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Hilfsaktion für Menschen in Not

Eine Aktion für Menschen in Not - in Form einer Buchsonderveröffentlichung

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de<strong>in</strong> schon heute<br />

Weihnachtsgeschichten<br />

von Lesley B. Strong<br />

Schicksalhafte Ereignisse<br />

von Guido Kreft<br />

Der Re<strong>in</strong>erlös geht an die Aktion Mensch


E<strong>in</strong>e wahre Geschichte<br />

Hier gehts zum Artikel<br />

Menschlichkeit ist nicht nur <strong>für</strong><br />

besondere Anlässe bestimmt!


Zeichen von Drüben<br />

Schicksalhafte Ereignisse<br />

Guido Kreft<br />

Mit Weichnachtsgeschichten<br />

von Lesley B. Strong<br />

VGK-Verlag Kreft


Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:<br />

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation <strong>in</strong> der Deutschen<br />

Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten s<strong>in</strong>d im Internet<br />

über www.dnb.de abrufbar<br />

Copyright © 2016 by Guido Kreft. VGK-Verlag Kreft-Bottrop<br />

All rights reserved.<br />

No part of this book may be reproduced <strong>in</strong> any form or by any electronic or mechanical<br />

means, <strong>in</strong>clud<strong>in</strong>g <strong>in</strong>formation storage and retrieval systems, without<br />

written permission from the author, except for the use of brief quotations <strong>in</strong> a<br />

book review.


Inhalt<br />

Zeichen von Drüben 8<br />

Erkenne die Zeichen und sei selbst das Wunder 9<br />

Auch Hunde haben e<strong>in</strong>e Seele 19<br />

Manchmal rettet nur e<strong>in</strong>e bittere Erkenntnis den Seelenfrieden 27<br />

Der ungläubige Thomas 45<br />

Glück und Leid liegen oft nahe beie<strong>in</strong>ander 57<br />

E<strong>in</strong> Engel <strong>in</strong> Gestalt e<strong>in</strong>er Taube 69<br />

Irgendwann sehn wir uns wieder … 77<br />

Trenne Dich niemals im Zorn 83<br />

Wahrheit kann sehr wehtun 89<br />

Die Sprache der Engel 95<br />

Es folgen Weihnachtsgeschichten von Lesley B. Strong<br />

E<strong>in</strong>e zauberhafte Masche 98<br />

W<strong>in</strong>termond 103<br />

E<strong>in</strong>e mystische Panne 106<br />

Von Weihnachten ausgebremst 114


E<strong>in</strong>satz <strong>für</strong> die Bergrettung


H<strong>in</strong>weis:<br />

Dies ist e<strong>in</strong> geme<strong>in</strong>sames Charity - Projekt zugunsten von <strong>Menschen</strong> <strong>in</strong> <strong>Not</strong>.<br />

Alle E<strong>in</strong>nahmen der vorliegenden Sonderausgabe (Geschichten und<br />

Erzählungen) kommen e<strong>in</strong>er geme<strong>in</strong>nützigen Aktion zugute!<br />

E<strong>in</strong>e Spende von 2 Euro <strong>für</strong> das gesamte Buch hilft <strong>Not</strong> zu l<strong>in</strong>dern. Solltest du<br />

dich <strong>für</strong> diese Spende entschließen können, erhältst du im Gegenzug dieses<br />

schöne Büchle<strong>in</strong> als PDF <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Downloadfreigabe oder direkt als Datei an<br />

de<strong>in</strong>e Mailadresse.<br />

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Guido Kreft<br />

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Bitte teilt uns eure Mailadresse mit (z.B. Überweisung - Betreff oder zus. PN!)<br />

Wir sagen DANKE und viel Freude beim Lesen!<br />

Wir – das s<strong>in</strong>d die Autor<strong>in</strong> Lesley B. Strong (Weihnachtsgeschichten) und der<br />

Autor Guido Kreft (Schicksalhafte Ereignisse) – sowie das gesamte Team der<br />

Magaz<strong>in</strong>e - Lebe Jetzt (M<strong>in</strong>dset und Gesundheit), denn auch hier arbeiten<br />

wir eng zusammen und setzen uns geme<strong>in</strong>sam <strong>für</strong> die „Gute Sache“ e<strong>in</strong>.<br />

Fragen bitte an: vgk.medienverlag@gmail.com


Vorwort<br />

Zeichen von Drüben<br />

(Schicksalhafte Ereignisse)<br />

Kle<strong>in</strong>e Geschichten <strong>für</strong> Herz und Seele sowie e<strong>in</strong> H<strong>in</strong>weis darauf, dass <strong>in</strong> der <strong>Not</strong><br />

am Ende des Tunnels oftmals e<strong>in</strong> kle<strong>in</strong>es Licht ersche<strong>in</strong>t, auch wenn es<br />

vielleicht nicht immer gleich zu erkennen ist.<br />

Wir alle s<strong>in</strong>d auf der Suche nach Antworten, die uns die Wissenschaft alle<strong>in</strong><br />

nicht geben kann. Dieses Büchle<strong>in</strong> erzählt <strong>in</strong> zehn Geschichten von Schicksalen<br />

aus dem alltäglichen Leben, <strong>in</strong> denen sich deshalb be<strong>in</strong>ahe jeder wiederf<strong>in</strong>den<br />

könnte. Es enthält Botschaften, die zur Selbstreflexion anregen sollen und<br />

darauf h<strong>in</strong>weisen, dass e<strong>in</strong>e höhere Führung möglicherweise doch manchmal<br />

das Geschehen bee<strong>in</strong>flusst, auch wenn das Leben oftmals Überraschungen<br />

bereithält, die weniger darauf schließen lassen.<br />

Wir sollten mehr über den Tellerrand h<strong>in</strong>ausblicken und beide Seiten der<br />

Medaille betrachten. Wer die Dunkelheit nicht kennt, weiß das Licht weniger zu<br />

schätzen und wer die <strong>Not</strong> nie erfahren hat, empf<strong>in</strong>det weniger Dankbarkeit <strong>für</strong><br />

e<strong>in</strong>e helfende Hand. In e<strong>in</strong>er Welt, <strong>in</strong> der Egoismus und Neid den Alltag<br />

bestimmen, wird jeder Akt der Wärme und Herzlichkeit zu e<strong>in</strong>em Wunder.<br />

Vielleicht glauben Sie sogar an Wunder und fragen sich, warum Ihnen noch<br />

ke<strong>in</strong>es widerfahren ist. Oftmals zeigt sich, dass wir die Fähigkeit verloren<br />

haben, die kle<strong>in</strong>en Wunder des Alltags überhaupt zu erkennen. Doch<br />

andererseits bekommen wir nicht selten genau das zurück, was wir aussenden.<br />

Sei also selbst das Wunder <strong>für</strong> dich und andere. In diesem S<strong>in</strong>ne wünsche ich<br />

dir viel Freude an den nachfolgenden Geschichten und mögen sich auch dir<br />

viele Wunder offenbaren.


Erkenne die Zeichen und sei selbst<br />

das Wunder<br />

Es gibt gelegentlich Phasen im Leben, <strong>in</strong> denen man denkt, alles<br />

und jeder hätte sich gegen e<strong>in</strong>en verschworen. Man wartet auf irgende<strong>in</strong>e<br />

höhere Fügung oder zum<strong>in</strong>dest e<strong>in</strong> Zeichen des Himmels,<br />

aus dem heraus sich alles e<strong>in</strong>fach wieder <strong>in</strong> Wohlgefallen<br />

auflösen wird. Oft bleibt dies e<strong>in</strong> frommer Wunsch, aber manchmal<br />

geschehen eben doch Zeichen und Wunder.<br />

So wie bei Manfred, e<strong>in</strong>em jungen Mann Anfang dreißig, der <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>em Sicherheitsunternehmen als Wachmann tätig war. Er war<br />

mit se<strong>in</strong>em Beruf alles andere als zufrieden und auch sonst hatte<br />

er se<strong>in</strong> Leben nicht sonderlich im Griff. Ärger im Beruf, mehrere<br />

gescheiterte Beziehungen und immer pleite. Als er e<strong>in</strong>es Abends<br />

wieder e<strong>in</strong>mal vollkommen genervt von der Arbeit nach Hause<br />

kam, flogen se<strong>in</strong>e Arbeitsklamotten gleich <strong>in</strong> die nächste Ecke<br />

und er holte sich erst e<strong>in</strong>mal e<strong>in</strong> paar Flaschen Bier aus dem Kühlschrank,<br />

<strong>in</strong> dem ansonsten e<strong>in</strong>e gähnende Leere herrschte. Es war<br />

wieder e<strong>in</strong>mal viel zu viel Monat am Ende des Geldes übrig. Verärgert<br />

über diese gesamte Lage, hockte er sich an se<strong>in</strong>en Wohnzimmertisch,<br />

legte e<strong>in</strong>e CD <strong>in</strong> se<strong>in</strong>e Musikanlage, öffnete e<strong>in</strong> Bier<br />

und war fest entschlossen, <strong>in</strong> Selbstmitleid zu vers<strong>in</strong>ken. Er dachte<br />

vor allem an se<strong>in</strong>en verhassten Job und die Tatsache, dass er<br />

9


ihn wohl bis zum bitteren Ende ausüben müsste, weil bessere Angebote<br />

schließlich nicht an jeder Ecke warteten. Besonders nicht<br />

auf jemanden wie ihn, dem <strong>für</strong> andere Tätigkeiten sche<strong>in</strong>bar jede<br />

Qualifikation fehlte.<br />

Andererseits gab es <strong>für</strong> ihn auch ke<strong>in</strong>en triftigen Grund, sich<br />

um etwas Besseres zu bemühen. Es gab ke<strong>in</strong>e Familie, die ihm<br />

Halt bot und auch die letzte Beziehung g<strong>in</strong>g <strong>in</strong> die Brüche, weil se<strong>in</strong>e<br />

Freund<strong>in</strong> zu der Me<strong>in</strong>ung gelangt war, dass Manfred gefühlskalt<br />

und durch se<strong>in</strong>en Beruf schon völlig abgestumpft sei. Er sei<br />

e<strong>in</strong>fach nicht <strong>in</strong> der Lage, e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>nige Beziehung zu führen.<br />

In der letzten Zeit hatte Manfred sogar selber den E<strong>in</strong>druck,<br />

dass se<strong>in</strong>e Ex-Freund<strong>in</strong> mit ihren Vorwürfen nicht ganz daneben<br />

lag und se<strong>in</strong> Scheitern <strong>in</strong> Beziehungsfragen brachte er auch selbst<br />

gern mit se<strong>in</strong>em verhassten Job <strong>in</strong> Verb<strong>in</strong>dung, natürlich. Dass<br />

dieser Job damit auch jeder neuen Beziehung im Wege war, verstand<br />

sich von selbst. Doch das war schließlich nicht se<strong>in</strong>e Schuld,<br />

denn das Leben war e<strong>in</strong>fach ungerecht zu ihm. In se<strong>in</strong>em Job<br />

musste er sich immer wieder mit gewalttätigen Rowdys und hausierenden<br />

Obdachlosen ause<strong>in</strong>andersetzen. Ständig nur die negativen<br />

Seiten e<strong>in</strong>er Stadt ertragen zu müssen, war auf Dauer nicht<br />

gerade e<strong>in</strong>e Wohltat <strong>für</strong> die Seele. Er sah sich als e<strong>in</strong>en Mann <strong>in</strong><br />

den besten Jahren, der ke<strong>in</strong>e Chance hatte, sich zum Besseren zu<br />

entwickeln.<br />

Bei all se<strong>in</strong>em Selbstmitleid wanderten se<strong>in</strong>e Gedanken zu<br />

Elke, e<strong>in</strong>er guten Bekannten und überzeugten Esoteriker<strong>in</strong>. Die<br />

10


me<strong>in</strong>te immer, dass alles e<strong>in</strong>en S<strong>in</strong>n hätte und es so etwas wie<br />

e<strong>in</strong>en höhere Lebensplan geben würde. Man würde sich sogar die<br />

Schikanen im Leben selbst, aus e<strong>in</strong>er höheren Warte und noch vor<br />

der Geburt oder Inkarnation, selber aussuchen. Große Worte, und<br />

völliger Blöds<strong>in</strong>n – dachte Manfred, als er sich an diese Gespräche<br />

er<strong>in</strong>nerte und die Flasche erneut ansetzte, um sie <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Zug<br />

zu leeren. »Wer sollte sich so e<strong>in</strong>en Mist, wie er ihn gerade durchmachte,<br />

auswählen?«, das murmelte er wütend vor sich h<strong>in</strong>. All<br />

dieses Gewäsch von Licht und Liebe oder Engeln war doch sicher<br />

nichts als Wunschdenken derer, die anders nicht mit der harten<br />

Realität klarkamen oder besser klarkommen wollten, so versuchte<br />

er sich selbst von se<strong>in</strong>er Sichtweise der D<strong>in</strong>ge zu überzeugen.<br />

Gleichzeitig musste er jedoch an e<strong>in</strong>ige Leute denken, die er im<br />

Dienst, vielleicht zu Unrecht, selbst <strong>für</strong> se<strong>in</strong>e Begriffe schlecht behandelt<br />

hatte und die sicher e<strong>in</strong>e etwas rücksichtsvollere Behandlung<br />

verdient hatten. Da war zum Beispiel e<strong>in</strong> obdachloser, alter<br />

Mann, den er übel beschimpft und ihm sogar e<strong>in</strong>en Tritt versetzt<br />

hatte, nur weil dieser nicht schnell genug aus dem Hause<strong>in</strong>gang<br />

e<strong>in</strong>es Auftraggebers se<strong>in</strong>er Firma verschwand. Da war auch se<strong>in</strong><br />

verächtliches Verhalten gegenüber e<strong>in</strong>er alten Dame, die er ignorierte,<br />

als sie <strong>in</strong> gebeten hatte, ihr mit ihrer schweren Tasche die<br />

Treppe e<strong>in</strong>es Bahnhofs h<strong>in</strong>aufzuhelfen. Selbst als er sich später<br />

umsah und bemerkte, dass diese alte Frau sich erfolglos abmühte,<br />

die Treppe samt Gepäck zu erklimmen, weil die Rolltreppe defekt<br />

war, ließ ihn das vollkommen kalt.<br />

11


Erkenne die Zeichen und sei selbst das Wunder<br />

Irgendwie suchte Manfred aber nach Entschuldigungen <strong>für</strong><br />

se<strong>in</strong> Verhalten, auch wenn dieses selbst ihm im Nachh<strong>in</strong>e<strong>in</strong> ganz<br />

und gar nicht mehr so korrekt erschien. Als er dabei bereits se<strong>in</strong>e<br />

dritte Flasche öffnete und herunterschüttete, fand er auch tatsächlich<br />

Entschuldigungen, ohne angestrengt darüber nachdenken zu<br />

müssen: Der Job mit all se<strong>in</strong>en negativen Seiten hatte ihn schlicht<br />

weg abgehärtet. Wäre er nicht all dem menschlichen Abschaum<br />

begegnet und wäre nicht alles <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Leben so schlecht gelaufen,<br />

dann hätte er sicher anders, mitfühlender reagiert. Schließlich<br />

musste er sich ja auch durchschlagen, ohne Hilfe von anderen<br />

erwarten zu können. Da gab es eben ke<strong>in</strong>e Engel oder andere<br />

