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AUSGABE <strong>48</strong> 26. November <strong>2022</strong> € 4,90 EUROPEAN MAGAZINE AWA R D WINNER <strong>2022</strong> POLITICS & SOCIETY /// INFOGRAPHIC<br />
Schaf im<br />
Wolfspelz<br />
Wie gefährlich ist<br />
Björn Höcke?<br />
Die besten<br />
Weine <strong>2022</strong><br />
Ausgewählt von der<br />
<strong>FOCUS</strong>-Jury<br />
Die<br />
Krise<br />
und<br />
ihr<br />
Kanzler<br />
Olaf Scholz im Gespräch.<br />
125 Fragen, 124 Antworten.<br />
Eine Bilanz
Alle <strong>FOCUS</strong>-Titel to go.<br />
focus-shop.de<br />
JETZT<br />
E-PAPER LESEN:
EDITORIAL<br />
Ein Mensch in der Kulisse der Macht<br />
Von Robert Schneider, Chefredakteur<br />
Fotos: Peter Rigaud/<strong>FOCUS</strong>-Magazin (1)<br />
Liebe Leserinnen,<br />
liebe Leser,<br />
wir treffen Olaf Scholz am Dienstagnachmittag<br />
in seinem Amtszimmer. Als wir eintreten,<br />
sitzt er hinter dem Schreibtisch und<br />
bearbeitet noch Akten.<br />
Der Kanzler trägt – den Temperaturen<br />
und den Energievorschriften angemessen<br />
– einen Pullover in Grau. Ein wenig<br />
erinnert das an Helmut Kohls Strickjacke.<br />
In dem gewaltigen Bau an der Spree<br />
regierten schon Gerhard Schröder und<br />
Angela Merkel. Immer wieder wurde die<br />
Ex-Kanzlerin von Andreas Mühe foto -<br />
grafiert, dem Sohn von Schauspieler Ulrich<br />
Mühe. Dem 43-jährigen Fotografen ist<br />
das Kanzleramt also wohlvertraut. Und so<br />
inszenierte er Scholz auf der Terrasse über<br />
dem Ehrenhof, im letzten Licht des Tages.<br />
Ein Mensch in der Kulisse der Macht.<br />
Am Tag des <strong>FOCUS</strong>-Gesprächs haben<br />
die Oppositionsführer Friedrich Merz und<br />
Markus Söder der Ampelkoalition den bisher<br />
schwersten Wirkungstreffer verpasst:<br />
Mithilfe der unionsregierten Länder im<br />
Bundesrat erzwangen sie weitreichende<br />
Änderungen am Bürgergeld-Gesetz, dem<br />
wichtigsten sozialpolitischen Vorhaben<br />
der SPD in dieser Legislaturperiode. Doch<br />
Scholz wirkt nicht angeschlagen, nicht<br />
einmal getroffen. Ich hege den Verdacht,<br />
dass es ihm vielleicht gar nicht so unrecht<br />
ist, was die Union an Änderungen bewirkt<br />
hat. Laut Umfragen entspricht der Kompromiss<br />
den Wünschen der Mehrheit der<br />
Deutschen, darunter auch vieler SPD-<br />
Anhänger, die finden, dass Arbeit sich<br />
mehr lohnen muss als „Stütze plus“, also<br />
Geld vom Staat plus Zuverdienst.<br />
Auch die FDP ist mit dem Kompromiss<br />
glücklicher als mit dem, was Arbeitsminister<br />
Hubertus Heil ursprünglich in das<br />
Gesetz geschrieben hatte: eine sanktionsfreie<br />
Vertrauensphase und hohe Schonvermögen.<br />
Heil ist der eigentliche Verlierer<br />
des Tages. Scholz aber geht als der Kanzler<br />
in die (SPD-)Geschichte ein, der das<br />
bei Sozialdemokraten weithin verhasste<br />
Hartz-IV-System von Schröder überwunden<br />
und durch ein Bürgergeld ersetzt hat.<br />
