Lars Charbonnier | Antje Pech | Franziska Woellert: Familienorientierung stärken (Leseprobe)
Wir leben in einer Zeit mit weitreichenden gesellschaftlichen Veränderungen. In der Arbeitswelt 4.0 werden lange wirksame Glaubenssätze von Führung und Organisationskultur, von Beruf und Karriere, vom Wert der Arbeit und ihrem Sinn infrage gestellt. Auch die Kirche muss sich den Veränderungen stellen, die aus der wachsenden Komplexität ihrer nicht nur rechtlichen Rahmenbedingungen sowie angesichts schrumpfender Mitglieder und schwindender Ressourcen resultieren. Dabei sollte Kirche – und mit ihr die Diakonie – aus ihrem Selbstverständnis heraus sichtbar und hörbar sein, wenn es darum geht, den gesellschaftlichen Wandel aktiv zu gestalten. Vorbilder schaffen, Werte leben und Veränderung gestalten – dies sind auch wesentliche Aspekte für das evangelische Gütesiegel Familienorientierung. Familienorientierte Personalpolitik hat sich als zentraler Ansatzpunkt zur Förderung einer zeitgemäßen Organisations- und Führungskultur bewährt. Diese Publikation gibt Einblick in aktuelle Entwicklungen und erste Erfahrungen im Umgang mit diesen Ansprüchen. Mit Beiträgen von Regina Ahrens, Lars Charbonnier, Cornelia Coenen-Marx, Ute Gerdom, Bettina Hollstein, Margrit Klatte, Ulrich Lilie, Maria Loheide, Antje Pech, Gert Pickel, Steffen Schramm, Kathrin Wallrabe und Franziska Woellert.
Wir leben in einer Zeit mit weitreichenden gesellschaftlichen Veränderungen. In der Arbeitswelt 4.0 werden lange wirksame Glaubenssätze von Führung und Organisationskultur, von Beruf und Karriere, vom Wert der Arbeit und ihrem Sinn infrage gestellt. Auch die Kirche muss sich den Veränderungen stellen, die aus der wachsenden Komplexität ihrer nicht nur rechtlichen Rahmenbedingungen sowie angesichts schrumpfender Mitglieder und schwindender Ressourcen resultieren. Dabei sollte Kirche – und mit ihr die Diakonie – aus ihrem Selbstverständnis heraus sichtbar und hörbar sein, wenn es darum geht, den gesellschaftlichen Wandel aktiv zu gestalten.
Vorbilder schaffen, Werte leben und Veränderung gestalten – dies sind auch wesentliche Aspekte für das evangelische Gütesiegel Familienorientierung. Familienorientierte Personalpolitik hat sich als zentraler Ansatzpunkt zur Förderung einer zeitgemäßen Organisations- und Führungskultur bewährt. Diese Publikation gibt Einblick in aktuelle Entwicklungen und erste Erfahrungen im Umgang mit diesen Ansprüchen.
Mit Beiträgen von Regina Ahrens, Lars Charbonnier, Cornelia Coenen-Marx, Ute Gerdom, Bettina Hollstein, Margrit Klatte, Ulrich Lilie, Maria Loheide, Antje Pech, Gert Pickel, Steffen Schramm, Kathrin Wallrabe und Franziska Woellert.
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Lars Charbonnier | Antje Pech | Franziska Woellert (Hrsg.)
Familienorientierung stärken
Evangelische Arbeitgeber zwischen
Innovation und Tradition
Vorwort
Die doppelte Lupe:
Wenn nicht jetzt, wann dann?
Um das ohnehin schon einleuchtende Motto »Familienorientierung
groß machen« ganzheitlich zu belegen und im Alltag –
im wahrsten Wortsinne – anfassbar zu machen, bekam ich vor
einigen Jahren von der Projektleiterin Franziska Woellert eine
kleine Lupe mit dem Gütesiegel-Motto geschenkt.
Ein Vergrößerungsinstrument für die Herausforderungen,
die zur Entwicklung des Evangelischen Gütesiegels Familienorientierung
geführt haben:
Die Individualisierung von Lebensentwürfen, eine andere
Weise zu arbeiten – oder besser: das Verhältnis von Leben und
Arbeit zu gestalten, eine immer digitaler werdende Arbeitswelt
und der Mangel an Fach- und Führungspersonal sind einige
der bekannten Gründe, mit einer bewussten und in der Organisation
verankerten familienorientierten Personalverantwortung
auf diese Herausforderungen zu reagieren. Eine Lupe
hilft wirklich, sich besser zu konzentrieren und Klarheit in
die Dinge zu bringen.
Vor etwa zehn Jahren brachten die Ergebnisse einer Studie
des Sozialwissenschaftlichen Instituts ans Licht, dass es in Kirche
und Diakonie durchaus viele Anstrengungen zur Fami -
lienfreundlichkeit gibt. Aber sie bewegten sich oft auf »einer
geradezu selbst familiären und informellen Ebene« 1 , sind kaum
1
Zitat von Gerhard Wegner, in: Rinklake, Thomas / Marchese, Elisa / Mayert,
Andreas / Halfar, Bernd (2012): Familienorientierte Personalpolitik in Kir-
5
Vorwort
strukturell verankert und werden selten als strategische und
organisatorische Ziele in Kirche und Diakonie angesehen. Diese
Erkenntnis hat unter anderem zum Evangelischen Gütesiegel
Familienorientierung geführt und inzwischen sichtbar und
spürbar Wirkung entfaltet.
Das Verhältnis von Leben und Arbeiten in Kirche und Diakonie
ist nicht nur ein Faktor individueller Zufriedenheit, Arbeitsmotivation
und Leistungsbereitschaft, sondern auch ein
zentrales Thema evangelischer Verantwortung in kirchlichen
Körperschaften und diakonischen Unternehmen und Werken.
Sinnerfüllt zu arbeiten und zufrieden zu leben sind Kennzeichen
dessen, was die Bibel »Leben in Fülle« nennt.
Beide Aspekte erfordern die feste und dauerhafte Verankerung
von Familienorientierung in der Organisationsgrammatik
von Kirche und Diakonie, damit das Gelingen auf Dauer
nicht nur von einzelnen Personen abhängig ist. Insofern war
die zeitweilige Bürogemeinschaft der Führungsakademie mit
dem Evangelischen Gütesiegel Familienorientierung für beide
Seiten ein gegenseitig sich befruchtender Lernweg, der seine
Wirkungen bis in die vorliegende Veröffentlichung sichtbar
und lesbar entfaltet. Ich danke an dieser Stelle Dr. Silke Köser
für ihre klaren Impulse und alle Beharrlichkeit auf diesem
Weg.
Und dann noch einmal die Lupe: Die Corona-Pandemie
hat viele Fragen unseres Lebens wie durch ein Brennglas deutlicher
und klarer werden lassen. Davon können wir nicht nur
unsere individuellen Geschichten erzählen, sondern auch viele
Lerngeschichten aus unseren Arbeitszusammenhängen.
che und Diakonie. Sozialwissenschaftliches Institut der EKD. Hannover.
S. 6.
6
Hierzu zählen ganz sicher ein neues Verständnis von Arbeit
im Homeoffice, eine veränderte Meeting-Kultur, die gestiegene
Wertschätzung für Fürsorgearbeit und sogar eine andere Führungskultur,
in der Vertrauen den Vorrang hat.
Also: Familienorientierung groß machen! Wenn nicht jetzt,
wann dann?
Peter Burkowski
Berlin im Oktober 2021
Vorwort
7
Inhalt
Einführung
Familienorientierung stärken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13
Evangelische Arbeitgeber zwischen Innovation und Tradition
Lars Charbonnier, Antje Pech, Franziska Woellert (Hrsg.)