Samariter, die plötzlich wie vom Himmel geschickt e<strong>in</strong>griffen, um<br />

tolle Wunder zu vollbr<strong>in</strong>gen.<br />

Noch bevor Manfred diesen letzten Gedanken zu Ende denken<br />

und e<strong>in</strong>e weitere Flasche ansetzen konnte, um sich damit, <strong>in</strong> gewisser<br />

Weise, <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Ansichten selbst zu bestärken, hörte er<br />

plötzlich jemanden se<strong>in</strong>en Namen flüstern. A ls e r verblüfft die<br />

Flasche abstellte und sich nach l<strong>in</strong>ks und rechts über se<strong>in</strong>e Schultern<br />

blickend nach der Ursache umsah, wunderte er sich über sich<br />

selbst. Wer sollte wohl zu dieser Zeit und <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Wohnung, <strong>in</strong><br />

der er ja alle<strong>in</strong> lebte, se<strong>in</strong>en Namen aussprechen? Er ärgerte sich<br />

über sich selbst, über dieses uns<strong>in</strong>nige Verhalten. Doch schon im<br />

nächsten Moment explodierten <strong>in</strong> ihm regelrecht tiefe Gefühle<br />

von Ruhe, E<strong>in</strong>sicht und Vergebung gegenüber diesem se<strong>in</strong>em verme<strong>in</strong>tlichen<br />

Schicksal, welches ihn doch so sehr strafte. Und im<br />

12


Erkenne die Zeichen und sei selbst das Wunder<br />

selben Augenblick, unfähig se<strong>in</strong>e plötzlichen Gefühlsausbrüche<br />

zu deuten und zu kontrollieren, stellte sich tief <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Inneren<br />

e<strong>in</strong>e entscheidende Frage, ohne sich ihm wirklich aufzudrängen.<br />

Es war be<strong>in</strong>ahe so, als hätte ihm jemand diese Frage zugeflüstert,<br />

so wie er zuvor auch glaubte, jemanden deutlich se<strong>in</strong>en Namen<br />

flüstern zu hören. Er fragte sich nämlich, ob er nicht immer die<br />

Wahl gehabt hätte und die Entscheidungen <strong>für</strong> all se<strong>in</strong> Handeln,<br />

nicht <strong>in</strong> Wahrheit immer se<strong>in</strong>e eigenen gewesen wären.<br />

Mit e<strong>in</strong>em bisschen Vernunft und Ehrlichkeit sich selbst gegenüber<br />

konnte er diese Fragen nicht mit e<strong>in</strong>em Ne<strong>in</strong> beantworten,<br />

was ihn <strong>in</strong> jenem Augenblick vollkommen aus der Bahn zu werfen<br />

drohte. Mit diesen an sich selbst gerichteten, entwaffnenden<br />

Fragen, die se<strong>in</strong>e Wut auf jeden und alles plötzlich e<strong>in</strong>fach <strong>in</strong> Luft<br />

auflösten, kamen ebenso plötzlich auch die Zweifel an se<strong>in</strong>er eigenen<br />

E<strong>in</strong>stellung und er bereute zutiefst se<strong>in</strong> Handeln, ja sogar<br />

se<strong>in</strong> Denken.<br />

Für Manfred aber gab es im nächsten Augenblick nur e<strong>in</strong>e Erklärung<br />

<strong>für</strong> se<strong>in</strong>en S<strong>in</strong>neswandel. Er hatte wohl e<strong>in</strong>fach zu schnell<br />

getrunken und das auf nüchternen Magen. Das konnte e<strong>in</strong>fach<br />

nicht gut gehen. Also beschloss er, nicht zuletzt aus Wut über se<strong>in</strong><br />

plötzliches Mitleid anderen gegenüber, die es se<strong>in</strong>er Me<strong>in</strong>ung<br />

nach weniger als er selbst verdient hatten, e<strong>in</strong>fach das Grübeln<br />

e<strong>in</strong>zustellen und schlafen zu gehen. Er musste aufgrund se<strong>in</strong>es<br />

Wechseldienstes sowieso wieder zeitig aufstehen, um pünktlich<br />

zur Arbeit ersche<strong>in</strong>en zu können. Am nächsten Morgen weiger-<br />

13


Erkenne die Zeichen und sei selbst das Wunder<br />

te sich Manfred regelrecht, nochmals über se<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>drücke vom<br />

Vorabend nachzudenken, obwohl diese ihm noch deutlich <strong>in</strong> Er<strong>in</strong>nerung<br />

waren. Schließlich erwartete ihn wieder e<strong>in</strong>mal die harte<br />

Realität se<strong>in</strong>es Berufslebens. Als er sich <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Wagen setzte<br />

um zur Arbeit zu fahren, drehte er wie immer am Regler des<br />

Autoradios herum, um e<strong>in</strong>en Sender mit guter Musik zu f<strong>in</strong>den.<br />

Während er am Regler herumspielte, hörte er die letzten Worte<br />

e<strong>in</strong>es Radiosprechers, der sich zu verabschieden schien. Dieser<br />

me<strong>in</strong>te, dass man Gutes tun sollte, weil es e<strong>in</strong>em tausendfach vergolten<br />

würde. Es musste sich wohl um e<strong>in</strong>e uns<strong>in</strong>nige, religiöse<br />

Sendung gehandelt haben, dachte Manfred bei sich und tat den<br />

Spruch des Radiosprechers als Blöds<strong>in</strong>n ab. Eigentlich wäre es an<br />

der Zeit, dass ihm Manfred, endlich etwas Gutes widerfahren sollte,<br />

murmelte er vor sich h<strong>in</strong>, während er e<strong>in</strong>en Augenblick später<br />

endlich e<strong>in</strong>en geeigneten Musiksender erwischte. Dennoch musste<br />

er e<strong>in</strong>en Moment an se<strong>in</strong>e kle<strong>in</strong>en Sünden denken, so wie am<br />

Abend zuvor.<br />

An der nächsten Straßenkreuzung entdeckte Manfred dann e<strong>in</strong><br />

altes, vergilbtes Plakat, welches wohl <strong>für</strong> e<strong>in</strong>en Meditationskurs<br />

werben sollte. Er war schon oft diese Strecke gefahren, doch das<br />

Plakat war ihm nie aufgefallen. Gehe <strong>in</strong> dich und höre auf de<strong>in</strong>e<br />

<strong>in</strong>nere Stimme, war darauf zu lesen. Manfred musste nun doch<br />

schmunzeln, denn e<strong>in</strong>e Stimme hatte er ja am Vorabend, vermutlich<br />

bed<strong>in</strong>gt durch e<strong>in</strong> Bier zu viel, tatsächlich vernommen, sah <strong>in</strong><br />

der Situation mit diesem Werbeplakat zunächst aber e<strong>in</strong>en weite-<br />

14


Erkenne die Zeichen und sei selbst das Wunder<br />

ren, merkwürdigen Zufall. Als er kurze Zeit später auf dem Parkplatz<br />

se<strong>in</strong>er Firma ankam, hatte er noch e<strong>in</strong>en Fußweg von ungefähr<br />

zweihundert Metern bis zu se<strong>in</strong>er E<strong>in</strong>satzstelle vor sich. Auf<br />

der Hälfte des Weges fiel ihm e<strong>in</strong> Herr im fortgeschrittenen Alter<br />

auf, der verzweifelt versuchte, e<strong>in</strong>e sperrige Kiste <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en kle<strong>in</strong>en<br />

Lieferwagen zu befördern. Er konnte dieses Szenario schon<br />

aus e<strong>in</strong>iger Entfernung beobachten und sah auch, dass e<strong>in</strong>ige<br />

Passanten teilnahmslos an dem Mann vorbeischlenderten. Auch<br />

Manfred hatte nicht wirklich die Absicht, zu helfen. Schließlich<br />

warteten viele Stunden Arbeit mit anderen Problemen auf ihn. Als<br />

er gerade an diesem älteren Herrn vorbeigehen wollte, hörte er<br />

wieder jemanden se<strong>in</strong>en Namen flüstern, wie schon am Abend<br />

zuvor. Und wieder war es e<strong>in</strong>e sanfte, sehr leise Stimme, die ihn<br />

sche<strong>in</strong>bar direkt ansprach. Auch diesmal hätte er diese wohl als<br />

Hirngesp<strong>in</strong>st abgetan, wenn da nicht gleichzeitig wieder diese<br />

tiefen, <strong>in</strong>nigen Gefühle gewesen wären, die er ebenfalls am Vorabend<br />

wahrgenommen und anschließend e<strong>in</strong>fach ignoriert hatte.<br />

So viele Zufälle auf e<strong>in</strong>mal konnte es selbst <strong>für</strong> Manfred nicht geben.<br />

Er g<strong>in</strong>g auf den, noch immer mit se<strong>in</strong>er Last kämpfenden Mann<br />

zu und bot ihm se<strong>in</strong>e Hilfe an. Der war darüber natürlich sehr erfreut<br />

und mit e<strong>in</strong>igen ruckartigen Bewegungen, sowie e<strong>in</strong>em kurzen,<br />

geme<strong>in</strong>samen Kraftakt, gelang es den beiden Männern, die<br />

Kiste passgenau <strong>in</strong> den Lieferwagen zu befördern. Erleichtert und<br />

von e<strong>in</strong>er großen Last befreit, bedankte sich der Fremde herz-<br />

15


Erkenne die Zeichen und sei selbst das Wunder<br />

lichst bei Manfred und bemerkte dessen Uniform e<strong>in</strong>er allgeme<strong>in</strong><br />

bekannten Sicherheitsfirma. In Anbetracht dieser Tatsache stellte<br />

der ältere Mann fest, dass es sicher ke<strong>in</strong> leichter Job wäre, den<br />

Manfred da tätigte. Manfreds Argument, dass Kisten schleppen<br />

auch nicht unbed<strong>in</strong>gt zu den angenehmen Tätigkeiten gehören<br />

würde, versetzte beide Männer <strong>in</strong> e<strong>in</strong> kurzes, aber <strong>in</strong>tensives Gespräch.<br />

Wie sich herausstellte, gehörte dem Mann, dem Manfred<br />

aus se<strong>in</strong>er misslichen Lage verholfen hatte, e<strong>in</strong> mittelständisches<br />

Unternehmen und <strong>in</strong> diesem war zufällig die Stelle e<strong>in</strong>es Lagerleiters<br />

frei geworden.<br />

Die Mitarbeiter <strong>in</strong> diesem Bereich waren alles blutjunge Leute<br />

ohne jede Erfahrung und <strong>für</strong> den Job somit ungeeignet. Manfred<br />

erschien dem Unternehmer bestens geeignet, denn er war ja zuvorkommend,<br />

umsichtig und hatte <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Augen bereits e<strong>in</strong>en<br />

Job mit Verantwortung.<br />

Er engagierte ihn von der Stelle weg, vor allem, als er im Gespräch<br />

von Manfreds Unzufriedenheit mit se<strong>in</strong>em bisherigen Job<br />

erfuhr.<br />

Manfred fand <strong>in</strong> diesem älteren Herrn schließlich e<strong>in</strong>en neuen,<br />

verständnisvollen und großzügigen Chef. Als er selbst dann <strong>in</strong><br />

beruflicher H<strong>in</strong>sicht gelassener und zufriedener wurde, klappte<br />

es e<strong>in</strong>ige Zeit später auch mit e<strong>in</strong>er neuen Beziehung. Se<strong>in</strong> Leben<br />

veränderte sich grundlegend und se<strong>in</strong>e Bekannten me<strong>in</strong>ten e<strong>in</strong>stimmig,<br />

dass Manfred e<strong>in</strong> neuer Mensch geworden wäre. Heute<br />

belächelt Manfred spirituelle <strong>Menschen</strong> nicht mehr, sondern wid-<br />

16


Erkenne die Zeichen und sei selbst das Wunder<br />

met sich selbst der Erkundung übernatürlicher Phänomene. Mittlerweile<br />

sieht er <strong>in</strong> Zufällen ke<strong>in</strong>e zusammenhanglosen und unbedeutenden<br />

Begebenheiten mehr, sondern e<strong>in</strong>e höhere Fügung,<br />

die e<strong>in</strong>em zufallen lässt, was <strong>für</strong> die eigene weitere Entwicklung<br />

notwendig ersche<strong>in</strong>t.<br />

Allerd<strong>in</strong>gs hat er <strong>für</strong> sich auch erkannt, dass sich <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em<br />

Umfeld erst dann etwas verändern kann, wenn er bereit ist, sich<br />

selbst zu ändern, weil man nämlich auch immer nur das anzieht,<br />

was e<strong>in</strong>em tatsächlich entspricht.<br />

17


Auch Hunde haben e<strong>in</strong>e Seele<br />

Frohe Weihnachten<br />

Sonderedition<br />

18


Auch Hunde haben e<strong>in</strong>e Seele<br />

Auch Hunde haben e<strong>in</strong>e Seele<br />

Es war e<strong>in</strong> kalter Herbstabend. Deutlich hörte man das Rauschen<br />

der Blätter <strong>in</strong> den Bäumen und das Pfeifen des W<strong>in</strong>des durch die<br />

Ritzen des alten Hauses, <strong>in</strong> dem es sich Herbert mit Senta, e<strong>in</strong>er<br />

alten und gebrechlichen Retrieverhünd<strong>in</strong>, gemütlich gemacht<br />

hatte. Während Herbert <strong>für</strong> se<strong>in</strong>en Hund e<strong>in</strong>e Dose Futter öffnete,<br />

lag se<strong>in</strong>e gute, alte Senta müde auf ihrer Decke nahe der Heizung,<br />

ihren treuen Blick immer auf Herbert gerichtet. Sie wusste, dass<br />

ihr Herrchen e<strong>in</strong>e Zeit lang brauchte, um Ihr Futter, nach allen<br />

Regeln der Kunst, liebevoll <strong>für</strong> sie zuzubereiten, um dann letztendlich<br />

mit ihr geme<strong>in</strong>sam zu Abend zu essen. E<strong>in</strong> Ritual, welches<br />

sich all die geme<strong>in</strong>samen Jahre wiederholte. Ihr Herrchen hatte<br />

nur sie und beide waren <strong>in</strong> fast vierzehn Jahren zu e<strong>in</strong>em Herz<br />

und e<strong>in</strong>er Seele zusammengewachsen. Jeder kannte die Gewohnheiten<br />

und Eigenarten des anderen. Be<strong>in</strong>ahe so, wie bei e<strong>in</strong>em<br />

alten Ehepaar.<br />

Doch Senta war sehr krank. Sie litt an Gicht, war kurzatmig,<br />

weil ihre Lungen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em sehr schlechten Zustand waren und sie<br />

war auch sonst vom Alter gezeichnet. Die Ärzte me<strong>in</strong>ten, dass sie<br />

nicht sonderlich leiden würde und ke<strong>in</strong>e Schmerzen hätte, wenn<br />

