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EDITORIAL<br />
Ein Mensch in der Kulisse der Macht<br />
Von Robert Schneider, Chefredakteur<br />
Fotos: Peter Rigaud/<strong>FOCUS</strong>-Magazin (1)<br />
Liebe Leserinnen,<br />
liebe Leser,<br />
wir treffen Olaf Scholz am Dienstagnachmittag<br />
in seinem Amtszimmer. Als wir eintreten,<br />
sitzt er hinter dem Schreibtisch und<br />
bearbeitet noch Akten.<br />
Der Kanzler trägt – den Temperaturen<br />
und den Energievorschriften angemessen<br />
– einen Pullover in Grau. Ein wenig<br />
erinnert das an Helmut Kohls Strickjacke.<br />
In dem gewaltigen Bau an der Spree<br />
regierten schon Gerhard Schröder und<br />
Angela Merkel. Immer wieder wurde die<br />
Ex-Kanzlerin von Andreas Mühe foto -<br />
grafiert, dem Sohn von Schauspieler Ulrich<br />
Mühe. Dem 43-jährigen Fotografen ist<br />
das Kanzleramt also wohlvertraut. Und so<br />
inszenierte er Scholz auf der Terrasse über<br />
dem Ehrenhof, im letzten Licht des Tages.<br />
Ein Mensch in der Kulisse der Macht.<br />
Am Tag des <strong>FOCUS</strong>-Gesprächs haben<br />
die Oppositionsführer Friedrich Merz und<br />
Markus Söder der Ampelkoalition den bisher<br />
schwersten Wirkungstreffer verpasst:<br />
Mithilfe der unionsregierten Länder im<br />
Bundesrat erzwangen sie weitreichende<br />
Änderungen am Bürgergeld-Gesetz, dem<br />
wichtigsten sozialpolitischen Vorhaben<br />
der SPD in dieser Legislaturperiode. Doch<br />
Scholz wirkt nicht angeschlagen, nicht<br />
einmal getroffen. Ich hege den Verdacht,<br />
dass es ihm vielleicht gar nicht so unrecht<br />
ist, was die Union an Änderungen bewirkt<br />
hat. Laut Umfragen entspricht der Kompromiss<br />
den Wünschen der Mehrheit der<br />
Deutschen, darunter auch vieler SPD-<br />
Anhänger, die finden, dass Arbeit sich<br />
mehr lohnen muss als „Stütze plus“, also<br />
Geld vom Staat plus Zuverdienst.<br />
Auch die FDP ist mit dem Kompromiss<br />
glücklicher als mit dem, was Arbeitsminister<br />
Hubertus Heil ursprünglich in das<br />
Gesetz geschrieben hatte: eine sanktionsfreie<br />
Vertrauensphase und hohe Schonvermögen.<br />
Heil ist der eigentliche Verlierer<br />
des Tages. Scholz aber geht als der Kanzler<br />
in die (SPD-)Geschichte ein, der das<br />
bei Sozialdemokraten weithin verhasste<br />
Hartz-IV-System von Schröder überwunden<br />
und durch ein Bürgergeld ersetzt hat.<br />
Auch das erinnert ein wenig an Kohl: Entscheidend<br />
ist, was hinten herauskommt.<br />
Olaf Scholz ist ein Kanzler in der Krise.<br />
Viel, zu viel lief im ersten Amtsjahr nicht<br />
gut: die viel zu späte Reaktion auf die<br />
Energiekrise, die eklatanten Fehler bei<br />
der Gaspreisbremse, das Hickhack um<br />
die angeblich nicht notwendige und dann<br />
per Machtwort des Kanzlers erzwungene<br />
Laufzeitverlängerung für die drei letzten<br />
Atomkraftwerke, das Gezerre um die deutschen<br />
Waffenhilfen für die Ukraine, die<br />
schleppende Umsetzung der Wohngeldreform<br />
… Manches verantworten die heillos<br />
zerstrittenen Ampelpartner Grüne und<br />
FDP, doch alles geht am Ende mit Scholz<br />
und seiner Partei nach Hause. Höhepunkt<br />