Erster Teil:
Trends und Entwicklungen
Familien in der neuen Arbeitswelt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19
Maria Loheide und Hanna Pistorius
Betriebliches Familienbewusstsein und Doing Family. . . . . . . . . . . . . 30
Dr. Regina Ahrens
Arbeitswelt 4.0 – Diakonie im digitalen Wandel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52
Herausforderungen und Chancen
Ulrich Lilie
Weniger, älter, vielfältiger. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59
Wo steht der demografische Wandel heute?
Franziska Woellert
Vom Ehrenamt zu Volunteering. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79
Prof. Dr. Bettina Hollstein
9
Inhalt
Zweiter Teil:
Kirche zwischen Tradition und Innovation
Das Personal und der Auftrag der Kirche. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95
Einige pointierte Gedanken zum Stand von Organisationsund
Personalentwicklung in der Kirche
Dr. Lars Charbonnier
Engagierte für die Gestaltwerdung des Leibes Christi . . . . . . . . . . . . . 104
Eine kybernetische Perspektive auf das Personal des
nächsten landeskirchlichen Organisationsmodells
Dr. Steffen Schramm
Job vs. Berufung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127
Was will der Nachwuchs in den verkündigenden Berufen?
Prof. Dr. Gert Pickel
Kirche ohne Ehrenamt?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139
Cornelia Coenen-Marx
»Catch me if you can«. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153
Freiwilligendienste als eine Form der
Nachwuchsgewinnung für Kirche und Diakonie?!
Ute Gerdom
Erwerbs- vs. Fürsorgearbeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170
Das Evangelische Gütesiegel Familienorientierung
als Managementinstrument für eine offene Organisationskultur
Franziska Woellert
Dritter Teil:
Ideen und Erfahrungen aus der Praxis
Vereinbarkeit im Pfarramt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191
Familienorientierung als Aufgabe der Personalpolitik
und -begleitung
Margrit Klatte
10
Inhalt
Erfolgreiche Stellenbesetzung in Kirche – Wie geht das?. . . . . . . . . . . 212
Kathrin Wallrabe
Vom Wert des Beginnens. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231
Familienorientierung aus der Praxis der verfassten Kirche
Antje Pech
Geben und Nehmen als Grundkonsens der Zusammenarbeit. . . . . 257
Interview mit Oliver Latzel, Vorstand Evangelischer
Kirchenkreisverband Berlin Süd-West
Familienorientierung ist ein Türöffner. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264
Interview mit Semra Başoğlu, Leiterin Stabstelle
Organisationsentwicklung und Unternehmenskommunikation,
Diakonie Altholstein GmbH
Liste der Autorinnen und Autoren. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272
11
Einführung
Lars Charbonnier, Antje Pech,
Franziska Woellert (Hrsg.)
Familienorientierung stärken
Evangelische Arbeitgeber zwischen Innovation
und Tradition
Wir leben in einer Zeit mit weitreichenden gesellschaftlichen
Veränderungen, in der viele bisher geltende Prämissen, Grenzen
und Normen ins Wanken geraten: Demografischer Wandel,
Individualisierung, Globalisierung und Diversität rütteln
traditionelle soziale Rollenbilder und persönliche Lebensläufe
durcheinander. Technischer Fortschritt und Digitalisierung
ermöglichen uns völlig neue Wege, miteinander in Kontakt
zu treten und unsere verschiedenen Lebensbereiche zu verbinden.
Und in der Arbeitswelt 4.0 werden lange wirksame
Glaubenssätze von Führung und Organisationskultur, von
Beruf und Karriere, vom Wert der Arbeit und ihrem Sinn in
Frage gestellt.
Nicht zuletzt die Corona-Pandemie hat uns vor Augen
geführt, wie schnell sich globale Ereignisse auf unsere eigene
Gesellschaftsstruktur und in unseren individuellen Mikrokosmus
hinein auswirken können. Sie zeigt auch auf, wie wichtig
es ist, den sozialen Zusammenhalt zu stärken, um der gefühlten
Entropie etwas entgegensetzen zu können. Doch es
reicht nicht aus, all den Berufsgruppen, die Menschen in der
Versorgung ihrer physischen und psychischen Grundbedürfnisse
unterstützen, in Zeiten der allgemeinen Verunsicherung
zu applaudieren. An der Arbeitssituation von Supermarktan-
13
Einführung
gestellten, Müllmännern und Feuerwehrfrauen, Pädagogen
und Seelsorgerinnen bis hin zu den medizinischen Berufen
und dem Pflegepersonal hat das bisher wenig geändert. Die
Systemrelevanz der Berufsgruppen, die professionelle Care-
Arbeit im weiteren Sinne übernehmen, muss sich in unserem
gesellschaftlichen Hierarchiedenken erst noch durchsetzen,
wenn wir für all diese Aufgaben auch zukünftig qualifizierte
und engagierte Fachkräfte finden möchten. Schon heute bleiben
viele dieser Stellen vakant, sodass Angebote im sozialen
Kontext trotz wachsender Bedarfe in vielen Regionen nur noch
eingeschränkt oder mit geminderter Qualität zu finden sind.
Hier braucht es ein klares gesellschaftspolitisches Bekenntnis,
das zu tatsächlichen Veränderungen führt, und innovative
Gestaltungsräume, um von den aktuellen Entwicklungen
nicht überrannt zu werden.
Diese Entwicklungen gehen an der Evangelischen Kirche
nicht vorbei. Kirche muss sich den Veränderungen stellen, die
aus der wachsenden Komplexität rechtlicher Strukturen, in
der Gesamtzahl zahlenmäßig abnehmender und alternder
Mitglieder, schwindender finanzieller Mittel und dem Fachkräftemangel
resultieren. Angesichts dieser Aufgaben sind die
Stärken eines über Jahrhunderte gewachsenen kirchlichen
Selbstverständnisses gleichzeitig die Schwächen. Veränderungen
passieren im kirchlichen Kontext meist aus einem ba -
sisdemokratischen Verständnis heraus lähmend langsam.
Innovative Ideen treffen auf formale Strukturen, die Entscheidungen
auf größerer Ebene verunmöglichen oder verwässern.
Das hohe Engagement vieler kreativer und einsatzbereiter
Menschen trägt im kleinen Raum, wird aber selten gesamtgesellschaftlich
wahrgenommen.
Dabei kann und sollte Kirche – und mit ihr die Diakonie –
schon aus ihrem Selbstverständnis heraus sichtbar und hörbar
14
Einführung
sein, wenn es darum geht, miteinander neue Ideen zu entwickeln,
um den gesellschaftlichen Wandel zu gestalten. Kirche
kann einerseits einen Raum schaffen, um in einer Zeit der unsicheren
Entwicklungen Orientierung und Halt anzubieten.
Andererseits kann Kirche als Impulsgeberin mit innovativen
Ideen nach vorne schauen, eine Experimentierfläche für gesellschaftlichen
Wandel schaffen und dabei selbst als gutes
Beispiel vorangehen.
Wie das gelingen kann, zeigt beispielhaft das Evangelische
Gütesiegel Familienorientierung – ein gemeinsames Angebot
der Evangelischen Kirche und der Diakonie. Vorbilder schaffen,
Werte leben und Veränderung gestalten sind auch hier die wesentlichen
Merkmale, für die das Evangelische Gütesiegel Familienorientierung
steht. Denn die sichtbare und transparente
Ausgestaltung betriebsinterner Maßnahmen zur Vereinbarkeit
von Beruf und Familie tragen nicht nur dazu bei, Mitar -
beitende zu halten und neue Fachkräfte zu gewinnen. Familienorientierte
Personalpolitik hat sich vor allem als zentraler
Ansatzpunkt zur Förderung einer zeitgemäßen Unternehmens-
und Führungskultur bewährt. Hier kann Kirche zeigen,
dass sie das, was sie predigt, auch im eigenen Umfeld
umsetzt.
Die vorliegende Publikation greift diesen Gedanken auf.