Herbert entsprechend vorsichtig und schonend mit ihr umgehen<br />

würde. Das war natürlich <strong>für</strong> Herbert ke<strong>in</strong>e Frage, denn er hätte<br />

alles <strong>für</strong> se<strong>in</strong>en Liebl<strong>in</strong>g getan, um die letzten Tage oder Monate<br />

19


Auch Hunde haben e<strong>in</strong>e Seele<br />

<strong>für</strong> Senta so angenehm wie möglich zu gestalten. So wie an jenem<br />

kalten Herbstabend, als er se<strong>in</strong>er Senta das liebevoll garnierte<br />

Futter an ihre Schlafdecke brachte, um sich anschließend am Küchentisch<br />

nieder zu lassen und selbst se<strong>in</strong> Abendbrot e<strong>in</strong>zunehmen.<br />

Dabei betrachtete er se<strong>in</strong>e Senta ganz genau, denn irgendetwas<br />

war an diesem Abend anders als zuvor. Senta schien ke<strong>in</strong>en<br />

großen Hunger zu haben, schnüffelte e<strong>in</strong> wenig des<strong>in</strong>teressiert an<br />

ihrer Mahlzeit, schob den Napf mit ihrer Nase e<strong>in</strong> wenig beiseite<br />

und legte sich auf ihrer Decke nieder. Noch vor kurzem war Senta<br />

e<strong>in</strong> wenig munterer und kräftiger. Ihr Herrchen musste ihr das<br />

Futter nicht an die Decke br<strong>in</strong>gen und Senta hatte durchaus e<strong>in</strong>en<br />

gesegneten Appetit. Sie schob bis dah<strong>in</strong> ihren Fressnapf immer<br />

von e<strong>in</strong>er Stelle neben ihrem Platz bis vor den Küchentisch.<br />

Genau an die Stelle, an der Herbert selbst zu speisen pflegte. Es<br />

war von je her ihre Art Herbert mitzuteilen, dass es Zeit <strong>für</strong> e<strong>in</strong>e<br />

Mahlzeit wurde und Herbert reagierte dann immer mit der Zubereitung<br />

beider Mahlzeiten, <strong>für</strong> Senta und sich selbst.<br />

Doch seit e<strong>in</strong> paar Wochen war Senta e<strong>in</strong>fach zu schwach und<br />

bewegte sich kaum noch von ihrer Decke herunter. Auch das Gassi<br />

gehen wurde immer aufwändiger und Herbert hatte große Mühe,<br />

se<strong>in</strong>e Senta zum Allernötigsten zu motivieren. Er machte sich nun<br />

ernsthafte Sorgen, doch der Tierarzt me<strong>in</strong>te, dass nun alles se<strong>in</strong>en<br />

Lauf nehmen müsste und Herbert wusste nur zu genau, was<br />

er damit me<strong>in</strong>te. Als er an diesem Abend se<strong>in</strong>en Liebl<strong>in</strong>g nach<br />

dem Abendbrot noch e<strong>in</strong>mal dazu bewegen wollte, die <strong>Not</strong>durft<br />

20


Auch Hunde haben e<strong>in</strong>e Seele<br />

zu verrichten, erhob sich Senta nur sehr widerwillig von ihrem<br />

Platz. Es hatte be<strong>in</strong>ahe den Ansche<strong>in</strong>, als würde sie Herbert sagen<br />

wollen, dass es eigentlich nicht mehr nötig war. Als se<strong>in</strong> Hund zur<br />

Türe h<strong>in</strong>austrottete, sah Herbert mit e<strong>in</strong>em mitleidigen Lächeln<br />

wieder den kle<strong>in</strong>en Fehler, den Senta bereits von Geburt an hatte.<br />

Ihre h<strong>in</strong>tere rechte Pfote war durch e<strong>in</strong>e leichte Verknöcherung<br />

im Sprunggelenk nicht voll beweglich und so zog sie diese immer<br />

schon etwas nach. Es sah aus, als würde sie ganz leicht h<strong>in</strong>ken.<br />

Gerade an diesem Abend fiel Herbert diese Kle<strong>in</strong>igkeit besonders<br />

auf. Vielleicht waren Sentas zeitlupenartige Bewegungen schuld<br />

daran oder aber auch ihr ganzes Verhalten aufgrund ihrer fortgeschrittenen<br />

Erkrankung. Es war e<strong>in</strong> kurzer, <strong>für</strong> Senta letztendlich<br />

sehr anstrengender Gang zum nächsten Baum im Garten. Sie<br />

war sichtlich froh, als sie wieder auf ihrer Decke Platz nehmen<br />

durfte. Herbert wollte se<strong>in</strong>e Senta an diesem Abend nicht unnötig<br />

beanspruchen, richtete noch e<strong>in</strong>mal ihre Decke und das große<br />

Kissen <strong>für</strong> sie und wünschte ihr e<strong>in</strong>e gute Nacht, denn sie sollte<br />

sich nun ausruhen, damit der morgendliche, bis dah<strong>in</strong> nur noch<br />

sehr kurze Ausflug ihr e<strong>in</strong>igermaßen unbeschwert gel<strong>in</strong>gen sollte.<br />

Herbert sah nun wie immer im Wohnzimmer nebenan fern und<br />

vernahm dabei, wie Senta sich ab und zu <strong>in</strong> der Küche regte, um<br />

ihre Schlafposition e<strong>in</strong>zunehmen. Dabei stieß sie ab und zu an<br />

ihren Tr<strong>in</strong>knapf, der direkt neben der Decke postiert war, damit<br />

die alte Dame nicht aufstehen musste, wenn sie Durst bekam. Für<br />

21


Auch Hunde haben e<strong>in</strong>e Seele<br />

Herbert waren es beruhigende, vertraute Laute. Se<strong>in</strong>e alte Senta<br />

war noch bei ihm, e<strong>in</strong> beruhigendes Gefühl.<br />

Am nächsten Morgen, als Herbert <strong>in</strong> die Küche gehen wollte,<br />

um se<strong>in</strong>en Hund zu begrüßen und das Frühstück vorzubereiten,<br />

sah er schon bevor er zur Türe here<strong>in</strong>kam, den Napf von Senta<br />

direkt an se<strong>in</strong>em Stuhl dicht beim Küchentisch stehen. So wie früher,<br />

als Senta ihn dorth<strong>in</strong> platzierte, um ihren Appetit anzuzeigen.<br />

Herbert war <strong>für</strong> e<strong>in</strong>en kurzen Moment <strong>in</strong> alte Zeiten versetzt und<br />

se<strong>in</strong> Herz klopfte vor Freude. Doch als er <strong>in</strong> die Küche trat, sah er<br />

se<strong>in</strong>en Liebl<strong>in</strong>g regungslos auf der Decke liegen und auch als er<br />

sie ansprach, regte sie sich diesmal nicht. Die offenen, starren Augen<br />

se<strong>in</strong>er Senta und der starre, kalte Körper ließen ke<strong>in</strong>en Zweifel<br />

daran, dass sie den Weg <strong>in</strong> den Himmel nun wirklich angetreten<br />

war. Was die Ärzte längst vorausgesagt hatten, hatte sich bis<br />

zu diesem Morgen nur immer wieder h<strong>in</strong>ausgezögert. Vielleicht<br />

gab es ja tatsächlich e<strong>in</strong>en gnädigen Schöpfer, der ihm und se<strong>in</strong>er<br />

Senta e<strong>in</strong> wenig mehr Zeit mite<strong>in</strong>ander vergönnte, als andere<br />

es prophezeit hatten. Herbert war nicht verbittert, er war nicht<br />

zornig, weil Senta nun gegangen war. Er war zutiefst dankbar <strong>für</strong><br />

diese lange und <strong>in</strong>nige Freundschaft und froh, dass se<strong>in</strong>e Senta es<br />

nun nicht mehr so schwer hatte. Sie würde wohl jetzt im Hundehimmel<br />

herumtollen, wie e<strong>in</strong>st im Garten vor dem Haus, da war<br />

sich Herbert be<strong>in</strong>ahe sicher.<br />

Diese treue Hünd<strong>in</strong> hatte ihm nicht nur all die Jahre als treue<br />

Freund<strong>in</strong> zu Seite gestanden, sondern ihm sogar zweimal das Le-<br />

22


Auch Hunde haben e<strong>in</strong>e Seele<br />

ben gerettet. E<strong>in</strong>mal warnte ihr Gebell ihr Herrchen vor e<strong>in</strong>em<br />

Feuer, welches ihn sonst im Schlaf überrascht hätte und e<strong>in</strong> anderes<br />

Mal schlug ihr Knurren e<strong>in</strong>en Angreifer <strong>in</strong> die Flucht, der es<br />

auf Herberts Brieftasche abgesehen hatte und ihn mit e<strong>in</strong>em Messer<br />

bedrohte. Sie war immer <strong>für</strong> ihn da. Nun war sie e<strong>in</strong>geschlafen<br />

und würde nie wieder bellen, mit Herbert Gassi gehen oder ihren<br />

Napf an den Tisch zu Herbert schieben. Es gab nun nicht mehr<br />

viel zu tun, das wusste Herbert genau. Er hob se<strong>in</strong>e Senta auf und<br />

trug sie <strong>in</strong> den Garten, den sie so sehr geliebt hatte. Dort begrub<br />

er mit ihr e<strong>in</strong>en Teil von sich selbst unter e<strong>in</strong>er alten Eiche, an der<br />

Senta schon als Welpe so oft verweilte, um die Vögel zu beobachten<br />

oder im Herbst die fallenden Blätter zu jagen.<br />

E<strong>in</strong>e lange Zeit der Trauer brach nun <strong>für</strong> Herbert here<strong>in</strong>. Lange<br />

Zeit konnte er ke<strong>in</strong>e anderen Hunde <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Nähe ertragen,<br />

verglich alle mit se<strong>in</strong>er geliebten Senta und auch mit anderen<br />

Hundebesitzern mochte er nicht mehr reden wie früher. Den gut<br />

geme<strong>in</strong>ten Rat e<strong>in</strong>es Freundes, sich nach e<strong>in</strong>em neuen Gefährten<br />

umzusehen, lehnte er vollkommen ab. Se<strong>in</strong>e Senta konnte schließlich<br />

nichts und niemand ersetzen. Diesen Schmerz der Trennung<br />

wollte Herbert auch e<strong>in</strong>fach nie wieder durchmachen.<br />

Es g<strong>in</strong>g e<strong>in</strong>e längere Zeit <strong>in</strong>s Land bevor Herberts Trauer sich<br />

milderte und er beschloss, se<strong>in</strong>e Senta nun endlich loszulassen.<br />

Sicher war sie jetzt dort, woh<strong>in</strong> er ihr e<strong>in</strong>es Tages folgen würde.<br />

Doch wenn er ehrlich zu sich selbst war, musste er feststellen,<br />

dass er von se<strong>in</strong>em Hund nie ganz loskam und sich immer wie-<br />

23


Auch Hunde haben e<strong>in</strong>e Seele<br />

der nach se<strong>in</strong>er Senta sehnte. So wie auch an e<strong>in</strong>em regnerischen<br />

und stürmischen Herbsttag, als Herbert sich auf den Weg machte,<br />

um sich Zigarren im nahegelegenen Ort zu besorgen. Es war e<strong>in</strong><br />

Tag wie der, an dem se<strong>in</strong>e Senta von ihm gegangen war, fiel ihm<br />

auf, als er das Haus verließ. Herbert trottete die Straße h<strong>in</strong>unter<br />

und schwelgte erneut <strong>in</strong> Er<strong>in</strong>nerungen an se<strong>in</strong>en Hund, als er das<br />

Pfeifen des W<strong>in</strong>des und das Rauchen der Blätter vernahm, so wie<br />

damals. Se<strong>in</strong> letzter Gang mit Senta <strong>in</strong> den Garten wurde damals<br />

ebenfalls von all den Geräuschen begleitet, die er jetzt wieder<br />

vernahm. Plötzlich hörte er h<strong>in</strong>ter sich deutlich e<strong>in</strong> Tapsen von<br />

Hundepfoten, ähnlich dem Gang, den er von se<strong>in</strong>er Senta kannte.<br />

Gleichzeitig ertönte e<strong>in</strong> Hundegebell, welches er h<strong>in</strong>ter se<strong>in</strong>em<br />

Rücken lokalisierte und zu erkennen glaubte. Als er stehen blieb,<br />

sich umdrehte, um se<strong>in</strong>e Senta zu begrüßen, blickte er <strong>in</strong>s Leere.<br />

Natürlich konnte es nicht Senta se<strong>in</strong>, wurde ihm schmerzlich<br />

bewusst, als er wiederum h<strong>in</strong>ter sich e<strong>in</strong> Bersten, Knacken und<br />

anschließend dumpfes, schlagendes Geräusch vernahm. Als er<br />

sich umdrehte, sah er wie e<strong>in</strong> großer, alter Baum se<strong>in</strong>en Weg versperrte.<br />

Der Sturm, der aufgezogen war, hatte den angeschlagenen<br />

Riesen wohl entwurzelt. Wäre Herbert nicht stehen geblieben,<br />

hätte er nicht kurz <strong>in</strong>ne gehalten, dann würde er wohl jetzt unter<br />

diesem riesigen Baum begraben liegen, das wurde ihm schlagartig<br />

bewusst. In dem Moment, als er sche<strong>in</strong>bar se<strong>in</strong>e Senta wahrgenommen<br />

hatte, und begrüßen wollte, da fiel der Baum auf se<strong>in</strong>en<br />

Weg.<br />

24


Auch Hunde haben e<strong>in</strong>e Seele<br />

Doch Senta war tot und konnte unmöglich h<strong>in</strong>ter ihm gewesen<br />

se<strong>in</strong>. Doch ebenso war er davon überzeugt, dass se<strong>in</strong>e Senta ihm<br />

soeben zum dritten Mal das Leben gerettet hatte. Egal aus welchem<br />

Grund, er hatte ihre Schritte und ihr Bellen gehört, da war<br />

er sich ganz sicher. Ebenso sicher war er noch am Leben, was <strong>in</strong><br />

dieser Situation nicht selbstverständlich <strong>für</strong> ihn war.<br />

E<strong>in</strong>ige Monate später sah Herbert sich e<strong>in</strong>ige Red River Welpen<br />

an. Vielleicht e<strong>in</strong>fach nur so, vielleicht aber auch <strong>in</strong> Gedenken an<br />

se<strong>in</strong>e Senta oder, weil er <strong>in</strong>nerlich wieder bereit war, am Leben,<br />

welches se<strong>in</strong> Hund ihm erneut geschenkt hatte, teilzunehmen. E<strong>in</strong>er<br />

dieser Welpen sprach ihn besonders an. Es war wieder e<strong>in</strong>e<br />

Hünd<strong>in</strong>, die Herbert dann nach langem Zögern doch <strong>in</strong> se<strong>in</strong> Herz<br />

schloss. Die Besonderheit, die das Eis zwischen diesem Hund und<br />

Herbert schmelzen ließ, war die Tatsache, dass dieser Hund den<br />

gleichen Geburtsfehler wie se<strong>in</strong>e Senta hatte. Sie zog nämlich e<strong>in</strong><br />

