Kunstbulletin April 2022
Unsere April Ausgabe für 2022 mit Beiträgen zu Irena Haiduk, Jean-Frédéric Schnyder, Kunsthochschulen ZHdK, Sammlung Migros Museum, uvm.
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Louise Bourgeois x Jenny Holzer — Kompromisslose Anerkennung<br />
Für die aktuelle Sonderausstellung hat das Kunstmuseum Basel<br />
Carte blanche an Jenny Holzer gegeben, das Werk der Jahrhundertkünstlerin<br />
Louise Bourgeois zu zeigen. Das Ergebnis ist<br />
ein Ereignis. Rund 500 selten ausgestellte Werke sind zu sehen,<br />
zu lesen und in ihrer schonungslosen Kraft zu erfahren.<br />
Basel — Louise Bourgeois und Jenny Holzer begrüssen die Besucher:innen im Neubau<br />
des Kunstmuseums Basel mit zwei Fotos, die auf die Kratzputzfassade des<br />
Vorraums tapeziert sind. Die gebürtige Pariserin Bourgeois ist in dem Haus an der<br />
20 th Street in New York zu sehen, in dem sie seit 1958 und bis zu ihrem Tod 2010 lebte<br />
und arbeitete. Ihr Gesicht ist mit einem Blatt Papier verdeckt. Es ist ein Fax. An wen<br />
sie 2004 die Botschaft «Be Calm» schickte, wissen wir nicht. Zusammen mit einem<br />
Foto, das Jenny Holzer (*1950) vor einer eigenen Arbeit in einer Amsterdamer Galerie<br />
zeigt, wird deutlich, was die beiden Künstlerinnen verbindet: die Arbeit mit Sprache.<br />
Holzer hat die Ausstellung in rund zwei Jahren in enger Zusammenarbeit mit dem<br />
Kunstmuseum und der Easton Foundation entwickelt. Sie greift unter anderem auf<br />
das gesamte Spektrum an Textarbeiten Bourgeois’ zurück: früheste Tagebucheinträge,<br />
Stickereien, Screenprints auf gebrauchten Textilien, Postsäcke und Kleidung, Notizen<br />
und rot pigmentierte Aquarelle. In Ergänzung zu den neun Räumen im Neubau<br />
werden Arbeiten von Bourgeois in der Passage und vier Räumen im Hauptbau im Dialog<br />
mit Sammlungswerken gezeigt. Zudem projiziert Holzer Text von Bourgois auf den<br />
LED-Fries des Museums. Die beiden Künstlerinnen waren sich von Zeit zu Zeit in New<br />
York begegnet. Sie diskutierten über Farbe und die fortwährende Herausforderung, in<br />
der künstlerischen Arbeit «richtige» Entscheidungen zu treffen. Bourgeois’ Aussage<br />
aus einem Interview mit Donald Kuspit von 1989 liest sich wie ein Hinweis darauf, die<br />
Ausstellungsräume als Installationen zu Themen wie Einsamkeit, Verlassenwerden,<br />
Repression, Sublimation, Beziehung zu Mutter und Vater, Fragen der Anerkennung<br />
des Selbst und der Anderen zu verstehen, Themen, die Bourgeois lebenslang begleiteten:<br />
«I am not interested in art history, in the academies of style, a succession of<br />
ideas. Art is not about art. Art is about life, and that sums it up.»<br />
Kunst war für Bourgeois ein Garant für «sanity», geistige Gesundheit. Holzer hat<br />
für jeden Raum eine präzise Auswahl an Arbeiten getroffen, die dieses Kunstverständnis<br />
nachvollziehbar machen. Die Schau beginnt im ersten Raum mit der ersten<br />
Grafikfolge, die Bourgeois schuf, als sie Ende der 1930er-Jahre in New York ein neues<br />
Leben als Frau und Künstlerin in Angriff nahm. Eindrücklich kulminiert die Präsentation<br />
in einem roten Raum, wo das ikonografische Gesamtrepertoire von Bourgeois<br />
zum Thema weibliche Identität und Sexualität aufgeboten wird. Stefanie Manthey<br />
→ ‹Louise Bourgeois x Jenny Holzer – The Violence of Handwriting Across a Page›, Kunstmuseum Basel,<br />
bis 15.5.; mit Künstlerbuch und AR-App zu ‹The Destruction of the Father›, 1974 ↗ kunstmuseumbasel.ch<br />
86 <strong>Kunstbulletin</strong> 4/<strong>2022</strong>