Von unterschiedlichen Perspektivebenen werden die aktuellen
Trends auf dem Arbeitsmarkt diskutiert und mit den Chancen
einer starken familienorientierten Personalpolitik in Kirche
(und Diakonie) in Zusammenhang gebracht. Der erste Teil
gibt einen Überblick über wesentliche Veränderungsprozesse,
die den kirchlichen und sozialen Arbeitsmarkt im Allgemeinen
betreffen. Im zweiten Teil geht es explizit um Fragestellungen
und Lösungsansätze, die sich aus den Veränderungsprozessen
im Kontext kirchlicher Arbeits- und Lebenswelten ergeben.
15
Einführung
Der dritte Teil zeigt anhand von praktischen Beispielen Umgangsweisen
für evangelische Arbeitgebende auf.
Die Publikation ist entstanden aus einer Zusammenarbeit
der Führungsakademie für Kirche und Diakonie (fakd), dem
Evangelischen Gütesiegel Familienorientierung und Antje
Pech, Superintendentin des Kirchenbezirkes Löbau-Zittau,
Evangelisch-Lutherische Landeskirche Sachsens. Die Führungsakademie
für Kirche und Diakonie, vertreten durch den
damaligen Geschäftsführer Peter Burkowski und dem jetzigen
Geschäftsführer Dr. Lars Charbonnier, hat die Entstehungsund
Gestaltungsgeschichte des Evangelischen Gütesiegels Familienorientierung
von Anfang an begleitet und unterstützt.
Die Leistung und das Engagement von Dr. Silke Köser, Studienleiterin
bei der fakd, sei hier noch besonders hervorgehoben.
Ohne den unermüdlichen Einsatz von Dr. Köser und ihren
festen Glauben an den Erfolg des Zertifizierungsangebotes
würde es das Evangelische Gütesiegel Familienorientierung
in seiner jetzigen Form nicht geben. Franziska Woellert leitet
seit 2016 das Evangelische Gütesiegel Familienorientierung
und hat das Zertifizierungsverfahren maßgeblich gestaltet
und umgesetzt. Antje Pech hat als Superintendentin des Kirchenbezirkes
Löbau-Zittau 2018/19 an der Pilotphase zum
Evangelischen Gütesiegel Familienorientierung teilgenommen
und mit als Erstes bewiesen, dass eine strukturell verankerte
familienorientierte Personalpolitik in allen kirchlichen Strukturen
sinnvoll umgesetzt und gelebt werden kann.
16
Erster Teil:
Trends und
Entwicklungen
Maria Loheide und Hanna Pistorius
Familien in der neuen
Arbeitswelt
1. Familie heute
Die Familie ist der wichtigste Lebensbereich für die Menschen
in Deutschland. Das hat sich trotz aller gesellschaftlicher
Veränderungen in den letzten Jahren nicht geändert. Statistiken
zeigen in den vergangenen 15 Jahren ein nahezu un -
verändertes Bild, wonach für 77 Prozent der Menschen die
Familie der wichtigste Lebensbereich ist, noch vor dem Beruf
und Freunden (BMFSFJ 2020: 35). Was sich jedoch geändert
hat, ist das, was als Familie angesehen und wie sie gestaltet
und gelebt wird. Familie ist nicht mehr nur die
Kernfamilie aus Mutter, Vater und ein bis zwei leiblichen
Kindern. Aus evangelischer Perspektive werden unter Familie
alle Lebensformen gefasst, bei dem Menschen direkte
Verantwortung für andere übernehmen. Der Familienstand
ist dabei irrelevant, und es spielt keine Rolle, welches Geschlecht
die Menschen haben und ob sie sich um Kinder oder
pflegebedürftige Angehörige kümmern. Familie wird als
verlässliche und sorgende Gemeinschaft verstanden, die es zu
stärken gilt. Familie bezeichnet Stief- und Patchworkkon -
stellationen, Alleinerziehende, Pflegefamilien, Regenbogenfamilien,
unverheiratete und verheiratete Eltern und komplexe
familiäre Beziehungen gleichermaßen. Dieses Familienbild
wird von einem Großteil der Bevölkerung geteilt (BMFSFJ
2020: 36).
19
Maria Loheide und Hanna Pistorius
Neben der Zusammensetzung der Familien hat sich auch
das Rollenverständnis der Familienmitglieder verändert. Das
klassische Familienbild ist durch das Ideal der bürgerlichen
Familie geprägt, das im 18. Jahrhundert durch die Trennung
von männlicher Erwerbswelt und weiblicher Familiensphäre
entstanden ist. Das klassische Familienbild hat sich im Nachkriegsdeutschland
zum gesellschaftlichen Leitbild entwickelt
(Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland 2013: 31ff.). Während
der Mann/Vater nach diesem Leitbild einer Erwerbsarbeit
nachging, übernahm die Frau/Mutter sämtliche Sorgearbeiten
in Familie und Haushalt, wie Organisation des Familienalltags,
Kinderbetreuung, Haushaltsführung und häufig auch Pflege
und Unterstützung von Angehörigen oder Nachbar:innen.
Dieses Bild hat sich in den letzten Jahrzehnten mehr und mehr
verändert. Im europäischen Vergleich ist in Deutschland der
Wunsch nach einer gleichberechtigteren Aufgabenteilung zwischen
Frauen und Männern überdurchschnittlich hoch ausgeprägt.
Das Rollenbild von Müttern und Vätern hat sich
schrittweise angenähert. Die Erwerbstätigkeit gehört heute
selbstverständlich zum Rollenverständnis von Müttern, und
Verantwortung für die Kinderbetreuung wird von Vätern
heute von der Mehrheit der Bevölkerung selbstverständlich
erwartet (BMFSFJ 2020: 129).
Doch wie sieht die Realität tatsächlich aus? Mütter sind
zunehmend erwerbstätig, allerdings ist die Erwerbsbeteiligung
von Müttern in hohem Maße abhängig von dem Alter ihrer
Kinder. Mütter von Kindern unter drei Jahren waren 2019 nur
zu etwa einem Drittel erwerbstätig. Zudem arbeiteten in dieser
Gruppe mehr als zwei Drittel in Teilzeit. Während die Teilzeitquote
bis zur Volljährigkeit des jüngsten Kindes durch -
gehend zwischen 46 und 51 Prozent liegt, wächst mit zunehmendem
Alter des Kindes die Vollzeitquote der Mütter
20
Familien in der neuen Arbeitswelt
kontinuierlich an, erreicht aber lediglich einen Höchstwert
von 30 Prozent (jüngstes Kind zwischen 15 und 18 Jahre).
Dagegen ist die Vollzeiterwerbstätigkeit für Väter nach wie
vor noch die Regel. Väter sind – fast unabhängig vom Alter des
jüngsten Kindes – deutlich häufiger erwerbstätig als Mütter
(zwischen 81 und 85 Prozent) und das überwiegend in Vollzeit
(zwischen 75 und 81 Prozent). Teilzeitarbeit spielt mit rund
5,8 Prozent unter den erwerbstätigen Vätern weiterhin kaum
eine Rolle (Statistisches Bundesamt 2020).
In dem Maße, in dem Frauen in Erwerbsarbeit einsteigen,
reduzieren Väter ihre Stundenzahl nicht. Dadurch entsteht
die Frage, wer die Sorgearbeit übernimmt, die in der traditionellen
Rollenverteilung von den Frauen ausgeführt wurde.
Denn der Aufwand an Sorgearbeit bleibt bestehen, auch wenn
Frauen einer bezahlten Tätigkeit nachgehen. Solange diese
Frage ungelöst ist, entstehen Probleme in der Vereinbarkeit
von Familie und Beruf.
