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JUGENDARBEIT
HLZ 3/2022
26 2
Jugend und Corona
Vernachlässigte Reflexionen in pädagogischen Welten
Mit der Ausbreitung der Pandemie und den pandemiebedingten
Einschränkungen hat sich das ganze Leben in allen gesellschaftlichen
Bereichen und in allen Bevölkerungsgruppen
verändert, auch für die junge Generation. Die Auswirkungen
und Folgen von Corona in den unterschiedlichen pädagogischen
Welten - in Kitas, Schule, Jugendarbeit und Hochschule
– sind für die junge Generation wiederholt beschrieben
und in mehreren Studien untersucht worden. Wiederkehrend
werden die neue Sichtbarkeit von Bildungsungleichheit,
die Lernrückstände und die Grenzen beim Homeschooling
in den Lockdownphasen und bei den Schulschließungen
genannt. Beschrieben werden Gefühlsschwankungen und
Gefühle wie Erosion der Zeitstruktur, Überforderung und
Stress, Einsamkeit und Erschöpfung, Hilflosigkeit und Zukunftsungewissheit.
Insgesamt zeigt sich ein differenziertes Spektrum, aber generell
gilt, dass die junge Generation in ihrer Entwicklung,
ihrem pubertären und adoleszenten Leben vor übergehend „irritiert“,
„ausgebremst“ und „blockiert“ wurde und wird. Das
bisher als „normal“ bezeichnete Jugendleben konnte und kann
phasenweise nicht mehr in seinem Alltag, seinen repetitiven
Gewohnheiten und Rhythmen – aber immer auch spontan,
prä-reflexiv und experimentell - gelebt werden; es unterliegt
den jeweiligen Pandemieregeln und wird damit reguliert.
Bisher kaum untersucht und reflektiert
wurden die Auswirkungen der
Unterbrechung von Routinen in den
Mikrowelten und -prozessen, mit ihren
Handlungsroutinen und gewohnten
Praktiken sowie pubertären und
adoleszenten Dynamiken, die angesichts
der Schließung von pädagogischen
Einrichtungen, Homeschooling,
Wechselunterricht, Hygieneregeln und
Abstands- und Maskenpflicht nur sehr
eingeschränkt gelebt und ausagiert
werden. Auf vier erzwungene Herausforderungen
will ich genauer eingehen.
Kommunikativer Stau
Die alltäglichen, immer auch intimisierten
Kontakte und Entwicklungsthemen,
Mitteilungen von gemeinsamen Erlebnissen
und verbrachter Zeit können
nicht gelebt und besprochen werden.
Diese werden zwar auch digital und in
medialen Kontakten, aber von Schülerinnen
und Schülern vor allem auf dem
Schulweg, in der Pause, dann bei Treffen
und Feiern, an eigenen Orten mit
eigenen Zeiten direkt und face-to-face
kommuniziert. Solche mehr oder wenigen
affektiv aufgeladenen Kommunikationen
und Austauschprozesse haben
ihre eigene psychosoziale Beziehungswelt
und Atmosphäre, „wie man gerade
drauf ist“. Sie folgen vielfach einem
„sprudelnden Redefluss“ und dem Muster
„Das muss ich unbedingt erzählen
und loswerden“. Das manchmal auch
nervige Mitteilen und Teilen oder Dauererzählen
von Selbsterleben und Gefühlswelten
– wie Freude, Ärger, Launen
- entlastet die Psyche, lässt andere
am eigenen inneren und äußeren Leben
teilnehmen und zielt immer auf Kommentierung
und Resonanz. Wenn diese
Austauschprozesse als Welt permanenter
kommunikativer Signale im Sinne
des sich Vergewisserns der eigenen
Identität nicht möglich sind, entsteht
ein emotionaler und kommunikativer
„Stau“, der einen auf sich selbst, auf
mehr innere Monologe zurückverweist.
Sinnliche Körpererfahrungen
Auch Sinnlichkeits- und Körpererfahrungen
waren und sind in den Pandemiephasen
mit den jeweils vorgegebenen
Beschränkungen und Regeln
verbunden. Das gilt für alle Bereiche
des Beziehungsgeschehens, des körperlich-sinnlichen
Agierens und Wahrnehmens,
die von intimen Liebesbeziehungen
über Räume und Zeiten des
Kennenlernens und die Möglichkeiten
der gemeinsamen Bewegung im Sport
und Tanz bis hin zum gemeinsamen
Spiel reichen. Im gewohnten Alltag
sind es Erfahrungen körperlicher Resonanz
wie das Küssen und Händchenhalten,
das Händeschütteln, Umarmen,
Schubsen, Rumalbern, Balgen und Lachen
oder der freundschaftliche Klaps
auf den Rücken.
Aber auch vielfältige ehrenamtliche,
sozial-kommunikative und subjektiv
bedeutsame Engagementformen
als Klassen- und Schulsprecher:in,
Gruppenleiter:in im Jugendverband,
Trainer:in im Sportbereich oder das Engagement
bei Fridays for Future oder
in der studentischen Vertretungsarbeit
können nicht mehr wie bisher wahrgenommen
werden und sind zeitweise
ganz stillgelegt.
Die sinnlich-körperlichen Eindrücke
und die Wahrnehmung finden jetzt im
Medium des digitalen Abstandes und
des Mundschutzes statt. Sie sind verbunden
mit verdeckter Mimik und verändertem
Sprachklang: Man sieht sich
zwar im medialen Kontakt, kann sich
aber nicht anschauen, die Augen haben
keinen direkten Kontakt. Auch das Hören
– man hört sich zwar - ist vielfach
mit Störungen und technischen Problemen
verbunden. Pausen und Schweigen
sind nicht ausgefüllt mit gemeinsamer
Bewegung, Gestik und Mimik, mit einem
gemeinsamen körperlichen Agieren
und Blickkontakt.
• Beispiel Schule: Zu den Mikroprozessen
und sozialen Gefühlswelten gehören
neben dem Unterricht der gemeinsame
Schulweg, die Pausen mit
ihren Gesprächen und Bewegungen,
der gemeinsame Nachhauseweg und
die Vereinbarungen, die in der Schule
für die Freizeit nach der Schule getroffen
werden. Hier werden freundschaftliche
und kommunikative Gefühlswelten
gelebt, erprobt und gespiegelt.
• Beispiel Hochschule: Zu diesem
neuen Lebensabschnitt gehören das
„ganze studentische Leben“ und die
Hochschulsozialisation mit dem Einleben
in die akademische Kultur, der
Auszug aus dem Elternhaus, die Treffen
und Arbeitsgruppen, neue Beziehungen,
Gespräche, Freizeitaktivitäten,
Nebenjobs und neue Lebensformen.
• Beispiel Sport: Zu den sozialen Gefühlswelten
gehören die Vorfreude und
das Treffen in der Umkleide, die Anspannung
vor dem Training oder dem
Spiel, die Freude, beim Training oder im
Spiel ein Tor geschossen zu haben, das