meiner Eltern gegenüber mir nochmals
um eine Spur verstärkt hätten. Und dass
diese Erwartungshaltung gegenüber meiner
vier Jahre jüngeren Schwester ganz
anders aussieht, ist lange kein Geheimnis
„
Entwickelt sich das
erstgeborene Kind
entweder zu einer
willensstarken Person,
oder zum fügsamen
„People-Pleaser“?
“
mehr. Als Älteste lernt man nämlich früh
genug, Dinge so hinzunehmen, wie sie
sind. Nachgiebigkeit ist also eine der
vielen Eigenschaften, die ich meinem
Charakter als Erstgeborene relativ
schnell zuschreiben kann. Erstaunlicherweise
gibt es sogar eine Geburtsordnungstheorie,
die besagt, dass die
Persönlichkeit von der Geburtsordnung
der Kinder beeinflusst wird. Sobald das
zweite Geschwisterkind die Szene betritt,
herrschen zwei Optionen: Rebellion oder
Nachgiebigkeit. In anderen Worten,
entwickelt sich das erstgeborene Kind
entweder zu einer willensstarken Person,
oder zum fügsamen „People-Pleaser“.
Ich habe schon sehr früh begriffen,
dass ich in die zweite Kategorie falle.
Ich versuche Konflikte, besonders mit
meinen Eltern, zu vermeiden, mich in
die Lage von anderen hinzuversetzten
und ihre Ansicht möglichst schnell zu
verstehen. Mit meiner Mutter pflege ich
ein sehr gutes Verhältnis und sie zählt
auf mich. Ich würde es zwar nie vor
meinen Eltern zugeben, aber ich bin mir
bewusst, dass ich auch nicht geäußerte
Erwartungen ihrerseits stets aufgreife.
Auch wenn sie nicht immer von Erfolg
ausgehen, strebe ich danach, für sie
erfolgreich zu sein. Ich strebe danach,
sie stolz zu machen und von Nutzen zu
sein. Unterbewusst bedeutet das, dass
ich Entscheidungen selten nach dem
eigenen Willen treffe, sondern lieber im
Namen derer, die ich ungern enttäuschen
möchte. Diese unterbewusste Angst vor
Enttäuschung verankert sich schnell und
kann zukünftige Lebensabschnitte stark
beeinflussen.
Der ganze Stolz der Familie zu sein, kann auch belastend werden.
/ EMPOWERMENT SPECIAL / 45
„
Rebellion oder Nachgiebigkeit:
Diese zwei
Optionen hatte ich
“
Tekla musste früh lernen, was es bedeutet, die Verantwortung
für Jüngere zu übernehmen.
MEHR LEISTUNG BRINGEN,
BESONDERS ALS
MIGRANTIN
In der Schule pflegte ich auch gute Verhältnisse
zu allen Lehrer*innen und war
relativ beliebt. Wie die meisten ältesten
Kinder aus befreundeten Familien,
erbrachte ich stets außerordentliche
Leistungen. Ich war sogar eine der
besten in meinem Jahrgang. Außerdem
verspürte ich nie eine Zurückhaltung,
stellte meine Leistungen zur Schau und
wollte mein Wissen immer erweitern. Ich
machte bei Wettbewerben und Programmen
mit, um Erfolge zu sammeln,
die ich präsentieren konnte. Heute weiß
ich, dass das vermutlich am starken
Leistungsdruck und an den unzähligen
Lektionen meiner Eltern liegt, die predigten,
dass ich mich stets unter Beweis
stellen müsste. Und das nicht nur als
Erstgeborene, sondern auch als Migrantin.
Als Kind begriff ich natürlich nicht,
wie toxisch ein solches Verhalten und
wie gefährlich dieser psychischer Druck
sein kann. Es kam mir nämlich so vor, als
ob die Hoffnung und die Ehre der ganzen
Familie einzig und allein auf meinen
Schultern lasten würden. Ich redete mir
sogar ein, dass ich mir keinerlei Fehler
erlauben dürfte. Deshalb strengte ich
mich stets an, die erwarteten Leistungen
zu liefern und meine Eltern nicht
zu enttäuschen. Ab und zu nahm dieser
Ehrgeiz dann auch die Rolle des unterdrückenden
Begleiters an und ich schnitt
nicht so gut ab, wie erwartet.
AUF DEM SERVIERTABLETT
Ich erinnere mich an meinen ersten Dreier
in Mathe, der dazu führte, dass mein
Vater einige Tage nicht mit mir sprach.
Im Laufe der Zeit wurden die Reaktionen
auf meine Noten weniger schlimm, aber
meine Angst davor, schlecht abzuschneiden
legte sich nie. Ich erinnere mich
auch an Telefonate meiner Mutter mit
Bekannten, die sich schnell zu einem
höflichen Konkurrenzkampf zwischen
den Familien entwickelten. Der Vergleich
von ausgezeichneten Zeugnissen war
das eine, aber manchmal wurden sogar
schlechte Noten als wohlverdiente Einser
verkauft. Die Erstgeborenen werden von
den Eltern wie auf einem Serviertablett
vorgeführt. Mit dem ältesten Sohn einer
gut befreundeten Familie hatte ich einmal
ein lustiges Gespräch darüber, dass
unsere Mütter über die eine oder andere
Note gelogen hatten. Ich war also in
dieser Situation nicht alleine.
Diese und andere Erlebnisse führten
zur Erkenntnis, dass nicht alles so seriös
verhandelt wird, wie es einem scheint,
und man viele Erfahrungen mit anderen
teilen kann. Je älter man wird, desto
mehr merkt man, dass sowohl Eltern als
auch besonders ihre Weltanschauung
nicht immer perfekt sind und man auch
selbstständige Entscheidungen treffen
darf. Nach dem Willen anderer zu leben,
kann nämlich früher oder später in Unzufriedenheit
enden.
DER ANGST VOR DEM
VERSAGEN DEN RÜCKEN
KEHREN
Nach meinem Schulabschluss
begann ich darüber zu reflektieren, wie
stark mein Leben von Abhängigkeiten
geprägt ist und wie ich das ändern könnte.
Empowerment bedeutete für mich,
offen mit meinen Eltern darüber zu sprechen,
was der Leistungsdruck wirklich
mit mir gemacht hatte und macht. Ich
46 / EMPOWERMENT SPECIAL /
entschied mich, der Angst vor dem Versagen
entgegenzuwirken und diesen Ängsten nicht
mehr die Möglichkeit zu geben, mein Leben
zu beschränken. Als Erwachsene traute ich
mich endlich, eigene Meilensteine zu setzen
und mich daran zu machen, die Erwartungshaltung
zu durchbrechen. Ich entschied mich
trotz der Sorgen meiner Eltern, ein Auslandssemester
zu machen, um ihnen zu zu zeigen,
dass sie nicht immer auf mich angewiesen
sein müssen. Und am wichtigsten war dabei
doch, dass ich mir selbst dadurch beweisen
wollte, dass ich selbstständig handeln und
bewusst aus meinen Komfortzonen heraustreten
kann. Ich hinterfrage ihre Ansichten und
trete skeptisch auf. Ich ließ die Verantwortung
für meine Schwester nicht mehr so leicht an
mir hängen.
Als Erstgeborene will ich mich nun der
Aufgabe widmen, das Generationstrauma
zu durchbrechen und den Jüngeren in
der Familie nicht in einer Vorbildfunktion
gegenüberzustehen, sondern als offener
und unvoreingenommener Mensch. Meine
Selbstbestimmung soll meiner Schwester
das Gefühl geben, dass allein ihre Noten und
Erfolge nichts über sie aussagen. Ich will,
dass sie weiß, dass ich sie trotz jeglicher
Entscheidungen und Handlungen bedingungslos
lieben werde. Ich will, dass meinen Eltern
bewusst wird, dass ihr Leben nicht allein von
ihren Kindern abhängt und sie darauf vertrauen
sollen, dass am Ende alles gut wird.
Egal welchen Weg man einschlägt. Und ich
will meine persönliche Zufriedenheit bewusst
über die Erwartungen anderer stellen, um mir
mein eigenes Bild zu schaffen: von mir – von
der Welt – und von dem Weg, den ich in ihr
gehen will. ●
Fotos: shutterstock
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Tekla Scharwaschidze ist 22 Jahre alt,
kommt aus Georgien, studiert Wirtschaftsund
Sozialwissenschaften an der WU Wien,
engagiert sich sozial- sowie europapolitisch
und setzt sich für die Wichtigkeit von Mehrsprachigkeit,
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Bildung
und Jugend
„AYIP! DAS GEHÖRT
SICH NICHT!“
ANSTAND UND SCHANDE IN DER TÜRKISCHEN
UND KURDISCHEN COMMUNITY
48 / EMPOWERMENT SPECIAL /
„Das kannst du machen, wenn du verheiratet bist!“ „Da kannst du dann mit deinem Mann
hin!“ – Was, wenn eine junge Frau gar nicht heiraten möchte? Was, wenn sie nicht auf
einen Mann angewiesen sein will, um vom Elternhaus unabhängig zu werden? „Ayıp!“
Autorin Şeyda Gün hat es satt, die „vorbildliche“ Tochter in der kurdischen Community
zu sein, auch auf die Gefahr hin, als „eine Schande“ abgestempelt zu werden.
Von Şeyda Gün, Fotos: Zoe Opratko
Ayıp!“ (übersetzt: eine Schande).
Dieser Begriff ist für viele
Frauen aus der türkischen
oder türkischsprachigen
kurdischen Community kein Fremdwort.
Denn wir alle haben zumindest einmal in
unserem Leben etwas gesagt, getragen
oder geglaubt, dass „ayıp“ für unsere
Familie, Bekannte oder sogar Freunde
ist. Einmal war ich auf der Suche nach
einem Outfit für eine kurdische Hochzeit
in Wien. Meine Mama
wollte, dass ich mich der
Community entsprechend
kleide: Das Kleid dürfe auf
keinen Fall zu kurz sein
oder einen Ausschnitt
haben, denn es wäre
„ayıp“, wenn ich nicht
angemessen gekleidet
wäre. Obwohl meine Familie
sich niemals in mein
äußeres Erscheinungsbild
einmischte und mich so
respektierte, wie ich bin,
ging es hier darum, was
andere Menschen in der
Community über mich
denken oder gar reden
würden, wenn ich mir
ein etwas „freizügigeres“
Outfit für den anstehenden Anlass
aussuchen würde. Im Endeffekt habe ich
dann getragen, was mir gefallen hat – ob
die „Leute reden“ ist mir egal.