Eine Möglichkeit zur besseren Vereinbarkeit besteht darin,
die Sorgearbeit in professionelle Hände abzugeben. Heute hat
jedes Kind in Deutschland ab einem Jahr einen Anspruch auf
einen Platz in einer Kindertagesbetreuung. Auch der Bedarf
an Plätzen zur Pflege von pflegebedürftigen Menschen steigt
kontinuierlich an (Statistisches Bundesamt 2021, Bertelsmann
Stiftung 2012: 10f.). Doch mit der Betreuung kleiner Kinder
und der Pflege und Versorgung älterer oder kranker Menschen
ist die Sorgearbeit nicht abgedeckt. Die Kinder müssen morgens
angezogen, in die Kita gebracht und wieder abgeholt,
Arztbesuche müssen organisiert, Geschenke besorgt und Freizeitaktivitäten
geplant werden. Und dabei muss auch die tägliche
Hausarbeit wie Waschen, Putzen, Einkaufen und Kochen
erledigt werden. Diese Tätigkeiten werden immer noch in der
größten Mehrheit von Frauen und Müttern bewältigt. Aller-
21
Maria Loheide und Hanna Pistorius
dings übernehmen auch Väter immer häufiger diese Aufgaben
(BMFSFJ 2020: 129).
Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist durch die zunehmende
Erwerbstätigkeit von Müttern ein gesellschafts -
relevantes Thema geworden, doch ist die Vereinbarkeitsfrage
nicht mehr allein ein Frauenthema. Sie betrifft in wachsendem
Maße alle Eltern und zunehmend auch Angehörige, die Pflegeaufgaben
übernommen haben.
Welche wirtschaftliche und gesellschaftliche Relevanz die
Vereinbarkeit von Familie und Beruf, insbesondere die Betreuung
von Kindern, hat, haben die Corona-Pandemie und die
damit einhergehenden Schul- und Kitaschließungen sehr eindrücklich
gezeigt. Die Berufstätigkeit ohne reguläre Kinderbetreuung
aufrechtzuerhalten, hat viele Familien vor Heraus -
forderungen gestellt, besonders diejenigen, in denen beide
Elternteile vergleichsweise egalitär berufstätig waren (BMFSFJ
2020: 21ff.). Den Familienalltag zu bewerkstelligen, gelang besonders
gut den Eltern, deren Arbeitgeber:innen unkompliziert
und schnell familienfreundliche Arbeitsbedingungen herstellen
konnten (BMFSFJ 2020: 28).
2. Die neue Arbeitswelt
Die Corona-Pandemie, in der zeitweise sämtliche Betreuungs-,
Bildungs- und Freizeiteinrichtungen für Kinder geschlossen
wurden, hat wie ein Brennglas deutlich gemacht,
welche wirtschaftliche Bedeutung die Vereinbarkeit von
Familie und Beruf hat. Das wurde nicht nur in der breiten
Öffentlichkeit so wahrgenommen, das haben auch die Unternehmen
verinnerlicht: »82 Prozent der Unternehmen sagten,
dass Kinderbetreuung ein zentraler Faktor für die Produktivität
22
Dr. Regina Ahrens
Betriebliches Familienbewusstsein
und Doing Family
1. Einführung
Auf dem Weg in die neue Arbeitswelt gewinnt das Thema Employer
Branding immer mehr an Bedeutung. Der Begriff steht
für den Aufbau einer positiven Arbeitgebermarke und deren
Kommunikation nach innen und außen. Ziel ist es, Beschäftigte
an das Unternehmen beziehungsweise an die Organisation zu
binden und Fachkräfte auf sich aufmerksam zu machen. Ein
zentraler Bestandteil der Employer Brand ist in vielen Organisationen
bereits heute das betriebliche Familienbewusstsein.
Darunter werden all diejenigen Leistungen eines Unternehmens
oder einer Organisation verstanden, die über die gesetzlichen
Maßnahmen zur Vereinbarkeit von Beruf und Familie
(zum Beispiel Mutterschutz, Elternzeit, Recht auf Teilzeitarbeit
während der Elternzeit, Kinderkrankentage, staatlich subventionierte
Kinderbetreuungsinfrastruktur) hinausgehen.
Aufgrund demografischer und gesellschaftlicher Entwicklungen
hat sich allerdings das, was wir »Familie« nennen, in
den letzten Jahrzehnten verändert. Familien bestehen nicht
mehr nur aus der klassischen Vater-Mutter-Kind-Konstellation,
sondern sind bunter geworden: Es gibt zum Beispiel immer
mehr Patchwork-Familien, Ein-Eltern-Familien und Regenbogenfamilien.
Gleichzeitig wünschen sich viele Menschen
(vor allem Väter), mehr Zeit mit der Familie zu verbringen.
Und auch das Thema Vereinbarkeit von Beruf und Pflege ge-
30
Betriebliches Familienbewusstsein und Doing Family
winnt an Bedeutung. Arbeitgebende stehen also vor der Her -
ausforderung, mit ihrem betrieblichen Familienbewusstsein
unterschiedliche Teilzielgruppen (innerhalb der großen Zielgruppe
»Beschäftigte mit Familienpflichten«) adäquat anzusprechen.
Es reicht nicht mehr aus, anhand betriebsinterner
Daten zum Beispiel das Alter der Beschäftigten, den Familienstand
oder die Anzahl der Kinder zu analysieren, um Rückschlüsse
darauf ziehen zu können, wie das betriebliche Familienbewusstsein
effektiv und effizient gestaltet werden kann.
Erfolgsversprechender sind Analysen, die dem Gedanken von
Familie als Herstellungsleistung Rechnung tragen.
Mit dem Konzept des Doing Family stellt dieser Beitrag
einen Ansatz vor, der Familie jenseits der (betrieblichen) Statistik
in den Blick nimmt. Zu Beginn des Beitrags wird zunächst
das Konzept des Doing Family vorgestellt. Darauf folgen
Beispiele, wie in der Forschung Daten zum Doing Family erhoben
werden. Abschließend wird erläutert, worauf Arbeitgebende
bei der (Weiter-)Entwicklung eines betrieblichen Familienbewusstseins
achten sollten – und wie ihnen das Doing-
Family-Konzept dabei helfen kann.
2. Wenn die Statistik nicht ausreicht: Doing Family
als Lösungsansatz
Die Corona-Pandemie hat (erneut) gezeigt, wie wichtig es ist,
Familie differenziert zu betrachten. Dies fängt beim offensichtlichsten
Differenzierungsmerkmal an: dem Geschlecht.
Daten aus dem ersten Lockdown im Frühjahr 2020 zeigen beispielsweise,
dass Väter deutlich stärker von Homeoffice-Regelungen
profitierten als Mütter, da ihnen zu Hause häufiger
ein ungestörter Arbeitsplatz zur Verfügung stand als Müttern
31
Dr. Regina Ahrens
(Zerle-Elsäßer/Buschmeyer/Ahrens 2022). Krankenkassendaten
aus dem Jahr 2020 legen darüber hinaus nahe, dass Frauen im
Corona-Jahr stärkeren psychischen Belastungen ausgesetzt
waren als Männer (DAK 2021; Meyer 2021). Es wurde viel darüber
gemutmaßt, ob die Corona-Pandemie zu Veränderungen
bei der Aufteilung von (unbezahlter) Familienarbeit und (bezahlter)
Erwerbsarbeit zwischen Frauen und Männern geführt
hat. Zahlreiche Studien haben inzwischen gezeigt, dass es während
des ersten Lockdowns zu einer Verfestigung der bereits
vor der Pandemie bestehenden geschlechtsspezifischen Arbeitsaufteilung
gekommen ist (Kreyenfeld et al. 2020; Möhring
et al. 2020; Hank/Steinbach 2020; Kohlrausch/Zucco 2020; Zer -
le-Elsäßer/Buschmeyer/Ahrens 2022; Buschmeyer/Ahrens/Zer -
le-Elsäßer 2021; Ahrens 2021). Denn auch wenn viele Väter, vor
allem solche mit einem niedrigen oder mittleren formalen
Bildungsabschluss, während des ersten Lockdowns mehr Zeit
als vor Beginn der Pandemie mit Hausarbeit und Kinderbetreuung
verbrachten (Kreyenfeld/Zinn 2020), so waren es doch
in der Mehrheit die Mütter, die ihre Erwerbsarrangements
anpassten und den größeren Teil der durch Schul- und Kitaschließungen
entstandenen zusätzlichen unbezahlten Arbeit
übernahmen (Möhring et al. 2020; Kreyenfeld/Zinn 2020;
Hank/Steinbach 2020; Kohlrausch/Zucco 2020).
