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AUSGABE 48 26. November 2022 € 4,90 EUROPEAN MAGAZINE AWA R D WINNER 2022 POLITICS & SOCIETY /// INFOGRAPHIC
Schaf im
Wolfspelz
Wie gefährlich ist
Björn Höcke?
Die besten
Weine 2022
Ausgewählt von der
FOCUS-Jury
Die
Krise
und
ihr
Kanzler
Olaf Scholz im Gespräch.
125 Fragen, 124 Antworten.
Eine Bilanz
Alle FOCUS-Titel to go.
focus-shop.de
JETZT
E-PAPER LESEN:
EDITORIAL
Ein Mensch in der Kulisse der Macht
Von Robert Schneider, Chefredakteur
Fotos: Peter Rigaud/FOCUS-Magazin (1)
Liebe Leserinnen,
liebe Leser,
wir treffen Olaf Scholz am Dienstagnachmittag
in seinem Amtszimmer. Als wir eintreten,
sitzt er hinter dem Schreibtisch und
bearbeitet noch Akten.
Der Kanzler trägt – den Temperaturen
und den Energievorschriften angemessen
– einen Pullover in Grau. Ein wenig
erinnert das an Helmut Kohls Strickjacke.
In dem gewaltigen Bau an der Spree
regierten schon Gerhard Schröder und
Angela Merkel. Immer wieder wurde die
Ex-Kanzlerin von Andreas Mühe foto -
grafiert, dem Sohn von Schauspieler Ulrich
Mühe. Dem 43-jährigen Fotografen ist
das Kanzleramt also wohlvertraut. Und so
inszenierte er Scholz auf der Terrasse über
dem Ehrenhof, im letzten Licht des Tages.
Ein Mensch in der Kulisse der Macht.
Am Tag des FOCUS-Gesprächs haben
die Oppositionsführer Friedrich Merz und
Markus Söder der Ampelkoalition den bisher
schwersten Wirkungstreffer verpasst:
Mithilfe der unionsregierten Länder im
Bundesrat erzwangen sie weitreichende
Änderungen am Bürgergeld-Gesetz, dem
wichtigsten sozialpolitischen Vorhaben
der SPD in dieser Legislaturperiode. Doch
Scholz wirkt nicht angeschlagen, nicht
einmal getroffen. Ich hege den Verdacht,
dass es ihm vielleicht gar nicht so unrecht
ist, was die Union an Änderungen bewirkt
hat. Laut Umfragen entspricht der Kompromiss
den Wünschen der Mehrheit der
Deutschen, darunter auch vieler SPD-
Anhänger, die finden, dass Arbeit sich
mehr lohnen muss als „Stütze plus“, also
Geld vom Staat plus Zuverdienst.
Auch die FDP ist mit dem Kompromiss
glücklicher als mit dem, was Arbeitsminister
Hubertus Heil ursprünglich in das
Gesetz geschrieben hatte: eine sanktionsfreie
Vertrauensphase und hohe Schonvermögen.
Heil ist der eigentliche Verlierer
des Tages. Scholz aber geht als der Kanzler
in die (SPD-)Geschichte ein, der das
bei Sozialdemokraten weithin verhasste
Hartz-IV-System von Schröder überwunden
und durch ein Bürgergeld ersetzt hat.
Auch das erinnert ein wenig an Kohl: Entscheidend
ist, was hinten herauskommt.
Olaf Scholz ist ein Kanzler in der Krise.
Viel, zu viel lief im ersten Amtsjahr nicht
gut: die viel zu späte Reaktion auf die
Energiekrise, die eklatanten Fehler bei
der Gaspreisbremse, das Hickhack um
die angeblich nicht notwendige und dann
per Machtwort des Kanzlers erzwungene
Laufzeitverlängerung für die drei letzten
Atomkraftwerke, das Gezerre um die deutschen
Waffenhilfen für die Ukraine, die
schleppende Umsetzung der Wohngeldreform
… Manches verantworten die heillos
zerstrittenen Ampelpartner Grüne und
FDP, doch alles geht am Ende mit Scholz
und seiner Partei nach Hause. Höhepunkt
dieser Woche: FDP-Vize Wolfgang Kubicki
Der Ausblick des Kanzlers Olaf Scholz im
Gespräch mit dem FOCUS-Team
droht unter dem Eindruck der Niederlagen
seiner Partei bei den Landtagswahlen
und dauerhaft schlechten Umfragewerten
offen mit dem Ende der Koalition.
