Modul, Mensch und Maß - Dr. W. Peter Gerlach, Köln
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Rolle sprach man seit ihrer Entdeckung den Statuen des vatikanischen<br />
Belvedere (Apoll, Venus, Herkules, Laokoon, Antinous)<br />
zu. Bereits Alberti könnte antike Statuen vermessen<br />
haben, Michelangelo Buonarroti soll Vermessungen der Dioskuren<br />
vorgenommen haben, Guillaume Philandrier <strong>und</strong> Alonso<br />
Berruguete eine des Laokoon. Albrecht Dürer hat seinen Studien<br />
das metrische Schema des Apoll anfangs zugr<strong>und</strong>e gelegt<br />
(Abb.2: Gérard Audran, Apoll vom Belvedere, 1683).<br />
Eine systematische Vermessung der Statuen des Belvedere<br />
3<br />
verdanken wir jedoch erst Nicolas Poussin zusammen mit<br />
Charles Errard im Jahr 1640. 18 Die Statuen des Belvedere<br />
wurden als exemplarische Fälle der Darstellung menschlicher<br />
Schönheit gemäß der Modus-Theorie erfasst <strong>und</strong> behielten<br />
diesen Rang bis in die Gegenwart, allerdings seit dem Ende<br />
des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts nicht mehr unter diesem Namen. 19<br />
Ob der Hinweis auf Polyklet bei Galen (Claudius Galenus) 20 <strong>und</strong><br />
Plinius dem Älteren (Gaius Plinius Sec<strong>und</strong>us) 21 auf eine Statue<br />
oder einen Text (also den Kanon) hin auszulegen sei, wurde –<br />
nach der ersten Sammlung der einschlägigen Passagen aus<br />
der antiken Literatur durch Franciscus Junius 22 <strong>und</strong> Étienne<br />
Falconet 23 – erst nach 1800 ernsthaft, aber kontrovers als<br />
Problem formuliert. Von Alois Hirt 24 angeregt, verfolgte Gottfried<br />
Schadow 25 nach Dürers anthropometrischem Vorbild einen<br />
messenden Weg (vgl. Abb.3, 1834). Er führte durch die<br />
Aufnahme des Meters als <strong>Maß</strong>stab – gegenüber den fakturalen<br />
(Exempeda, testa, viso, Nasenlänge) oder lokalen objektiven<br />
<strong>Maß</strong>einheiten (palmo, pied, Elle etc.) – indirekt wieder ein<br />
kosmisches Vergleichsmaß ein <strong>und</strong> stellte die zwischen dem<br />
16. <strong>und</strong> 18. Jahrh<strong>und</strong>ert in Vergessenheit geratene kosmische<br />
Ähnlichkeit durch Analogie wieder her. Der von ihm verfolgte<br />
anthropometrische Ansatz war bereits in der französischen<br />
Kunsttheorie der zweiten Hälfte des 18. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />
vorgezeichnet 26 , der dann in England 27 <strong>und</strong> Deutschland 28<br />
aufgegriffen wurde. 29 Winckelmann schloss sich in seinen<br />
Äußerungen zur Proportion einerseits der traditionellen Modus-Gliederung<br />
an, andererseits lehnte er jedes anthropometrische<br />
Verfahren ab. Er betonte die Erfordernisse einer „idealischen“<br />
Schönheit, die sich gemäß der Zeuxislegende nur aus<br />
einer Vielzahl individueller Fälle synthetisieren lasse. Die archäologisch-philologische<br />
Lösung des Kanon des Polyclet fand<br />
mit Carl Friederichs Identifizierung der Statue des Doryphoros<br />
1863 ihren Abschluss. 30 Das in der Rezeption entwickelte anthropometrische<br />
Verfahren wurde seit dem 19. Jahrh<strong>und</strong>ert<br />
zur Gr<strong>und</strong>lage der empirisch-statischen <strong>und</strong> forensischen Anthropologie<br />
der Moderne – unter vergleichendem Einschluss<br />
antiker Statuen zum Aufweis der ästhetischen Qualität des erwachsenen<br />
Europäers – seit Adolphe Quételet. 31 Diesem Ansatz<br />
folgten nicht viele Kunsttheoretiker. Carl Gustav Carus,<br />
Mediziner <strong>und</strong> Künstler, entwickelte 1853 einen anderen Ansatz:<br />
Ein <strong>Dr</strong>ittel der Wirbelsäule sei der natürliche <strong>Modul</strong> aller<br />
menschlichen <strong>Maß</strong>e, was 1728 von Lambert Hermansz<br />
ten Kate bereits angeregt worden war. 32<br />
„Ich habe niemals den Vorwurf gehört, daß eine Figur schlecht<br />
gezeichnet sei, wenn sie ihr äußeres Erscheinungsbild <strong>und</strong><br />
auch ihr Alter <strong>und</strong> die ihrem Stande angemessenen Gewohnheiten<br />
oder die Fähigkeit ihre alltäglichen Funktionen zu erfül-<br />
len, gut zeigte. Es sind gerade diese Funktionen, die sowohl<br />
die Größe der Figur im Ganzen bestimmen, als auch die tatsächlichen<br />
Proportionen jedes ihrer Glieder <strong>und</strong> deren Zusammenhang.“<br />
33<br />
Dieser aufklärerisch-relativistischen Position Denis Diderots<br />
setzten im Laufe des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts, neben dem bereits<br />
erwähnten Carus 34 , Adolph Zeising ein morphologisches<br />
Gr<strong>und</strong>gesetz – den Goldenen Schnitt – <strong>und</strong> Franz P. Liharzik ein<br />
universelles Wachstumsgesetz entgegen 35 , für dessen proportionalen<br />
<strong>Modul</strong> sie in der gesamten Natur, einschließlich<br />
der menschlichen Gestalt, Geltung beanspruchten. 36 Bis über<br />
Le Courbusiers <strong>Modul</strong>or (1940/1950) hinaus – der zwar<br />
keine antiken Statuen mehr als Vorbilder zitierte – lassen sich<br />
die Schönheitsideale selbst der Freizeitkultur, des Films, des<br />
Comics etc. im Rahmen dieser immer schon untereinander<br />
konkurrierenden, formulierten Kanones auffinden, die jeweils<br />
nur näherungsweise metrisch exakt Individualität <strong>und</strong> ideales<br />
Muster in Einklang zu bringen vermochten (Abb.4: Burne Hogarth’<br />
Tarzan, 1974).<br />
32 33<br />
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