Be<strong>in</strong> leicht nach.<br />

Herberts Herz war wieder offen <strong>für</strong> e<strong>in</strong>e Zukunft mit e<strong>in</strong>em<br />

vierbe<strong>in</strong>igen Freund. Doch er konnte nicht im Ger<strong>in</strong>gsten ahnen,<br />

welches Zeichen des Himmels ihn kurze Zeit später noch erreichen<br />

sollte. Als er nämlich e<strong>in</strong>es Morgens gut gelaunt <strong>in</strong> die Küche<br />

kam, um se<strong>in</strong>en kle<strong>in</strong>en Schützl<strong>in</strong>g, wie e<strong>in</strong>st Senta, zu begrüßen,<br />

stand der Fressnapf des kle<strong>in</strong>en Vierbe<strong>in</strong>ers genau an dem Platz,<br />

an den Senta ihn immer geschoben hatte, um mit Herbert geme<strong>in</strong>sam<br />

ihr Ritual e<strong>in</strong>er geme<strong>in</strong>samen Mahlzeit zu zelebrieren.<br />

Vielleicht war es ja wieder se<strong>in</strong>e Senta, die da mit großen, fragen-<br />

25


Auch Hunde haben e<strong>in</strong>e Seele<br />

den, erwartungsvollen Augen vor im saß. Und selbst wenn sie es<br />

nicht war, so gab es vielleicht e<strong>in</strong>en Schöpfer, der Herbert<br />

e<strong>in</strong>fach e<strong>in</strong> Stück Lebensmut zurückbr<strong>in</strong>gen wollte. Für Herbert<br />

stand vor - wie nach diesem Erlebnis fest, dass Hunde nicht<br />

nur e<strong>in</strong>e Seele haben, sondern manchmal auch "die besseren<br />

<strong>Menschen</strong>" s<strong>in</strong>d.<br />

26


Manchmal rettet nur e<strong>in</strong>e bittere Erkenntnis den Seelenfrieden<br />

Manchmal rettet nur e<strong>in</strong>e bittere<br />

Erkenntnis den Seelenfrieden<br />

Es war e<strong>in</strong> regnerischer und kühler Tag im Herbst, als Mark mit<br />

dem Auto unterwegs <strong>in</strong> die Stadt war, um noch schnell e<strong>in</strong>em Term<strong>in</strong><br />

nachzukommen, den er mal wieder <strong>in</strong> letzter M<strong>in</strong>ute e<strong>in</strong>em<br />

Stammkunden zugesagt hatte.<br />

Mark war Mitte vierzig, Versicherungs-Agent und <strong>in</strong> der letzten<br />

Zeit so gut wie ständig unterwegs. Se<strong>in</strong>e Frau Hanna hatte nie<br />

verstanden, wie man se<strong>in</strong>en Beruf so wichtig nehmen konnte, um<br />

darüber die eigene Familie so zu vernachlässigen. Zum<strong>in</strong>dest etwas<br />

mehr Familienleben hätte sie sich gewünscht, wohl wissend<br />

und dankbar da<strong>für</strong>, dass ihr Mann f<strong>in</strong>anziell gut <strong>für</strong> sie und ihre<br />

K<strong>in</strong>der sorgte.<br />

Allerd<strong>in</strong>gs wusste Hanna nicht, das es nicht nur der Beruf war,<br />

der Mark manchmal rund um die Uhr <strong>in</strong> Anspruch nahm. Vielleicht<br />

ahnte se<strong>in</strong>e Frau zwar irgendwie, dass noch andere Gründe<br />

<strong>für</strong> Marks Des<strong>in</strong>teresse ihr und der Familie gegenüber bestehen<br />

mussten, aber sie verdrängte solche Gedanken schnell wieder, beschwerte<br />

sich nie, unterstützte ihren Mann wo sie konnte und hielt<br />

dann eben alle<strong>in</strong> die Familie zusammen, so gut das eben unter<br />

den gegebenen Umständen möglich war. Mark machte sich diesbezüglich<br />

kaum Gedanken, fand alles so <strong>in</strong> Ordnung, wie es war.<br />

27


Manchmal rettet nur e<strong>in</strong>e bittere Erkenntnis den Seelenfrieden<br />

Er entschuldigte se<strong>in</strong> Verhalten sogar oftmals damit, dass er die<br />

Brötchen verdienen musste und diese schließlich immer pünktlich<br />

auf dem Tisch standen. Zusammen mit se<strong>in</strong>er Frau und se<strong>in</strong>en<br />

zwei Töchtern bewohnte er e<strong>in</strong> kle<strong>in</strong>es Häuschen außerhalb<br />

der Stadt. Nach außen war es e<strong>in</strong> harmonisches Leben, welches<br />

die Familie zu führen schien, mitten <strong>in</strong> der ländlichen Idylle e<strong>in</strong>es<br />

angesehenen Wohnviertels, mit e<strong>in</strong>em großen Garten und e<strong>in</strong>em<br />

Familienhund. Der kle<strong>in</strong>e Terrier hörte auf den Namen Foxi und<br />

war ebenso eigenwillig wie se<strong>in</strong> Herrchen.<br />

Doch Mark reichte das wohl alles nicht im Ger<strong>in</strong>gsten. Er fühlte<br />

sich seit e<strong>in</strong>igen Jahren von dieser biederen, unechten Idylle<br />

abgestoßen, fand immer mehr negative D<strong>in</strong>ge an se<strong>in</strong>er Frau und<br />

war auch sonst irgendwie sehr unzufrieden mit sich selbst und der<br />

ganzen Situation se<strong>in</strong>es sche<strong>in</strong>bar unausgefüllten Familienlebens.<br />

Eigentlich war auch se<strong>in</strong> Job, den er als selbstständiger Versicherungsmakler<br />

ausübte, nicht unbed<strong>in</strong>gt se<strong>in</strong>e Berufung. Schon als<br />

kle<strong>in</strong>er Junge hatte er nichts lieber als Rettungssanitäter, Krankenpfleger<br />

oder auch Sozialarbeiter wie se<strong>in</strong> eigener Vater werden<br />

wollen. Er wollte <strong>Menschen</strong> e<strong>in</strong>fach gern helfen und das tat<br />

er schon damals immer wieder. Er half älteren Leuten über die<br />

Straße, kaufte <strong>für</strong> die alten, gebrechlichen Anwohner <strong>in</strong> der Nachbarschaft<br />

e<strong>in</strong> und übte sich zudem <strong>in</strong> der Pflege kranker Tiere, die<br />

er zum Leidwesen se<strong>in</strong>er Mutter auf der Straße <strong>in</strong> rauen Mengen<br />

auflas. Alle mochten Mark, <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er aufgeschlossenen, freundlichen,<br />

hilfsbereiten Art. Manchmal dachte er gern an diese Zeit zu-<br />

28


Manchmal rettet nur e<strong>in</strong>e bittere Erkenntnis den Seelenfrieden<br />

rück. Oft gerade dann, wenn er sich dabei ertappte, all das, was er<br />

heute erreicht hatte, als m<strong>in</strong>derwertig abzuwerten und se<strong>in</strong> heutiges<br />

Leben auf das Resultat zahlreicher, verpasster Gelegenheiten<br />

zu reduzieren.<br />

Selbst se<strong>in</strong>e Familie sah er dabei nicht gerade als Lichtblick<br />

oder echten Gew<strong>in</strong>n an. Sie war e<strong>in</strong>fach da und wurde immer<br />

mehr zur Selbstverständlichkeit <strong>für</strong> ihn. Wohl auch deshalb hatte<br />

er seit e<strong>in</strong>iger Zeit immer wieder e<strong>in</strong>mal e<strong>in</strong>e Affäre mit den<br />

unterschiedlichsten Frauen. Meist waren es sogar die Ehefrauen<br />

se<strong>in</strong>er Klienten. Zum Beispiel wie diejenige des Mannes, mit dem<br />

er <strong>für</strong> diesen Tag <strong>für</strong> fünf Uhr am Nachmittag, noch kurzfristig e<strong>in</strong>en<br />

Term<strong>in</strong> vere<strong>in</strong>bart hatte. Da Mark spät unterwegs war, musste<br />

er sich sehr beeilen, damit er diesen überhaupt noch e<strong>in</strong>halten<br />

konnte. Er hatte zuvor e<strong>in</strong>en Term<strong>in</strong> ganz anderer Art h<strong>in</strong>ter sich<br />

gebracht, und zwar genau mit der Frau des Kunden, zu dem er<br />

nun verspätet unterwegs war. Dessen Frau hatte er ebenso kurzfristig<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>em kle<strong>in</strong>en Hotel <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er anderen Stadt getroffen.<br />

Dass heute se<strong>in</strong> eigener Hochzeitstag war, hatte Mark darüber<br />

ganz vergessen. Und während Hanna zu Hause mit e<strong>in</strong>em<br />

kle<strong>in</strong>en Präsent auf ihn wartete, hatte er ganz andere D<strong>in</strong>ge im<br />

Kopf, so wie immer. Und dies nicht nur aus re<strong>in</strong>er Vergesslichkeit.<br />

Mark fuhr e<strong>in</strong>e Schnellstraße entlang. Regentropfen, die auf<br />

die W<strong>in</strong>dschutzscheibe prasselten und das monotone Geräusch<br />

der Scheibenwischer sorgten <strong>für</strong> e<strong>in</strong>e sehr beruhigende, be<strong>in</strong>ahe<br />

tranceähnliche Atmosphäre. Da nicht besonders viel auf den Stra-<br />

29


Manchmal rettet nur e<strong>in</strong>e bittere Erkenntnis den Seelenfrieden<br />

ßen los war, schwelgte Mark e<strong>in</strong> wenig <strong>in</strong> Er<strong>in</strong>nerungen an se<strong>in</strong>e<br />

Liebschaften und zugleich <strong>in</strong> Zukunftsplänen, die er sich mit diesen<br />

Damen immer wieder lebhaft ausmalte. Da waren all se<strong>in</strong>e<br />

unhaltbaren Versprechen, die er diesen meist verheirateten Frauen<br />

zugesagt hatte, um sie zu bee<strong>in</strong>drucken. Zum Beispiel, sich von<br />

Hanna scheiden zu lassen, den großen Deal zu landen, um dann<br />

irgendwann und irgendwo mit se<strong>in</strong>er Herzdame glücklich, <strong>in</strong> Saus<br />

und Braus leben zu können. So hatte er es unter anderem auch der<br />

Frau des Mannes angekündigt, zu dem er nun unterwegs war. Allerd<strong>in</strong>gs<br />

etwa e<strong>in</strong>em Dutzend anderer Frauen auch. Er hatte noch<br />

e<strong>in</strong>e gute Strecke vor sich. Da er wusste, dass er es sowieso nicht<br />

mehr pünktlich zu se<strong>in</strong>em Term<strong>in</strong> schaffen würde, versuchte er<br />

kurzerhand über das Handy se<strong>in</strong>en Kunden anzurufen, um sich<br />

durch e<strong>in</strong>e Ausrede e<strong>in</strong> wenig Verständnis und damit zusätzliche<br />

Zeit zu verschaffen. Dass Zeit schon sehr bald etwas werden sollte,<br />

was ebenso verschwommen und unwahr anmutete, wie se<strong>in</strong>e<br />

zahlreichen Versprechen und Zukunftsvisionen anderen gegenüber,<br />

ahnte Mark allerd<strong>in</strong>gs nicht im Ger<strong>in</strong>gsten . Alles g<strong>in</strong>g blitzschnell.<br />

Vertieft <strong>in</strong> se<strong>in</strong> Telefonat übersieht er e<strong>in</strong>e rote Ampel und rast<br />

frontal <strong>in</strong> den Anhänger e<strong>in</strong>es die Straße kreuzenden LKW. Er fühlt<br />

noch, wie se<strong>in</strong>e Hände das Lenkrad fest umklammern und se<strong>in</strong>e<br />

Arme sich mit aller Kraft dagegen stemmen, als könnte er dadurch<br />

die Wucht des nahenden Aufpralls auch nur im Ger<strong>in</strong>gsten m<strong>in</strong>-<br />

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Manchmal rettet nur e<strong>in</strong>e bittere Erkenntnis den Seelenfrieden<br />

dern. Dann plötzlich ist da e<strong>in</strong> dumpfer Schlag an se<strong>in</strong>em Kopf, unendliche<br />

Dunkelheit und dieser Geruch von Benz<strong>in</strong>. Er spürt ke<strong>in</strong>en<br />

Schmerz. Ganz plötzlich ist es still und er fühlt nur noch e<strong>in</strong>e<br />

unbeschreibliche, <strong>in</strong>nere Ruhe. Während die Dunkelheit e<strong>in</strong>em<br />

merkwürdig schimmerndem Licht weicht, welches zwar schnell<br />

größer und heller wird, aber ihn ke<strong>in</strong>eswegs blendet, ist da auch<br />

dieses Gefühl, zu schweben. E<strong>in</strong> Gefühl unendlicher Leichtigkeit<br />

und gleichzeitig etwas, nachdem Mark sich immer <strong>in</strong>st<strong>in</strong>ktiv gesehnt,<br />

aber es nie wirklich gefunden hat. Es ist etwas, dass er <strong>in</strong><br />

jenem Augenblick nicht e<strong>in</strong>mal im Entferntesten beschreiben<br />

kann. Ihm wird klar, dass es sich um e<strong>in</strong> Gefühl tiefer, ehrlicher<br />

Liebe handeln muss, die so bed<strong>in</strong>gungslos ersche<strong>in</strong>t, dass er sich<br />

dar<strong>in</strong> geborgen, vollkommen verstanden und sicher fühlen darf.<br />

Kurz darauf steht er mitten <strong>in</strong> diesem Unfallgeschehen, welches<br />

er ja selbst durch se<strong>in</strong> unachtsames Verhalten verursacht hatte.<br />

Er beobachtet neugierig, wie Retter versuchen, etwas aus se<strong>in</strong>em<br />