Dabei hatte der Bundeskanzler kurz
nach dem Überfall Russlands auf die
Ukraine eine „Zeitenwende“ versprochen
und damit Hoffnung gemacht auf
einen neuen Olaf Scholz. Doch inzwischen
erleben wir immer häufiger einen Politiker
der Minimalkompromisse. Ein Beispiel
dafür ist seine Verweigerung beim
Thema Fracking. Statt zu bekennen, dass
es ein Fehler war, die Abhängigkeit von
Putins Erdgas zu vergrößern und auf diese
Methode der Gasgewinnung im eigenen
Land zu verzichten, bleibt Scholz auch
jetzt – da kein russisches Gas mehr fließt –
eisern beim Nein zum Fracking, um statt-
dessen Flüssigerdgas (LNG) aus anderen
Ländern wie den USA teuer einzukaufen.
Das Argument des Kanzlers: Fracking ist
kein funktionierendes Geschäftsmodell.
Doch das überzeugt ebenso wenig wie
der Hinweis, man setze für die Zukunft
auf die erneuerbaren Energien. Denn die
stehen auf absehbare Zeit nicht in ausreichendem
Maß zur Verfügung, und Gas
ist die Brückenenergie auf dem Weg zur
klimaneutralen Zukunft.
Ich sehe nur einen triftigen Grund für
den Kurs des Kanzlers: Er weiß, dass ak -
tuell Fracking vor allem wegen der Grünen,
aber auch der Skepsis der gesamten
Bevölkerung kaum durchzusetzen wäre.
Nach einer aktuellen Umfrage von Kantar
für FOCUS sind 49 Prozent für und 39 Prozent
der Deutschen gegen das Gas aus heimischem
Boden. Also versucht Scholz es
gar nicht erst und behauptet, man könne
darauf verzichten. Damit schützt er seine
Koalition und seine Kanzlerschaft. Aber
schützt er auch die Interessen des Landes?
Das war eine der 125 Fragen, die wir
ihm gestellt haben. Man sollte diesen
Kanzler bei allen Unzulänglichkeiten
des ersten Amtsjahres nicht unterschätzen.
Er ist einer der erfahrensten, taktisch
versiertesten Politiker des Landes. Seit
Wochen versichert er uns nun, dass die
Energiesicherheit für den Winter „wohl
gewährleistet“ sei. Das ist sein großes
Versprechen: Fürchtet euch nicht, denn
ich führe euch sicher durch die Krise.
Dazu passt die aufreizend stoische Art,
in der er auch im Interview auf jede Frage
reagiert. Ruhe als Ausdruck von Besonnenheit
und Nervenkraft scheint für ihn
erste Kanzlerpflicht zu sein.
Sollte es Scholz gelingen, die Bürger
durch den kalten Winter zu bringen, ohne
dass sie frieren oder verarmen, wird er in
anderem Licht dastehen. Wenn nicht, sind
dieser Kanzler und seine Regierung verloren.
Dezember, Januar, Februar, März sind
die Schicksalsmonate von Olaf Scholz!
Herzlich Ihr
FOCUS 48/2022 3
Einer für sich
Björn Höcke
sitzt für die AfD
im thüringischen
Landtag.
Was hat der
Hetzer noch vor?
Seite 44
Eine Familie
13 Jahre lang war
Britney Spears
entmündigt.
Warum wollte
ihr Vater seine
erwachsene Tochter
kontrollieren?