Denn: Wer bestimmt, wann was
warum „ayıp“ ist? Sowohl in der türkischen
als auch in der kurdischen
Community können viele Dinge eine
„Schande“ für Frauen sein. Mütter und
Väter sind beispielsweise besonders stolz
auf ihre Söhne, wenn die feste Freundin
vorgestellt wird. Wenn die Tochter den
festen Freund aber vorstellen möchte,
herrscht Ausnahmezustand unter den
vier Wänden. Das ist doch ayıp! Frauen
können doch nur den Mann vorstellen,
den sie auch später heiraten, das
besagt der imaginäre Gesetzeskodex der
Community. Bereits in jungen Jahren
werden Mädchen darauf aufmerksam
gemacht, sich „vorbildlich“ innerhalb der
Community zeigen zu müssen. Vorbildlich
sein heißt, in die Schule zu gehen
und dann sofort wieder nachhause,
Den Lästereien in ihrer Community dreht die Autorin den Rücken zu.
nicht bei Freundinnen am Wochenende
übernachten, denn Pyjamapartys sind
ein Tabu. Vorbildlich sein heißt, nicht auf
Partys gehen, nicht im Club zu tanzen.
Auch ich kenne das nur zu gut. Als ich
meiner Mama im Teenageralter sagte,
ich möchte auf Pyjamapartys, dachte sie,
ich scherze. Sie hatte kein Verständnis
dafür, wieso ich bei meinen Freundinnen
zu Hause übernachten sollte. Für
sie war das „ayıp“. Was würden denn
andere dazu denken? Ich erklärte ihr,
dass es das normalste auf dieser Welt
sei und es nur in unserer Kultur einfach
kein Verständnis dafür gebe. Sie
hat sich im Endeffekt mit der Tatsache
angefreundet und akzeptiert, dass es
eine Welt außerhalb unserer Kultur auch
gibt und nichts dagegenspricht, wenn
ich mit meinen Freunden meinen Spaß
habe. Die Pyjamapartys aka Homepartys
waren somit kein Problem mehr. Hätte
ich dieses Gespräch nie gesucht und
versucht, ihr eine Welt außerhalb unserer
Kultur zu erklären, wäre
nie etwas aus den Partys
geworden. Ich kann mich
in dieser Hinsicht glücklich
schätzen, dass dieses
Verständnis entstand.
Heute denke ich an meine
Zeit im Gymnasium zurück
und liebe die Erinnerungen.
Die schönste Zeit,
die lustigsten Erlebnisse,
mit den besten Leuten. All
das, weil ICH mich durchgesetzt
habe.
In unserer Community
heißt „vorbildlich sein“
vor allem, dem Weltbild
der Community gemäß zu
leben, ohne die eigenen
Bedürfnisse jemals
ausleben zu dürfen. Wenn du als Frau
nicht den „vorbildlichen“ Funktionen der
Gesellschaft entsprichst, beginnt deine
Community über dich zu sprechen. Gibt
es Gossip in deiner Community über
dich? Uff, ayıp. Es ist ein Weltuntergang
für Familien, wenn schlecht über die
Tochter gesprochen wird, es ist eine
Schande. Heute frage ich mich, wer
überhaupt das Recht hat, mir und allen
anderen Frauen vorschreiben zu dürfen,
was ayıp ist oder nicht. Ich bestimme für
mich, du bestimmst für dich. Punkt.
/ EMPOWERMENT SPECIAL / 49
„Wir sollten als Frauen nicht bei jedem Schritt, den wir wagen,
aufpassen müssen, ob das nicht ‚ayıp‘ ist.“
DEINE FREIHEIT LIEGT BEI
DIR – NICHT IN DER EHE
„Es ist der Traum von jeder jungen Frau
eines Tages zu heiraten“, heißt es in
unserer Kultur. Stimmt das überhaupt?
Mein Traum war es nie. Diese Art von
Lebensweisheiten verankern sich tief
in den Köpfen von kleinen Mädchen.
Unbewusst wachsen wir mit falschen
Vorstellungen unserer Community auf,
die unserer eigenen Realität weitaus entfernt
liegen, wir aber dennoch denken,
es seien unsere „Träume“.
Keine große Überraschung ist, dass
sich die Weisheiten mit Vorliebe auf
Frauen beziehen, nicht auf Männer.
Während Männer die Freiheit haben,
ihre Ziele im Leben umzusetzen, werden
Frauen ihre Träume vorbestimmt. Apropos
Freiheit: Es gibt unzählige Familien,
die ihren Töchtern alle Freiheit der Welt
versprechen, wenn sie „groß“ sind und
heiraten. „Du kannst die Welt bereisen,
wenn du verheiratet bist!“, „Dort kannst
du später einmal mit deinem Mann
hingehen!“ oder „Das kannst du bestimmen,
wenn du geheiratet hast und dein
eigenes Leben führst!“ sind besonders
beliebte Vorgaben für junge, neugierige
Mädchen der Community. Für mich sind
das nicht nachvollziehbare Aussagen,
die mir Kopfschmerzen bereiten. Wieso
„
Fakt ist, dass wir
leider hinsichtlich der
Bestimmung unserer
eigenen Träume
und Bedürfnisse
blind aufgezogen
worden sind.
“
sollte eine Frau die Welt nicht bereisen
dürfen, ohne verheiratet zu sein? Wieso
müssen Frauen auf den Mann und die
Ehe angewiesen sein, um über sich
selbst bestimmen zu dürfen? Heiraten
und sich damit Freiheiten zu erkämpfen,
wird normalisiert. Frauen führen
laut Community das eigene Leben erst
dann, wenn sie verheiratet sind, als ob
wir davor nicht existieren würden. Dabei
spricht keiner darüber, wie viel Verantwortung
und Risiken die Ehe mit sich
bringt. Fakt ist, dass nicht alle Lebensgemeinschaften
gut enden. Es gibt genug
(Ehe-)Frauen da draußen, die Opfer von
Gewalt werden, sei es physisch oder
psychisch. Und auch ist es nicht so, dass
sich alle Frauen der Community erst
durch die Ehe ihre Freiheiten erheiraten.
Es gibt aber leider genug, die diesem
Ideal nachgehen.
Fakt ist, dass wir leider hinsichtlich
der Bestimmung unserer eigenen Träume
und Bedürfnisse blind aufgezogen
worden sind. Die traurige Wahrheit ist:
Familien geben ihren Töchtern wenig
Recht auf Selbstbestimmung. Es gibt
genug Mütter, Väter, Tanten, Onkel,
Omas und Opas, die für uns Frauen
bestimmen können, was richtig ist und
was nicht. Deine Freiheit liegt aber nur
in deiner Selbstbestimmung, nicht in der
Bestimmung der Anderen. Punkt.
SEI „ANSTÄNDIG“ ODER
SEI EINE SCHANDE
In der türkischen und kurdischen Community
wird uns Frauen meiner Ansicht
nach viel vorgekaut und fertig auf den
Teller serviert. Die Erwartung ist, dass wir
nach ihren Vorstellungen unser Leben
gestalten. Wenn das nicht passiert, ist
es „ayıp“ oder eine Rebellion gegen die
Familie.
50 / EMPOWERMENT SPECIAL /
Unsere Familien und Bekannten
stammen aus einer Generation, die weit
entfernt von unserer Realität leben.
Natürlich kann man die Umstände und
„Weltbilder“, in denen sie aufgewachsen
sind, nicht mit der neuen Generation
vergleichen. Nur weil unsere Familien
konservativ aufgezogen wurden,
bedeutet das aber nicht, dass sie uns
genau so konservativ aufziehen müssen.
Viele junge Frauen leben unter den
Vorgaben ihrer Familien, es gibt wenig
bis keine Selbstbestimmung über das
eigene Leben. Die Erwartung ist groß.
Sei „anständig“, geh in die Schule oder
arbeiten, verzichte auf Clubs und Partys,
heirate den ersten Mann, den du kennenlernst,
sorge für deine Ehe und vieles
mehr. Ich glaube, es fehlt vielen am
Verständnis, dass wir alle unterschiedliche
Individuen mit individuellen Bedürfnissen,
Interessen und Idealen sind. Mich
interessiert das eine, dich interessiert
das andere. Das Leben, das uns vorgekaut
wird, entspricht aber zu oft nicht
unseren Vorstellungen. Wir sollten als
Frauen nicht bei jedem Schritt, den wir
wagen, aufpassen müssen, ob das nicht
„ayıp“ ist. Wir sollten nicht zittern müssen,
dass alte Tanten aus der Community
sich erlauben beim Kaffeekränzchen über
unser Leben herzuziehen oder zu urteilen.
Oft genug stelle ich mir die Frage,
ob sich Frauen aus unserer Community
tatsächlich verwirklichen können. Ob sie
die Frauen sein können, die sie sein wollen.
Ob sie ihren eigenen Interessen und
Idealen nachgehen können. In uns allen
steckt so viel, doch wie viele von uns
trauen sich, den Mut zu ergreifen und die
Normen der Community zu brechen? Es
ist so viel einfacher, sich das Vorgekaute
servieren zu lassen und hinunterzuschlucken,
als zu rebellieren und zu beginnen,
für sich selbst zu bestimmen. Der erste
Schritt ist immer schwer. Aber die Angst
davor, als eine „Schande“ abgestempelt
zu werden, muss überwunden werden.
Früher machte ich mir viel zu viele
Gedanken darüber, ob etwas, was ich
sage, mache oder trage, „ayıp“ ist.
Seitdem ich für mich gemerkt habe, dass
nur ich über mein Leben bestimmen
kann, ist mir alles andere gleichgültig.
Weder muss ich mein Leben nach den
Vorstellungen der Community leben,
noch musst du das. Über uns urteilen
– das tun sie auch so. Gestalte daher
dein Leben so, wie du es möchtest, und
verfolge deine Träume und Ideale. Niemand
hat das Recht, über unser Leben
zu bestimmen. Oder wie man doch so
schön im Türkischen sagt: „Herkesin
hayatına kimse karışamaz“. Lasst uns die
Generation sein, die das ewige „ayıp“ mit
diesem Satz ersetzt. ●
Şeyda Gün ist 24 Jahre alt, studiert Publizistik,
arbeitet bei biber, hat kurdische
Wurzeln und setzt sich für Gleichberechtigung
in ihrer Community ein.