Wagen zu bergen und dazu Schweißbrenner und Stemmeisen benutzen.<br />

Hektisch umherlaufende Sanitäter und Feuerwehrleute<br />

rufen wild durche<strong>in</strong>ander, als Mark, sche<strong>in</strong>bar von allen unbeachtet,<br />

näher auf die Unfallstelle zugeht. Er hat fast se<strong>in</strong>en Wagen erreicht,<br />

der übel zugerichtet auf der Seite liegt, als e<strong>in</strong>er der Helfer<br />

vor Ort e<strong>in</strong>en leblosen Körper aus se<strong>in</strong>em Autowrack zieht. Mit<br />

Entsetzen stellt Mark fest, dass es se<strong>in</strong> eigener ist. Während Sanitäter<br />

versuchen, diesen, se<strong>in</strong>en Körper wieder zu beleben, will<br />

er sogar helfen. Er steht irgendwie neben sich selbst und greift<br />

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Manchmal rettet nur e<strong>in</strong>e bittere Erkenntnis den Seelenfrieden<br />

durch se<strong>in</strong>en am Boden liegenden Körper h<strong>in</strong>durch. Als ihm dies<br />

bewusst wird und noch immer niemand <strong>Not</strong>iz von ihm nimmt,<br />

fährt er erschrocken zurück und steht ganz plötzlich viel weiter<br />

von der Unfallstelle entfernt. Be<strong>in</strong>ahe wie e<strong>in</strong> stiller Beobachter,<br />

dem man nun verboten hatte, am weiteren Geschehen teilzunehmen,<br />

da er ohneh<strong>in</strong> nichts mehr tun konnte. Alles ersche<strong>in</strong>t so unwirklich<br />

und weit von »se<strong>in</strong>er eigenen« Realität entfernt. Als Mark<br />

langsam begreift, dass dort <strong>Menschen</strong> tatsächlich um se<strong>in</strong> Leben<br />

kämpfen und er dabei zusehen kann, wird ihm immer klarer, dass<br />

er an e<strong>in</strong>er Schwelle stehen muss, von der er bisher nur gehört<br />

und die er nie ernst genommen hatte, weil diese <strong>für</strong> ihn nur esoterischer<br />

bzw. religiöser Uns<strong>in</strong>n bedeutete. Noch bevor er se<strong>in</strong>en<br />

Gedanken diesbezüglich zu Ende führen kann, fühlt er deutlich<br />

und <strong>für</strong> ihn unerklärlich e<strong>in</strong>e fremde Präsenz <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Nähe. Inst<strong>in</strong>ktiv<br />

weiß er, dass diese etwas mit dem aktuellen Geschehen zu<br />

tun haben muss und er sicher bald Antworten auf alle Fragen, die<br />

ihn nun so sehr beschäftigten, f<strong>in</strong>den wird. Plötzlich hört er e<strong>in</strong>e<br />

sehr sanfte, aber zugleich e<strong>in</strong>dr<strong>in</strong>gliche Stimme aus dem H<strong>in</strong>tergrund<br />

se<strong>in</strong>en Namen rufen. Doch er verspürt dabei zunächst ke<strong>in</strong>erlei<br />

Bedürfnis, sich umzusehen, sondern beobachtet, jetzt aus<br />

etwas größerer Entfernung, weiterh<strong>in</strong> das Treiben am Ort se<strong>in</strong>es<br />

Unglücks. »Lass e<strong>in</strong>fach los, Mark. Du wirst sehen, es ist ganz e<strong>in</strong>fach,«<br />

hört er jemanden sagen. Als wäre dieser Rat von e<strong>in</strong>em guten<br />

Freund gekommen, den er kennt und dem er unbed<strong>in</strong>gt vertrauen<br />

kann, wendet sich Mark sogleich diesem geheimnisvollen<br />

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Manchmal rettet nur e<strong>in</strong>e bittere Erkenntnis den Seelenfrieden<br />

Sprecher zu, ohne ihn zunächst erblicken zu können. Dennoch ist<br />

ihm bewusst, dass dieser ihn ganz aus der Nähe beobachtet. Außerdem<br />

fühlt er nun regelrecht, wie sich etwas, das er nun als se<strong>in</strong><br />

wahres Selbst erkennt, von diesem körperlichen Abbild h<strong>in</strong>ter<br />

ihm auf der Straße endgültig zu trennen und abzuwenden sche<strong>in</strong>t,<br />

um sich gleichzeitig etwas Höherem zuzuwenden. Auch wenn er<br />

mit diesem Gefühl zunächst wenig anzufangen weiß, ist ihm klar,<br />

dass er nichts zu be<strong>für</strong>chten hat, doch viel lernen kann. Mark<br />

fühlt plötzlich e<strong>in</strong>en unendlich tiefen Frieden und so etwas wie<br />

re<strong>in</strong>e Glückseligkeit <strong>in</strong> sich. Er spürt auch, dass da etwas ist, was<br />

ihn bed<strong>in</strong>gungslos anzunehmen und zu lieben bereit ist. Mehr, als<br />

er selbst dazu je <strong>in</strong> der Lage gewesen wäre und obwohl es unzählige<br />

Verfehlungen <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Leben gab, die ihm plötzlich blitzartig<br />

alle samt wieder <strong>in</strong>s Gedächtnis gerufen werden und vor se<strong>in</strong>em<br />

tiefsten Inneren ablaufen.<br />

Es ist be<strong>in</strong>ahe so, als hätte etwas diese Verkettung zahlreicher<br />

Umstände se<strong>in</strong>es auch aus eigener Sicht verkorksten Lebens, alle<strong>in</strong><br />

nur <strong>für</strong> diese Situation <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Art Film, bestehend aus e<strong>in</strong>er<br />

riesigen Endlosschleife, zusammengefügt. Doch gleichzeitig wird<br />

ihm klar, dass Verfehlungen oder gar Fehler die falschen Begriffe<br />

<strong>für</strong> dieses Feuerwerk aus Er<strong>in</strong>nerungen s<strong>in</strong>d, denn er fühlt, dass<br />

es e<strong>in</strong>fach nur Entscheidungen waren. Entscheidungen, <strong>für</strong> die<br />

er sich <strong>in</strong> diesem Moment selbst verurteilt. Nur er selbst, wie ihm<br />

deutlich bewusst ist. Da ist sonst ke<strong>in</strong> Urteil, ke<strong>in</strong> Zorn, ke<strong>in</strong>e<br />

Belehrung e<strong>in</strong>es Besseren. Unabhängig von allem ist da e<strong>in</strong>fach<br />

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Manchmal rettet nur e<strong>in</strong>e bittere Erkenntnis den Seelenfrieden<br />

nur e<strong>in</strong> Gefühl, von dem er plötzlich ebenso weiß, dass er es se<strong>in</strong><br />

Leben lang vermisst hat. Etwas, was allem plötzlich e<strong>in</strong>en tiefen<br />

S<strong>in</strong>n e<strong>in</strong>haucht. Mark wird nun klar, dass er e<strong>in</strong>iges hätte besser<br />

machen können <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Leben, e<strong>in</strong>em Leben, welches er nun<br />

wohl vertan hat und das ansche<strong>in</strong>end nun hier enden soll. Obwohl<br />

er bisher an solche D<strong>in</strong>ge nie e<strong>in</strong>en Gedanken verschwendet hatte,<br />

kann Mark die Weisheit e<strong>in</strong>er nahen Seele, oder was es auch<br />

immer war, deutlich wahrnehmen. Er hegt ganz kurz sogar e<strong>in</strong>en<br />

Gedanken daran, vielleicht tatsächlich im nächsten Moment se<strong>in</strong>em<br />

Schöpfer gegenüberzustehen.<br />

Doch was ihm nun vor se<strong>in</strong>em Angesicht ersche<strong>in</strong>en sollte, hatte<br />

so gar nichts mit dem angeblichen Prunk der Engel oder der<br />

majestätischen Gestalt e<strong>in</strong>es Schöpfers zu tun. »Ich b<strong>in</strong> e<strong>in</strong> Spiegelbild<br />

de<strong>in</strong>er Erwartungen, me<strong>in</strong> Sohn,« kommt es aus dem Munde<br />

e<strong>in</strong>es alten Mannes, der wie aus dem Nichts vor Tom auftaucht<br />

und <strong>für</strong> dessen Begriffe sehr »gewöhnlich« aussieht, außer, dass<br />

von diesem Mann und se<strong>in</strong>er Kleidung e<strong>in</strong> gewisses Leuchten ausgeht<br />

und dadurch die Konturen dieser Gestalt, sowie die Art der<br />

Kleidung nicht genau zu erkennen s<strong>in</strong>d. Zwar strahlt dieser Mann<br />

e<strong>in</strong>e wunderbare, nahezu ergreifende Ruhe, Zuversicht und Güte<br />

aus, aber diese Empf<strong>in</strong>dungen s<strong>in</strong>d bei weitem nicht so <strong>in</strong>tensiv,<br />

wie das, was Mark noch vor dessen Ersche<strong>in</strong>en gefühlt hatte.<br />

Als Mark ihn nach se<strong>in</strong>em Namen fragen will und danach, was<br />

nun, nach diesem verhängnisvollen Unfall, mit ihm geschehen<br />

würde, bemerkt er an se<strong>in</strong>em Gegenüber etwas sehr Seltsames.<br />

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Manchmal rettet nur e<strong>in</strong>e bittere Erkenntnis den Seelenfrieden<br />

Dieser ältere Herr, der sogar e<strong>in</strong>en weißen Bart trägt, lächelte ihn<br />

die ganze Zeit an und ohne auch nur e<strong>in</strong>e Mundbewegung dabei<br />

zu erkennen, hört Mark ihn dennoch deutlich sprechen. »So wie<br />

die Engel <strong>in</strong> euren Vorstellungen Flügel haben, so stellen sich die<br />

meisten von euch, sofern sie an e<strong>in</strong>en Schöpfer glauben, diesen<br />

als alten Herrn mit e<strong>in</strong>em großen, weißen Bart vor. Nun, e<strong>in</strong> Engel<br />

b<strong>in</strong> ich offensichtlich nicht und wie du mich nennen möchtest, ist<br />

ebenfalls ganz unwichtig, weil Namen wie Körper nur kurzfristige,<br />

vergängliche Schöpfungen des Geistes s<strong>in</strong>d. Gott als alle<strong>in</strong>iger<br />

Schöpfer und Richter zugleich ist, wie du soeben erkannt hast,<br />

ähnlich den Flügeln der Engel nur e<strong>in</strong>e Manifestation eurer Erwartung<br />

oder eures re<strong>in</strong>en Wunschdenkens.«<br />

Mark lauscht den Worten des alten Mannes und nur e<strong>in</strong> flüchtiger<br />

Gedanke an se<strong>in</strong>e ursprünglich wichtigste Frage, nämlich die<br />

danach, was nun mit ihm geschehen wird, durchzuckt se<strong>in</strong> neu<br />

entdecktes Selbst. Das sche<strong>in</strong>t der alte Mann wahrgenommen zu<br />

haben, denn er hebt se<strong>in</strong>e Augenbrauen, während er dabei se<strong>in</strong>en<br />

Kopf leicht seitwärts neigt. Mark verspürt sofort das Bedürfnis,<br />

se<strong>in</strong>en »Mentor« ausreden zu lassen und weiß irgendwie auch,<br />

dass er se<strong>in</strong>e Antworten bekommen wird. »Geduld ist nicht unbed<strong>in</strong>gt<br />

e<strong>in</strong>e Eigenschaft, die zu den Stärken der <strong>Menschen</strong> gehört.«,<br />

fährt der alte Mann fort. »Du wolltest dich nur selbst immer davon<br />

überzeugen, dass so etwas wie e<strong>in</strong> Schöpfer nicht existiert. In de<strong>in</strong>em<br />

Herzen wusstest du aber immer, dass es da etwas gibt, was<br />

dich führen und behüten würde, so wie de<strong>in</strong>e Eltern es e<strong>in</strong>st ta-<br />

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Manchmal rettet nur e<strong>in</strong>e bittere Erkenntnis den Seelenfrieden<br />

ten. Als K<strong>in</strong>d warst du <strong>für</strong> diese Gedanken noch sehr empfänglich,<br />

während dich die Bitterkeit de<strong>in</strong>er eigenen Realität später von<br />

dem Weg abbrachte, den du <strong>für</strong> dich selbst e<strong>in</strong>st gewählt hast. So<br />

siehst du <strong>in</strong> mir e<strong>in</strong> Abbild dessen, was du dir schon immer tief<br />

<strong>in</strong> de<strong>in</strong>em k<strong>in</strong>dlichen Inneren als diese geheimnisvolle Schöpferkraft<br />

vorgestellt hast. Und es entspricht sogar mehr dem, was du<br />

Wahrheit nennst, als vieles sonst, was du dir <strong>in</strong> de<strong>in</strong>em Leben nur<br />

als Realität vorgegaukelt hast. Da Gott <strong>in</strong> allem und jedem ist, trägt<br />

auch alles und jedes se<strong>in</strong>e Schöpferkraft <strong>in</strong> sich. Doch die <strong>Menschen</strong><br />

selbst haben im Gegensatz zu anderen Geschöpfen e<strong>in</strong>en<br />

freien Willen, von dem sie sogar glauben, ihn im rechten Maße zu<br />

gebrauchen. Auch wenn sich dies oftmals als Irrtum herausstellt,<br />

erschafft dieser freie Wille die <strong>Menschen</strong> zum Ebenbild Gottes,<br />

oder wie auch immer du den Ursprung allen Se<strong>in</strong>s nennen möchtest.«<br />

Bei all dem, was dieser merkwürdig anmutende alte Mann sagte,<br />

hatte Mark ke<strong>in</strong>eswegs das Gefühl, er würde durch diesen ermahnt<br />

oder gar zur Rechenschaft gezogen werden. Im Gegenteil,<br />

alles was dieser Mann von sich gab, war freundlich, irgendwie sogar<br />

e<strong>in</strong> wenig emotionslos und vor allem s<strong>in</strong>nvoll. Mark hatte ke<strong>in</strong><br />

Gefühl da<strong>für</strong>, wieviel Zeit vergangen oder nicht vergangen war,<br />

doch bevor er e<strong>in</strong>en weiteren Gedanken fassen konnte, waren er<br />

und dieser offensichtlich sehr belesene, alte Mann plötzlich an e<strong>in</strong>em<br />

ganz anderen Ort und es spielte sich e<strong>in</strong>e ganz andere Szene<br />

vor ihnen ab. Es war, als würde ihnen jemand nun e<strong>in</strong>en Film vor-<br />

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Manchmal rettet nur e<strong>in</strong>e bittere Erkenntnis den Seelenfrieden<br />

führen. Allerd<strong>in</strong>gs gab es ke<strong>in</strong>e Le<strong>in</strong>wand, sondern e<strong>in</strong>e Art mehrdimensionales<br />