Seite 24
Eine von ihnen
Alexandra
Ocasio-Cortez
setzt sich in
ihrem Wahlkreis
in New York für
die Ärmsten ein
Seite 48
Eine Handbreit
Seine Frachter
bringen Hapag-
Llyod-Chef Rolf
Habben Jansen
satte Rekordgewinne
ein
Seite 52
Einer für alle
Nationalspieler
Jamal Musiala
ärgert sich nach
der deutschen
WM-Niederlage
gegen Japan
Seite 104
Einmal mit Käse Ottolenghi kocht Käsespätzle mit Kräutern Seite 102
4 FOCUS 48/2022
Titelthema
INHALT NR. 48 | 26. NOVEMBER 2022
70 Tödliche Töchter
Deutsche Forscher versuchen, das
Wachstum von Metastasen zu verhindern
75 So entstehen Superhirne
Wie sich Mensch und Tintenfisch ähneln
Nächste Woche in der
Stil-Beilage von FOCUS:
StyleNr. 4
2022
Kultur
Titel: Andreas Mühe für FOCUS-Magazin
Fotos: Hans Christian Plambeck/laif, Randee St. Nicholas/JIVE Records, Alex Trebus für FOCUS-Magazin, Patrick Ludolph, Reuters,
Louise Hagger/Photography, Emily Kydd/Food Styling, Jennifer Kay/Prop Styling, Katy Gilhooly/Food Stylist Assistant
30 Das Kanzler-Gespräch
Er hatte kein leichtes erstes Jahr. Krisen daheim,
Krieg im Ausland und eine gespaltene
Ampel. Hier spricht Olaf Scholz über Putin,
Fracking und über Weihnachtsgeschenke
Agenda
24 Die Finsternis hinter dem Blitzlicht
Britney Spears wurde jahrelang von ihrem
Vater kontrolliert. Auch ein Jahr nach der Be -
freiung bleibt die Frage: Was trieb ihn an?
Politik
40 Politischer Datenstrudel
Kuban und Schäuble im Kinderglück
42 Die Unbequeme
Trotz ihrer Verdienste ist Alice Schwarzer zutiefst
umstritten: prominente Grüße zum 80.
44 Aufbau Ost
Zu Besuch in Thüringen, wo Björn Höcke
(AfD) eine unheimliche Kraft entfaltet
48 Im Armenhaus der USA
Die New Yorker Bronx gilt als Blaupause für
Amerikas Probleme – ein Ortsbesuch
Wirtschaft
52 Das Milliarden-Mysterium
Seine Reederei bricht Rekorde: der Hapag-
Lloyd-Chef über Märkte und Übergewinn
58 Feldversuch
Ein Obsthof aus der Pfalz zeigt, wie sich
Ackerbau und Solarstrom ergänzen können
62 Geldmarkt
Wissen
64 Die Trauma-Fängerin
In Ruanda behandelt eine Psychologin
seelische Verletzungen des Genozids
68 Regenerieren statt reparieren
Zwei Schweizer Schwestern wollen die
Zahnmedizin revolutionieren
78 Bhagwan aus dem Burgenland
Ein neuer Film zeigt die letzten Tage der
dystopischen Kommune von Otto Muehl
82 Knapp daneben ist auch vorbei
Unsere Kulturtipps der Woche suchen
die Schönheit im Unperfekten
84 Rauchen, Saufen, Welterfolg
Wer hätte das gedacht: Bill und Tom Kaulitz
feiern über zwei Jahrzehnte Tokio Hotel
3 Editorial
8 Kolumne von
Jan Fleischhauer
11 Nachrichten
12 Fotos der Woche
18 Grafik der Woche
Wasserstraßen
20 Menschen
74 Echt irre
Leben
96 Der FOCUS-Weintest 2022
Unsere Jury kürt wieder die besten Tropfen
102 Sweet Dreams are Made of Cheese
Ottolenghis selbst gemachte Käsespätzle
104 O(h)ne Love
Die deutsche Nationalelf bemüht sich auf
und neben dem Spielfeld in Katar um
Haltung. Eine Analyse aus dem Stadion
106 Generation Corolla
Offroad und auf E mit dem Neuen von Toyota
108 Gold, weich wie Seide
Warum der Pforzheimer Schmuckhersteller
Wellendorff von der Krise profitiert
Rubriken
Titelthemen sind rot markiert
DER HAUPTSTADTBRIEF
83 Mein Salon
88 Bestseller
110 Die Einflussreichen
112 Leserbriefe
112 Impressum
113 Nachrufe
113 Servicenummern
114 Tagebuch
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Style
2022
4 Nr. Baz
Luhrmann
Hollywood
Baz Luhrmann
×
Hollywood
Von Shakespeare bis Elvis:
Das Gespräch mit dem Regisseur,
der mit seinen Bildern die Welt
verzaubert
Rote oder blaue Pille? Wenn die
Welt zur Matrix wird, bedarf es
neuer Kanten, neuer Sci-Fi-Fashion
Backstreet Boy
HOWIE DOROUGH im radikalmaterialistischen
Fragebogen
Baz
Luhrmann
Hollywood
FOCUS 48/2022 5
POLITIK
Mit Bedacht
Olaf Scholz am Arbeitsplatz
im 7. Stock des Kanzleramts.