Auch das erinnert ein wenig an Kohl: Entscheidend<br />
ist, was hinten herauskommt.<br />
Olaf Scholz ist ein Kanzler in der Krise.<br />
Viel, zu viel lief im ersten Amtsjahr nicht<br />
gut: die viel zu späte Reaktion auf die<br />
Energiekrise, die eklatanten Fehler bei<br />
der Gaspreisbremse, das Hickhack um<br />
die angeblich nicht notwendige und dann<br />
per Machtwort des Kanzlers erzwungene<br />
Laufzeitverlängerung für die drei letzten<br />
Atomkraftwerke, das Gezerre um die deutschen<br />
Waffenhilfen für die Ukraine, die<br />
schleppende Umsetzung der Wohngeldreform<br />
… Manches verantworten die heillos<br />
zerstrittenen Ampelpartner Grüne und<br />
FDP, doch alles geht am Ende mit Scholz<br />
und seiner Partei nach Hause. Höhepunkt<br />
dieser Woche: FDP-Vize Wolfgang Kubicki<br />
Der Ausblick des Kanzlers Olaf Scholz im<br />
Gespräch mit dem <strong>FOCUS</strong>-Team<br />
droht unter dem Eindruck der Niederlagen<br />
seiner Partei bei den Landtagswahlen<br />
und dauerhaft schlechten Umfragewerten<br />
offen mit dem Ende der Koalition.<br />
Dabei hatte der Bundeskanzler kurz<br />
nach dem Überfall Russlands auf die<br />
Ukraine eine „Zeitenwende“ versprochen<br />
und damit Hoffnung gemacht auf<br />
einen neuen Olaf Scholz. Doch inzwischen<br />
erleben wir immer häufiger einen Politiker<br />
der Minimalkompromisse. Ein Beispiel<br />
dafür ist seine Verweigerung beim<br />
Thema Fracking. Statt zu bekennen, dass<br />
es ein Fehler war, die Abhängigkeit von<br />
Putins Erdgas zu vergrößern und auf diese<br />
Methode der Gasgewinnung im eigenen<br />
Land zu verzichten, bleibt Scholz auch<br />
jetzt – da kein russisches Gas mehr fließt –<br />
eisern beim Nein zum Fracking, um statt-<br />
dessen Flüssigerdgas (LNG) aus anderen<br />
Ländern wie den USA teuer einzukaufen.<br />
Das Argument des Kanzlers: Fracking ist<br />
kein funktionierendes Geschäftsmodell.<br />
Doch das überzeugt ebenso wenig wie<br />
der Hinweis, man setze für die Zukunft<br />
auf die erneuerbaren Energien. Denn die<br />
stehen auf absehbare Zeit nicht in ausreichendem<br />
Maß zur Verfügung, und Gas<br />
ist die Brückenenergie auf dem Weg zur<br />
klimaneutralen Zukunft.<br />
Ich sehe nur einen triftigen Grund für<br />
den Kurs des Kanzlers: Er weiß, dass ak -<br />
tuell Fracking vor allem wegen der Grünen,<br />
aber auch der Skepsis der gesamten<br />
Bevölkerung kaum durchzusetzen wäre.<br />
Nach einer aktuellen Umfrage von Kantar<br />
für <strong>FOCUS</strong> sind 49 Prozent für und 39 Prozent<br />
der Deutschen gegen das Gas aus heimischem<br />
Boden. Also versucht Scholz es<br />
gar nicht erst und behauptet, man könne<br />
darauf verzichten. Damit schützt er seine<br />
Koalition und seine Kanzlerschaft. Aber<br />
schützt er auch die Interessen des Landes?<br />
Das war eine der 125 Fragen, die wir<br />
ihm gestellt haben. Man sollte diesen<br />
Kanzler bei allen Unzulänglichkeiten<br />