Diese Daten machen deutlich, dass es nicht ausreicht, Beschäftigte
mit Familienpflichten allein anhand statistischer
Daten zu betrachten und das betriebliche Familienbewusstsein
basierend auf diesen Daten auf- und auszubauen. Denn die
Statistik sagt uns nichts darüber, wie Familie tatsächlich gelebt
wird und mit welchen Herausforderungen ihre Mitglieder es
zu tun haben, wie stark sie durch die tägliche Anforderung,
Beruf und Familie zu vereinbaren, belastet sind etc. Dieses
Wissen ist aber für Arbeitgebende fundamental, wenn sie ihre
32
Betriebliches Familienbewusstsein und Doing Family
Beschäftigten effektiv und effizient bei der Vereinbarkeit von
Beruf und Familie unterstützen möchten. Effektivität bedeutet
in diesem Zusammenhang, dass es dem Arbeitgeber beziehungsweise
der Arbeitgeberin möglich ist, anhand vorliegender
Daten die (Teil-)Zielgruppen, die für die Umsetzung des
betrieblichen Familienbewusstseins relevant sind, zu identifizieren.
Effizienz bedeutet hier hingegen, dass diese (Teil-)Zielgruppen
zudem entsprechend ihrer tatsächlichen Bedarfe
adressiert und die betrieblichen Leistungen auch in Anspruch
genommen werden können. So wird vermieden, dass Leistungen
(weiter-)entwickelt werden, die von den Beschäftigten gar
nicht gebraucht, entsprechend auch nicht in Anspruch genommen
und im schlimmsten Fall sogar als »Marketing-Gag«
wahrgenommen werden.
Ein Ansatz, der dabei helfen kann, diese Effektivität und Effizienz
zu erreichen, ist das Doing Family (Jurczyk 2014). Das
Konzept des Doing Family trägt der Tatsache Rechnung, dass
Familie nicht automatisch aufgrund von Verwandtschafts -
beziehungen »passiert«, sondern vielmehr eine Herstellungsleistung
ist, die von den Familienmitgliedern (all-)täglich erbracht
werden muss. Verwandtschafts- und Haushaltsgrenzen
spielen dabei eine untergeordnete Rolle: Auch eine Nachbarin,
die regelmäßig und dauerhaft in die Kinderbetreuung in volviert
ist, kann zum Beispiel von den Eltern der betreffenden Kinder
als Familienmitglied gewertet werden. Das gleiche gilt für das
Phänomen der Co-Elternschaft (oder auch Co-Parenting), bei
dem zwei (oder mehr) Erwachsene, die nicht in einer romantischen
Beziehung zueinander stehen, sich entscheiden, gemeinsam
ein Kind großzuziehen. Gleichzeitig kann es sein, dass der
Kontakt beispielsweise zu biologischen Eltern oder Geschwistern
unterbrochen oder ganz eingestellt wird, diese Beziehungen
also im Alltag keine Rolle mehr spielen. Familie wird im Doing
33
Dr. Regina Ahrens
Family also stärker über die gelebte Realität definiert als über
Verwandtschaft. Verwandtschaft ist somit weder eine notwendige
noch eine hinreichende Bedingung für Familie. Familie
ist vielmehr ein Beziehungsgefüge, in dem Menschen Verantwortung
füreinander übernehmen – unabhängig von Verwandtschaftsbeziehungen
und Haushaltsgrenzen.
Die Herstellungsleistung und das »Ergebnis sozialer Konstruktionsprozesse«
(Jurczyk 2014: 119), die Familienmitglieder
tagtäglich erbringen, werden im Doing-Family-Konzept unterteilt
in das Vereinbarkeits- und Balancemanagement und in die
sinnhafte Konstruktion eines gemeinschaftlichen Beziehungsgefüges.
Mit dem Vereinbarkeits- und Balancemanagement sind die
zahlreichen logistischen Abstimmungsprozesse innerhalb von
Familien gemeint. Unter der sinnhaften Konstruktion eines
gemeinschaftlichen Beziehungsgefüges wird die Herstellung
von Intimität und einem Wir-Gefühl verstanden (Jurczyk 2018;
Morgan 2011; Daly 2003). Doing Family betrachtet Familie also
als Prozess und untersucht Praktiken und Interaktionen auf
der Mikroebene, d. h. auf der Ebene der einzelnen Familienmitglieder.
Dabei ist es stark geprägt vom Konzept des Doing
Gender, denn es setzt »Männlichkeit und Weiblichkeit ebenso
wenig mit Männern und Frauen gleich [...] wie Familie mit
genetisch-biologischer Verwandtschaft, auch wenn es jeweils
Überschneidungsmengen gibt beziehungsweise geben kann«
(Ahrens/Buschmeyer/Zerle-Elsäßer 2022: 74). Viele Untersuchungen
zum Doing Family setzen daher auch bei nicht-heteronormativen
Familien (zum Beispiel Stieffamilien, Regenbogenfamilien)
an, weil sich hier besonders gut zeigen lässt,
wie Familie jenseits von vorgegebenen Normen gelebt wird.
Wie zahlreiche Studien zeigen, setzen Mütter und Väter
diese Herstellungsleistung unterschiedlich um. Dies äußert
sich zum Beispiel dadurch, dass Mütter häufig als »Manage-
34
Ulrich Lilie
Arbeitswelt 4.0 –
Diakonie im digitalen Wandel
Herausforderungen und Chancen
Es liegt auf der Hand: Die Digitalisierung verändert unsere
Gesellschaft. Grundlegend. Und damit verändert sie auch die
Arbeitsfelder von Kirche und Diakonie. Technologischen
Fortschritt hat es zwar immer schon gegeben, aber das atemberaubende
Tempo, die Disruptivität, mit der die Digitalisierung
sich ihren Weg bahnt und Gestalt und Gestaltung der
Gesellschaft in allen Lebensbereichen neu organisiert, ist beispiellos.
Die Corona-Krise wirkt derzeit noch wie ein zusätzlicher
Beschleuniger. Sie hat sehr viele Menschen gleichzeitig in den
Modus des digitalen Selbstversuchs gezwungen – auch in der
Diakonie. Unerfahrenheit, Fehlerfreundlichkeit und steile
Lernkurven haben in Arbeitsprozessen seitdem eine andere
Selbstverständlichkeit gewonnen. Digitale Tools ermöglichten
und ermöglichen Erfahrungen mit Arbeits- und Kommunikationsformen,
die den Primat der Präsenz am Arbeitsplatz
aufgeweicht haben. Sie halfen, »über Nacht« althergebrachte
Gewohnheiten aufzulösen, Unternehmenskulturen zu verändern
und neue unbekannte Wege zu erproben.
Die krisenhaften Umstände erforderten schnelles Reagieren,
regelmäßiges Informieren und gute Absprachen. Das hat
uns alle getroffen – ob als Vorständin eines Verbandes oder als
Mitarbeiter in der Familienberatung. Und wir alle haben die
52
Arbeitswelt 4.0 – Diakonie im digitalen Wandel
Erfahrung gemacht, dass die Ergebnisse sich oft sehen lassen
konnten. Nicht perfekt vielleicht, aber sehr brauchbar, um
weiterzumachen. Ohne Digitalisierung wäre das schwieriger
gewesen.