Der deutsche Regierungschef empfing
dort den Fotografen Andreas Mühe,
der für seine ikonischen
Porträts von Kanzlerin Merkel
berühmt wurde
„Krieg und
Imperialismus
sind zurück“
Es war gewiss kein leichtes,
erstes Jahr für Olaf Scholz.
Krisen im Inland, Krieg im Ausland
und eine Koalition, die er nur
mit dem ultimativen Machtwort
zusammenhalten konnte.
Hier erzählt der 9. Kanzler der
Bundesrepublik, welche roten Linien für
Putin gelten, warum er nichts von
Fracking hält, und er verrät, was er seiner
Frau zu Weihnachten schenkt
INTERVIEW VON
JÖRG HARLAN ROHLEDER, FRANZISKA REICH
UND ROBERT SCHNEIDER
FOTOS VON
ANDREAS MÜHE
30 FOCUS 48/2022
TITEL
31
POLITIK
Warten zwei AfD-Männer
in einer Schlange.
Sagt der eine:
„Da werden wir ja
gleich getrennt. Ich
links, du ins KZ.“
Der andere lacht.
Die Szene ist kein
geschmackloser Scherz, sondern die
antisemitische Realität am Rande eines
Parteitags der AfD in Thüringen. Die
Organisatoren hatten zwei Tische zur
Anmeldung der Delegierten aufgebaut,
der linke für Mitglieder von A bis J, der
rechte von K bis Z. Wäre den beiden
bewusst gewesen, dass ein Journalist
hinter ihnen steht, sie hätten den Impuls
beim Anblick der zwei Buchstaben vielleicht
unterdrückt.
Vielleicht auch nicht. Die Thüringen-
AfD ist sogar für die Verhältnisse der
Rechtsaußenpartei extrem. An einem
Samstag im November kommt sie in der
Pfiffelburg in einem Örtchen namens Pfiffelbach
in der Nähe von Weimar zusammen,
um ihren Anführer Björn Höcke
als Chef zu bestätigen. Der Hotelkomplex
entstand gegen Ende der 80er Jahre.
Die regionale Filmförderung preist die
Pfiffelburg als Drehort wegen ihrer „DDRtypischen
Ausstattung“. In den Saal
passen 1000 Leute, die Planer der LPG
Oßmannstedt hatten Großes vor. Denn
in Pfiffelbach schaute regelmäßig Erich
Honecker samt Entourage vorbei, um die
für sie zusammengetriebenen Hasen bei
der Staatsjagd zu erschießen.
Björn Höcke betritt diesen Saal am Parteitag
wie ein leitender Angestellter sein
Büro. Er trägt beigefarbenen Trench und
eine Aktenmappe unterm Arm, sagt jovial
„grüß dich“, erkundigt sich nach dem
Wohlbefinden und sieht nicht aus wie
jemand, der das Land aus den Angeln
heben könnte. Kein Marsch, keine Inszenierung,
nirgends.
Mit den Chiffren für Eingeweihte
Dabei ist genau das seine Mission.
Höcke, 50 Jahre alt, sieht sich als Führer
„der Ersten von morgen“. Zu Ehren
des verstorbenen Hitler-Stellvertreters
Rudolf Heß wählte ein Neonazi diese
Formulierung in einer Todesanzeige.
Kennt kaum jemand, der sich nicht kultisch
mit Nazis beschäftigt. Der Sportund
Geschichtslehrer Höcke nutzt gern
Chiffren für Eingeweihte. Er sieht sich
als Vollstrecker des unbewussten Willens
eines manipulierten Volkes, das von einer
„fremdbestimmten Bundesregierung“
unterjocht werde.
Leitender
Angestellter
Björn Höcke ist der
Fraktions- und Landesvorsitzende
der
AfD in Thüringen.
Seine Wirkung
reicht weit über das
Bundesland hinaus
Aufbau Ost
Sie haben ihn alle unterschätzt, die AfD-Vorsitzenden, die
irgendwann entnervt aufgaben. Björn Höcke entfaltet aus
Thüringen heraus eine unheimliche Kraft. Warum eigentlich?
