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FOCUS_48/2022_Vorschau

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EDITORIAL<br />

Ein Mensch in der Kulisse der Macht<br />

Von Robert Schneider, Chefredakteur<br />

Fotos: Peter Rigaud/<strong>FOCUS</strong>-Magazin (1)<br />

Liebe Leserinnen,<br />

liebe Leser,<br />

wir treffen Olaf Scholz am Dienstagnachmittag<br />

in seinem Amtszimmer. Als wir eintreten,<br />

sitzt er hinter dem Schreibtisch und<br />

bearbeitet noch Akten.<br />

Der Kanzler trägt – den Temperaturen<br />

und den Energievorschriften angemessen<br />

– einen Pullover in Grau. Ein wenig<br />

erinnert das an Helmut Kohls Strickjacke.<br />

In dem gewaltigen Bau an der Spree<br />

regierten schon Gerhard Schröder und<br />

Angela Merkel. Immer wieder wurde die<br />

Ex-Kanzlerin von Andreas Mühe foto -<br />

grafiert, dem Sohn von Schauspieler Ulrich<br />

Mühe. Dem 43-jährigen Fotografen ist<br />

das Kanzleramt also wohlvertraut. Und so<br />

inszenierte er Scholz auf der Terrasse über<br />

dem Ehrenhof, im letzten Licht des Tages.<br />

Ein Mensch in der Kulisse der Macht.<br />

Am Tag des <strong>FOCUS</strong>-Gesprächs haben<br />

die Oppositionsführer Friedrich Merz und<br />

Markus Söder der Ampelkoalition den bisher<br />

schwersten Wirkungstreffer verpasst:<br />

Mithilfe der unionsregierten Länder im<br />

Bundesrat erzwangen sie weitreichende<br />

Änderungen am Bürgergeld-Gesetz, dem<br />

wichtigsten sozialpolitischen Vorhaben<br />

der SPD in dieser Legislaturperiode. Doch<br />

Scholz wirkt nicht angeschlagen, nicht<br />

einmal getroffen. Ich hege den Verdacht,<br />

dass es ihm vielleicht gar nicht so unrecht<br />

ist, was die Union an Änderungen bewirkt<br />

hat. Laut Umfragen entspricht der Kompromiss<br />

den Wünschen der Mehrheit der<br />

Deutschen, darunter auch vieler SPD-<br />

Anhänger, die finden, dass Arbeit sich<br />

mehr lohnen muss als „Stütze plus“, also<br />

Geld vom Staat plus Zuverdienst.<br />

Auch die FDP ist mit dem Kompromiss<br />

glücklicher als mit dem, was Arbeitsminister<br />

Hubertus Heil ursprünglich in das<br />

Gesetz geschrieben hatte: eine sanktionsfreie<br />

Vertrauensphase und hohe Schonvermögen.<br />

Heil ist der eigentliche Verlierer<br />

des Tages. Scholz aber geht als der Kanzler<br />

in die (SPD-)Geschichte ein, der das<br />

bei Sozialdemokraten weithin verhasste<br />

Hartz-IV-System von Schröder überwunden<br />

und durch ein Bürgergeld ersetzt hat.<br />

Auch das erinnert ein wenig an Kohl: Entscheidend<br />

ist, was hinten herauskommt.<br />

Olaf Scholz ist ein Kanzler in der Krise.<br />

Viel, zu viel lief im ersten Amtsjahr nicht<br />

gut: die viel zu späte Reaktion auf die<br />

Energiekrise, die eklatanten Fehler bei<br />

der Gaspreisbremse, das Hickhack um<br />

die angeblich nicht notwendige und dann<br />

per Machtwort des Kanzlers erzwungene<br />

Laufzeitverlängerung für die drei letzten<br />

Atomkraftwerke, das Gezerre um die deutschen<br />

Waffenhilfen für die Ukraine, die<br />

schleppende Umsetzung der Wohngeldreform<br />

… Manches verantworten die heillos<br />

zerstrittenen Ampelpartner Grüne und<br />

FDP, doch alles geht am Ende mit Scholz<br />

und seiner Partei nach Hause. Höhepunkt<br />