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Auf der langen Suche nach der richtigen Leidenschaft probierte
Autorin Amina Reifenauer-Ben Hassen (20) schon vieles aus. Die
beiden Tanzstile House Dance und Voguing befreiten schon die junge
POC-Queer-Szene in den USA der 70er und 80er Jahre. Wie Amina
in diesen Tänzen ein neues Zuhause fand – trotz geschlossener Clubs.
Von Amina Reifenauer-Ben Hassen, Fotos: Zoe Opratko
MEIN
KÖRPER,
DER BEAT
UND ICH
52 / EMPOWERMENT SPECIAL /
Manche Kinder wollen
AstronautInnen werden,
andere LehrerInnen oder
KünstlerInnen. Wenn man
die kleine Amina fragte, was sie werden
wollte, wenn sie groß ist, war meine
Antwort stets: „Ich will frei sein.“ Wie
wird man in dieser Welt jedoch frei? Das
galt es herauszufinden. Von Theater bis
Bogenschießen hatte ich so ziemlich
alles ausprobiert. Die meisten großen
Hobbys hing ich aber meistens nach
ein paar Monaten schon wieder an den
Nagel. Lange Zeit fehlte mir der Mut zum
Tanzen. Mein erster Schritt in eine Tanzklasse
fühlte sich an wie einer in eine
völlig neue Welt. Ich war sofort hingerissen
von der Energie. Zwischen schwitzenden
Körpern, stickiger Luft und lauter
Musik fühlte ich mich zum ersten Mal so
richtig angekommen. Ich probierte ein
paar unterschiedliche Stile aus. Schnell
war aber klar, dass mir die Stile „House“
und „Voguing“ am meisten gefielen.
VOGUING UND HOUSE:
QUEERE OUTLETS MIT
TRADITION
Beide Tanzstile entstanden in den
1970er und 1980er Jahren und sind
unter anderem darin verwandt, dass sie
dieselbe Musik teilen. Beeinflusst von
unterschiedlichen lateinamerikanischen
und (west-)afrikanischen Tanzstilen hat
sich in den Underground-Clubs von New
York City und Chicago ein bestimmtes
Bewegungsvokabular entwickelt. House
Dance war geboren. In der so genannten
Ballroom-Community, die von der jungen
afroamerikanischen und lateinamerikanischen
LGBTQ+ -Bewegung in New York
geprägt wurde, war Voguing ein Stil,
der vor allem ein Ventil für Menschen
mit Diskriminierungserfahrungen wie
Homo- und Transphobie und Rassismus
war. Und aus den Lautsprechern tönt bei
beiden Tanzstilen: House Musik. Diese
war es auch, die mich an beiden Stilen
sofort fasziniert hat. Wenn ich heute an
Freiheit denke, assoziiere ich sie sofort
mit House Musik.
DIE CLUBS SIND ZU, ICH
TANZE WEITER
Wenn ich die unterschiedlichen House
Dance Szenen in Europa beobachte, fällt
mir auf, dass TänzerInnen bei Battles,
JurorInnen und TanzlehrerInnen meistens
Männer sind. In Wien jedoch ist die
House Dance Community hingegen sehr
weiblich geprägt. Jeder Mensch, welcher
mich bisher im House Dance unterrichtet
hat, war eine Frau. Auch unter den
SchülerInnen überwiegen die Mädchen.
So befinde ich mich in einer Community,
die auf gewisse Art von Frauen geleitet,
gehalten und gegründet ist. In einer
patriarchalen Gesellschaft schenkt mir
so ein Raum unglaubliche Geborgenheit.
Außerdem habe ich durch das Tanzen
wundervolle, emanzipierte Freundinnen
gefunden. Über die Zeit sind sie wie
eine zweite Familie geworden, wir haben
alle gemeinsam mit „House Dance“
begonnen, und uns so angefreundet.
Wir fingen an, regelmäßig gemeinsam zu
trainieren und auf Partys zu gehen. In der
allgemeinen Depression und Hoffnungslosigkeit
der Lockdowns gründete ich mit
drei anderen Tanzkolleginnen gemeinsam
letztes Jahr das „HOUSEFRAUEN“-
Kollektiv. Dort forschen wir weiter an
unserer Liebe zu Housemusik, lernen
gemeinsam mit Platten aufzulegen und
arbeiten an Performanceprojekten.
Nach zwei Jahren Pandemie fehlt uns
allen das Fortgehen schon. Die Sorglosigkeit,
die man empfindet, wenn man
sich um vier Uhr morgens verschwitzt zu
lauten Bässen im Club bewegt. In meinem
Leben ist das Tanzen aber weiterhin
präsent. Tanzen hilft mir, durch mein
chaotisches Leben zu navigieren, und es
hat mir ein Zuhause ermöglicht, obwohl
ich immer das Gefühl hatte, nirgendwo
so recht hineinzupassen. Das Tanzen hat
mir endlich jene unbegrenzte Freiheit
geschenkt, nach der ich so lange auf der
Suche war. Es ist eine Freiheit, für die ich
nur zwei Dinge brauche: meinen Körper
und einen Beat. ●
Amina Reifenauer-Ben Hassen ist
20 Jahre alt, studiert Fotografie und
Philosophie und hat tunesisch - österreichische
Wurzeln. Sie ist gerade Teil der
Biber Akademie und setzt sich am liebsten
mit den unterschiedlichen Lebensrealitäten
marginalisierter Gruppen und
Subkulturen auseinander.
„
Zwischen
schwitzenden Körpern
und stickiger Luft
fühlte ich mich
angekommen.
“
/ EMPOWERMENT SPECIAL / 53
WAS „SICH GEHÖRT“,
BESTIMME ICH.
Putzen, kochen und nebenbei die Hausaufgaben erledigen, während der eigene Bruder
vor der Playstation chillen kann: Unsere 15-jährige Autorin hat es satt, dass in ihrer
Community von Mädchen alles verlangt, aber von Jungs nichts erwartet wird. Sie will
keine Verbote und Gebote mehr hören und bestimmt selbst „was sich gehört.“
Text: Anonym, Illustration: Aliaa Abou Khaddour
54 / EMPOWERMENT SPECIAL /
Du bist ein Mädchen, das
gehört sich so nicht, was
werden die anderen über
dich sagen? Dass deine
Eltern dich nicht richtig erzogen haben
und dass du eine Schande bist? Und wer
wird dich bitte heiraten, wenn du dich so
benimmst? Willst du auch so in Zukunft
mit deinen Schwiegereltern reden?“
Diese Aussagen bekommst du als Mädchen
täglich zu hören, wenn du mal was
machst, was „sich als Mädchen halt nicht
gehört“. Zumindest bei uns. Und ich
kann das alles nicht mehr hören.
„LEBT SIE WIE EINE
EUROPÄERIN?“
Als die älteste Tochter in einem ägyptischen
Haushalt stoße ich oft an meine
Grenzen. Während meine Eltern von mir
erwarten, dass ich gute Noten nachhause
bringe und gleichzeitig wollen, dass
ich den Haushalt mache, kann mein
älterer Bruder nach der Schule gechillt
schlafen und hat absolut keine Verantwortung
zu tragen. Er kann rausgehen
und nachhause kommen, wann er will,
und muss niemandem sagen, wohin er
geht und was er macht. Ich möchte mich
nicht mit ihm vergleichen, weil er älter
ist als ich. Mir macht es nichts aus, dass
ich eben nicht so oft raus darf, weil ich
mich vor allem zur Schulzeit oft gerne
von allem isoliere. Aber um mich allein
geht es hier nicht – ich spreche für viele
junge Frauen aus meiner Community.
Was gehört sich denn alles nicht? Die
Liste ist lang. Es wird über uns Mädchen
geredet, wenn wir oft rausgehen. Ob
wir uns einen schönen Tag mit Freundinnen
machen oder nur ein bisschen
Zeit im Park verbringen, macht keinen
Unterschied. „Sie hält sich nur auf der
Straße auf, hat sie kein Zuhause? Warum
lassen das ihre Eltern zu? Lebt sie
das Leben einer Europäerin?“ Mit „Leben
einer Europäerin“ meinen sie das „freie
Leben“. Dass eine Frau sich von niemandem
was sagen lässt und lebt, wie sie
will. Am liebsten ist es den Eltern, wenn
ihre Töchter immer zuhause sind, brav im
Haushalt mitmachen, stets auf die männlichen
Personen in der Familie hören
und alles tun, was die Familie und ihre
Söhne wollen. Es ist eine Schande, wenn
ein Mädchen widerspricht oder für ihre
Gerechtigkeit spricht. Aber wer bestimmt
denn überhaupt, was sich gehört? Ich
denke ja, dass in manchen Familien die
Männer einfach Minderwertigkeitskomplexe
haben und sich nur mächtig oder
männlich genug fühlen, wenn sie kleinen
Mädchen, ihren Frauen oder Schwestern
Befehle geben oder sie sogar schlagen.
Wenn du ihnen widersprichst, ihnen
Unrecht gibst oder deine Stimme bei
Ungerechtigkeit hebst, fühlen sie sich in
ihrem Stolz gekränkt.
Bei mir zuhause ist das zum Glück
nicht ganz so arg – aber diese patriarchale
Denkweise wird im Alltag trotzdem
gelebt: Meine Mutter erlaubt meinem
Bruder so gut wie alles und behandelt
ihn wie ein kleines Baby. Das hat in den
letzten Jahren dazu geführt, dass er
sich sogar getraut hat, meine Eltern zu
beschimpfen, und dann bekomme ich
von meiner Mutter zu hören, dass sie
nicht mehr weiß, was sie tun soll, weil
sie ihm als Jungen ja nichts verbieten
kann und weil er schon „erwachsen“
ist. Ist man denn mit 18 Jahren wirklich
erwachsen? Oder ist man einfach nur
volljährig und kann alles ohne Erlaubnis
der Eltern machen? Denn meiner
Meinung nach ist man mit 18 noch lange
nicht erwachsen oder reif genug, um
ganz allein über sein Leben zu bestimmen.
Im Haushalt muss er nie was
machen, das wird uns Mädchen überlassen.
. Aber ich lass mir nicht gerne
sagen, was ich zu tun habe. Aufgaben
wie Geschirrabwaschen, Putzen oder
Aufräumen mache ich gerne, wenn es
aus meinem eigenen Willen kommt, aber
wenn mir jemand sagt, wann ich was
zu tun habe, dann will ich es nicht mehr
machen und mach es in den meisten
Fällen dann auch nicht.