des ersten Amtsjahres nicht unterschätzen.<br />
Er ist einer der erfahrensten, taktisch<br />
versiertesten Politiker des Landes. Seit<br />
Wochen versichert er uns nun, dass die<br />
Energiesicherheit für den Winter „wohl<br />
gewährleistet“ sei. Das ist sein großes<br />
Versprechen: Fürchtet euch nicht, denn<br />
ich führe euch sicher durch die Krise.<br />
Dazu passt die aufreizend stoische Art,<br />
in der er auch im Interview auf jede Frage<br />
reagiert. Ruhe als Ausdruck von Besonnenheit<br />
und Nervenkraft scheint für ihn<br />
erste Kanzlerpflicht zu sein.<br />
Sollte es Scholz gelingen, die Bürger<br />
durch den kalten Winter zu bringen, ohne<br />
dass sie frieren oder verarmen, wird er in<br />
anderem Licht dastehen. Wenn nicht, sind<br />
dieser Kanzler und seine Regierung verloren.<br />
Dezember, Januar, Februar, März sind<br />
die Schicksalsmonate von Olaf Scholz!<br />
Herzlich Ihr<br />
<strong>FOCUS</strong> <strong>48</strong>/<strong>2022</strong> 3
Einer für sich<br />
Björn Höcke<br />
sitzt für die AfD<br />
im thüringischen<br />
Landtag.<br />
Was hat der<br />
Hetzer noch vor?<br />
Seite 44<br />
Eine Familie<br />
13 Jahre lang war<br />
Britney Spears<br />
entmündigt.<br />
Warum wollte<br />
ihr Vater seine<br />
erwachsene Tochter<br />
kontrollieren?<br />
Seite 24<br />
Eine von ihnen<br />
Alexandra<br />
Ocasio-Cortez<br />
setzt sich in<br />
ihrem Wahlkreis<br />
in New York für<br />
die Ärmsten ein<br />
Seite <strong>48</strong><br />
Eine Handbreit<br />
Seine Frachter<br />
bringen Hapag-<br />
Llyod-Chef Rolf<br />
Habben Jansen<br />
satte Rekordgewinne<br />
ein<br />
Seite 52<br />
Einer für alle<br />
Nationalspieler<br />
Jamal Musiala<br />
ärgert sich nach<br />
der deutschen<br />
WM-Niederlage<br />
gegen Japan<br />
Seite 104<br />
Einmal mit Käse Ottolenghi kocht Käsespätzle mit Kräutern Seite 102<br />
4 <strong>FOCUS</strong> <strong>48</strong>/<strong>2022</strong>
Titelthema<br />
INHALT NR. <strong>48</strong> | 26. NOVEMBER <strong>2022</strong><br />
70 Tödliche Töchter<br />
Deutsche Forscher versuchen, das<br />
Wachstum von Metastasen zu verhindern<br />
75 So entstehen Superhirne<br />
Wie sich Mensch und Tintenfisch ähneln<br />
Nächste Woche in der<br />
Stil-Beilage von <strong>FOCUS</strong>:<br />
StyleNr. 4<br />
<strong>2022</strong><br />
Kultur<br />
Titel: Andreas Mühe für <strong>FOCUS</strong>-Magazin<br />
Fotos: Hans Christian Plambeck/laif, Randee St. Nicholas/JIVE Records, Alex Trebus für <strong>FOCUS</strong>-Magazin, Patrick Ludolph, Reuters,<br />
Louise Hagger/Photography, Emily Kydd/Food Styling, Jennifer Kay/Prop Styling, Katy Gilhooly/Food Stylist Assistant<br />
30 Das Kanzler-Gespräch<br />
Er hatte kein leichtes erstes Jahr. Krisen daheim,<br />
Krieg im Ausland und eine gespaltene<br />
Ampel. Hier spricht Olaf Scholz über Putin,<br />
Fracking und über Weihnachtsgeschenke<br />
Agenda<br />
24 Die Finsternis hinter dem Blitzlicht<br />