Etwas oder vielleicht e<strong>in</strong> Zweituniversum, <strong>in</strong> dem<br />

sich eigenartiger Weise alles, wie aus dem Nichts erschaffen, um<br />

sie herum abspielte. Mark sah nun D<strong>in</strong>ge, die er <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er K<strong>in</strong>dheit<br />

erlebt hatte. Besser ausgedrückt, er erlebte sogar erneut die<br />

Szenen se<strong>in</strong>er K<strong>in</strong>dheit. Es war plötzlich, als würden sie zwar auf<br />

e<strong>in</strong>er Stelle verharren, aber sehr lebhaft und bewegt auf alles im<br />

Universum gleichzeitig e<strong>in</strong>wirken können. Vielleicht aber wirkte<br />

da auch etwas auf sie e<strong>in</strong>. So genau war das alles <strong>für</strong> Mark nicht<br />

e<strong>in</strong>zuordnen. Das Szenario war so real, dass Mark nicht nur alles<br />

deutlich erkennen konnte, sondern er auch fühlte, wie e<strong>in</strong>st als<br />

K<strong>in</strong>d. Er war irgendwie gleichzeitig Beobachter und Mitspieler <strong>in</strong><br />

diesem Film aus e<strong>in</strong>er längst vergangenen Zeit, wusste aber doch<br />

wieder nicht, ob diese Zeit hier und jetzt wirklich der Vergangenheit<br />

zuzuordnen war.<br />

Er dachte plötzlich nicht mehr an den Unfall, se<strong>in</strong>en leblosen<br />

Körper auf der Straße oder was nun mit ihm geschehen würde.<br />

Da<strong>für</strong> war das, was er jetzt durchlebte, zu schön : Alles beg<strong>in</strong>nt<br />

<strong>in</strong>e<strong>in</strong>ander zu verschmelzen. Da s<strong>in</strong>d plötzlich wieder die Erlebnisse<br />

mit se<strong>in</strong>em Großvater, als dieser Mark das Angeln beibr<strong>in</strong>gt<br />

und sie dabei so viele schöne geme<strong>in</strong>same Stunden verbr<strong>in</strong>gen.<br />

Da s<strong>in</strong>d wieder die schönen Zeiten mit se<strong>in</strong>er Mutter, die ihm all<br />

ihre Liebe schenkt und ihrem Sohn alles ermöglicht. Dabei ist sie<br />

selbst oft sehr krank, hat deshalb nicht allzu viel Zeit <strong>für</strong> ihn und<br />

auch f<strong>in</strong>anziell kann man sich ke<strong>in</strong>e großen Sprünge leisten. Sie<br />

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Manchmal rettet nur e<strong>in</strong>e bittere Erkenntnis den Seelenfrieden<br />

verdient etwas dazu, <strong>in</strong>dem sie <strong>für</strong> andere putzt. Dennoch fehlt<br />

es Mark an nichts. Vor allem nicht an Liebe und e<strong>in</strong>em behüteten<br />

Zuhause, welches <strong>für</strong> Mark nun wieder e<strong>in</strong>e ganz neue Bedeutung<br />

bekommt. Er sieht diese Szenen aus se<strong>in</strong>er K<strong>in</strong>dheit und<br />

kann gleichzeitig etwas <strong>für</strong> ihn sehr Wichtiges fühlen. Es ist diese<br />

k<strong>in</strong>dliche Unbeschwertheit, diese pure Lebensfreude und e<strong>in</strong>e<br />

bed<strong>in</strong>gungslose Liebe, die ihm hier erneut zuteil wird. Als se<strong>in</strong>e<br />

K<strong>in</strong>dheit vor se<strong>in</strong>en Augen und gleichzeitig <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Herzen an<br />

ihm vorüberzieht, wird ihm klar, was er <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em späteren Leben<br />

stets vermisst hat. Er weiß plötzlich, wonach er sich immer wieder<br />

gesehnt und an wie viele belanglose D<strong>in</strong>ge er sich geklammert hat.<br />

All das, was er nun erneut und aus e<strong>in</strong>er anderen Perspektive begreifen<br />

konnte und <strong>in</strong> dieser Art Lebensrückschau nochmal erblicken<br />

durfte, wurde ihm von <strong>Menschen</strong> geschenkt, die selbst viele<br />

Opfer br<strong>in</strong>gen mussten, um ihm all das zu geben, was ihn damals<br />

zu diesem glücklichen <strong>Menschen</strong> machte, der sich <strong>für</strong> se<strong>in</strong> Leben<br />

doch so viel vorgenommen hatte.<br />

»Da hast du noch gelebt, Mark.« Mit diesen Worten greift der<br />

alte Mann an Marks Seite wieder <strong>in</strong> das Geschehen e<strong>in</strong>. Herausgerissen<br />

aus se<strong>in</strong>en Er<strong>in</strong>nerungen, sieht Mark se<strong>in</strong>en Begleiter<br />

verstört an und ist gleichzeitig wütend, diese se<strong>in</strong>e so wunderschöne<br />

K<strong>in</strong>dheit erneut h<strong>in</strong>ter sich lassen zu müssen. Als er den<br />

alten Mann fragen will, ob nun alles zu spät sei und er nun se<strong>in</strong>em<br />

»Tod« tatsächlich und unausweichlich <strong>in</strong>s Auge sehen muss,<br />

ist er sche<strong>in</strong>bar wieder alle<strong>in</strong>. Doch er bemerkt erneut e<strong>in</strong> hel-<br />

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Manchmal rettet nur e<strong>in</strong>e bittere Erkenntnis den Seelenfrieden<br />

les, wunderbares Licht, <strong>in</strong> das er förmlich e<strong>in</strong>gehüllt wird, sowie<br />

e<strong>in</strong>e neue, fremde Präsenz, als e<strong>in</strong> weiteres Mal e<strong>in</strong>e sanfte und<br />

e<strong>in</strong>dr<strong>in</strong>gliche Stimme aus dem Nichts zu ihm spricht. »Der Tod,<br />

wie ihr ihn euch vorstellt, existiert nicht. Auch du bist ewig. Das<br />

Leben ist wie e<strong>in</strong>e Reise an immer neue Orte, mit immer neuen<br />

Erfahrungen, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em neuen Kleid, welches du Körper nennst.<br />

Ihr erschafft euch selbst <strong>in</strong> jedem Augenblick neu. Eure Gedanken<br />

und Gefühle s<strong>in</strong>d der Quell aller schöpferischen Kraft im Universum.<br />

So können auch nur eure Gefühle und eure eigenen Schöpfungen<br />

sterben, <strong>in</strong>dem ihr sie selbst wieder auslöscht. Du selbst<br />

hast dir e<strong>in</strong>st vorgenommen, zu helfen, andere Seelen zu führen<br />

und die Bedeutung der bed<strong>in</strong>gungslosen Liebe neu zu ergründen.<br />

Wenn du denkst, die Dualität des Se<strong>in</strong>s, so wie den wahren S<strong>in</strong>n<br />

des Lebens dar<strong>in</strong> zu entdecken, <strong>in</strong>dem du dich und andere verletzt,<br />

dann ist das de<strong>in</strong>e Entscheidung, die du auch selbst tragen<br />

musst. Niemand kann und wird dich hier da<strong>für</strong> verurteilen, außer,<br />

du tust es selbst. Nun geh und entscheide erneut, denn es ist immer<br />

genau der richtige Zeitpunkt, um neu zu erwachen und die<br />

D<strong>in</strong>ge neu zu ordnen.«<br />

E<strong>in</strong> kräftiger Schlag durchzuckte Marks Körper und e<strong>in</strong>e ganz<br />

andere Stimme sprach davon, dass er zurück sei und sich endlich<br />

wieder e<strong>in</strong> Herzrhythmus e<strong>in</strong>gestellt hätte. Was immer auch<br />

damit geme<strong>in</strong>t war, als Mark die Augen öffnete, sah er zwei Rettungssanitäter,<br />

die sich offensichtlich sehr um ihn bemühten. Se<strong>in</strong><br />

ganzer Körper schmerzte, er bekam kaum Luft und irgendwie<br />

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Manchmal rettet nur e<strong>in</strong>e bittere Erkenntnis den Seelenfrieden<br />

war plötzlich erneut alles so ganz anders, bemerkte Mark, ohne<br />

zu wissen was eigentlich geschah. Als die Sanitäter ihrerseits bemerkten,<br />

dass ihr Schützl<strong>in</strong>g wieder ganz bei sich war, fragten sie<br />

ihn nach se<strong>in</strong>en Er<strong>in</strong>nerungen bezüglich des Unfalls und ob er<br />

sich an se<strong>in</strong>en Namen, sowie das aktuelle Datum, er<strong>in</strong>nern würde.<br />

Mark wusste zwar wer er war, konnte sich irgendwie auch an das<br />

aktuelle Datum er<strong>in</strong>nern, aber sonst war da nur e<strong>in</strong>e gähnende<br />

Leere <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Kopf und die stechenden Schmerzen am ganzen<br />

Körper. »Hey, willkommen zurück, sie hatten verdammtes Glück<br />

und sicher e<strong>in</strong>en Schutzengel,« me<strong>in</strong>te e<strong>in</strong>er se<strong>in</strong>er Retter, mit<br />

e<strong>in</strong>em verheißungsvollen Lächeln. Zurück von woher und was<br />

me<strong>in</strong>te dieser Typ mit Engel? Das versuchte Mark zu ergründen,<br />

doch das Hämmern <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Kopf verh<strong>in</strong>derte jeden klaren Gedanken.<br />

»Wird schon wieder, e<strong>in</strong> paar Knochen s<strong>in</strong>d gebrochen<br />

und sie waren kurzfristig weggetreten, aber machen sie sich ke<strong>in</strong>e<br />

Sorgen, es wird wieder«, redete e<strong>in</strong>er se<strong>in</strong>er Begleiter beruhigend<br />

auf Mark e<strong>in</strong>, der <strong>in</strong> diesem Augenblick selbst weniger an diese<br />

positive Prognose glauben konnte. Er dachte trotz Schmerzen<br />

noch e<strong>in</strong>mal kurz über die Bemerkung mit dem Schutzengel nach,<br />

verspottete aber sofort den Gedanken wieder im Stillen. Engel<br />

waren an se<strong>in</strong>er Misere wohl kaum beteiligt, wenn es überhaupt<br />

welche geben würde. Er hatte wohl eben nur Glück, fuhr es ihm<br />

halbwegs nüchtern durch den Kopf. Im Krankenhaus angekommen,<br />

eilte kurz danach se<strong>in</strong>e Frau <strong>in</strong> die <strong>Not</strong>aufnahme zu ihm. Als<br />

Mark <strong>in</strong> ihr sorgenvolles und verwe<strong>in</strong>tes Gesicht sah, durchström-<br />

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Manchmal rettet nur e<strong>in</strong>e bittere Erkenntnis den Seelenfrieden<br />

te ihn e<strong>in</strong> <strong>in</strong>niges und unendlich warmes Gefühl, welches er <strong>in</strong><br />

ihrer Gegenwart lange nicht mehr gespürt hatte. Er hatte so e<strong>in</strong><br />

eigenartiges Bedürfnis, se<strong>in</strong>er Frau mitzuteilen, dass sie ihm so<br />

viel mehr wert war, als er es je hätte zeigen oder zugeben können.<br />

Mark konnte se<strong>in</strong>e eigenen Gefühle diesbezüglich selbst nicht e<strong>in</strong>ordnen<br />

und wunderte sich sogar, dass er gerade <strong>in</strong> diesem Moment<br />

daran dachte, ihr alles zu gestehen und mit ihr neu anzufangen.<br />

Vielleicht war es ja nur e<strong>in</strong> zwischenzeitliches Hochgefühl<br />

darüber, dass er noch lebte, kam es ihm sofort <strong>in</strong> den S<strong>in</strong>n. »Me<strong>in</strong><br />

Liebl<strong>in</strong>g, was ist nur passiert, ich hatte solche Angst!«, hörte er die<br />

Worte se<strong>in</strong>er Frau wie aus der Ferne. Da war etwas, was er wiedergefunden<br />

hatte, während er be<strong>in</strong>ahe se<strong>in</strong> Leben verlor, wurde es<br />

Mark langsam immer klarer.<br />

Als die Sanitäter ihn eilig zur weiteren Untersuchung und Behandlung<br />

<strong>in</strong> die <strong>Not</strong>aufnahme brachten, wurde er <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en sehr<br />

hellen, lichtdurchfluteten Raum geschoben und erblickte dort e<strong>in</strong>en<br />

älteren Mann im Arztkittel. Mark fiel gleich se<strong>in</strong> weißer Rauschebart<br />

auf, während dieser nette Arzt lächelnd auf ihn zusteuerte.<br />

Irgendetwas g<strong>in</strong>g von diesem hellen Licht und dem Mann<br />

mit se<strong>in</strong>em weißen Bart aus, doch Mark konnte sich nicht erklären,<br />

was es war. Er fühlte plötzlich e<strong>in</strong>en Hauch bed<strong>in</strong>gungsloser<br />

Liebe und unendlicher Dankbarkeit <strong>in</strong> sich. Und dieses Gefühl<br />

wusste er diesmal genau e<strong>in</strong>zuordnen und er verspürte sogar e<strong>in</strong>en<br />

Moment lang ke<strong>in</strong>e Schmerzen mehr. Er wusste, se<strong>in</strong> Leben<br />

war aus der Bahn geraten und be<strong>in</strong>ahe hätte es geendet, wie er<br />

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Manchmal rettet nur e<strong>in</strong>e bittere Erkenntnis den Seelenfrieden<br />

es zuletzt geführt hatte – im vollkommenen Chaos. Er dachte an<br />

se<strong>in</strong>e Frau, die sofort herbeigeeilt war, um ihm beizustehen und<br />

an se<strong>in</strong>e K<strong>in</strong>der, die er be<strong>in</strong>ahe nur noch von Fotos her kannte. Er<br />

sehnte sich wieder nach e<strong>in</strong>em Halt im Leben und erkannte den<br />

wahren Wert der Geborgenheit <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Familie plötzlich ganz<br />

neu. Dass er sich dazu auch beruflich verändern musste, wurde<br />

ihm so ganz nebenbei bewusst. Als Marks Frau ihn am nächsten<br />

Tag im Krankenhaus besuchte, küsste sie se<strong>in</strong>e Hand und legte sie<br />

sanft an ihre tränenfeuchte Wange. Wieder hörte er se<strong>in</strong>e Frau mit<br />

tränenerstickter Stimme zu ihm sagen : »Es tut mir so leid, dass du<br />

so leiden musst. So s<strong>in</strong>nlos leiden. Das hast du wirklich nicht verdient,<br />

me<strong>in</strong> Liebl<strong>in</strong>g.« Als er ihre Wange streichelte und sich beide,<br />

zum ersten Mal seit langer Zeit wieder, wirklich tief und <strong>in</strong>nig<br />

<strong>in</strong> die Augen sahen, schüttelte Mark, noch sehr kraftlos, mit dem<br />