„DU WIRST ES NIE
SCHAFFEN, EINEN
HAUSHALT ZU FÜHREN!“
Wenn ich bis 19 Uhr Unterricht habe,
nachhause komme und es gerade mal
schaffe, meine Hausübungen zu machen,
und keine Zeit mehr habe, den Abwasch
zu erledigen, ist am nächsten Tag ein
Riesendrama los. Entweder heißt es,
dass wir als Mädchen eine Schande sind
und es nie schaffen werden, ein Haushalt
zu führen. Meine Eltern schaffen es
manchmal, mir ein so schlechtes Gewissen
zu machen, dass ich am nächsten
Tag um zwei Uhr nachts noch die Küche
putze und meinen Schlaf opfere, weil es
sich mit der Schule anders nicht ausgeht.
Wenn ich es anspreche, endet es in
Streit, Vorwürfen und es eskaliert alles.
„WENN DU VERHEIRATET
BIST UND KINDER HAST,
DANN KANNST DU ES
BESSER MACHEN.“
Ich liebe meine Eltern sehr, sie sind
Menschen, die mich sehr geprägt haben.
Was mich aber stört, ist diese moralische
Erziehung, dass Mädchen so und so sein
sollen und dass ihre Söhne erst dann
männlich genug sind, wenn sie über
alles selbst bestimmen und ihre Freiheit
bekommen. Es stört mich, dass sie ihrem
Sohn so grundlegende und lebensnotwendige
Fähigkeiten, wie Putzen oder
Kochen nicht beibringen. Warum die
Söhne sowas gar nicht lernen sollen?
Weil das Frauenaufgaben sind, die ihre
Männlichkeit gefährden. Das ist doch
lächerlich. Wie soll ich mich darüber nicht
ärgern? Meine Eltern sind selbst so aufgewachsen,
weshalb ich verstehe, warum
sie so sind, meine Mutter kennt es
nicht anders. Auch sie musste sich früh
fügen und gehorchen. Sie hat meinen
Ärger nicht verdient, aber genauso wenig
habe ich ihn verdient. „Wenn du verheiratet
bist und Kinder hast, dann kannst du
es besser machen!“ – Genau, das werde
ich. Ich will, dass wir die Generation
werden, die mit dieser Doppelmoral und
diesen veralteten Traditionen bricht. Die
Generation, die den Söhnen Kochen und
Putzen beibringt. Die Töchter ermutigt,
ihre Meinung zu sagen und nicht dafür
verurteilt. Unsere Kinder, unsere Töchter
vor allem, sollen nicht zu hören bekommen,
dass etwas „eben so ist“, oder dass
man „es selbst auch schwer hatte“. Lasst
uns die Generation werden, die all das
hinterfragt. Jungs alles zu erlauben und
nichts von ihnen zu erwarten und von
Mädchen alles zu verlangen und ihnen
noch mehr zu verbieten – lasst uns die
Generation werden, die DAZU sagt: Das
gehört sich so nicht! ●
Die Autorin ist 15 Jahre alt, hat ägyptische
Wurzeln und geht noch zur Schule.
Sie hinterfragt Rollenbilder innerhalb
ihrer Community und will sich in Zukunft
für Frauenrechte einsetzen.
/ EMPOWERMENT SPECIAL / 55
Wenn weibliche DJs Platz
einnehmen, wird nicht
nur die Musikbranche
vielfältiger, sondern
auch das Nachtleben
sicherer. Wie weiblicher
Zusammenhalt für
nachhaltige Veränderung
sorgt, erklärt Gracia
Ndona aka DJ Zola.
Von Gracia Ndona, Fotos: Ina Aydogan
FRAUEN,
AN DIE MISCHPULTE!
Wir bedanken uns herzlich
beim Club rhiz, den wir als
Fotolocation nutzen durften.
Das aktuelle Programm gibt
es zu sehen unter:
www.rhiz.wien
56 / EMPOWERMENT SPECIAL /
Ihr Frauen habt immer so viele Dinge
in euren Taschen mit. Die Hälfte
davon braucht ihr ja gar nicht! “
Diesen stereotypischen Kommentar
durfte ich mir eines Abends von einem
DJ-Kollegen anhören. Nämlich als ich vor
einem Gig meinen MacBook, den Laptop-
Stand und meinen USB-Hub aus meiner
Tasche holte. Der Barbesitzer hatte mich
für diesen Abend als Headliner und ihn
als Warm-Up-DJ gebucht. Es mag jetzt
vielleicht unfeministisch klingen, doch ich
stimme der Aussage meines DJ-Kollegen
teilweise zu. Denn die Top fünf Gegenstände,
die ich meistens dabeihabe, sind
eine 1-TB externe Festplatte, ein Cinchoder
XLR-Kabel, mein DJ-Controller und
mein Laptop. Doch den Speicher und die
Stromkabel habe ich bisher nur selten
benutzt. Ich verwende also zum Auflegen
tatsächlich weniger als die Hälfte meines
Tascheninhalts. Einerseits, weil die Clubs
und Bars, in denen ich bis jetzt aufgelegt
habe, das ganze Equipment, das ich
brauchte, bereits hatten. Außerdem habe
ich all meine Songs doppelt abgespeichert,
also auch auf meinem Laptop. So,
wie es sich für eine DJ eben gehört.
Ja, ich bin DJ. Keine DJane oder
She-DJ. Viele Menschen denken bei der
Bezeichnung zuerst wahrscheinlich an
einen Mann, der lässig vor dem Controller
steht und dabei nur einen Over-Ear-
Kopfhörer auf dem Ohr hat, mit seiner
linken Hand heizt er die Menge an und
mit der rechten dreht er die komplexen
Knöpfe auf dem Mixer. Doch „DJ“ ist
ein genderneutrales Wort und dieser
englische Begriff die Abkürzung für „disc
jockey“. Er beschreibt jede Person, die
gespeicherte Musik individuell und mit
eigenen Spins auf einem Mischpult wiedergibt.
Und genau das ist es, was ich
mittlerweile seit fast zwei Jahren mache.
So wie viele andere Frauen lange vor mir.
WIR VERÄNDERN DIE
„WELTMUSIK“
Begonnen hatte ich, weil ich einer anderen
DJ beim Auflegen zugesehen hatte
– sie inspirierte mich. Schon in meiner
Jugend war es mein Traum, mein Talent
für das Mixen und die unterschiedlichen
musikalischen Einflüsse, die ich aus meiner
Kindheit kannte, mit der Welt zu teilen.
Allen voran jene, die in den 2000er
Jahren in Wiener Plattenläden unter dem
Genre „Weltmusik“ zusammengefasst
wurden. Musik von Künstler:innen, die
westlichen Musikfans nicht geläufig war,
konnte dort entdeckt werden. Egal, ob
indischer Raga oder karibischer Zouk.
Bereits die vierfache Grammy-
Gewinnerin aus Benin, Angelique Kidjo,
erklärte in einem Interview: „Miriam
Makeba, die südafrikanische Sängerin
und Aktivistin, fragte mich einmal, wer
den Begriff ‚Weltmusik‘ erfunden hatte.
Jemand muss das Genre ‚Dritte Welt
– Musik‘ genannt und das Wort ‚Dritte‘
nachträglich entfernt haben, um politisch
korrekt zu sein. Ich denke, dass
Makeba Recht hatte. Deswegen mag
ich die Bezeichnung ‚Weltmusik‘ nicht.“
Auch ich schloss mich der Meinung
beider Musikerinnen an und wollte dieses
Stigma auflösen, indem ich in gewisser
Hinsicht mitbestimme, welche Musik in
österreichischen Clubs und Bars gespielt
wird.
Seit fast zwei Jahren ist Gracia DJ
Als ich dann mit meinen Freund:
innen, die teilweise selbst auflegten,
über meinen Wunsch sprach, unterstützen
mich alle – selbst die männlichen
DJs! Für Partys meiner Schwestern
hatte ich nämlich schon, als ich 16 war,
mithilfe von gratis Softwares auf dem
Familien-PC Afrobeat und Zouk Mixes
zusammengestellt. Ich brannte damals
auch R&B und Hip-Hop Songs als MP3s
auf CDs und erstellte so meine eigenen
kleinen Mixtapes mit Songs von Brandy,
Beyoncé und vielen mehr. Klassiker.
Und ohne zu wissen, dass es dafür eine
Bezeichnung gibt, probierte ich mich
damals auf mehreren Events als Music-
Selector.
„HOL DEN CONTROLLER
UND MACH EINFACH!“
Tmnit Ghide ist Musikkuratorin und selbst
DJ. Als Mitglied mehrerer all-female
DJ-Kollektive, wie dem Afrodiaspora2.0
/ EMPOWERMENT SPECIAL / 57
in München und der Wiener Gruppe
Bad&Boujee, empfindet sie den Zusammenschluss
talentierter Musikerinnen als
Vorteil. Sie erklärte mir, dass ein Kollektiv
den Frauen in der männerdominierten
Musikszene Sichtbarkeit verschaffte. „Als
Frauen waren wir vielleicht die Exoten“,
beschrieb sie mir, „doch das hat sich
heute geändert.“ Immer wieder treffe
man auf Frauen, die Musik feiern und
meinen, DJ werden zu wollen. Auch als
ich sie traf, motivierte sie mich: „Hol den
Controller und mach einfach!“
Natürlich bleiben wir Frauen auch
in der Musikszene, zu der auch die DJs
gehören, von den üblichen „-ismen“
nicht verschont. Besonders Schwarze
Musikerinnen sind von doppelter Diskriminierung
in Form von Sexismus und
Rassismus betroffen, wobei es in der
Musikbranche meist zu einer Exotisierung
und verstärkten Sexualisierung Schwarzer
Frauenkörper kommt. Doch durch
die weibliche Präsenz in vermeintlich
männerdominierten Spaces können wir
die Welt mitgestalten und so auch die
Musikszene verändern.
Das Kollektiv Bad&Boujee veranstaltete
bereits online Events im so
genannten „Boiler Room“, eine bekannte
Online-Plattform zur Übertragung von
DJ-Sets und Livemusik mit Publikum.
Die Veranstalterinnen achteten darauf,
dass bei ihren Partys immer so genannte
„Awareness-Teams“ anwesend waren.
Das sind Personen, an die man sich
als Feiernde wenden kann, sollte man
in bedrängende Situationen kommen.
Solche Anlaufstellen sind bei queeren
Partys Standard. Selbstverständlich
spricht es nicht für unsere Gesellschaft,
dass wir solche Teams überhaupt
brauchen. Weibliche DJs haben
bestimmt vor mehreren Jahren schon
auf diesen Aspekt aufmerksam gemacht.