Britney Spears wurde jahrelang von ihrem<br />
Vater kontrolliert. Auch ein Jahr nach der Be -<br />
freiung bleibt die Frage: Was trieb ihn an?<br />
Politik<br />
40 Politischer Datenstrudel<br />
Kuban und Schäuble im Kinderglück<br />
42 Die Unbequeme<br />
Trotz ihrer Verdienste ist Alice Schwarzer zutiefst<br />
umstritten: prominente Grüße zum 80.<br />
44 Aufbau Ost<br />
Zu Besuch in Thüringen, wo Björn Höcke<br />
(AfD) eine unheimliche Kraft entfaltet<br />
<strong>48</strong> Im Armenhaus der USA<br />
Die New Yorker Bronx gilt als Blaupause für<br />
Amerikas Probleme – ein Ortsbesuch<br />
Wirtschaft<br />
52 Das Milliarden-Mysterium<br />
Seine Reederei bricht Rekorde: der Hapag-<br />
Lloyd-Chef über Märkte und Übergewinn<br />
58 Feldversuch<br />
Ein Obsthof aus der Pfalz zeigt, wie sich<br />
Ackerbau und Solarstrom ergänzen können<br />
62 Geldmarkt<br />
Wissen<br />
64 Die Trauma-Fängerin<br />
In Ruanda behandelt eine Psychologin<br />
seelische Verletzungen des Genozids<br />
68 Regenerieren statt reparieren<br />
Zwei Schweizer Schwestern wollen die<br />
Zahnmedizin revolutionieren<br />
78 Bhagwan aus dem Burgenland<br />
Ein neuer Film zeigt die letzten Tage der<br />
dystopischen Kommune von Otto Muehl<br />
82 Knapp daneben ist auch vorbei<br />
Unsere Kulturtipps der Woche suchen<br />
die Schönheit im Unperfekten<br />
84 Rauchen, Saufen, Welterfolg<br />
Wer hätte das gedacht: Bill und Tom Kaulitz<br />
feiern über zwei Jahrzehnte Tokio Hotel<br />
3 Editorial<br />
8 Kolumne von<br />
Jan Fleischhauer<br />
11 Nachrichten<br />
12 Fotos der Woche<br />
18 Grafik der Woche<br />
Wasserstraßen<br />
20 Menschen<br />
74 Echt irre<br />
Leben<br />
96 Der <strong>FOCUS</strong>-Weintest <strong>2022</strong><br />
Unsere Jury kürt wieder die besten Tropfen<br />
102 Sweet Dreams are Made of Cheese<br />
Ottolenghis selbst gemachte Käsespätzle<br />
104 O(h)ne Love<br />
Die deutsche Nationalelf bemüht sich auf<br />
und neben dem Spielfeld in Katar um<br />
Haltung. Eine Analyse aus dem Stadion<br />
106 Generation Corolla<br />
Offroad und auf E mit dem Neuen von Toyota<br />
108 Gold, weich wie Seide<br />
Warum der Pforzheimer Schmuckhersteller<br />
Wellendorff von der Krise profitiert<br />
Rubriken<br />
Titelthemen sind rot markiert<br />
DER HAUPTSTADTBRIEF<br />
83 Mein Salon<br />
88 Bestseller<br />
110 Die Einflussreichen<br />
112 Leserbriefe<br />
112 Impressum<br />
113 Nachrufe<br />
113 Servicenummern<br />
114 Tagebuch<br />
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Der Hauptstadtbrief für <strong>FOCUS</strong>-Leser<br />
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Style<br />
<strong>2022</strong><br />
4 Nr. Baz<br />
Luhrmann<br />
Hollywood<br />
Baz Luhrmann<br />
×<br />
Hollywood<br />
Von Shakespeare bis Elvis:<br />
Das Gespräch mit dem Regisseur,<br />
der mit seinen Bildern die Welt<br />
verzaubert<br />
Rote oder blaue Pille? Wenn die<br />
Welt zur Matrix wird, bedarf es<br />