Gleichzeitig ist es nicht zuletzt diese Disruptivität, die
Befürchtungen vor einem individuellen, aber auch institutionellen
Kontrollverlust über Technologien oder digitale Systeme
auslöst. Auch in den Unternehmen und Einrichtungen der
Diakonie fällt es vielen schwer, offen und unvoreingenommen
an diese Prozesse heranzugehen. Und noch schwerer fällt, sich
ihnen anzuvertrauen. Nur: Mit der Digitalisierung ist es wie
beim Schwimmen – man muss ins Wasser, auch, wenn man
noch lernt.
Dennoch sind die Bedenken selbstverständlich ernst zu
nehmen. Ich persönlich halte auch die Chancen der Digitalisierung
zwar für sehr hoch, aber die zu erwartenden Umwälzungen
bergen eben gleichzeitig erhebliche Risiken: Eine viel
diskutierte und zu Recht auch umstrittene Studie der Organisation
für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung
(OECD) prognostiziert, dass fast die Hälfte aller Arbeitsplätze
der 32 Staaten, die an der Untersuchung teilgenommen
haben, durch Algorithmen und Maschinen ganz oder teilweise
bedroht, in jedem Fall von fundamentalen Veränderungen betroffen
sein werden. Und nicht jede neue Stelle in der Digitalwirtschaft
kann wieder mit den Personen besetzt werden, deren
bisherige Tätigkeit entfällt. Es geht um Qualifikationen
mit hohen Anforderungsprofilen. Am härtesten treffen wird
es Menschen, die im industriellen »Low Skill«-Bereich arbeiten.
Ohne Zweifel zieht der digitale Wandel erhebliche soziale Veränderungen
nach sich.
Der prominente deutsche Soziologe Andreas Reckwitz
spricht in diesem Zusammenhang von einer neuen Klassen-
53
Ulrich Lilie
gesellschaft mit einem sich verfestigenden Drittel der Bevölkerung,
die zukünftig von prekären oder mehreren Mini-Jobs
in der neuen Unterschicht leben müssen und keine realen Aufstiegschancen
haben. Die Verwerfungen, die mit diesen Entwicklungen
verbunden sind, sind neben den materiellen Folgen
vor allem kulturelle und politische Abwertungsprozesse,
die die zunehmende politische Spaltung und populistische
Tendenzen auch in unsrem Land erklären helfen. Dass sie nicht
zu grundlegenden Verwerfungen werden, ist Teil auch der
diakonischen Verantwortung. Sich dem Prozess der Digitalisierung
aber einfach zu verweigern, ist keine Option. Es gilt
vielmehr, ihn teilhabe- und chancengerecht zu gestalten.
Die Chancen, diesen Umbruch aus unserem eigenen sozialethischen
Verständnis so mitzugestalten, dass die Digitalisierung
für möglichst viele Menschen zu einem echten Gewinn
wird, sind enorm. Aufgabe der Diakonie wird es sein, gemeinsam
mit anderen Aufmerksamen diesen Prozess so zu begleiten,
dass die sozialen und kulturellen Folgen stets im Blick
bleiben und niemand zurückgelassen wird.
Unsere Gesellschaft befindet sich schon längst auf dem
Weg dieser unumkehrbaren und tiefgreifenden Transformation.
Und darum sind ihre Institutionen, der Staat, die Zivilgesellschaft
– und in ihr eben auch die Diakonie – mehr denn
je gefordert, die Gratwanderung zwischen Bewahren und Gestalten
einerseits und der Fähigkeit zu schnellen und tiefgreifenden
Veränderungen andererseits, auch was Geschäftsmodelle
und Angebote angeht, zu meistern. Ein Zurück gibt es
nicht mehr. Gerade um der Menschen willen.
Eine große Anzahl diakonischer Einrichtungen hat sich
längst auf den Weg gemacht, diese Chancen für ihre Unternehmen,
für Klient:innen und Mitarbeitenden zu nutzen. Das
belegt beispielweise die Studie »Erfolgsfaktor Digitalisierung.
54
Arbeitswelt 4.0 – Diakonie im digitalen Wandel
Auf dem Weg zur Sozialwirtschaft 4.0«, die im Jahr 2020 von
der Bank für Sozialwirtschaft vorgestellt wurde (Bank für
So zialwirtschaft 2020).
In Kliniken und stationären Einrichtungen können digitale
Helfer dazu beitragen, den Arbeitsalltag des Personals wie der
Klienten und Bewohnerinnen zu vereinfachen – sei es durch
Unterstützung mit Pflegerobotern, durch die digitale Erfassung
von freien Betten oder elektronische Krankenakten. Auch
die flexiblere Gestaltung von Arbeitszeiten, die bessere Planung
von Touren, unkompliziertere Teamabsprachen oder die Möglichkeit,
Dokumentationen ortsunabhängig durchzuführen,
helfen Zeit und Informationen zu gewinnen. Wo das gelingt,
werden die Pflegenden entlastet, was wieder den Patient:innen
zugute kommt.
Digitale Vernetzung ermöglicht insgesamt ein nie gekanntes
Ausmaß an interaktiven und direkten Kommunikationsmöglichkeiten
und für manche Tätigkeiten neue Möglich -
keiten ortsunabhängigen oder zeitversetzten Arbeitens.
Entsprechend stellen die Digitalisierung und die damit verbundenen
grundlegenden gesellschaftlichen Veränderungen
vor zahlreiche neue ethische, fachliche sowie organisatorische,
kommunikative und kulturelle Herausforderungen. Und zwar
gleichzeitig. Sich damit nicht auseinanderzusetzen wäre fahrlässig.
1 Aber es braucht Kriterien.
Für mich hat sich in der ethischen Perspektive die schlichte
Prämisse bewährt, dass die Technik (wie auch die Ökonomie
1
Der V3D macht darauf aufmerksam, dass sich die Organisations- und Personalentwicklung
in der Diakonie ändern müssen. Die vier Handlungsfelder
Arbeitszeit & Selbstorganisation, Agiles Arbeiten, Wissen & Qualifikation
und Kommunikation im Unternehmen geraten hier verstärkt in den Focus
(Bundesverband diakonischer Einrichtungsträger (V3D) 2021).
55
Franziska Woellert
Weniger, älter, vielfältiger
Wo steht der demografische Wandel heute?
Über den demografischen Wandel in Deutschland wurde in
den letzten zwei Jahrzehnten so viel geschrieben und diskutiert,
dass der Eindruck entstehen könnte, inzwischen sei alle
Brisanz aus dem Thema gewichen. Man könnte meinen, es
seien alle wichtigen Weichen gestellt, um mit den aus der Entwicklung
der Bevölkerungsstruktur resultierenden Herausforderungen
umgehen zu können – als hätten wir das Gröbste
überstanden, ohne groß Federn lassen zu müssen.
Doch das Tückische an demografischen Trends ist, dass sie
zwar frühzeitig erkennbar sind, sich aber so langsam vollziehen,
dass sich ihre Auswirkungen erst über Jahrzehnte hinweg
zeigen. Probleme, die sich derart lange hinziehen und erst
künftige Generationen betreffen, werden in unserer gesellschaftspolitischen
Wahrnehmung oft an den Rand gedrängt.
So passiert es immer wieder, dass wir uns gefühlt ad hoc mit
Herausforderungen beschäftigen, die eigentlich schon lange
bekannt sind. Im Kontext der demografischen Entwicklung
ist der Pflegenotstand unter dem Brennglas der Corona-Pandemie
ein Beispiel dafür. Niemand, der oder die sich mit dem
Pflegesystem in Deutschland schon einmal eingehend beschäftig
hat, wird von der aktuellen Situation überrascht sein. In
der breiten Gesellschaft kam die Sorge um die ausreichende
Versorgung von kranken oder schwachen Mitmenschen jedoch
erst zu Beginn der Corona-Pandemie Anfang 2020 richtig an.