Trotzdem finden auch heute noch von
Männern organisierte Partys meist ohne
„Awareness-Teams“ statt. Durch die
Herangehensweise und den Einfluss der
weiblichen DJs kann aber auf solche
Situationen besser geachtet und reagiert
werden.
„DIDN’T COME TO PLAY“
Ganz ehrlich: Frauen und Mädchen, traut
euch! Dinge, die wir uns selbst zutrauen,
sollten wir einfach machen. Denn wir
„
Ich bin DJ.
Keine DJ-ane,
keine She-DJ.
“
„Frauen und Mädchen, traut euch einfach!
Es gibt genug Platz für all unsere Turntables.“
wissen nicht, was wir damit bewirken
können. Technisches Talent und Wissen
hätte ich mir Anfang 2020 auch nicht
zugetraut und der Unterschied zwischen
einem Cinch- und XLR-Kabel hätte mich
wahrscheinlich auch wenig interessiert.
Heute kann ich mit den männlichen DJ-
Kollegen mitreden und der Anblick ihrer
verwunderten Gesichter ist befriedigend.
Tatsächlich gab es einige männliche
DJs, die nach meinen Sets zu mir kamen
und mir sagten, dass sie zu Beginn des
Abends nicht erwartet hätten, dass es
gut werden würde. „I laugh in the faces
of all these people dismissing me“, meint
die südafrikanische Rapperin Dope Saint
Jude in ihrem Track „Didn’t Come to
Play“. Sie lacht all jenen ins Gesicht, die
auf sie und ihr Können herabsehen. Ich
empfinde sie und die Angelique Kidjos
dieser Welt als Vorbilder. Auch Tmnit
sagte mir etwas Ähnliches: „Man sollte
sich nicht von Leuten unterkriegen lassen,
die das belächeln, was wir tun, denn
wir haben was drauf.“ Und der Tisch ist
groß genug für jede von uns und hat
Platz für all unsere Turntables. ●
Gracia Ndona ist 27 Jahre alt und journalistische
Quereinsteigerin mit kongolesischen
Wurzeln. Sie setzt sich für
ihre Community ein, indem sie mit ihrem
Verein ADOE (Afrikanische Diaspora
Österreich) einen Safen Space bietet.
58 / EMPOWERMENT SPECIAL /
TECHNIK & MOBIL
Alt+F4 und der Tag gehört dir.
Von Adam Bezeczky
© Marko Mestrovic, unsplash.com/Tiomothy Swope/Nazarizal Mohammad/Jessi Pena
MEINUNG
Keine Angst vor
Corporations
Im düsteren Cyberpunk-Genre wird die
Welt von Mega-Corporations beherrscht:
Unternehmen, die alle Lebensbereiche
umfassen, alles über ihre Kunden wissen
und so die Weltherrschaft an sich gerissen
haben. Ganz so schlimm ist es in der
Wirklichkeit nicht, aber die Tendenz, dass
große Unternehmen immer größer werden,
ist nicht von der Hand zu weisen:
Mit dem Kauf vom Spieleproduzenten
‚Blizzard Activision‘ hat sich Microsoft ein
ganz großes Stück des Gamerkuchens
gesichert. Sony musste nachziehen
und hat sich ‚Halo‘-Entwickler ‚Bungie‘
gekauft. Der Kampf um die besten Storyteller
ist also vollends ausgebrochen.
Und aller Kritik zum Trotz: Häufig ist eine
Eingliederung in solche Riesenunternehmen
ein Segen für Spieler, denn so bleibt
Entwickler:innen Zeit, ihre Games fertig
zu stellen und sie nicht halb gar auf den
Markt werfen zu müssen.
bezeczky@dasbiber.at
Smarte
Fenster
Drei Studenten der technischen
Uni in Malaysia haben das “Water-
Pod” genannte Gerät entwickelt,
dass aus salzigem Meerwasser
Trinkwasser herstellt. Dazu haben
sie sich an der Mangrovenpflanze
orientiert: Meerwasser wird über
künstliche Wurzeln aufgesaugt,
gesammelt, durch Sonneneinstrahlung
verdampft und das kondensierte
Süßwasser bleibt übrig.
So könnten Gemeinschaften,die
bisher keinen Zugang zu sauberem
Wasser hatten, ohne kostspielige
Geräte versorgt werden.
Die spinnen,
die Römer
Die Römer vor 2000 Jahren waren
eine arg gescheite Truppe. Vieles,
was sie sich damals ausgedacht
haben, findet heute noch Verwendung.
Was sie besonders gut
konnten, war bauen. Sie hatten eine
Betonmischung entwickelt, die unserem
heutigen Baumaterial überlegen
war. Nun hat man herausgefunden,
dass sie Vulkanasche verwendet
haben, womit das Baumaterial über
die Zeit nicht brüchig, sondern sogar
noch fester geworden ist. Da soll
noch einer sagen, man kann nichts
aus der Vergangenheit lernen.
Kein Regenwaldöl
mehr notwendig
Es ist ja ein Wahnsinn, was für Zeug
die Wohlstandsgesellschaft braucht
und wie sehr wir damit unseren Planeten
kaputt machen. Palmöl ist eines
dieser Dinge. Ein Bäcker aus der Nähe
von München hat dafür jetzt, gemeinsam
mit Forschern der Technischen
Universität München, einen Ersatz für
Palmöl entwickelt. Benötigt wird dazu
lediglich altes Brot.
/ TECHNIK / 59
MEINUNG
Nieder mit
Dresscodes & No-Gos!
Ich habe mir für mein LinkedIn-Profil ein
Foto ausgesucht, auf dem ich bewusst
demonstriere, wie ich mich im Alltag stylen
würde: Hosenanzug in lachsrosa, knallroter
Lippenstift und Cat-Eye-Lidstrich. Dezent
finde ich fad, allerdings wird genau das,
zumindest in den Branchen in denen ich
mich bewege, noch immer mit Professionalität
gleichgesetzt. Fällt man aus dem Raster,
muss man jedoch mit schiefen Blicken rechnen
und hat potenziell Probleme, beruflich
Fuß zu fassen. Die einzig sinnvolle Lösung?
Dresscodes und No-Gos sofort für uns und
für future-generations eliminieren. Denn was
bitte hat nonkonformes Auftreten à la Jogginghose,
langer Bart, grüne Haare, Dreadlocks,
Kopftuch, Tattoo oder wie in meinem
Fall „überstyled“ schon mit der Leistung im
Job am Hut? Ah genau, nichts. Die einzigen
Funktionen, die sie haben, sind konservative
Vorstellungen von Professionalität aufrecht
zu erhalten und Menschen das Gefühl zu
geben, nicht sie selbst sein zu dürfen. Aber
es gibt Hoffnung: Letztes Jahr habe ich mir
ein Auslandspraktikum an der Österreichischen
Botschaft mit dunkellila Lidschatten
und Safari-Hose beim Bewerbungsgespräch
gecheckt. Dresscodes ignorieren wird safe
nicht immer gut gehen, auch bei mir nicht.
Aber hey, don’t wait for a key, kick the door
open!
salioski@dasbiber.at
KARRIERE & KOHLE
Para gut, alles gut
Von Šemsa Salioski
FOMO
(„FEAR OF MISSING OUT“)
WAR GESTERN!
Du willst studieren oder einfach
deine Matura nachholen,
aber hast keinen Plan wie du
anfängst? Keine Panik, wir haben
wie immer eine Lösung für dich
parat! Bei den Wiener Volkshochschulen
kannst du verschiedene
Bildungsabschlüsse nachholen
wie zB. die Berufsreifeprüfung
oder Studienberechtigungsprüfung.
Infos zu den Voraussetzungen
die du mitbringen musst, zu
Prüfungen, Vorbereitungen und
Dauer findest du unter https://
www.vhs.at/brp sowie https://
www.vhs.at/sbp. Somit steht deinem
Abschluss nix mehr im Weg!
Veranstaltungstipp
„MIT
BEWERBUNGS-
UNTERLAGEN
ÜBERZEUGEN“
KOSTENLOSES Webinar mit Silke Kaufmann
und Tanja Weber von Uniport
Am 02.03.2022, 10:00-11:30 Uhr
Inhaltliche Schwerpunkte:
● Tipp, Tricks und Stolpersteine rund
um die Erstellung der Bewerbungsunterlagen
● Gestaltungsmöglichkeiten von CVs
● Umgang mit „Lücken“ im Lebenslauf
● Aufbau und Inhalt eines überzeugenden
Bewerbungsschreibens
Anmelden unter: https://www.uniport.
at/fuer-studierende/events/eventdetail/details/webinar-bewerbungsunterlagen
Welche Tabuthemen aus
der Migrant*innen- oder
BPoC-Bubble werden in
deinem Podcast „Gut
integriert“ ganz offen
behandelt?
Es sind alltägliche
Themen. Sei es die
Erwartungshaltung von
migrantischen Eltern an
ihre Kinder oder auch
Rassismuserfahrungen.
Es sind vor allem Aspekte,
die in verschiedenen
Communitys nicht
angesprochen werden,
aber mehr Aufmerksamkeit
bekommen sollten.
Mit meiner Gästin Fitore
Morina (Leiterin von
Zusammen:Österreich)
spreche ich z. B. über die Erwartung an
albanische Frauen, früh zu heiraten.
Warum machst du diesen Podcast?
Ich wollte Lebensrealitäten von Migras,
Zugezogenen und BPoC in den Vordergrund
rücken und
Menschen zeigen, mit
3
welchen Struggles diese
Communitys zu kämpfen
FRAGEN AN:
haben. Ich wollte Empathie
und Verständnis
KRIS
schaffen und eine Plattform
kreieren, auf der
von „Gut integriert“
man sich gegenseitig
zuhört, sich findet und
voneinander lernt.
Wovor würdest du
jüngere angehende
Podcast-Moderator*innen
warnen?
Startet einen Podcast
nicht blind. Habt ein klares
Konzept!! Überlegt
euch, wie euer Podcast
aufgebaut sein soll, wer
und wie viele Menschen
moderieren sollen. Lernt Zeitmanagement.
Die Produktion eines Podcasts ist
ein Haufen Arbeit, macht aber unglaublich
Spaß, wenn man an das Projekt
glaubt.
© Zoe Opratko, Çağrı Çakır
60 / KARRIERE /
Wie kann ich die
Mundgesundheit bei
intubierten Menschen
erhalten
Die Antwort gibt das Pflegestudium
Bachelor of Science in Health Studies
an der FH Campus Wien.
