Marokko-Königreich des Lichtes
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Beatniks in der Medina von Tanger<br />
Exkurs: Stadtgeschichte<br />
Der in New York lebende Literat Paul Bowles äußert 1931 den Wunsch nach einem interessanten, besonderen<br />
Urlaubsort. Die Schriftstellerin Gertrude Stein empfiehlt ihm das liberale und preisgünstige Tanger. Gemeinsam mit<br />
seinem Freund und Lehrer, dem Komponisten Aaron Copland, nimmt Bowles den zwischen Manhattan und Tanger<br />
verkehrenden Ozeandampfer. Es wird mehr als nur ein Urlaub. Paul Bowles wird wiederkommen und den Rest seines<br />
Lebens in seiner Wahlheimat Tanger verbringen.<br />
In den 50er- und 60er-Jahren kommen die Literaten<br />
der amerikanischen Beat-Generation nach Tanger.<br />
Jack Kerouac wird durch den Kult-Roman „On the<br />
Road“ weltberühmt. Sein Kollege, William Burroughs,<br />
wird in Tanger sein literarisches Hauptwerk „The<br />
Naked Lunch“ verfassen. Die jungen Literaten frönen in<br />
Tanger dem lasziven Leben.<br />
Wer länger bleibt, hält Angestellte.<br />
Es kommen immer<br />
mehr Künstler, die in Europa<br />
und in den USA den spießbürgerlichen<br />
Vorstellungen<br />
nicht folgen wollen. Tanger<br />
war zu diesem Zeitpunkt ein<br />
Fluchtort und Sammelbecken<br />
für alle, die aus dem gewohnten<br />
Trott ausbrechen<br />
wollten. In Tanger mischen<br />
sich die Kulturen. Man<br />
spricht englisch, französisch<br />
und spanisch. Arabische<br />
Märkte und die engen Gassen<br />
der Altstadt sind exotisch<br />
genug, um die Sorgen von<br />
kleinbürgerlichen Lebensentwürfen<br />
zu vergessen. Die<br />
Liste der aus diesem Grund<br />
immer gerne wiederkehrenden<br />
Gäste liest sich dann<br />
auch wie ein Who is Who der<br />
intellektuellen Querdenker<br />
<strong>des</strong> Westens: die Schriftsteller<br />
Paul Bowles, Jean Genet<br />
und Truman Capote, Tennessee<br />
Williams und Allen Ginsberg, der Filmregisseur Pierre<br />
Paolo Pasolini und der Philosoph Michel Foucault<br />
sowie die Millionärin Barbara Hutton und der Verleger<br />
Malcolm Forbes zählen zu den bekanntesten. In Tanger<br />
machen sie die Nacht zum Tage. An Möglichkeiten mangelt<br />
es nicht. In den vom großen Souk abgehenden Nebenstraßen<br />
gibt es Bars, die bis in die Morgenstunden geöffnet<br />
sind. Die Fangemeinde der Beatniks pilgert noch<br />
heute nach Tanger. Ihr Ziel ist die dem Hotel El Munira<br />
angegliederte Bar Tanger Inn, wo Fotos der Schriftsteller<br />
und Lebenskünstler hängen. Sehnsüchte und alternativentschleunigte<br />
Lebensentwürfe<br />
sind dann immer ein<br />
großes Thema. Für viele<br />
„Neo-Beatniks“ wird Tanger<br />
zur Lebensetappe auf der<br />
ganz privaten Sinnsuche, wie<br />
einst Paul Bowles. Einer seiner<br />
Lieblingsorte war die<br />
Terrasse <strong>des</strong> Hotels Continental<br />
mit ihrem freien Blick<br />
auf den Hafen. Diesen Hafen<br />
gibt es jedoch nicht mehr.<br />
Seit einigen Jahren erlebt<br />
Tanger nämlich eine bemerkenswerte<br />
Metamorphose:<br />
Tanger macht sich fein. Das<br />
berühmte Hotel aus dem<br />
Jahr 1865 mit dem unvergleichlichen<br />
Blick auf den<br />
Hafen hat heute noch Kultstatus.<br />
Im zweiten Weltkrieg<br />
fungierte es als Versteck für<br />
Spione, später avancierte es<br />
zum Mittelpunkt <strong>des</strong> kosmopolitischen<br />
und kulturellen<br />
Lebens der Stadt. Interieur<br />
und Mobiliar – die majestätische<br />
Treppe, das alte Klavier,<br />
die tiefen Sessel, das Grammophon sowie die vielen<br />
alten Fotografien – erinnern heute noch an die magischen<br />
Zeiten der Vergangenheit. Dennoch ist das Hotel Continental<br />
kein Museum, vielmehr ist es ein Stück marokkanische<br />
Zeitgeschichte.<br />
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