neuer Kanten, neuer Sci-Fi-Fashion<br />
Backstreet Boy<br />
HOWIE DOROUGH im radikalmaterialistischen<br />
Fragebogen<br />
Baz<br />
Luhrmann<br />
Hollywood<br />
<strong>FOCUS</strong> <strong>48</strong>/<strong>2022</strong> 5
POLITIK<br />
Mit Bedacht<br />
Olaf Scholz am Arbeitsplatz<br />
im 7. Stock des Kanzleramts.<br />
Der deutsche Regierungschef empfing<br />
dort den Fotografen Andreas Mühe,<br />
der für seine ikonischen<br />
Porträts von Kanzlerin Merkel<br />
berühmt wurde<br />
„Krieg und<br />
Imperialismus<br />
sind zurück“<br />
Es war gewiss kein leichtes,<br />
erstes Jahr für Olaf Scholz.<br />
Krisen im Inland, Krieg im Ausland<br />
und eine Koalition, die er nur<br />
mit dem ultimativen Machtwort<br />
zusammenhalten konnte.<br />
Hier erzählt der 9. Kanzler der<br />
Bundesrepublik, welche roten Linien für<br />
Putin gelten, warum er nichts von<br />
Fracking hält, und er verrät, was er seiner<br />
Frau zu Weihnachten schenkt<br />
INTERVIEW VON<br />
JÖRG HARLAN ROHLEDER, FRANZISKA REICH<br />
UND ROBERT SCHNEIDER<br />
FOTOS VON<br />
ANDREAS MÜHE<br />
30 <strong>FOCUS</strong> <strong>48</strong>/<strong>2022</strong>
TITEL<br />
31
POLITIK<br />
Warten zwei AfD-Männer<br />
in einer Schlange.<br />
Sagt der eine:<br />
„Da werden wir ja<br />
gleich getrennt. Ich<br />
links, du ins KZ.“<br />
Der andere lacht.<br />
Die Szene ist kein<br />
geschmackloser Scherz, sondern die<br />
antisemitische Realität am Rande eines<br />
Parteitags der AfD in Thüringen. Die<br />
Organisatoren hatten zwei Tische zur<br />
Anmeldung der Delegierten aufgebaut,<br />
der linke für Mitglieder von A bis J, der<br />
rechte von K bis Z. Wäre den beiden<br />
bewusst gewesen, dass ein Journalist<br />
hinter ihnen steht, sie hätten den Impuls<br />
beim Anblick der zwei Buchstaben vielleicht<br />
unterdrückt.<br />
Vielleicht auch nicht. Die Thüringen-<br />
AfD ist sogar für die Verhältnisse der<br />
Rechtsaußenpartei extrem. An einem<br />
Samstag im November kommt sie in der<br />
Pfiffelburg in einem Örtchen namens Pfiffelbach<br />
in der Nähe von Weimar zusammen,<br />
um ihren Anführer Björn Höcke<br />
als Chef zu bestätigen. Der Hotelkomplex<br />
entstand gegen Ende der 80er Jahre.<br />
Die regionale Filmförderung preist die<br />
Pfiffelburg als Drehort wegen ihrer „DDRtypischen<br />
Ausstattung“. In den Saal<br />
passen 1000 Leute, die Planer der LPG<br />
Oßmannstedt hatten Großes vor. Denn<br />
in Pfiffelbach schaute regelmäßig Erich<br />
Honecker samt Entourage vorbei, um die<br />
für sie zusammengetriebenen Hasen bei<br />
der Staatsjagd zu erschießen.<br />
Björn Höcke betritt diesen Saal am Parteitag<br />
wie ein leitender Angestellter sein<br />
Büro. Er trägt beigefarbenen Trench und<br />
eine Aktenmappe unterm Arm, sagt jovial<br />
„grüß dich“, erkundigt sich nach dem<br />
Wohlbefinden und sieht nicht aus wie<br />
jemand, der das Land aus den Angeln<br />
heben könnte. Kein Marsch, keine Inszenierung,<br />