Kopf und zog se<strong>in</strong>e Frau näher zu sich heran. »Nichts ist wirklich<br />

s<strong>in</strong>nlos, me<strong>in</strong> E<strong>in</strong> und Alles,« hauchte Mark se<strong>in</strong>er Frau <strong>in</strong>s Ohr.<br />

»Ich habe so viele Fehler gemacht, so oft nur an mich gedacht und<br />

dabei hätte ich be<strong>in</strong>ahe vergessen, wie wichtig du und die K<strong>in</strong>der<br />

<strong>für</strong> mich seid. Ich fühle, dass ich e<strong>in</strong>e zweite Chance bekommen<br />

habe und die werde ich nutzen, zusammen mit dir und den K<strong>in</strong>dern,«<br />

fügte Mark mit Tränen des Glücks <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Augen h<strong>in</strong>zu …<br />

Manchmal muss das Schicksal e<strong>in</strong>em <strong>Menschen</strong> vielleicht ja<br />

bitter zusetzen, um ihn an se<strong>in</strong>e wahre Berufung zu er<strong>in</strong>nern.<br />

E<strong>in</strong>e, die dieser sich selbst e<strong>in</strong>mal, aus e<strong>in</strong>er höheren Sicht des-<br />

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Manchmal rettet nur e<strong>in</strong>e bittere Erkenntnis den Seelenfrieden<br />

halb ausgesucht hatte, damit se<strong>in</strong>e wissensdurstige Seele all das<br />

lernen würde, was ihr auf ihrem Weg zur Vollkommenheit und<br />

E<strong>in</strong>heit mit der Schöpfung selbst noch fehlte.<br />

43


Der ungläubige Thomas<br />

44


Der ungläubige Thomas<br />

Der ungläubige Thomas<br />

Manchmal ist es schwer, zwischen Traum und Realität zu unterscheiden.<br />

Noch viel schwerer fällt es e<strong>in</strong>igen <strong>Menschen</strong> an Wunder<br />

zu glauben, die andere wiederum angeblich regelmäßig erleben.<br />

Thomas, kurz Tom genannt, e<strong>in</strong> junger Mann Ende zwanzig, hatte<br />

viele Freunde und Bekannte, die man allgeme<strong>in</strong> der Esoterik-Szene<br />

zuordnet. Er selbst glaubte eigentlich an nichts, was er nicht<br />

mit se<strong>in</strong>en fünf S<strong>in</strong>nen wahrnehmen konnte. Umso mehr wunderte<br />

er sich selbst immer wieder, warum ausgerechnet er ständig<br />

und bei jeder Gelegenheit besonders spirituell ausgerichteten<br />

<strong>Menschen</strong> begegnete. Selbst se<strong>in</strong> engster Vertrauter und bester<br />

Freund Rolf beschäftigte sich sehr <strong>in</strong>tensiv mit Engeln, dem Leben<br />

nach dem Tod oder ähnlichen, mystisch angelegten Themen.<br />

Tom war nicht gerade begeistert davon, wenn ihn se<strong>in</strong> Kumpel zum<strong>in</strong>dest<br />

manchmal auf solche D<strong>in</strong>ge h<strong>in</strong> ansprach und se<strong>in</strong>e Ansichten<br />

und Erlebnisse diesbezüglich mit ihm teilen wollte. Doch<br />

er konnte schließlich auch selbst mit jedem Problem an se<strong>in</strong>en<br />

besten Freund herantreten und so akzeptierte Tom auch schon<br />

e<strong>in</strong>mal Rolfs etwas längere Ausführungen zu diesen manchmal<br />

religiösen Ergüssen. Es gab Zeiten, da konnte Thomas nicht wirklich<br />

daran glauben, dass se<strong>in</strong> Freund oder auch andere spirituelle<br />

Sp<strong>in</strong>ner, wie er sie allesamt bezeichnete, tatsächlich selbst an all<br />

das glaubten, was sie zum Besten gaben. E<strong>in</strong>e von Toms engeren<br />

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Der ungläubige Thomas<br />

Bekannten, <strong>in</strong> die er sich sogar e<strong>in</strong> wenig verguckt hatte, behauptete<br />

ständig, dass sie <strong>in</strong> ihren Träumen Visionen aus der Zukunft<br />

sehen konnte. So süß se<strong>in</strong>e Angebetete mit dem Namen Katja<br />

auch war, <strong>für</strong> Tom waren Träume nur Schäume und <strong>für</strong> das Gehirn<br />

e<strong>in</strong>e Möglichkeit der Stressbewältigung, <strong>in</strong>dem es dadurch<br />

bereits vergangene Ereignisse bewältigte. So oder so ähnlich hatte<br />

er es e<strong>in</strong>mal <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em wissenschaftlichen Magaz<strong>in</strong> gelesen. Weil<br />

es <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em solchen Magaz<strong>in</strong> nachzulesen war, <strong>in</strong>teressierte sich<br />

Tom nicht weiter <strong>für</strong> mögliche Alternativen oder gar Me<strong>in</strong>ungen<br />

von Laien bzw. Nicht-Wissenschaftlern. Und schon überhaupt<br />

nicht <strong>für</strong> die Ansichten spirituell abgehobener Zeitgenossen. Er<br />

selbst konnte sich so gut wie nie an e<strong>in</strong>en Traum er<strong>in</strong>nern. War<br />

das tatsächlich e<strong>in</strong>mal der Fall, ergaben solche Träume <strong>für</strong> ihn<br />

ke<strong>in</strong>en S<strong>in</strong>n. Es waren dann meist Fragmente e<strong>in</strong>er wilden Story<br />

oder Symbole, mit denen er anschließend sowieso nichts mehr<br />

anfangen konnte. Geschweige denn darüber zu fachsimpeln, dass<br />

eben solche Träume etwas mit der Realität oder zukünftigen Realität<br />

zu tun haben könnten.<br />

Bis zu jenen Nächten, <strong>in</strong> denen er mehrfach h<strong>in</strong>tere<strong>in</strong>ander<br />

e<strong>in</strong> und denselben Traum regelrecht durchlebte, <strong>in</strong>dem ihm se<strong>in</strong><br />

kürzlich verstorbener Großvater begegnete. Immer wieder befand<br />

sich Tom an e<strong>in</strong>em fremden Ort, der <strong>in</strong> e<strong>in</strong> sehr helles, aber<br />

angenehmes Licht e<strong>in</strong>gehüllt war. Da waren Bäume, Wiesen und<br />

wunderschöne Landschaften, wobei er sogar die Gesänge von<br />

Vögeln, das Rauschen von Blättern im W<strong>in</strong>d und gleichzeitig so<br />

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Der ungläubige Thomas<br />

etwas wie leise, angenehme Musik wahrnehmen konnte. Immer<br />

wenn er e<strong>in</strong>e große Wiese entlang g<strong>in</strong>g und dabei an e<strong>in</strong>er großen<br />

Eiche, die se<strong>in</strong> Großvater so sehr mochte, vorbeikam, stand dieser<br />

plötzlich vor ihm und überreichte ihm e<strong>in</strong>en Gegenstand, der undef<strong>in</strong>ierbar<br />

schien und nannte ihn dabei liebevoll »Tomy«, ganz<br />

so wie früher. Se<strong>in</strong> Großvater redete sogar von e<strong>in</strong>em Geschenk,<br />

welches er extra <strong>für</strong> se<strong>in</strong>en Enkel aufgehoben hatte. Dann lächelte<br />

ihn se<strong>in</strong> Großvater an und verschwand so plötzlich, wie er erschienen<br />

war. Immer direkt nach dieser Szene wachte Tom auf<br />

und musste manchmal mehrere Stunden über diese traumhafte<br />

Begegnung nachdenken. Se<strong>in</strong> Freund Rolf sowie auch Katja, die<br />

ja als die Traumexpert<strong>in</strong> galt, waren natürlich sehr erstaunt, als<br />

ausgerechnet Thomas ihnen e<strong>in</strong>e solche Geschichte servierte, waren<br />

sich aber beide e<strong>in</strong>ig, dass e<strong>in</strong> solcher Traum etwas zu bedeuten<br />

hätte und se<strong>in</strong> Kumpel fügte noch h<strong>in</strong>zu, dass es sich im Falle<br />

von Toms Traum vielleicht sogar um e<strong>in</strong>en tatsächlichen Kontakt<br />

zu se<strong>in</strong>em verstorbenen Großvater gehandelt haben könnte. Tom<br />

fragte sich erneut, wie solche eigentlich lieben und sonst so vernünftigen<br />

<strong>Menschen</strong> wie se<strong>in</strong>e Freunde, auf solch verrückte Ideen<br />

kommen konnten und war von der Idee, Kontakte zum sogenannten<br />

Jenseits zu pflegen, alles andere als angetan. Nichtsdestotrotz<br />

träumte er <strong>in</strong> den folgenden Nächten, mit e<strong>in</strong>igen kurzen Unterbrechungen,<br />

immer wieder von solchen oder ähnliche Szenen<br />

mit se<strong>in</strong>em verstorbenen Großvater und immer stand e<strong>in</strong> Gegenstand<br />

im Mittelpunkt, den se<strong>in</strong> Großvater ihm unbed<strong>in</strong>gt überrei-<br />

47


Der ungläubige Thomas<br />

chen wollte. Es war nicht gerade Toms Art, aber er wusste sich<br />

ke<strong>in</strong>en anderen Rat, als se<strong>in</strong>e alte Großmutter zu fragen, was sie<br />

von diesen, immer wiederkehrenden, Träumen halten würde. Er<br />

ertappte sich sogar bei dem Wunsch, e<strong>in</strong>en H<strong>in</strong>weis auf diesen<br />

mysteriösen Gegenstand, den se<strong>in</strong> Großvater ihm im Traum immer<br />

überreichen wollte, von se<strong>in</strong>er Großmutter zu erhalten. Dabei<br />

bemerkte er im Gespräch mit se<strong>in</strong>er Oma durchaus selbst, wie<br />

widersprüchlich se<strong>in</strong> Ans<strong>in</strong>nen, verglichen mit se<strong>in</strong>er E<strong>in</strong>stellung<br />

solchen D<strong>in</strong>gen gegenüber, ersche<strong>in</strong>en musste. Se<strong>in</strong>e Großmutter<br />

stutzte zunächst bei Toms Ausführungen bezüglich se<strong>in</strong>es Traumes,<br />

dennoch er<strong>in</strong>nerte sie sich tatsächlich an etwas wie e<strong>in</strong> Geschenk,<br />

welches ihr Mann <strong>für</strong> Tom anfertigen lassen wollte. Allerd<strong>in</strong>gs<br />

lag dies e<strong>in</strong>ige Zeit zurück. Toms Großvater hatte es <strong>in</strong><br />

der Zeit vor se<strong>in</strong>em Tod nicht mehr erwähnt und als es mit ihm<br />

zu Ende g<strong>in</strong>g, war dieser nicht mehr <strong>in</strong> der Lage, darüber zu sprechen.<br />

Toms Großvater verstarb nach e<strong>in</strong>er längeren Krankheit<br />

und war e<strong>in</strong>ige Zeit vor se<strong>in</strong>em Ableben nicht mehr klar im Kopf.<br />

Er fantasierte oft und brachte alles durche<strong>in</strong>ander. So gern sie es<br />

also getan hätte, Toms Oma konnte ihrem Enkel <strong>in</strong> dieser H<strong>in</strong>sicht<br />

wenig helfen. Nach se<strong>in</strong>em Gespräch mit se<strong>in</strong>er Großmutter war<br />

Tom diese merkwürdigen Träume plötzlich <strong>für</strong> e<strong>in</strong>e Zeit lang los.<br />

Er war eigentlich schon entschlossen, diese als Hirngesp<strong>in</strong>ste abzutun<br />

und e<strong>in</strong>fach zu vergessen. Doch <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Nacht, <strong>in</strong> der Tom<br />

e<strong>in</strong>fach nicht e<strong>in</strong>schlafen konnte, starrte er an die Zimmerdecke<br />

und fragte sich aus unerf<strong>in</strong>dlichen Gründen plötzlich, ob Träume<br />

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Der ungläubige Thomas<br />

tatsächlich, zum<strong>in</strong>dest manchmal, nicht vielleicht doch ganz besondere<br />

Bedeutung haben konnten. Während er so vor sich h<strong>in</strong>starrte,<br />

bemerkte er, dass nun genau das geschah, auf das er die<br />

ganze Zeit vergeblich gewartet hatte. Er wurde endlich langsam<br />

müde und e<strong>in</strong>e Art Schleier breitete sich <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Kopf aus. Irgendwie<br />

benebelte dieser Schleier Toms Gemüt, se<strong>in</strong>e Gedankengänge<br />

und wohl noch etwas mehr, wie er schnell feststellen sollte.<br />

Plötzlich fühlte er sich körperlich starr und hatte das Gefühl, ke<strong>in</strong>e<br />

Kontrolle über se<strong>in</strong>en Körper mehr zu haben. Was ihn eigentlich<br />

beunruhigen sollte, ließ ihn aber ganz im Gegenteil immer<br />

ruhiger und gelassener werden. Es war ihm so, als hätte jemand<br />

<strong>in</strong> se<strong>in</strong> Ohr geflüstert, dass er sich ke<strong>in</strong>e Sorgen machen müsste<br />

und alles, was nun geschehen würde, e<strong>in</strong>en besonderen S<strong>in</strong>n ergeben<br />

würde.<br />

Tom war bereit, dieser <strong>in</strong>neren Stimme zu folgen, als er das<br />

Gefühl hatte, zunächst sanft abzuheben und langsam davon zu<br />

schweben. Doch aus diesem Gefühl, langsam zu schweben, wird<br />

plötzlich e<strong>in</strong>e Art Katapultstart. Mit rasender Geschw<strong>in</strong>digkeit<br />

schießt er zunächst auf die Zimmerdecke zu und weiter durch sie<br />

h<strong>in</strong>durch. Er fühlt sich so, wie sich wohl e<strong>in</strong> Pilot fühlen muss,<br />

wenn dieser mit dem Schleudersitz aus se<strong>in</strong>er Masch<strong>in</strong>e herauskatapultiert<br />

wird. Noch bevor dieses Erlebnis zu e<strong>in</strong>em echten<br />

Schockmoment ausarten kann, hat er alle Räumlichkeit h<strong>in</strong>ter<br />

sich gelassen und rast weiter <strong>in</strong> das unendliche Nichts, während<br />

er sich dabei vollkommen befreit fühlt. Es ist e<strong>in</strong> sehr angeneh-<br />

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Der ungläubige Thomas<br />

mes Gefühl, welches verheißungsvoll und gleichzeitig abenteuerlich<br />

anmutet. Gerade dachte er noch, dass etwas von ihm direkt<br />

<strong>in</strong>s All katapultiert würde, während se<strong>in</strong> Körper e<strong>in</strong>fach zurückblieb.<br />