Diejenigen, die plötzlich in ihren Wohnungen und Häusern
59
Franziska Woellert
festsaßen, klatschten den »Helden« in den Kliniken und Pflegeheimen
Beifall. Zu einer spürbaren Verbesserung der Arbeitsbedingungen
des Pflegepersonals oder gar zu weitreichenden
neuen Ansätzen, um dem wachsenden Bedarf an
Pflegekräften in Zukunft besser begegnen zu können, hat dies
allerdings bisher nicht geführt. Dabei ist die gesamtgesellschaftliche
Neuorganisation von Fürsorgeaufgaben eine der
wesentlichen Herausforderungen, die der demografische Wandel
mit sich bringt.
Schon vor 30 Jahren, nämlich 1992, beauftragte die Bundesregierung
eine Enquête-Kommission, um die Folgen der
demografischen Entwicklung auf die Gesellschaft zu untersuchen.
In den darauffolgenden zehn Jahren erstellte diese
Kommission verschiedene Gutachten mit zum Teil aufrüttelnden
Ergebnissen und Empfehlungen. Doch es dauerte weitere
zehn Jahre, bis die Bundesregierung 2012 eine erste Demografiestrategie
mit eher beschreibendem als innovativem
Charakter vorlegte.Die dort genannten Handlungsfelder und
Ziele wurden zwar bis 2015 weiterentwickelt und etwas geschärft.
Doch das inzwischen schon ein wenig in die Jahre gekommene
Dokument liest sich noch immer so, als ließe sich
dem demografischen Wandel im Wesentlichen mit kleineren
Anpassungsmaßnahmen begegnen, die zwar etwas Anstrengung
bedürfen, ohne aber grundsätzlich etwas ändern zu müssen
(BMI 2017).
Dabei wird das, was uns demografisch erwartet, zu viel
größeren Umwälzungen führen, als den meisten vermutlich
bewusst ist. Und auch, wenn die ersten Anzeichen davon schon
erkennbar sind: der eigentliche Wandel steht uns erst noch
bevor.
60
Weniger, älter, vielfältiger
1. Daten und Fakten zum demografischen Wandel
in Deutschland
Vorhersagen zur demografischen Zusammensetzung einer
Bevölkerung basieren auf Annahmen zur natürlichen Bevölkerungsentwicklung,
also den Geburten- und Sterbezahlen,
sowie der Nettozuwanderung. Dabei gilt die natürliche Bevölkerungsentwicklung
als eigentlicher Treiber langfristiger
Veränderungen, während Zu- und Abwanderungsbewegungen
kurzfristigen Schwankungen unterworfen sind. Im Folgenden
werden die drei Faktoren etwas genauer beleuchtet.
Entwicklung der Lebenserwartung im
gesellschaftlichen Kontext
Ein Blick auf die Entwicklung der Lebenserwartung in
Deutschland zeigt ein für westliche Industrieländer recht typisches
Bild: Sie steigt seit Jahrzehnten kontinuierlich an.
Konnte ein 1920 in Deutschland geborenes Mädchen durchschnittlich
mit 64,7 und ein Junge mit 57,5 Lebensjahren rechnen,
waren es für um 1970 geborene Kinder schon 83,7 respektive
78,2 Lebensjahre. Ein heute geborenes Mädchen lebt sogar
durchschnittlich 86,9 und ein Junge 82,9 Jahre (Destatis 2021a).
Damit haben die Deutschen in nur einem Jahrhundert mehr
als 20 Lebensjahre dazugewonnen! Und nicht nur werden die
Menschen älter, sie leben auch gesünder und erhalten sich
diese Gesundheit oft bis ins hohe Alter hinein. Die Wahrscheinlichkeit,
an alterstypischen Krankheiten wie Demenz zu
erkranken, steigt erst mit dem 80. Lebensjahr deutlich an
(Amrhein et al. 2015). Ab diesem Alter steigt auch der Anteil
der Pflegebedürftigen: Sind bei den 70- bis 75-Jährigen nur 7,6
Prozent pflegebedürftig, sind es bei den 80- bis 85-Jährigen
61
Franziska Woellert
schon 26,4 Prozent und bei den Menschen im Alter ab 90 Jahren
76,3 Prozent (Destatis 2020a).
Abbildung 1: Altersaufbau der deutschen Bevölkerung
Die sogenannte Bevölkerungspyramide Deutschlands ist schon lange
keine Pyramide mehr, sondern hat eher die Form eines Weihnachtsbaums.
Die breiten »Zweige« werden durch die geburtenstarken Jahrgänge
der Nachkriegszeit (= Babyboomer) geformt, während der schmalere
»Stamm« auf die seit Jahrzehnten rückgängigen Geburtenzahlen
zurückzuführen ist. In Folge altert die deutsche Gesellschaft stetig, wie
hier der Vergleich der Bevölkerungsstruktur von 1990 und 2019 zeigt.
Quelle: Statistisches Bundesamt (Destatis) (2020b).
Durch den Anstieg der Lebenserwartung leben immer mehr
ältere Menschen in Deutschland. Schon heute liegt der Anteil
der Bevölkerung über 64 Jahre bei 22 Prozent. 2030 wird er auf
26 Prozent und 2060 auf 30 Prozent steigen. Das heißt, dass
62
Weniger, älter, vielfältiger
dann in Deutschland nahezu jede dritte Person 65 Jahre und
älter ist. Jede neunte Person wird sogar das 80. Lebensjahr überschritten
haben, anteilig etwa doppelt so viele wie heute (Destatis
2021b). In Folge wird es auch immer mehr Pflegebedürftige
geben. 1999 wurden 2,02 Millionen Pflegebedürftige
gezählt. 20 Jahre später hat sich diese Zahl auf 4,13 Millionen
pflegebedürftige Personen verdoppelt (ein Teil dieses Anstiegs
geht auf die 2017 veränderten Pflegestufen zurück). Die Prognosen
gehen aufgrund der fortschreitenden Alterung von weiterwachsenden
Zahlen aus. Eine große Herausforderung wird
die Versorgung der älteren Menschen. Heute werden vier von
fünf der Pflegebedürftigen in ihrer Familie versorgt, dabei
überwiegend von Frauen, zwei Drittel davon ohne Hilfe eines
ambulanten Pflegedienstes (Destatis 2021c). Doch immer mehr
Menschen leben im Alter allein und können nicht auf die Hilfe
aus der Familie zurückgreifen. Dadurch wächst die Nachfrage
nach professionellen Pflegedienstleistungen stetig. Allein von
2005 bis 2019 stieg die Anzahl der in Heimen vollstationär versorgten
Pflegebedürftigen um 24,5 Prozent, bei den ambulanten
Diensten sogar um 108 Prozent (Destatis 2020c).
Die sozialen Dienstleister wie Pflegeheime oder ambulante
Pflegedienste haben schon jetzt mit einem enormen Personalengpass
zu kämpfen, der sich aufgrund der demografischen
Entwicklung weiter verschärfen wird. Laut den Analysen der
Bundesagentur für Arbeit blieben im Jahr 2020 offene Stellen
für Altenpflegefachkräfte im Bundesdurchschnitt 212 Tage
lang unbesetzt. Das wundert nicht, wenn man bedenkt, dass
in diesem Jahr auf 100 offene Stellen nur 33 arbeitslose Altenpflegekräfte
gemeldet waren, trotz einem leichten Anstieg aller
in der Pflege Beschäftigten (BGM 2021). Das Institut der Deutschen
Wirtschaft berechnete 2018, dass bis 2035 eine halbe Million
Pflegekräfte gebraucht werden – ein Plus von 44 Prozent
63
Prof. Dr. Bettina Hollstein
Vom Ehrenamt zu Volunteering 1
1. Vom Strukturwandel des Ehrenamts
Unsere Gesellschaft wandelt sich. Darüber besteht in der Regel
Einigkeit. Keine Einigkeit besteht hingegen in der Diagnose,
worin dieser Wandel genau besteht. In Bezug auf das Ehrenamt
gibt es die These vom Strukturwandel des Ehrenamts 2 , der zufolge
wir es hier vor allem mit einem von den Handlungsmotiven
der Einzelnen weitgehend unabhängigen gesellschaftlichen
Prozess zu tun hätten. Die These besagt, dass ein Wandel von
einem gemeinwohlorientierten, langfristigen Ehrenamt altruistisch
gesonnener Ehrenamtlicher in Traditionsverbänden
(wie den Kirchen) zu einem projektbezogenen, kurzfristigen,
bürgerschaftlichen Engagement eigennutzorientierter Individuen
in Non-Profit-Organisationen stattfindet (Beher et al.