nirgends.<br />
Mit den Chiffren für Eingeweihte<br />
Dabei ist genau das seine Mission.<br />
Höcke, 50 Jahre alt, sieht sich als Führer<br />
„der Ersten von morgen“. Zu Ehren<br />
des verstorbenen Hitler-Stellvertreters<br />
Rudolf Heß wählte ein Neonazi diese<br />
Formulierung in einer Todesanzeige.<br />
Kennt kaum jemand, der sich nicht kultisch<br />
mit Nazis beschäftigt. Der Sportund<br />
Geschichtslehrer Höcke nutzt gern<br />
Chiffren für Eingeweihte. Er sieht sich<br />
als Vollstrecker des unbewussten Willens<br />
eines manipulierten Volkes, das von einer<br />
„fremdbestimmten Bundesregierung“<br />
unterjocht werde.<br />
Leitender<br />
Angestellter<br />
Björn Höcke ist der<br />
Fraktions- und Landesvorsitzende<br />
der<br />
AfD in Thüringen.<br />
Seine Wirkung<br />
reicht weit über das<br />
Bundesland hinaus<br />
Aufbau Ost<br />
Sie haben ihn alle unterschätzt, die AfD-Vorsitzenden, die<br />
irgendwann entnervt aufgaben. Björn Höcke entfaltet aus<br />
Thüringen heraus eine unheimliche Kraft. Warum eigentlich?<br />
TEXT VON JAN-PHILIPP HEIN UND ANJA MAIER<br />
44 <strong>FOCUS</strong> <strong>48</strong>/<strong>2022</strong>
RECHTSEXTREMISMUS<br />
Fotos: Hans Christian Plambeck/laif, Ralf Hirschberger/dpa<br />
Viele AfD-Parteichefs haben den Nationalromantiker<br />
unterschätzt. Bernd Lucke,<br />
Frauke Petry und Jörg Meuthen dachten,<br />
sie könnten ihn als nützlichen Idioten<br />
gebrauchen, der im Osten die Prozente<br />
absahnt und glücklich ist, den Volksbefreiungstribun<br />
zu geben. Als sie merkten,<br />
mit wem sie es zu tun hatten, und<br />
sich bis hin zu Parteiausschlussverfahren<br />
gegen<br />
ihn stellten, war es zu spät.<br />
Alle drei sind nicht mehr<br />
in der AfD – und Höcke<br />
hat jedes Mal gewonnen,<br />
ohne je eine Kampfabstimmung<br />
um den Vorsitz<br />
riskieren zu müssen. Diese<br />
Woche erst trat mit Joana<br />
Cotar eine für AfD-Verhältnisse<br />
gemäßigte Vertraute<br />
des Ex-AfD-Chefs<br />
Meuthen aus. Die Partei<br />
habe „zu viele rote Linien<br />
überschritten“.<br />
Ein Scheinriese?<br />
Die Frage ist nun: Wird<br />
Höcke es schaffen, die<br />
AfD über die rote Linie<br />
zu hieven, die sie zu einer<br />
ernsten Gefahr für die<br />
Demokratie macht? Die Bedingungen<br />
dafür sind so gut wie lange nicht. Zigfach<br />
höhere Energiepreise, galoppierende<br />
Inflation und die Angst vor einem<br />
Atomkrieg bilden einen guten Rahmen<br />
für völkisch-radikale Extremisten. Kann<br />
Höcke also das Land so übermannen wie<br />
seine Partei? Oder bleibt er ein Provinzfürstchen?<br />
Ein Scheinriese aus dem westfälischen<br />
Unna?<br />
Im Gespräch zeigt er sich selbstbewusst<br />
und kokettiert mit Koalitionsverhandlungen<br />
– wann auch immer. In Thüringen<br />
sehen ihn Umfragen gerade vorn. Man<br />
sei grundsätzlich „kompromissfähig“,<br />
sagt Höcke. Und schiebt nach: „In der<br />