TEXT VON JAN-PHILIPP HEIN UND ANJA MAIER
44 FOCUS 48/2022
RECHTSEXTREMISMUS
Fotos: Hans Christian Plambeck/laif, Ralf Hirschberger/dpa
Viele AfD-Parteichefs haben den Nationalromantiker
unterschätzt. Bernd Lucke,
Frauke Petry und Jörg Meuthen dachten,
sie könnten ihn als nützlichen Idioten
gebrauchen, der im Osten die Prozente
absahnt und glücklich ist, den Volksbefreiungstribun
zu geben. Als sie merkten,
mit wem sie es zu tun hatten, und
sich bis hin zu Parteiausschlussverfahren
gegen
ihn stellten, war es zu spät.
Alle drei sind nicht mehr
in der AfD – und Höcke
hat jedes Mal gewonnen,
ohne je eine Kampfabstimmung
um den Vorsitz
riskieren zu müssen. Diese
Woche erst trat mit Joana
Cotar eine für AfD-Verhältnisse
gemäßigte Vertraute
des Ex-AfD-Chefs
Meuthen aus. Die Partei
habe „zu viele rote Linien
überschritten“.
Ein Scheinriese?
Die Frage ist nun: Wird
Höcke es schaffen, die
AfD über die rote Linie
zu hieven, die sie zu einer
ernsten Gefahr für die
Demokratie macht? Die Bedingungen
dafür sind so gut wie lange nicht. Zigfach
höhere Energiepreise, galoppierende
Inflation und die Angst vor einem
Atomkrieg bilden einen guten Rahmen
für völkisch-radikale Extremisten. Kann
Höcke also das Land so übermannen wie
seine Partei? Oder bleibt er ein Provinzfürstchen?
Ein Scheinriese aus dem westfälischen
Unna?
Im Gespräch zeigt er sich selbstbewusst
und kokettiert mit Koalitionsverhandlungen
– wann auch immer. In Thüringen
sehen ihn Umfragen gerade vorn. Man
sei grundsätzlich „kompromissfähig“,
sagt Höcke. Und schiebt nach: „In der
Migrationspolitik können wir keine Kompromisse
machen.“
Das typische Zeichen für Scheinriesen:
Wenn man sich ihnen nähert, dann
schrumpfen sie. Höcke nähert man sich
am besten im Erfurter Landtag. Dort ist
es ihm schon einmal geglückt, die Republik
in einen Schock zu versetzen. Am
5. Februar 2020 war im dritten Wahlgang
der weitgehend unbekannte FDP-
Abgeordnete Thomas Kemmerich mit
den Stimmen von AfD, CDU und FDP
zum thüringischen Ministerpräsidenten
gewählt worden. Der abgewählte Linke
Bodo Ramelow saß wie erstarrt auf
seinem Platz; seine Fraktionsvorsitzende
Susanne Hennig-Wellsow warf Kemmerich
den Blumenstrauß vor die Füße.
Und von einer Südafrika-Reise meldete
sich die Kanzlerin zu Wort. Das Erfurter
Ergebnis, sagte eine sichtbar enervierte
Angela Merkel, müsse „rückgängig“
gemacht werden. Die Thüringen-CDU
Die Krawatte im Männermeer Björn Höcke bei einer Kundgebung in Chemnitz
habe „mit einer Grundüberzeugung für
die CDU und auch für mich gebrochen,
dass nämlich keine Mehrheiten mithilfe
der AfD gewonnen werden sollen“.
Drei Tage nach seiner Wahl trat Kemmerich
zurück – und seit März 2020 führt
Bodo Ramelow nun eine Minderheitsregierung,
die allerdings vor jeder, wirklich
jeder Abstimmung bei der CDU anklopfen
muss, ob die Konservativen mitgehen.
Meist tun sie es, manchmal aber auch
nicht. Der Stimmung im Landtag ist zu -
dem abträglich, dass die CDU sich auch
AfD-Unterstützung gefallen lässt. Gerade
hat die Höcke-Fraktion dem CDU-Antrag
„Gendern? Nein danke!“ zugestimmt.
„Wir unterstützen auch mal Anträge der
Linken“, sagt CDU-Mann Thadäus König
– als wolle er damit beruhigen.
König ist der unmittelbare
Herausforderer von
Björn Höcke. Beide Männer
haben 2019 im Wahlkreis
Eichsfeld I kandidiert.
