HLZ-03-2022-blätterbar
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TITELTHEMA
HLZ 3/2022
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„Klare Kante überzeugt.
Deshalb müssen die
Gewerkschaften wieder
viel kämpferischer
auftreten.“
(David Redelberger)
„Viele Kolleginnen und
Kollegen sind nicht so
kämpferisch. Wir brauchen
auch die Leisen
und Nachdenklichen."
(Vanessa Erlinger)
„familiär vorbelastet“ sind. Aber wir begegnen denselben Individualisierungstendenzen:
Mindestens im ersten Ausbildungsjahr
wollen alle Chefin oder Chef werden. Angesichts des wachsenden
Anteils von Studierenden dürfen wir uns als DGB nicht nur
um die Berufsschulen kümmern, sondern müssen auch an den
Hochschulen noch aktiver werden. Ich weiß, da macht die GEW
schon viel, auch ver.di und auch die IG Metall. Als DGB-Jugend
wollen wir die Aktivitäten zusammenbringen und verstärken.
Thilo Hartmann: Das ist dringend erforderlich. Die Entgrenzung
des Arbeitstags und die enorme Verdichtung der Arbeit sind ja
nicht nur ein Problem der Berufsanfängerinnen und Berufsanfänger.
Ich kann die Kolleginnen und Kollegen gut verstehen,
die irgendwann den Kanal voll haben und am Feierabend oder
Wochenende nichts mehr von Schule hören wollen. Das ist dann
ein Teufelskreis: Die Überlastung, die sich in vielen Gefährdungsanzeigen
niederschlägt, verhindert, dass sich Menschen austauschen,
wie man die Arbeitsbelastung reduzieren kann, und sich
zusammenschließen, um etwas zu verändern. Aber ich bin gar
nicht so pessimistisch, denn wir haben etwas anzubieten. Die tollen
Ergebnisse bei den Personalratswahlen zeigen, dass die Menschen
unsere Arbeit schätzen und dass sie wissen, wem sie die –
zugegeben nicht immer großen – Erfolge zu verdanken haben...
HLZ: Aber ist das nicht genau unser Problem: Wenn „die Personalräte“
und „die GEW“ schon so erfolgreich sind, warum soll
ich mich dann noch selbst aktivieren?
Thilo: Da hast du recht. Aber die Personalratsarbeit ist eine gute
Möglichkeit, die GEW bekannt zu machen und zu zeigen, wie
sie sich von den anderen Verbänden unterscheidet. Auch die
Kontakte der GEW in die Schulen laufen zumeist über die Personalräte.
Henning: Ich möchte noch einmal auf die Bedeutung der Hochschulen
eingehen, wenn es darum geht, die zukünftigen Kolleginnen
und Kollegen an Schulen, in der Sozialen Arbeit, in
Kitas genauso wie in Lehre und Forschung zu gewinnen. Gewerkschaftliche
Arbeit an Hochschulen bietet die Chance, die
„Die Entgrenzung des
Arbeitstags und die
enorme Verdichtung der
Arbeit erschweren auch
das gewerkschaftliche
Engagement.“
(Thilo Hartmann)
Altersstruktur der GEW zu verändern. Die Mitgliedergewinnung
im akademischen Milieu ist eine besondere Herausforderung:
Hier gelten Gewerkschaften als ein Angebot für „die anderen“,
die im nichtakademischen Bereich arbeiten. Die Zahl der
Menschen, die sich einer Gewerkschaft anschließen, entscheidet
schließlich nicht nur über die Ressourcen für die Organisation,
sondern sie ist essentielle Grundlage der demokratischen
und politischen Legitimation der Gewerkschaften. Das zunehmende
Desinteresse an Gewerkschaften ist vor allem die Folge
einer mangelnden kollektiven Selbstwirksamkeitserfahrung.
David: Deshalb halte ich es für wesentlich, dass Gewerkschaften
wieder kämpferischer auftreten. Man muss nicht alles gut finden,
was die GdL tut, aber die Streiks des Bahnpersonals haben
gezeigt, was man bewirken kann. Die GEW darf es nicht dabei
belassen, sich zum Streikrecht zu bekennen, sondern sie muss
das Recht selbst erstreiken…
Thilo: … und der mehrwöchige Streik der Erzieherinnen und Erzieher
zur Aufwertung ihres Berufs hat gezeigt, was GEW und
ver.di bewirken können…
HLZ: Aber ist es wirklich die klassenkämpferische Rhetorik, die
junge Kolleginnen und Kollegen überzeugt? In vielen Punkten
bezieht die GEW in Hessen dezidiert linke Positionen, die nicht
mit dem gegenwärtigen Meinungsspektrum in der jüngeren Generation
übereinstimmen.
Vanessa: Das sehe ich auch so. Viele Kolleginnen und Kollegen
sind da nicht so kämpferisch. Es gibt eben auch die Leisen und
Nachdenklichen – und das sind beileibe keine Duckmäuser. Die
brauchen wir, denn Gewerkschaften haben viele Facetten und
können für viele Heimat sein...
David: Und das sind wir doch auch: Die GEW ist vielfältig, sie
hat ihre Fachgruppen, ihre Arbeitsgruppen und so viele Angebote,
wo man sich engagieren oder auch persönlich profitieren
kann. Dazu gehört der fachliche Austausch genauso wie der
Rechtsschutz oder die gewerkschaftliche Bildungsarbeit. Das
jährlich erscheinende LiV-Spektrum ist so eine hilfreiche und
anerkannte Handreichung für alle neuen Referendarinnen und
Referendare. Und manchmal ist der Stammtisch für Kolleginnen
und Kollegen ein ähnlich gutes Angebot wie die politisch
strukturierte Schulgruppensitzung. Aber trotzdem: Klare Kante
überzeugt. Auch wenn nicht alle überall dabei sind und mit
mir als einem ausgewiesenen Linken übereinstimmen, sagen sie
mir: „Ihr macht wenigstens was und steht zu euren Überzeugungen.“
Dazu gehört für mich auch die klare Abgrenzung von
Positionen und Mitgliedern der AfD.
Vanessa: Versteh mich nicht falsch: Ich will keine leisetreterische
GEW, die ihre Positionen so verwässert, dass sie allen passen.
Aber mir tut es als Förderschullehrerin schon weh, dass
Kolleginnen und Kollegen meiner Profession die GEW verlassen,
weil sie meinen, dass sie dort nicht mehr vertreten werden.