Migrationspolitik können wir keine Kompromisse<br />
machen.“<br />
Das typische Zeichen für Scheinriesen:<br />
Wenn man sich ihnen nähert, dann<br />
schrumpfen sie. Höcke nähert man sich<br />
am besten im Erfurter Landtag. Dort ist<br />
es ihm schon einmal geglückt, die Republik<br />
in einen Schock zu versetzen. Am<br />
5. Februar 2020 war im dritten Wahlgang<br />
der weitgehend unbekannte FDP-<br />
Abgeordnete Thomas Kemmerich mit<br />
den Stimmen von AfD, CDU und FDP<br />
zum thüringischen Ministerpräsidenten<br />
gewählt worden. Der abgewählte Linke<br />
Bodo Ramelow saß wie erstarrt auf<br />
seinem Platz; seine Fraktionsvorsitzende<br />
Susanne Hennig-Wellsow warf Kemmerich<br />
den Blumenstrauß vor die Füße.<br />
Und von einer Südafrika-Reise meldete<br />
sich die Kanzlerin zu Wort. Das Erfurter<br />
Ergebnis, sagte eine sichtbar enervierte<br />
Angela Merkel, müsse „rückgängig“<br />
gemacht werden. Die Thüringen-CDU<br />
Die Krawatte im Männermeer Björn Höcke bei einer Kundgebung in Chemnitz<br />
habe „mit einer Grundüberzeugung für<br />
die CDU und auch für mich gebrochen,<br />
dass nämlich keine Mehrheiten mithilfe<br />
der AfD gewonnen werden sollen“.<br />
Drei Tage nach seiner Wahl trat Kemmerich<br />
zurück – und seit März 2020 führt<br />
Bodo Ramelow nun eine Minderheitsregierung,<br />
die allerdings vor jeder, wirklich<br />
jeder Abstimmung bei der CDU anklopfen<br />
muss, ob die Konservativen mitgehen.<br />
Meist tun sie es, manchmal aber auch<br />
nicht. Der Stimmung im Landtag ist zu -<br />
dem abträglich, dass die CDU sich auch<br />
AfD-Unterstützung gefallen lässt. Gerade<br />
hat die Höcke-Fraktion dem CDU-Antrag<br />
„Gendern? Nein danke!“ zugestimmt.<br />
„Wir unterstützen auch mal Anträge der<br />
Linken“, sagt CDU-Mann Thadäus König<br />
– als wolle er damit beruhigen.<br />
König ist der unmittelbare<br />
Herausforderer von<br />
Björn Höcke. Beide Männer<br />
haben 2019 im Wahlkreis<br />
Eichsfeld I kandidiert.<br />
Damals hatte Höcke noch<br />
getönt, er werde das traditionell<br />
katholische Eichsfeld<br />
attackieren. Nach der<br />
Wahl „wird das kein Erbhof<br />
mehr sein für die CDU,<br />
dann wird der sturmreif<br />
geschossen sein!“ Es kam anders. Am<br />
27. Oktober 2019 stimmten 49 Prozent<br />
für den CDU-Kandidaten, Höcke erhielt<br />
21 Prozent. Sturmreif sieht anders aus.<br />
Dem Sieger ist der Triumph dennoch<br />
nicht anzumerken. Was daran liegen<br />
mag, dass König seine politische Wahlkreisarbeit<br />
weitgehend unbehelligt von<br />
Höcke machen kann. „Seit<br />
Björn Höcke im Landtag<br />
ist, habe ich ihn außerhalb<br />
von Kreistagssitzungen im<br />
Wahlkreis nie getroffen“,<br />
erzählt König. Ob beim<br />
Sportverein, bei der Feuerwehr<br />
oder auf Ortsjubiläen<br />
– Höcke sei nirgends zu<br />
finden. Eben ein Zugezogener<br />
ohne Verwurzelung.<br />
Als Lehrer aus Bad Sooden,<br />
das liege ja in Hessen,<br />
war er vor einigen Jahren<br />