2000). Diese Entwicklung, die von einigen Autoren bedauert 3 ,
von anderen begrüßt wird, wird in der Regel als quasi notwendige
Folge von gesellschaftlichen Modernisierungspro-
1
Ich greife in diesem Beitrag auf Erkenntnisse zurück, die ich in meinem
Buch »Ehrenamt verstehen« ausführlicher entwickelt habe (Hollstein 2015).
2
Entfaltet wurde diese These u. a. in der Studie von Karin Beher, Reinhard
Liebig und Thomas Rauschenbach: Strukturwandel des Ehrenamts (Beher/
Liebig/Rauschenbach 2000).
3
Aus feministischer Perspektive diskutiert diesen behaupteten Wandel kritisch
Gisela Notz (Notz 1999).
79
Prof. Dr. Bettina Hollstein
zessen dargestellt. Modernisierung der Gesellschaft besteht
in dieser Perspektive in der Verknüpfung von Prozessen der
zunehmenden Individualisierung, Säkularisierung und Ökonomisierung.
Verdeutlicht wird dieser Wandel durch die
Veränderung der Begriffe, mit denen dieses Phänomen beschrieben
wird. Die altruistischen, normen- beziehungsweise
wertorientierten Ehrenamtlichen werden zu eigennutzorientierten
aktiv Engagierten.
Tatsächlich kann man in Deutschland für das 20. Jahrhundert
einen Zerfall von sozio-moralischen Milieus beobachten,
etwa der religiösen – katholischen wie evangelischen – Milieus
oder des Arbeitermilieus. Diese sozialen und weltanschau -
lichen Gemeinschaften, in die die Menschen hineingeboren
wurden, die ihre Sinnsysteme und ihre Weltbilder prägten
und eine Orientierung in der Lebensführung boten, haben
sich seit den 1970er Jahren aufgelöst. Menschen sind nicht
mehr an ihr Ursprungsmilieu gebunden und können andere
Lebenswege einschlagen. Damit ist auch ein Zugewinn an individueller
Freiheit verbunden, da diese Milieus nicht nur Sicherheit
in einer Gemeinschaft boten, sondern auch beengend
und einschränkend wirken konnten.
Ein Ausgangspunkt für diese These des Strukturwandels
des Ehrenamts ist die Diagnose einer allgemeinen Individualisierung
von Ulrich Beck und Elisabeth Beck-Gernsheim 4 . Individualisierung
wird hier verstanden als Abbau traditionaler
Bindungen an Milieus und Weltanschauungen und Entstehung
einer Multioptionsgesellschaft in Bezug auf Lebensfüh-
4
»Individualisierung meint zum einen die Auflösung vorgegebener sozialer
Lebensformen [...]« (Beck/Beck-Gernsheim 1994: 11). »Individualisierung,
so gesehen, ist eine gesellschaftliche Dynamik, die nicht auf einer freien
Entscheidung der Individuen beruht.« (Beck/Beck-Gernsheim 1994: 14).
80
Vom Ehrenamt zu Volunteering
rung, Lebensstile, Glaubensfragen, Weltbilder etc. In Bezug
auf das Ehrenamt diagnostiziert daher Ludgera Vogt einen
Wandel vom normativ (oft religiös) orientierten Ehrenamt zu
einem nutzenorientierten Engagement vor allem bei Jüngeren,
die u. a. eine kreative Selbstverwirklichung in geselligen Situationen
mit Erlebnisqualität anstrebten (Vogt 2005: 51). Während
das traditionelle Ehrenamt häufig milieugebunden in
dauerhaften Organisationsformen quasi ein Leben lang erbracht
werde, sei das nutzenorientierte Engagement kurzfristig
angelegt. Dies befördere kurzfristigere Projektformen eines
fluktuierenden bürgerschaftlichen Engagements, worauf etwa
Freiwilligenagenturen reagierten, die in den letzten Jahren
verstärkt entstanden sind. Zugleich führe diese Entwicklung
zu einer steigenden sozialen Ungleichheit, da neuere professionell
organisierte Projektformen des Engagements eine größere
Organisationsfähigkeit erfordern und somit vor allem
durch gebildete Schichten nutzbar seien – im Gegensatz zu
traditionellen Formen des Ehrenamts, die für alle Mitglieder
eines sozialen Milieus Engagementangebote bereithielten
(Vogt 2005).
Obwohl die Beobachtung von der Auflösung sozialer Milieus
korrekt ist, scheint mir die These vom Strukturwandel
des Ehrenamts zu einfach (vgl. auch Joas/Adloff 2002). Um dies
zu verdeutlichen, soll im Folgenden das Handeln von Ehrenamtlichen
genauer in den Blick genommen und gezeigt werden,
wie sich unterschiedliche Handlungsmotive miteinander
verschränken. Aus dieser Analyse ergeben sich dann auch Folgen
für die Gestaltung ehrenamtlichen Engagements in modernen
Gesellschaften.
81
Prof. Dr. Bettina Hollstein
2. Handlungsmodelle ehrenamtlichen
Engagements
Die These vom Strukturwandel des Ehrenamts geht davon
aus, dass im traditionellen Ehrenamt Werte die wesentlichen
Motivatoren für Engagement sind. Für ehrenamtliches Engagement
wird häufig von altruistischen Werten (etwa der christlichen
Nächstenliebe) ausgegangen, die das Handeln der Engagierten
bestimmen. Werte werden kulturell geprägt. Für
unsere westliche, neuzeitliche Kultur hat Charles Taylor die
Herausbildung von drei spezifischen Moralquellen beschrieben,
die moderne Werte bestimmen (Taylor 1996 [1994]).
(a) Die historisch zuerst entstandene Moralquelle ist die theistische
(also auf Religion bezogene), die in der jüdisch-christlichen
Tradition wurzelt. Im Mittelalter etwa enthielten alle
überzeugenden Moralquellen einen Bezug zu Gott. Aber auch
noch im 18. Jahrhundert war eine religiöse Ordnung der Deutungshorizont,
der Werte wie Autonomie, Familie, Wohlwollen
bestimmte. Die religiösen Moralquellen haben durch das Entstehen
von alternativen Moralquellen ohne religiösen Bezug
an Selbstverständlichkeit eingebüßt. Dennoch sind sie auch
heute noch vorhanden und gerade im Bereich des sozialen Ehrenamts
eine wichtige Motivationsquelle für Menschen, die
in ihrem Engagement ihre religiös-moralischen Vorstellungen
von Nächstenliebe, Solidarität und Hilfe für andere verwirklichen.
(b) Als eine alternative Quelle der Moral hat sich in der Neuzeit
eine rationalistische, nutzenorientierte Vorstellung entwickelt.
Durch die vernünftige Realisierung des eigenen Glücks soll
zugleich das Wohl der Allgemeinheit erreicht werden. Mit
dem Siegeszug dieser Moralquelle ist u. a. die Zivilisierung,
82
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