HLZ-03-2022-blätterbar
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DEMOKRATISCHE BILDUNG
HLZ 3/2022
30 3
Gleiche Bildungchancen für alle?
Der Anti-Bias-Ansatz: Die Reise beginnt in uns selbst
Die HLZ 1-2/2022 befasste sich mit den Herausforderungen gesellschaftlicher
Vielfalt und den unterschiedlichen Objekten und
Formen von Diskriminierung. In Ergänzung der Überlegungen,
wie gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit begegnet werden
kann, stellt Nikola Poitzmann in dieser Ausgabe der HLZ den
Anti-Bias-Ansatz vor.
„Wir hängen die kleinen Diebe – die großen schicken wir in
den öffentlichen Dienst“, behauptete angeblich schon der antike
griechische Dichter Aesop im 6. Jahrhundert vor Christus.
Diese „Weisheit“ wird auch heutzutage gelegentlich rezipiert.
Sind demnach alle Menschen im öffentlichen Dienst
Verbrecher:innen. Stimmt das oder handelt es sich hierbei
um ein ärgerliches Vorurteil?
Und damit sind wir auch schon direkt beim Thema: Das
englische Wort „bias“ kann übersetzt werden mit Voreingenommenheit,
Einseitigkeit oder eben auch mit Vorurteil. Niemand
will Vorurteile haben, doch alle haben sie: Schublade
auf, Meinung rein, Schublade zu. Vorurteile beschleunigen
unsere Denkarbeit und vereinfachen die Welt in ihrer Schwierigkeit.
Sie machen das Leben leichter, weil sie einen selbst
erst einmal stärken und die Gruppenzugehörigkeit fördern.
Ursachen und Funktionen von Vorurteilen
Vorurteile beschreiben und beurteilen verallgemeinernd Personen
oder Personengruppen auf der Grundlage von pauschal
zugeschriebenen Eigenschaften. Sie beruhen auf Stereotypen
und Alltagsweisheiten anstatt auf Wissen und werden
oft ohne Überprüfung kritiklos übernommen. Dadurch werden
zum Vorteil der einen und zum Nachteil der anderen die
eigene Bedeutsamkeit und das Selbstwertgefühl durch die
Abwertung von anderen gestärkt. Dies schafft Bindung und
Zusammengehörigkeitsgefühl der einen Gruppe und die Abgrenzung
zur anderen Gruppe. Durch Vorurteile werden Hierarchien
legitimiert und ausgebaut; sie bieten einfache Erklärungen
für komplexe Situationen
So weit, so gut. Oder so schlecht? Junge Menschen erfahren
tagtäglich auch in Bildungseinrichtungen Ausgrenzung
und Diskriminierung durch Erwachsene oder Gleichaltrige.
Diskriminierende Zuschreibungen beziehen sich oft
Das Anti-Bias-Netz wurde 2002 als Zusammenschluss
freier Multiplikatorinnen, Beraterinnen
und Fortbildnerinnen gegründet,
um „Vielfalt im Alltag wahrzunehmen und
wertzuschätzen, Chancengleichheit einzufordern
und Schritte zur Veränderung anzuregen“
(www.anti-bias-netz.org). Eine Neuauflage des
Buchs „Vorurteilsbewusste Veränderungen mit
dem Anti-Bias-Ansatz“ erschien im August
2021 im Lambertus-Verlag. Das Buch, das
Menschen in der Praxis der Sozialen Arbeit
und der Pädagogik ermutigen will, „ihre alltäglichen
Denk- und Handlungsweisen kritisch
zu überprüfen“, kann im Buchhandel und beim
Verlag zum Preis von 25 Euro bezogen werden
(www.lambertus.de).
auf die Vielfaltsdimensionen Geschlecht, sexuelle Orientierung,
„kultureller“ Hintergrund, Hautfarbe, Religion und
Weltanschauung, Alter, körperliche und geistige Fähigkeiten
sowie soziale Herkunft. Die Note 5 eines Kindes aus dem
Akademiker:innenhaushalt war „ein Ausrutscher“, die gleiche
Note des Kindes aus einem bestimmten Viertel mit einem
bestimmten Namen dagegen „voraussehbar“. Umso wichtiger
ist es, gerade im pädagogischen Kontext diese eigenen bewussten
oder unbewussten Vorurteile und Zuschreibungen
zu reflektieren, um Kinder und Jugendliche in ihrer Entwicklung
positiv unterstützen zu können.
Vom Vorurteil zur Diskriminierung
Doch wann genau wird ein Vorurteil zur Diskriminierung?
Der Anti Bias-Ansatz geht davon aus, dass Vorurteile durch
gesellschaftliche vermeintliche Normen und Werte schon in
früher Kindheit erlernt und internalisiert werden. Dabei entstehen
Vorurteile weder individuell noch zufällig, sondern
basieren auf Stereotypen und offenbaren die gesellschaftlichen
Strukturen von Ausgrenzung. Hierbei kommt es zur
Bewertung in Form von Auf- oder Abwertung und zur Kategorisierung
und Differenzierung von Menschen. Zur Diskriminierung
kann es dann kommen, wenn Personen mit situativer
Macht und gesellschaftlichem Einfluss bestimmte
Personen oder Personengruppen abwerten oder ausgrenzen.
Pädagog:innen, die Einfluss auf junge Menschen haben,
müssen in der Auseinandersetzung mit Vorurteilen jedoch bei
sich selbst anfangen. Vorrangig geht es darum, „zu verstehen,
wo Vorurteile sich mit Diskriminierung verbinden“ und
zu Benachteiligungen führen, meint die Anti-Bias-Trainerin
Karin Joggerst (1). Und das lasse sich auch üben, „damit es
gar nicht erst auf die Handlungsebene übergeht“.
Anti-Bias als intersektionaler Ansatz für Bildungsgerechtigkeit
bietet die Möglichkeit, sich kritisch mit den eigenen
Vorurteilen auseinanderzusetzen und auf diese Weise (un)-
bewusster Diskriminierung entgegenzuwirken. Der Anti-Bias-
Ansatz wurde in den 1980er Jahren in den USA von Louise
Derman-Sparks und Carol Brunson-Philipps für die Kleinkindpädagogik
entwickelt und ist von der Social-Justice-Be-
Was bedeutet „Intersektionalität?
Der Begriff „Intersektionalität“ wurde Ende der 1980er Jahre von
der amerikanischen Juristin Kimberlé Crenshaw geprägt. Danach
wirken verschiedene Diskriminierungsformen nicht einzeln für sich
und können auch nicht einfach zusammengezählt werden, sondern
sie beeinflussen sich gegenseitig, wobei auch neue Formen der Diskriminierung
entstehen können. Crenshaw verdeutlicht das mit dem
Bild einer Kreuzung von zwei Straßen: Die eine Straße steht für Geschlecht,
die andere für „Race“. Auf beiden Straßen können Unfälle
im Sinne von Diskriminierung passieren. Wer aber in der Mitte der
Kreuzung steht, hat ein höheres Risiko in einen Unfall verwickelt
zu werden. Das wäre z. B. bei Frauen of Color der Fall. Nur nach
Ungleichbehandlung auf Grund von Sexismus ODER Rassismus zu
schauen, wäre so, als ob erst ein Krankenwagen gerufen wird, wenn
klar ist, von welcher Straße genau das Unfallauto kam.