nach Thüringen gezogen,<br />
aber eher bundesweit<br />
unterwegs. „Er geht dorthin,<br />
wo er Jubel erwartet“,<br />
sagt König. Die Schilderung<br />
passt zu den Beschreibungen<br />
von Höckes in -<br />
nerparteilichen Gegnern:<br />
Höcke sei faul, lasse gern<br />
andere arbeiten und suche nur Gelegenheiten,<br />
um als Goebbels-Imitator auf Bühnen<br />
aufzutreten. Eitelkeit first.<br />
Höcke vs. König<br />
»<br />
Er geht dorthin,<br />
wo er Jubel<br />
erwartet<br />
«<br />
Thadäus König<br />
über Konkurrent Björn Höcke<br />
Beruhigend ist das nicht. Höcke ist es<br />
gelungen, den Parlamentarismus in Thüringen<br />
in einen Dauernotmodus zu schalten.<br />
Der Erfurter Burgfrieden zwischen<br />
Union und Minderheitsregierung ist labil.<br />
Höcke genießt es, dafür verantwortlich<br />
zu sein. „Die CDU-Fraktion weiß, dass<br />
wir ihre Stimmen brauchen, deshalb stecken<br />
wir in einem permanenten Erpressungsmodus“,<br />
sagt Madeleine Henfling.<br />
Die 39-Jährige ist die parlamentarische<br />
Geschäftsführerin der gerade mal fünfköpfigen<br />
Grünen-Fraktion.<br />
Wie viele junge ostdeutsche Frauen ist<br />
sie nach dem Abitur erst<br />
mal in den Westen ge -<br />
gangen. Beim Studium in<br />
Köln, so erinnert sie, wurde<br />
sie sich ihrer ostdeutschen<br />
Identität bewusst – weil sie<br />
immer wieder auf ihre Herkunft<br />
reduziert worden sei.<br />
„Wenn mir heute westdeutsche<br />
Parteimitglieder<br />
von ihren Problemen er -<br />
zählen, denke ich: Ihr<br />
<strong>FOCUS</strong> <strong>48</strong>/<strong>2022</strong> 45
LEBEN<br />
Verdeckte Probe<br />
im 100-Punkte-System<br />
Ida Didinger,<br />
Weingut Didinger,<br />
Mittelrhein<br />
Aurelia Hamm,<br />
Weingut Hamm,<br />
Rheingau<br />
Franz Wehrheim,<br />
Weingut Dr. Wehrheim,<br />
Pfalz<br />
Botschafter des<br />
allerbesten<br />
Geschmacks<br />
Raphael Reichardt,<br />
Restaurant „Tim Raue“,<br />
Berlin (2 Sterne)<br />
Maria Rehermann,<br />
„Viniculture“,<br />
Berlin<br />
Philipp Wittmann,<br />
Weingut Wittmann,<br />
Rheinhessen<br />
Zum 12. Mal lud <strong>FOCUS</strong> zum<br />
großen Weintest ein.<br />
Zum Finale traf sich die Jury in<br />
„Frühsammers Restaurant“<br />
in Berlin. Diesmal prämierten<br />
die Experten – darunter<br />
ein Minister – 60 Spitzenweine<br />
und Schaumweine in<br />
sechs Kategorien<br />
Beate<br />
Schindler,<br />
<strong>FOCUS</strong>-<br />
Weintest<br />
TEXT VON<br />
BEATE SCHINDLER<br />
FOTOS VON<br />
Master of Wine<br />
Konstantin Baum,<br />
Baden-Baden<br />
JÉRÔME DEPIERRE UND<br />
ANNA-LENA ZINTEL<br />
Legendäre Verkostungs-Location<br />
beim Tennisclub Grunewald<br />
Gerhard Retter, „Cordo“,<br />
Berlin (1 Stern) und<br />
Cornelia Bovensiepen,<br />
München<br />
Andrea Wirsching,<br />
Weingut Hans Wirsching,<br />
Franken<br />
Joachim Heger,<br />
Weingut Dr. Heger,<br />
Baden<br />
Katja Reinecker,<br />
Privat-Sektkellerei<br />
Reinecker, Baden