dieser Woche: FDP-Vize Wolfgang Kubicki<br />

Der Ausblick des Kanzlers Olaf Scholz im<br />

Gespräch mit dem <strong>FOCUS</strong>-Team<br />

droht unter dem Eindruck der Niederlagen<br />

seiner Partei bei den Landtagswahlen<br />

und dauerhaft schlechten Umfragewerten<br />

offen mit dem Ende der Koalition.<br />

Dabei hatte der Bundeskanzler kurz<br />

nach dem Überfall Russlands auf die<br />

Ukraine eine „Zeitenwende“ versprochen<br />

und damit Hoffnung gemacht auf<br />

einen neuen Olaf Scholz. Doch inzwischen<br />

erleben wir immer häufiger einen Politiker<br />

der Minimalkompromisse. Ein Beispiel<br />

dafür ist seine Verweigerung beim<br />

Thema Fracking. Statt zu bekennen, dass<br />

es ein Fehler war, die Abhängigkeit von<br />

Putins Erdgas zu vergrößern und auf diese<br />

Methode der Gasgewinnung im eigenen<br />

Land zu verzichten, bleibt Scholz auch<br />

jetzt – da kein russisches Gas mehr fließt –<br />

eisern beim Nein zum Fracking, um statt-<br />

dessen Flüssigerdgas (LNG) aus anderen<br />

Ländern wie den USA teuer einzukaufen.<br />

Das Argument des Kanzlers: Fracking ist<br />

kein funktionierendes Geschäftsmodell.<br />

Doch das überzeugt ebenso wenig wie<br />

der Hinweis, man setze für die Zukunft<br />

auf die erneuerbaren Energien. Denn die<br />

stehen auf absehbare Zeit nicht in ausreichendem<br />

Maß zur Verfügung, und Gas<br />

ist die Brückenenergie auf dem Weg zur<br />

klimaneutralen Zukunft.<br />

Ich sehe nur einen triftigen Grund für<br />

den Kurs des Kanzlers: Er weiß, dass ak -<br />

tuell Fracking vor allem wegen der Grünen,<br />

aber auch der Skepsis der gesamten<br />

Bevölkerung kaum durchzusetzen wäre.<br />

Nach einer aktuellen Umfrage von Kantar<br />

für <strong>FOCUS</strong> sind 49 Prozent für und 39 Prozent<br />

der Deutschen gegen das Gas aus heimischem<br />

Boden. Also versucht Scholz es<br />

gar nicht erst und behauptet, man könne<br />

darauf verzichten. Damit schützt er seine<br />

Koalition und seine Kanzlerschaft. Aber<br />

schützt er auch die Interessen des Landes?<br />

Das war eine der 125 Fragen, die wir<br />

ihm gestellt haben. Man sollte diesen<br />

Kanzler bei allen Unzulänglichkeiten<br />

des ersten Amtsjahres nicht unterschätzen.<br />

Er ist einer der erfahrensten, taktisch<br />

versiertesten Politiker des Landes. Seit<br />

Wochen versichert er uns nun, dass die<br />

Energiesicherheit für den Winter „wohl<br />

gewährleistet“ sei. Das ist sein großes<br />

Versprechen: Fürchtet euch nicht, denn<br />

ich führe euch sicher durch die Krise.<br />

Dazu passt die aufreizend stoische Art,<br />

in der er auch im Interview auf jede Frage<br />

reagiert. Ruhe als Ausdruck von Besonnenheit<br />

und Nervenkraft scheint für ihn<br />

erste Kanzlerpflicht zu sein.<br />

Sollte es Scholz gelingen, die Bürger<br />

durch den kalten Winter zu bringen, ohne<br />

dass sie frieren oder verarmen, wird er in<br />

anderem Licht dastehen. Wenn nicht, sind<br />

dieser Kanzler und seine Regierung verloren.<br />

Dezember, Januar, Februar, März sind<br />

die Schicksalsmonate von Olaf Scholz!<br />

Herzlich Ihr<br />

<strong>FOCUS</strong> <strong>48</strong>/<strong>2022</strong> 3

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