dieser Woche: FDP-Vize Wolfgang Kubicki<br />
Der Ausblick des Kanzlers Olaf Scholz im<br />
Gespräch mit dem <strong>FOCUS</strong>-Team<br />
droht unter dem Eindruck der Niederlagen<br />
seiner Partei bei den Landtagswahlen<br />
und dauerhaft schlechten Umfragewerten<br />
offen mit dem Ende der Koalition.<br />
Dabei hatte der Bundeskanzler kurz<br />
nach dem Überfall Russlands auf die<br />
Ukraine eine „Zeitenwende“ versprochen<br />
und damit Hoffnung gemacht auf<br />
einen neuen Olaf Scholz. Doch inzwischen<br />
erleben wir immer häufiger einen Politiker<br />
der Minimalkompromisse. Ein Beispiel<br />
dafür ist seine Verweigerung beim<br />
Thema Fracking. Statt zu bekennen, dass<br />
es ein Fehler war, die Abhängigkeit von<br />
Putins Erdgas zu vergrößern und auf diese<br />
Methode der Gasgewinnung im eigenen<br />
Land zu verzichten, bleibt Scholz auch<br />
jetzt – da kein russisches Gas mehr fließt –<br />
eisern beim Nein zum Fracking, um statt-<br />
dessen Flüssigerdgas (LNG) aus anderen<br />
Ländern wie den USA teuer einzukaufen.<br />
Das Argument des Kanzlers: Fracking ist<br />
kein funktionierendes Geschäftsmodell.<br />
Doch das überzeugt ebenso wenig wie<br />
der Hinweis, man setze für die Zukunft<br />
auf die erneuerbaren Energien. Denn die<br />
stehen auf absehbare Zeit nicht in ausreichendem<br />
Maß zur Verfügung, und Gas<br />
ist die Brückenenergie auf dem Weg zur<br />
klimaneutralen Zukunft.<br />
Ich sehe nur einen triftigen Grund für<br />
den Kurs des Kanzlers: Er weiß, dass ak -<br />
tuell Fracking vor allem wegen der Grünen,<br />
aber auch der Skepsis der gesamten<br />
Bevölkerung kaum durchzusetzen wäre.<br />
Nach einer aktuellen Umfrage von Kantar<br />
für <strong>FOCUS</strong> sind 49 Prozent für und 39 Prozent<br />
der Deutschen gegen das Gas aus heimischem<br />
Boden. Also versucht Scholz es<br />
gar nicht erst und behauptet, man könne<br />
darauf verzichten. Damit schützt er seine<br />
Koalition und seine Kanzlerschaft. Aber<br />
schützt er auch die Interessen des Landes?<br />
Das war eine der 125 Fragen, die wir<br />
ihm gestellt haben. Man sollte diesen<br />
Kanzler bei allen Unzulänglichkeiten<br />
des ersten Amtsjahres nicht unterschätzen.<br />
Er ist einer der erfahrensten, taktisch<br />
versiertesten Politiker des Landes. Seit<br />
Wochen versichert er uns nun, dass die<br />
Energiesicherheit für den Winter „wohl<br />
gewährleistet“ sei. Das ist sein großes<br />
Versprechen: Fürchtet euch nicht, denn<br />
ich führe euch sicher durch die Krise.<br />
Dazu passt die aufreizend stoische Art,<br />
in der er auch im Interview auf jede Frage<br />
reagiert. Ruhe als Ausdruck von Besonnenheit<br />
und Nervenkraft scheint für ihn<br />
erste Kanzlerpflicht zu sein.<br />
Sollte es Scholz gelingen, die Bürger<br />
durch den kalten Winter zu bringen, ohne<br />
dass sie frieren oder verarmen, wird er in<br />
anderem Licht dastehen. Wenn nicht, sind<br />
dieser Kanzler und seine Regierung verloren.<br />
Dezember, Januar, Februar, März sind<br />
die Schicksalsmonate von Olaf Scholz!<br />
Herzlich Ihr<br />
<strong>FOCUS</strong> <strong>48</strong>/<strong>2022</strong> 3