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Marokko-Königreich des Lichtes

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trendy werden kann. Auf der netten Terrasse haben sich<br />

schon ein paar Gäste eingefunden, wohl auch Frühaufsteher.<br />

Dort sitzen sie in meinem „Theater“, im Parkett, erste<br />

Reihe und gehören gewissermaßen als leben<strong>des</strong> Inventar<br />

zur Bühne. Gelebtes Theater in Marrakesch. Berthold<br />

Brecht hätte sicher seine wahre Freude. Wenn ich in Marrakesch<br />

bin, zieht es mich immer wieder hierhin, und zwar<br />

nach ganz oben auf die Dachterrasse. Sie ist zwar Sonne<br />

und Wind schutzlos ausgesetzt, aber der Ausblick entschädigt<br />

für alles. Gerade bekomme ich meinen café crème.<br />

Essen wird auf dem Dach nicht serviert, vermutlich ist den<br />

Kellnern der Service über<br />

die steile Treppe zu anstrengend.<br />

Das macht gar<br />

nichts. Ich wusste das, bin<br />

dementsprechend präpariert<br />

und habe mir ein<br />

kleines Lunchpaket mitgebracht.<br />

Auf dem Hinweg<br />

konnte ich noch einen<br />

kleinen Schlenker über die<br />

„Pâtisserie <strong>des</strong> Princes“<br />

machen. Sie liegt ebenfalls<br />

ganz in der Nähe <strong>des</strong><br />

Djemaa el Fna und gehört<br />

zu den besten der Stadt.<br />

Wer eine Vorliebe für delikate<br />

Pâtisserie hat, sollte<br />

hier auf keinen Fall vorbeigehen.<br />

Mir gelingt das<br />

nie. Eigentlich wollte ich<br />

nur ein Croissant kaufen,<br />

dann aber sah ich unter<br />

dem gläsernen Tresen die<br />

Objekte der Begierde:<br />

„pain au lait“, „tarte au citron“,<br />

„forêt noire“ sowie<br />

raffinierte Kreationen mit<br />

Blätterteig und Cremetörtchen<br />

bis hin zum primitiven<br />

Fettgebäck. Ich war<br />

wie hypnotisiert. Die wirklich ernste Gefahr lauerte aber<br />

hinter meinem Rücken. Dort steht der Vitrinenschrank. Er<br />

ist riesig, reicht vom Boden bis unter die Decke und erstreckt<br />

sich über die gesamte Wand. Darin: die berühmten<br />

gâteaux secs, hausgemachte Kekse, feinste Pralinen und<br />

Schlimmeres. Alles, was Sie jemals über feine Pâtisserie<br />

zu erfahren versuchten, aber nie danach zu fragen wagten<br />

– hier können Sie es: „Das sieht ja gut aus. Wie sind denn<br />

die tartes aux fraises?“ „Elles sont excellentes, Monsieur!“<br />

„Und das hier, die tarte au citron?“ „Aussi!“ Ich<br />

zeige auf eine Schokoladentorte, die wohl nur aus Schokolade<br />

besteht, genau kann ich es aber nicht erkennen. Ich<br />

frage lieber nochmal nach. „Ist die Torte ganz aus Schokolade?“<br />

„Bien sûr, Monsieur!“ Ich lasse mir einen kleinen<br />

Karton zusammenstellen. Mein Croissant hab ich<br />

auch gekauft. Ich denke, nach meinem Spaziergang hab<br />

ich mir das verdient. Marrakesch hat dem Gast unendlich<br />

viel zu bieten, fordert ihn aber auch. Denn all die neuen<br />

Eindrücke wollen erst einmal verarbeitet werden. Bei einem<br />

Bummel durch die Souks erscheinen dem Besucher<br />

Orte wie das Café de France wie eine Oase in der Wüste.<br />

In einer Stadt, die den Reisenden<br />

jede Sekunde zu<br />

vereinnahmen weiß, sind<br />

solche Terrassen wichtige<br />

Rückzugsorte. Man kann<br />

nach Bedarf Abstand von<br />

all der Exotik gewinnen,<br />

zur Ruhe kommen und<br />

sich die zahlreichen Theaterdarbietungen<br />

von der<br />

Loge aus anschauen. In<br />

den Souks von Marrakesch<br />

gibt es viele solcher<br />

Inseln der Ruhe, wie zum<br />

Beispiel die zahlreichen<br />

Cafés auf dem Marché aux<br />

épices, auf <strong>des</strong>sen Terrassen<br />

sich die Touristen jederzeit<br />

dem intensiven<br />

Kulturbetrieb entziehen<br />

können. Ich kann so einen<br />

ganzen Tag verbummeln:<br />

Mal einen café crème auf<br />

der einen Terrasse hier,<br />

mal einen frisch gepressten<br />

Orangensaft auf dem<br />

anderen Dach dort. Aber<br />

wie lange wird das so noch<br />

möglich sein? Wie ein großes<br />

Nachrichtenmagazin<br />

berichtete, hat eine amerikanische Fast-Food-Kette ein<br />

Angebot zum Kauf <strong>des</strong> Café de France abgegeben. Es<br />

wurde abgelehnt. Während ich darüber nachdenke, wie<br />

lange sich der Besitzer solchen Offerten noch wird entziehen<br />

können, wird mir klar, dass bald wieder Showtime ist.<br />

Die Sonne ist schon fast untergegangen und auf dem Djemaa<br />

el Fna werden bereits die ersten Garküchen aufgebaut.<br />

Ich muss jetzt unbedingt los. In meinem Theater beginnt<br />

nämlich gleich die nächste Vorstellung. Und die will<br />

ich auf keinen Fall verpassen.<br />

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