Damals hatte Höcke noch
getönt, er werde das traditionell
katholische Eichsfeld
attackieren. Nach der
Wahl „wird das kein Erbhof
mehr sein für die CDU,
dann wird der sturmreif
geschossen sein!“ Es kam anders. Am
27. Oktober 2019 stimmten 49 Prozent
für den CDU-Kandidaten, Höcke erhielt
21 Prozent. Sturmreif sieht anders aus.
Dem Sieger ist der Triumph dennoch
nicht anzumerken. Was daran liegen
mag, dass König seine politische Wahlkreisarbeit
weitgehend unbehelligt von
Höcke machen kann. „Seit
Björn Höcke im Landtag
ist, habe ich ihn außerhalb
von Kreistagssitzungen im
Wahlkreis nie getroffen“,
erzählt König. Ob beim
Sportverein, bei der Feuerwehr
oder auf Ortsjubiläen
– Höcke sei nirgends zu
finden. Eben ein Zugezogener
ohne Verwurzelung.
Als Lehrer aus Bad Sooden,
das liege ja in Hessen,
war er vor einigen Jahren
nach Thüringen gezogen,
aber eher bundesweit
unterwegs. „Er geht dorthin,
wo er Jubel erwartet“,
sagt König. Die Schilderung
passt zu den Beschreibungen
von Höckes in -
nerparteilichen Gegnern:
Höcke sei faul, lasse gern
andere arbeiten und suche nur Gelegenheiten,
um als Goebbels-Imitator auf Bühnen
aufzutreten. Eitelkeit first.
Höcke vs. König
»
Er geht dorthin,
wo er Jubel
erwartet
«
Thadäus König
über Konkurrent Björn Höcke
Beruhigend ist das nicht. Höcke ist es
gelungen, den Parlamentarismus in Thüringen
in einen Dauernotmodus zu schalten.
Der Erfurter Burgfrieden zwischen
Union und Minderheitsregierung ist labil.
Höcke genießt es, dafür verantwortlich
zu sein. „Die CDU-Fraktion weiß, dass
wir ihre Stimmen brauchen, deshalb stecken
wir in einem permanenten Erpressungsmodus“,
sagt Madeleine Henfling.
Die 39-Jährige ist die parlamentarische
Geschäftsführerin der gerade mal fünfköpfigen
Grünen-Fraktion.
Wie viele junge ostdeutsche Frauen ist
sie nach dem Abitur erst
mal in den Westen ge -
gangen. Beim Studium in
Köln, so erinnert sie, wurde
sie sich ihrer ostdeutschen
Identität bewusst – weil sie
immer wieder auf ihre Herkunft
reduziert worden sei.
„Wenn mir heute westdeutsche
Parteimitglieder
von ihren Problemen er -
zählen, denke ich: Ihr
FOCUS 48/2022 45
LEBEN
Verdeckte Probe
im 100-Punkte-System
Ida Didinger,
Weingut Didinger,
Mittelrhein
Aurelia Hamm,
Weingut Hamm,
Rheingau
Franz Wehrheim,
Weingut Dr. Wehrheim,
Pfalz
Botschafter des
allerbesten
Geschmacks
Raphael Reichardt,
Restaurant „Tim Raue“,
Berlin (2 Sterne)
Maria Rehermann,
„Viniculture“,
Berlin
Philipp Wittmann,
Weingut Wittmann,
Rheinhessen
Zum 12. Mal lud FOCUS zum
großen Weintest ein.
Zum Finale traf sich die Jury in
„Frühsammers Restaurant“
in Berlin. Diesmal prämierten
die Experten – darunter
ein Minister – 60 Spitzenweine
und Schaumweine in
sechs Kategorien
Beate
Schindler,
FOCUS-
Weintest
TEXT VON
BEATE SCHINDLER
FOTOS VON
Master of Wine
Konstantin Baum,
Baden-Baden
JÉRÔME DEPIERRE UND
ANNA-LENA ZINTEL
Legendäre Verkostungs-Location
beim Tennisclub Grunewald
Gerhard Retter, „Cordo“,
Berlin (1 Stern) und
Cornelia Bovensiepen,
München
Andrea Wirsching,
Weingut Hans Wirsching,
Franken
Joachim Heger,
Weingut Dr. Heger,
Baden
Katja Reinecker,
Privat-Sektkellerei
Reinecker, Baden