#WissenSchafftPflege
Jetzt informieren auf fh-campuswien.ac.at
Selbermacher
„GOEDENDAG!“
aus der
Landstraße
Authentisch holländische
Snacks und guten
Kaffee gibt es in der
Nähe von Wien Mitte zu
genießen.
Text: Nada El-Azar, Fotos: Markus Korenjak
Klein, aber besonders fein ist es im
„Koffie Dutch Café“ auf der Landstraßer
Hauptstraße. Hier bekommt
man guten Kaffee, typisch niederländisches
Frühstück und Snacks, die für Inhaber
Quinten Versluis die Geschmäcker seiner
Jugend in die Wiener Innenstadt tragen.
Der gebürtige Halb-Schweizer, Halb-Holländer
hat seine Jugend in der Stadt Ommen
in der Provinz Overijissel verbracht und
war schon vor der Eröffnung des Cafés ein
wahrer Gastroprofi. Vormals waren seine in
Wien geborene Ehefrau Marietta und er und
nämlich Foodtruck-Betreiber. „Als wir das
Café kurz vor der Coronapandemie eröffneten,
sprach sich das in der niederländischen
Community sehr schnell herum“, so
der 31-Jährige. Das ursprünglich geplante
„Soft Opening“ fand also nicht statt. „Gleich
am ersten Tag waren Holländer bei uns,
jemand hatte das Lokal fotografiert und in
einer Facebookgruppe geteilt.“ Es gibt Tage,
an denen sich Quinten mit der Kundschaft
sogar mehr in seiner Muttersprache, als auf
Deutsch, unterhält.
NUR MIT ECHT
HOLLÄNDISCHEM GOUDA
Und auch bei nicht-holländischer
Kundschaft ist das Lokal ein guter Ort
zum Einkehren. Täglich frisch bereitet
Marietta herrlich duftende Mehlspeisen
wie Apfeltarte und Kuchen zu. „Im Bereich
der Mehlspeisen sind Österreich und
Holland wohl sehr ähnlich“, so der Inhaber.
Besonderer Beliebtheit erfreuen bei Koffie
zudem die sogenannten „Bitterballen“ –
knusprig gebackene Bällchen, die mit einem
cremigen Rindfleischpaté gefüllt sind, und
mit mildem Senf serviert werden. In seiner
Heimat ist das Gericht ein wahrer Klassiker
in vielen Cafés und Snackbars in den
Niederland, und wird gerne auch abends
zu einem Bier genossen. Das Eiergericht
„Uijtsmijter“, also die holländische Version
von „Ham & Eggs“, wird, so wie der
62 / KARRIERE /
Käsetoast, nur mit authentischem Gouda
zubereitet, welcher speziell aus Holland
importiert wird. „Der Gouda, den man hier
im Supermarkt erhält, ist oft die Verpackung
nicht wert!“, so Quinten. Was in dem
Lokal natürlich nicht fehlen darf, sind süße
Frühstücksvariationen mit „Hagelslag“, also
jenen Schokostreuseln, die auch in keinem
holländischen Haushalt vermisst werden.
KLOMPEN SIND BEQUEME SCHUHE
Nicht nur das Angebot auf der Speisekarte
ist so gehalten, wie Quinten es von Zuhause
kennt. Auch das Interieur stimmt die
Kundschaft passend ein – an der Wand hängt
selbstverständlich ein großes Hollandrad,
und das Trinkgeld ist in einem traditionellen
Holzschuh, wunderbar aufgehoben. Zudem
sorgt ein Strauß aus bunten Tulpen für den
richtigen Farbklecks an der Theke. „Ich
habe so mit sechs oder sieben Jahren
meinem Nachbaren auf einem Bauernhof
gerne geholfen und selbst solche Klompen,
also Holzschuhe, getragen. So wie es viele
Holländer heutzutage immer noch tun.
Klompen sind viel bequemer, als sie aussehen.
Man muss sie halt ein bisschen eintragen“,
garantiert der studierte Ökonom Quinten.
Quintens Ehefrau Marietta zaubert täglich
frisch authentische Mehlspeisen und typisch
holländische „Bitterballen“.
Koffie Dutch Café
Landstraßer Hauptstraße 8, 1030 Wien
WKO-WIEN HILFT
Im Gründerservice der
WKO-Wien kann man bei
einem Beratungsgespräch
alle Fragen stellen, die die
Gründung eines Unternehmens
betreffen. Im Vorhinein
kann man sich auch
schon eigenständig online
informieren. Ob generelle
Tipps zur Selbstständigkeit,
rechtliche Voraussetzungen,
Amtswege oder
Finanzierungs- und Förderungsmöglichkeiten:
Auf
der Website kommt man
mit wenigen Klicks zu allen
wichtigen Informationen.
wko.at/wien
www.gruenderservice.at
Die Selbermacher-Serie ist
eine redaktionelle Kooperation
von das biber mit der
Wirtschaftskammer Wien.
© Randy Faris/Corbis
© Randy Faris/Corbis
Online informieren!
W W www.gruenderservice.at
VON DER IDEE
BIS ZUR GRÜNDUNG
» GRUENDERSERVICE.AT
Basis-Informationen und und Tools Tools zur zur Gründung
finden finden Sie Sie auf auf unserer Webseite.
BEST
IST
BESTE
Du hast keinen Plan,
wie deine berufliche
Zukunft aussieht?
Kein Problem, dafür
gibt es die größte
Bildungsmesse
Österreichs (BeSt),
die von 3.- 6. März
in der Stadthalle
stattfindet.
Die meisten von euch
haben die Frage
sicher schon mal
gehört: „Wo sehen
Sie sich in 5 Jahren Herr/Frau
xy?“ „Pfuuh, keinen blassen
Schimmer, ich weiß ja nicht mal,
was ich heute zum Frühstück hatte!“,
könnte eure ehrliche Antwort
lauten.
Damit ist jetzt Schluss! Auf
der größten Bildungsmesse
Österreichs (BeSt) von 3.-6. März
erfährt ihr alles, was eurer beruflichen
Karriere behilflich sein könnte.
Sowohl PflichtschülerInnen,
die nach dem Abschluss keinen
Plan haben, als auch angehende
MaturantInnen werden auf der
„BeSt“-Messe fündig werden. Du
möchtest im Ausland studieren?
Kein Problem. Du möchtest dich
in einem Fachbereich weiterbilden?
Nichts leichter als das!
Natürlich darf biber bei der
BeSt nicht fehlen. Komm und
check dir die neueste Ausgabe an
unserem Stand. Falls Journalismus
dein Traum sein sollte, dann
komm‘ zum Workshop „Crashkurs
Journalismus“. Dort checken wir,
ob du das Zeug zum Armin Wolf
oder Rezo von morgen hast. Am
Sonntag findet eine Podiumsdiskussion
mit biber-Beteiligung
statt: Ehemalige biber-Akademikerin
Naz Kücüktekin (heute
Kurier) diskutiert mit Anna Jandrisevits
von „die Chefredaktion“
und Presse-Journalist Michael
Köttritsch zum Thema: „Print vs.
Insta, TikTok und Co – wie sieht
die Zukunft des Journalismus mit
der Gen Z aus?“
64 / MIT SCHARF /
BEZAHLTE ANZEIGE
THEORIE UND PRAXIS,
DIE HAND IN
HAND GEHEN
Sabine Jelinek (30) hat 2007 ihre Lehre bei Siemens
begonnen und ist schon ganze 15 Jahre beim
Unternehmen.
Alin Zöchling (19) und Sebastian Hagemann (21) machen
derzeit ein ausbildungsintegriertes Studium an der
FH Campus Wien, bei dem sie nicht nur Immobilienwirtschaft
studieren, sondern gleichzeitig eine Kaufmännische
Lehre bei Siemens absolvieren.
„Montags und freitags sind wir in der Berufsschule und
lernen für die FH-Prüfungen, den Rest der Woche arbeiten
wir an unseren Projekten und haben Besprechungen“, so
Alin. Die Halbspanierin schätzt besonders die abwechslungsreichen
Aufgaben. „Wir konnten direkt in die Arbeitswelt
einsteigen und die Inhalte aus dem Studium sind uns sofort
im Beruf wiederbegegnet“, so ihr Kollege Sebastian. Beide
sind sehr zufrieden mit ihrer Karrierewahl. Bei Siemens Real
Estate ist Alin gerade in der Abteilung Location Management
tätig, während Sebastian im Bereich Controlling arbeitet.
Warum hast du dich für eine Lehre bei Siemens entschieden?
Mir waren Unabhängigkeit und eine gute Balance zwischen
Schule und Arbeit besonders wichtig. Daher war die Lehre
für mich optimal.
Wäre ein ausbildungsintegriertes Studium, wie Alin und
Sebastian es machen, auch etwas für dich gewesen?
Meiner Meinung nach ist eine Lehre der beste Einstieg ins
Berufsleben. Wenn es das damals schon in Kombination
mit einem Studium gegeben hätte, hätte ich das auch
definitiv gemacht!
15 Jahre bei einem Unternehmen sind eine lange Zeit!
Was genießt du daran? Wird man nicht „betriebsblind“?
Mittlerweile genieße ich meinen Bekanntheitsgrad! (lacht)
Gefühlt habe ich schon Gott und die Welt innerhalb von
Siemens kennengelernt, von 2016 bis 2020 habe ich
das Conference Center geleitet, und Events mit Kunden
gemeinsam geplant, und seit Mai 2021 bin ich Community
Managerin beim Work Inn. Obwohl ich schon im 2. Lehrjahr
von Siemens Real Estate übernommen wurde, habe
ich über die Jahre so viele unterschiedliche Tätigkeiten
ausüben können. Bei Siemens ist für jeden etwas dabei.
© Zoe Opratko
Was ist das ausbildungsintegrierte Studium?
Das österreichweit einzigartige ausbildungsintegrierte Studium vereint die Lehre mit einem Studium, bei dem gleichzeitig
Studien abschluss und Berufsabschluss erworben werden. Die Studiengebühren werden dabei vom Unternehmen übernommen.
Für mehr Informationen zu den Ausbildungsmöglichkeiten und zur
Online-Bewerbung hier lang: www.siemens.at/ausbildung
/ MIT SCHARF / 65
Wer ist Investorella? Larissa Kravitz ist
Finanzmathematikerin, ehemalige Aktienhändlerin,
Strategieentwicklerin und
Treasury Managerin. 2019 hat sie die
Plattform Investorella gegründet. Via Social
Media, Workshops, Online-Vorträgen, ihrem
Podcast und Buch „Money, Honey!“ will
sie Frauen das Investieren beibringen und
damit finanzielle Unabhängigkeit fördern.
www.investorella.at
Die wichtigsten Begriffe
schnell erklärt:
DAS INVESTMENT-ABC
FÜR ANFÄNGER*INNEN
Investment liegt im Trend. Aber wie funktioniert das eigentlich? Wie
kann ich sinnvoll Geld anlegen? Worauf muss ich achten? Und was
bedeuten diese ganzen Begriffe? Das erklärt die Finanzexperten und
Investorella-Gründerin Larissa Kravitz.
Interview: Šemsa Salioski
BIBER: Welche sind die wichtigsten
Begriffe, die jeder Neuling kennen
muss, bevor es mit dem Investieren
losgeht?
LARISSA KRAVITZ: Broker, Gebühren,
Aktie, Fonds, Index, KESt und Diversifizierung.
(s. Infobox rechts)
Wie viel Prozent vom Einkommen
sollte man als zu Beginn idealerweise
anlegen?
Wenn man ein reguläres Einkommen
hat, wäre es gut 7-10 % des Vermögens
anzulegen. Das Problem ist
jedoch, dass Sparguthaben durch die
Inflation, also die Teuerungsrate von
Produkten und Dienstleistungen, an
Wert verlieren. Daher ist es besser,
Geld, das man langfristig anlegen will,
in Aktien, Gold und Immobilien zu stecken.
Da dies alles langfristige Anlagen
sind, sollte man nie 100 % investieren,
sondern immer eine kleine Cash-
Reserve auf einem Sparkonto behalten,
denn überraschende Ausgaben
kommen öfter als man denkt. Wenn
man wenig verdient, oder gerade
keinen Job hat, gibt es einen Trick,
wie man trotzdem investieren kann:
Man lässt sich Investments schenken.
Zum Geburtstag, zu Weihnachten,
zu Eid oder Hanukkah kann man
sich von Verwandten z. B. kleine
Goldbarren oder Münzen wünschen.
Welche Anbieter sind für
Anfänger*innen die sinnvollsten?
Es kommt darauf an, was man
braucht. Generell gilt, je mehr man
zahlt, desto mehr Serviceleistung
gibt es. Wenn man schon relativ
genau weiß, was man kaufen will,
und bereits ein gutes Basisverständnis
von Investment hat, dann ist ein
günstiger Anbieter sehr praktisch.
Wenn man erst ganz am Anfang
steht, ist es von Vorteil, einen teuren
Anbieter mit umfassendem Kunden-
AKTIEN: Wertpapiere. Mit einer Aktie
erwerben Aktionär:innen einen Anteil an
einem Unternehmen.
ASSETKLASSE: Gruppe von Finanzprodukten,
die aufgrund gemeinsamer
Merkmale zusammengefasst werden
BROKER*IN: Finanzdienst leister*in,
welche*r im Auftrag von Anleger*innen die
Vermittlung von Handelsobjekten übernimmt
und dafür vor allem Börsen nutzen
CFD (Contracts for Difference oder
Differenzkontrakte): Derivate , die
nicht auf dem Preis des Basiswerts beruhen,
sondern auf der Differenz zwischen
Geld- und Briefkursen aufbauen
DERIVATE: Ein Derivat ist ein Finanzinstrument.
Es funktioniert wie ein Vertrag zwischen
zwei Parteien, der festlegt, dass ein
bestimmter Basiswert zu einem bestimmten
Zeitpunkt zu einem im Voraus vereinbarten
Preis gekauft werden kann oder
muss. Ein Basiswert kann zum Beispiel eine
Aktie oder ein Rohstoff sein.
DIVERSIFIZIERUNG: Risikostreuung,
bei der man beispielsweise Wertpapiere
von Unternehmen aus unterschiedlichen
Branchen und Ländern kombiniert
ETF (Exchange Traded Funds): an
der Börse gehandelte Investmentfonds
FONDS: Geldmittelbestand, der für einen
bestimmten Zweck vorgesehen ist und
durch Spenden oder staatlich finanziert
werden kann
INDEX: Wertpapierkorb, der einen
ganzen Markt, einen Teilmarkt oder eine
Investmentstrategie repräsentiert
KEST: eine Erhebungsform der Einkommensteuer
ZINSENSZINS: Die Zinsen, die man auf
Zinsen erhält
© Avi Kravitz
66 / KARRIERE /
service zu wählen, oder sogar einer Filiale. Ein ganz
wichtiger Aspekt ist hier das Thema Steuern.
Wie werden Gewinne beim Investieren versteuert und
muss man sich selbst darum kümmern?
Es kommt darauf an, in welche Anlageklasse man
investiert. Es gibt so genannte „steuereinfache“ Broker.
Diese ziehen die KESt automatisch ab. Das hat den
Vorteil für Kund*innen, dass sie das nicht selbst erledigen
müssen. Sachwerte wie z.B. Aktien oder Immobilieninvestments
muss man aber selbst versteuern. Das
Thema ist relativ kompliziert, d. h. eine Steuerberatung
ist hierbei sehr empfehlenswert.
Wie findet man heraus, ob ein Investmentportal seriös
ist?
Man sollte sich folgende Fragen stellen: Ist es ein
lokales Unternehmen oder eine Offshore-Gesellschaft?
Ist es transparent genug, was dieses Unternehmen
anbietet und wie es sein Geld verdient? Wenn man sich
nicht sicher ist, ist es besser bei großen, bekannten
Unternehmen und Portalen zu bleiben, bis man genug
Wissen hat und die Branche kennt.
Aktuell sieht man im Internet häufig Werbungen für
verschiedenste Investmentarten, ob Crypto, Aktien,
ETFs, Sachwerte wie Uhren. Sollte man beim Investieren
verschiedene Optionen gleichzeitig in Erwägung
ziehen?
Im Prinzip ist Diversifizierung, also die Streuung auf
verschiedene Assetklassen richtig. Anfänger*innen
sollten darauf achten, mit eher einfachen Anlageformen
zu beginnen, wie z. B. Fonds oder ETFs, da diese
bereits in sich gestreut sind. Danach kann man sich auf
der Komplexitätsleiter hoch wagen. Kryptowährungen
schwanken sehr stark, dessen muss man sich bewusst
sein. Meine Empfehlung an Anfänger*innen: Starte mit
den simplen Dingen und dann arbeite dich alle paar
Monate in eine neue Assetklasse ein. Bilde dich zuerst
zu einem Thema weiter und steige dann erst ein.
Warum sollten sich gerade junge Menschen über
Investmentmöglichkeiten informieren?
Der Hauptgrund hierfür ist der Zinseszinseffekt. Auch
wenn man nur mit sehr wenig Geld beginnt, kann man
über lange Zeit etwas aufbauen. Je länger der Zeitraum
ist, desto mehr Zeit hat man, um sich weiterzubilden
und Fehler oder Verluste zu korrigieren. Wenn man sich
die Aktienindices ansieht, so hat man die wirklich signifikanten
Wertsteigerungen über Zeiträume von 20, 30
oder 50 Jahren. Je früher man beginnt, desto besser.
Welche Nachrichtenportale sollte man als Anfänger*in
verfolgen, um sich einzulesen?
Der Datenlieferant TeleTrader hat eine „Public Workstation“,
auf der man weltweit alle Kurse und alle wichtige
Nachrichten einsehen kann. Um sich weiterzubilden,
sind Newsletter sehr wichtig: ‚FONDS professionell‘ hat
eine tolle Plattform und einen super Newsletter. Auf
‚CAPinside‘ kann man sich als Anfänger*in ebenso für
den Einstieg ausreichend informieren.
Wider
die Macht
Die Kunstsammlung des
Dokumentationsarchivs
des österreichischen
Widerstandes
26.2.2022 – 15.1.2023
Mit der Bahn
von Wien nur
Entgeltliche Einschaltung / Carry Hauser, Ohne Titel, 1969, Glasmalerei, 136,4 x 90 cm
© Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes, Foto: Christoph Fuchs
25 Minuten
nach St. Pölten
KULTURA NEWS
Klappe zu und Vorhang auf!
Von Nada El-Azar-Chekh
Festival Tipp
SALAM ORIENT
FESTIVAL 2022
MEINUNG
Stift und Papier
An meinem ersten Tag im Kindergarten
vor 20 Jahren – ich war damals fünf Jahre
alt – ging meine Mutter auf die „Tante“
zu und sagte: „Geben Sie ihr einen Stift
und Papier und sie wird ruhig bleiben.“
Ich war ein schrecklich hyperaktives
Kind. Gewöhnlich turnte und rannte ich
den ganzen Tag durch die Wohnung und
brachte mir waghalsige Tricks bei, wie
die „Brezel“, bei der ich beide Knöchel
hinter meinem Nacken verschränken und
meinen Körper quasi verknoten konnte.
Durch das Wohnzimmer im Gemeindebau
spazierte ich auch gerne im Handstand.
Einzig beim Lesen, Zeichnen und Schreiben
konnte ich still sitzen. Wahrscheinlich
hätte ich eine großartige Balletttänzerin
oder Turnerin werden können, wären da
nicht die finanziellen Hürden gewesen,
die mein Vater als Alleinverdiener für
meine Mutter und fünf Kinder bewältigen
musste. Später in der Schule lernte ich
dann Kinder kennen, deren Eltern sie
zum Reit- oder Fechtunterricht schickten
und ich beneidete sie für diese „Hobbys“
– auch wenn sie sich diese nicht immer
ausgesucht haben. Aber eines ist mir
geblieben: Die Ruhe, die mir ein Stück
Papier und ein Stift geben können. Und
damit verdiene ich heute sogar meinen
Lebensunterhalt. Ende gut, alles gut.
el-azar-chekh@dasbiber.at
Die 20. Ausgabe des Salam Orient Festivals
wurde pandemiebedingt auf das Frühjahr
verlegt. Neben einem dichten musikalischen
Programm (Hūm, Sofia Labropoulou, Bedouin
Burger und viele mehr!) gibt es auch einen
Schwerpunkt „Bildende Kunst“. Die Ausstellung
„Résistance Naturelle“ des marokkanischen
Künstlers Abdessamad El Montassir wird
begleitend im philomena+ und auf der Foto
Wien (9. – 27. März 2022) gezeigt.
Von 21. März bis 6. April 2022 an diversen
Festivalstandorten. Mehr Informationen unter
salam-orient.at
STARMANIA:
Der große TV-Frühjahrsevent
ab 4. März 2022 auf
ORF 1
Nicht verpassen:
Ab 4. März 2022 startet „Starmania
22“ in die nächste Runde! Freitags um
20.15 Uhr live auf ORF 1.
Mehr Infos: www.orf.at
Buch-Tipp:
HITZE
Der Debütroman „Luster“
der US-Amerikanerin Raven
Leilani galt als einer der
heißesten NYT-Bestseller aus
dem Jahr 2020. Nun gibt es
pünktlich zum Frühlingsbeginn
die deutsche Übersetzung.
Leilani erzählt über die
junge Kunststudentin namens
Edie, die sich mit einem
Verlagsjob gerade so noch
über Wasser halten kann.
Die Afroamerikanerin beginnt
eine Affäre mit einem weißen
Mann namens Eric, der nicht
nur fast doppelt so alt wie
Edie ist, sondern noch dazu
in einer offenen Ehe samt
Adoptivtochter lebt. „Hitze“
wirft einen unverblümten
Blick auf die Sexualität einer
jungen Frau und erforscht
aktuelle Themen wie Rassismus
und prekäre Lebenssituationen
mit ihren Augen.
Erschienen bei Atlantik,
22.- Euro (Hardcover)
© Christoph Liebentritt, Bachar Srour, Christian Borchers
68 / KULTURA /
3 FRAGEN AN…
EBRU TARTICI BORCHERS
Die 1990 in der Türkei
geborene Schauspielerin
Ebru Tartıcı Borchers
(*1990) schließt ihr
Regiestudium am
Mozarteum Salzburg mit
einer Uraufführung von
Carin Jeß‘ „Knechte“ ab.
Gespielt wird das Stück
im Kosmos Theater noch
bis 5. März 2022.
BIBER: Was ist deine größere Leidenschaft? Das Schauspiel
oder die Regie?
EBRU TARTICI: Regie. Als Schauspielerin habe ich es immer
genossen mit meinem Material andere Figuren zu entdecken,
bis ich den Luxus der Regie entdeckt habe. Die Regie
darf viele unterschiedliche Stimmen zusammenbringen und
dadurch eine lebendige, viel spannendere Welt bauen. Die
Person sein zu können, die verbindet, ist ein unbezahlbares
Privileg. Und bis ich meinen Weg finden kann, wie diese
kleine Gesellschaft in jedem Team funktionieren und mit
ihren Bedürfnissen die Größere begrüßen darf, habe ich viele
Fragen, viel Spaß und „Action“.
Du übersetzt auch deutsche Theaterstücke ins Türkische – welche
sprachlichen Unterschiede begeistern dich dabei?
Mich überrascht immer wieder wie emotional die türkische
Sprache wirkt, gegenüber dem pragmatischen Deutschen.
Allem, womit der Mensch in der deutschen Sprache ganz
direkt über den Sinn der Sache redet, lassen die türkischen
Wörter im selben Fall einfach Wünsche zufliegen, ohne dass
man eine tiefere Bedeutung dazu legt. Und während Deutsch
sehr direkt und voller Verben ist, ist Türkisch eine Sprache
der Adjektive... Wir, im deutschsprachigen Raum, sind viel
mehr auf das Handeln fokussiert. Aber in der türkischen
Sprache und Kultur ist die Beschreibung, die Formulierung
und was für Gefühle sie in uns Menschen auslösen viel
wichtiger als die eigentliche Absicht. Das spüre ich bei jeder
Übersetzung.
Welche Unterschiede im Theaterbetrieb hast du zwischen
Österreich und der Türkei feststellen können?
In Österreich plant man deutlich langfristiger. Hier weiß ich,
was ich nächstes und sogar übernächstes Jahr zu tun habe.
In der Türkei geschieht die längste Planung sechs Monate
im Voraus, und das können sich auch nur die großen Häuser
leisten. Und natürlich haben wir dort den politischen Druck,
der uns einerseits einschränkt und andererseits den Drang
vergrößert. Und finanziell gesehen hat man dort kaum Mittel,
kaum Unterstützung. Aber das Repertoire der Häuser ist
vielfältiger. Hier zu Lande stehen oft einige Kultstücke und
ein paar Uraufführungen auf dem Spielplan. In der Türkei
bemüht man sich dafür mehr, den Horizont zu erweitern und
Stimmen aus aller Welt auf die Bühne zu holen.
Take a seat!
Wenn du unter 27 bist, kannst
du jeden Abend ab 30 Minuten
vor Veranstaltungsbeginn eine
Konzertkarte um nur 12 Euro
bekommen.
Mehr dazu findest du unter:
konzerthaus.at/u27
I G G Y P O P
Ó L A F U R A R N A L D S
B U N T S P E C H T
V O O D O O J Ü R G E N S
W I E N E R S Y M P H O N I K E R
M E U T E · M O O P M A M A
G A N S C H & P I X N E R
B R A D M E H L D A U
Y U J A W A N G
U . V . M .
KOLUMNE
BEZIEHUNGSSTATUS: ANGST.
Liebe:r Leser:in, hast du auch das Gefühl wie
ich, dass intime Beziehungen immer verkrampfter,
unverbundener und unmenschlicher
werden? Ich erlebe immer wieder bei
manchen Menschen bestimmte Haltungen
ihrem Beziehungsstatus gegenüber, die mich
narrisch machen. Gefühlt erzählen mir alle
dieselbe Geschichte: „Wir treffen uns regelmäßig
zum Netflixen und Vögeln. Hin und
wieder gehen wir zusammen essen, reden
über alles Mögliche, lachen über Andere
und schreiben einander vor dem Einschlafen
und nicht selten beim Aufwachen, aber
Beziehung würde ich das nicht nennen. Um
Gottes Willen. Wir dürfen nicht mal darüber
reden. Sonst bin ich weg. Klar schweben
da Gefühle, aber ich will mich nicht festnageln und dem
Ganzen die Leichtigkeit nehmen. Ich möchte nebenbei
weiterhin auf Dating-Apps aktiv sein dürfen. Vielleicht matche
ich jemanden, der besser zu mir passt. Verstehst du
mich?“ Wallah, nein, tue ich nicht, aber ich möchte gerne
verstehen. Ich versuche ständig mein Empathievermögen
zu trainieren. Manchmal gelingt es mir besser, manchmal
weniger. Ich will verstehen, warum wir so schnell
und unliebsam Menschen wegwerfen, so wie Kinder ihre
Spielzeuge behandeln, warum wir eine Generation sind,
die Angst vor Intimität und Verbundenheit hat und lieber in
ihren Bedürfnissen und den der Anderen mit einem scharfen
Messer herumstochert. Eine Freundin sagte mir über
ihren Beziehungsstatus, den sie schon monatelang als
„am Laufen“ bezeichnete: „Wenn ich mit dem Typen nicht
offiziell zusammen bin, kann er mich nicht verlassen und
ich bin die Frau meiner Emotionen.“ Nach einigen Wochen
schrieb sie mir weinend, dass der Typ sich nicht mehr
meldet. Sie war traurig, weil ihre Nicht-Beziehung beendet
wurde. What a mess?
Ich möchte nicht den Eindruck erwecken, dass ich ein
Übermensch bin und die Dinge besser mache. Ich habe
ebenfalls meine Bedürfnisse, meine früheren Verletzungen,
Ängste vor Zurückweisung und vorm Verlassenwerden,
die ich mit mir herumschleppe. Aber ich bin überzeugt,
dass man keine tief verbundene Beziehung eingehen kann,
solange man den Panzer der Coolness, des Wildseins und
turjman@dasbiber.at
Jad Turjman
ist Comedian, Buch-Autor
und Flüchtling aus Syrien.
In seiner Kolumne schreibt
er über sein Leben in
Österreich.
der Lässigkeit nicht ablegt. Wenn wir unsere
Verletzlichkeit nicht zeigen können, gibt
es keine echten, authentischen, zwischenmenschlichen
Beziehungen für uns. You
should take risk. Wir Menschen haben den
Hang, immer mehr zu wollen, aber weniger
zu investieren. Es geht mir nicht darum, zu
sagen, dass nur geschlossene Beziehungen
valide sind. Es geht mir um Menschen,
die sich aus Angst nicht bekennen wollen,
die an der Plastikoberfläche ihrer Gefühle
bleiben, diese Ängste Freiheit nennen und
für ihre Bedürfnisse keine Verantwortung
übernehmen. Es geht mir um die innerliche
Leere und unerfüllte Sehnsüchte, die die
Nicht-Beziehung birgt. Was wir brauchen,
ist Mut. Mut, zu unseren eigenen Bedürfnissen zu stehen.
Mut, mit uns die Zeit alleine zu verbringen, die Einsamkeit
auszuhalten und liebevolle Beziehung zu uns selbst pflegen
zu können, und nicht auf jede halb potenzielle Chance
zu springen, um den Schmerz nicht zu spüren.
DU STEHST DIR SELBST IM WEG ZUR LIEBE
Ich bin nicht sonderlich mutig. Ich weiß jedoch, was
ich will, ich möchte Verbindlichkeit und das kann mein
Gegenüber erfüllen oder nicht. Ich habe mich von Tinder
und Co. schon längst abgemeldet. Und das rate ich jedem
und jeder, bevor du Dating-Apps runterlädst, lerne erst mal
diesen einen Menschen im Spiegel kennen. Habe Mitgefühl
mit ihm. Streichle seinen Schmerz. Umarme seine Dämonen.
Realisiere, dass du ein Haufen Emotionen, Hormone
und Bedürfnisse bist, und dass das schön ist. Aber diese
Tatsache darf dich nicht von einem Sumpf in den anderen
zerren. Der Vorteil ist, wenn man mit sich erst mal im Reinen
ist, dass man es nicht nötig hat, seinem Bauchgefühl
zu widersprechen, wenn es uns ganz eindeutig alle Alarmsignale
sendet. Und dass man nicht nur bedürftig ist und
nehmen will, sondern man kann auch geben. Aus diesem
Bewusstseinsstatus wirst du zwangsläufig die richtigen
Menschen anziehen. Rumi schrieb einst: „Deine Aufgabe
ist nicht die Liebe zu suchen, sondern nur die Hindernisse
in dir zu suchen, die du dagegen aufgebaut hast.“
Robert Herbe
70 / MIT SCHARF /
Deine
Stimme
zählt.
Starmania 2022 | ab 4. März
jeden Freitag 20:15
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