Doch nun s<strong>in</strong>d da weder Sterne, noch bietet sich ihm e<strong>in</strong><br />

Bild, welches an e<strong>in</strong>e ferne Galaxie er<strong>in</strong>nern würde. So abrupt wie<br />

se<strong>in</strong>e Reise begann, stoppt diese an e<strong>in</strong>em wunderschönen Ort,<br />

den er bereits kennt. Er hatte ja bereits zuvor immer wieder davon<br />

geträumt. E<strong>in</strong>e wunderbare Landschaft, wie aus e<strong>in</strong>em Gemälde,<br />

tut sich vor ihm auf. Er riecht das Grün der Wiesen, vernimmt das<br />

Rauschen der Bäume im W<strong>in</strong>d und fühlt regelrecht das Summen<br />

der Bienen. Es ist ihm, als würde er an e<strong>in</strong>em herrlichen Sommertag<br />

mitten im Garten Eden stehen und e<strong>in</strong>en Körper schien er auch<br />

noch zu besitzen. Zum<strong>in</strong>dest so etwas Ähnliches, wie er erstaunt<br />

feststellt, denn alles an ihm ist plötzlich e<strong>in</strong> wenig transparenter<br />

und irgendwie schwerelos. Und auch diese übernatürlich schönen<br />

Farben fallen ihm sofort auf. Schöner, als sie aus jeder möglichen<br />

Farbpalette hervorgegangen se<strong>in</strong> könnten. Dennoch sche<strong>in</strong>t diese<br />

Landschaft mehr gemalt, als real zu se<strong>in</strong>. Nur was Wirklichkeit<br />

oder Fantasie bedeuten, schien Tom <strong>in</strong> jenem Moment nicht<br />

mehr wirklich def<strong>in</strong>ieren zu können. Als er dennoch versucht, zu<br />

ergründen, was mit ihm geschieht, wird er erneut von Gefühlen<br />

regelrecht überwältigt. Denn wie <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Träumen zuvor, taucht<br />

plötzlich se<strong>in</strong> Großvater vor ihm auf. E<strong>in</strong>gehüllt <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Art Lichtschleier,<br />

den er bei jedem Schritt h<strong>in</strong>ter sich herzuziehen sche<strong>in</strong>t,<br />

kommt er direkt auf Tom zu. »Me<strong>in</strong> Junge, schön dich wieder zu<br />

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Der ungläubige Thomas<br />

sehen«, haucht se<strong>in</strong> Großvater ihm schon aus e<strong>in</strong>iger Entfernung<br />

entgegen und Tom kann nicht fassen, wie ihm geschieht. »Bist du<br />

es wirklich?«, entgegnet Tom fassungslos se<strong>in</strong>em Großvater, als<br />

dieser nun direkt vor ihm steht. »Ja, schon wieder, me<strong>in</strong> Junge«<br />

antwortet dieser mit e<strong>in</strong>em Strahlen <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Gesicht. »Aber du<br />

bist doch tot!«, bemerkt Tom e<strong>in</strong> wenig entsetzt und gleichzeitig<br />

auch erfreut, doch noch e<strong>in</strong>mal mit se<strong>in</strong>em geliebten Opa reden<br />

zu können. Doch im selben Moment bes<strong>in</strong>nt sich Tom wieder auf<br />

se<strong>in</strong>en eigenen Zustand und murmelt e<strong>in</strong> zaghaftes, »B<strong>in</strong> ich jetzt<br />

etwa auch … ?«, vor sich h<strong>in</strong>, als se<strong>in</strong> Großvater, noch bevor Tom<br />

die Frage beenden kann, abw<strong>in</strong>kt und beruhigend auf se<strong>in</strong>en Enkel<br />

e<strong>in</strong>geht. Wir s<strong>in</strong>d beide nicht das, was du unter tot verstehst.<br />

Du lebst nur <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er ganz anderen, de<strong>in</strong>er eigenen Realität auf<br />

e<strong>in</strong>er anderen Ebene und das tust du auch weiterh<strong>in</strong>, so lange, bis<br />

auch <strong>für</strong> dich die Zeit <strong>für</strong> Veränderungen gekommen ist, me<strong>in</strong><br />

Junge. Mach dir also ke<strong>in</strong>e Sorgen. Für dich ist es noch nicht so<br />

weit, mir zu folgen, aber du wolltest wissen, was Träume wirklich<br />

bedeuten und noch viel mehr, was unsere bisherigen Begegnungen<br />

zu bedeuten hatten.« Als Thomas plötzlich e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>malige<br />

Gelegenheit erfühlt, alle offenen Fragen hier und jetzt persönlich<br />

mit se<strong>in</strong>em Großvater klären zu können, hebt dieser se<strong>in</strong>e Hand,<br />

als wolle er der Euphorie se<strong>in</strong>es Enkels, die er sche<strong>in</strong>bar ganz<br />

ohne Worte vernimmt, stoppen wollen. »Wir haben nicht viel<br />

Zeit, Tom«, erwidert se<strong>in</strong> Großvater se<strong>in</strong>em nun doch wieder etwas<br />

enttäuschten Enkel. »Du musst wieder zurück <strong>in</strong> de<strong>in</strong>e Welt<br />

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Der ungläubige Thomas<br />

und de<strong>in</strong>e Großmutter wird dir etwas zeigen, was ich e<strong>in</strong>mal me<strong>in</strong><br />

Piratenversteck nannte. Dort habe ich <strong>für</strong> dich etwas h<strong>in</strong>terlegt,<br />

me<strong>in</strong> Junge. Nun geh und grüß de<strong>in</strong>e Großmutter ganz lieb von<br />

mir, versprichst du mir das,« fragte Toms Großvater be<strong>in</strong>ahe so,<br />

als wäre er nun regelrecht <strong>in</strong> Eile. »Natürlich Opa, aber was hast<br />

du denn nun h<strong>in</strong>terlegt«, sprudelte es aus Tom heraus, während<br />

se<strong>in</strong> Großvater sich e<strong>in</strong>fach umdreht und geht. Noch bevor Tom<br />

ihm folgen kann, spürt er deutlich e<strong>in</strong>en kräftigen Zug an se<strong>in</strong>em<br />

Genick oder vielleicht auch am H<strong>in</strong>terkopf. Be<strong>in</strong>ahe so, als wäre<br />

e<strong>in</strong> Gummi daran befestigt, welcher ihm zunächst die Freiheit gewährte,<br />

hierher zu gelangen, um ihn nun wieder zurückzuziehen.<br />

Mit e<strong>in</strong>em kräftigen Ruck und bevor Tom sich erklären kann, was<br />

geschieht, fällt er regelrecht <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en im Bett ruhenden Körper<br />

zurück und fühlt sofort wieder die Schwere, die er zuvor vollständig<br />

abgelegt hatte …<br />

E<strong>in</strong> wenig verstört blickte Thomas wieder auf die Zimmerdecke,<br />

wie schon vor se<strong>in</strong>er fantastischen Reise und gleichzeitig fuhr<br />

er erschrocken hoch. In se<strong>in</strong>em Bett sitzend, fühlte er nun se<strong>in</strong><br />

Herz wild schlagen, während er nach Luft rang. Sollte das wieder<br />

e<strong>in</strong> verrückter Traum gewesen se<strong>in</strong>? Doch da<strong>für</strong> waren diese<br />

E<strong>in</strong>drücke und jüngsten Erlebnisse zu echt gewesen und fühlten<br />

sich sogar jetzt noch immer sehr real an. Tom konnte, von se<strong>in</strong>em<br />

jüngsten Erlebnis noch gebannt, <strong>in</strong> dieser Nacht nicht wirklich gut<br />

schlafen. Am nächsten Morgen beschloss er, nicht erst mit se<strong>in</strong>en<br />

Freunden über se<strong>in</strong>en »Traum« oder dessen mögliche Bedeutung<br />

52


Der ungläubige Thomas<br />

zu diskutieren, sondern machte sich, noch e<strong>in</strong> wenig verschlafen,<br />

auf den Weg zu se<strong>in</strong>er Großmutter, die recht angetan war, ihren<br />

Enkel nun öfter als zuvor zu Gesicht zu bekommen. Kaum hatte<br />

er die Freude se<strong>in</strong>er Großmutter über se<strong>in</strong>en Besuch wie nebenbei<br />

zur Kenntnis genommen, sprudelte es aus ihm heraus und er<br />

berichtete ihr diesmal ausführlich von se<strong>in</strong>em Erlebnis oder wie<br />

auch immer er es nennen sollte. Als se<strong>in</strong>e Großmutter etwas von<br />

e<strong>in</strong>em Piratenversteck hörte, wurde sie sehr hellhörig und musste<br />

sogar lachen. Sie wusste ganz genau, um welche Stelle es sich<br />

handelte, aber nicht, was da zu f<strong>in</strong>den wäre und schon überhaupt<br />

nicht, wie ihr Enkel ausgerechnet jetzt, nach so langer Zeit, darauf<br />

kam. Früher, so eröffnete sie Tom, als er noch e<strong>in</strong> K<strong>in</strong>d war, hatte<br />

se<strong>in</strong> Großvater auf dem Dachboden oft mit ihm gespielt. Inhalt<br />

dieses lustigen Treibens waren nicht selten die Geschichten von<br />

Piraten und ihren Schätzen und so spielten beide solche Piratenabenteuer<br />

stundenlang, bis sie zum Essen gerufen wurden oder<br />

es schon spät und Zeit <strong>für</strong> Tom war, schlafen zu gehen. An das<br />

geheimnisvolle Piratenversteck er<strong>in</strong>nerte sich Toms Großmutter<br />

zwar noch, doch die Treppen h<strong>in</strong>auf auf den Dachboden konnte<br />

sie nun nicht mehr steigen und deshalb beschrieb sie Tom die<br />

Örtlichkeit des Piraten-Verstecks ganz genau. Als Tom den Dachboden<br />

betrat, kamen all die Er<strong>in</strong>nerungen wieder und er hätte<br />

wohl das besagte Versteck auch ohne die Beschreibung der Großmutter<br />

wiedergefunden. Es war e<strong>in</strong>e etwas breitere und längere<br />

als alle anderen Holzleisten im Boden des Dachstuhls, ganz <strong>in</strong> der<br />

53


Der ungläubige Thomas<br />

Nähe e<strong>in</strong>er Dachluke, welche se<strong>in</strong> Großvater anhob, um darunter<br />

die Schätze zu verstecken, die Piraten nun e<strong>in</strong>mal zu verbergen<br />

hatten. Als Tom nun diese alte Holzleiste anhob, fand er darunter,<br />

neben e<strong>in</strong> paar vergammelten Gummibärchen und diversen<br />

von Hand gezeichneten, vergilbten Schatzkarten, die er und se<strong>in</strong><br />

Großvater e<strong>in</strong>st zusammen angefertigt hatten, e<strong>in</strong>e Schachtel mit<br />

se<strong>in</strong>em Namen darauf. In dieser Schachtel lag e<strong>in</strong>e große, alte, silberne<br />

Uhr, die man aufklappen konnte. Als Tom dies tat, entdeckte<br />

er auf der Innenseite des silbernen Deckels e<strong>in</strong>e Inschrift, die<br />

ihn zu Tränen rührte: »Das was zu Dir gehört, wirst Du niemals<br />

verlieren können, und das was gehen will, wirst Du nicht halten<br />

können, doch am Ende kommt immer zusammen, was zusammen<br />

gehört …«<br />

Als er se<strong>in</strong>er Großmutter se<strong>in</strong>en Schatz ganz stolz präsentierte,<br />

musste auch sie we<strong>in</strong>en und sie er<strong>in</strong>nerte sich plötzlich, dass<br />

ihr geliebter Mann ihr tatsächlich etwas von se<strong>in</strong>er Uhr erzählt<br />

hatte, an der er sehr h<strong>in</strong>g und die er selbst e<strong>in</strong>st von se<strong>in</strong>em Vater<br />

geschenkt bekam. Nur von dieser Gravur wusste se<strong>in</strong>e Großmutter<br />

bis zu diesem Augenblick nichts und auch nicht über ihren<br />

Verbleib. Irgende<strong>in</strong>e Fügung des Schicksals musste ihrem Enkel<br />

dieses Erbstück zugetragen haben. »Ne<strong>in</strong> Oma, es war Großvater,«<br />

me<strong>in</strong>te Tom zu ihr, streichelte ihr durch ihr weißes Haar und fühlte<br />

tief <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Herzen, dass se<strong>in</strong>e Großmutter diesen Gedanken<br />

mit ihm teilte, während se<strong>in</strong> Großvater ganz sicher beiden zufrieden<br />

zusehen würde …<br />

54


Der ungläubige Thomas<br />

Wenn man e<strong>in</strong>mal davon ausgeht, dass es etwas gibt, dass nach<br />

dem körperlichen Tode bleibt, so kann dieses Etwas nicht der<br />

physische Körper se<strong>in</strong>. Was also bleiben könnte, wäre wohl dem<br />

ähnlich, was wir <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em sehr lebendigen Traum von uns selbst<br />

und unserem Umfeld wahrnehmen. Doch Träume nehmen bekanntlich<br />

selten den Verlauf, den man <strong>für</strong> sich wünschen würde,<br />

hätte man die Wahl. Vielleicht ist aber der Tod e<strong>in</strong> e<strong>in</strong>ziger Traum,<br />

<strong>in</strong>dem jeder genau das vermag. Also nichts weiter als e<strong>in</strong> Traum,<br />

<strong>in</strong>dem jeder selbst Regie führt.<br />

55


Glück und Leid liegen oft nahe beie<strong>in</strong>ander<br />

56


Glück und Leid liegen oft nahe beie<strong>in</strong>ander<br />

Glück und Leid liegen oft nahe<br />

beie<strong>in</strong>ander<br />

Katr<strong>in</strong> war sich nicht sicher, ob sie Lotte, ihre vierjährige Tochter,<br />

<strong>für</strong> den K<strong>in</strong>dergarten anmelden sollte. Obwohl Lotte von dieser<br />

Idee begeistert schien, zeigte sie sich im Allgeme<strong>in</strong>en, wie<br />

schon e<strong>in</strong>ige Zeit vorher, sehr verschlossen und <strong>in</strong> sich gekehrt.<br />

Es begann vor gut e<strong>in</strong>em Jahr, als Katr<strong>in</strong>s Tochter zum ersten Mal<br />

plötzlich andeutete, <strong>in</strong> den verschiedensten Situationen angeblich<br />

D<strong>in</strong>ge und vielleicht sogar Anwesende zu sehen, die außer ihr<br />

allerd<strong>in</strong>gs niemand wahrnehmen oder e<strong>in</strong>ordnen konnte. Lotte<br />

deutete zum Beispiel spontan auf e<strong>in</strong>en leeren Stuhl, begann mit<br />

irgendjemandem zu reden und me<strong>in</strong>te zudem, ihre Sachen mit<br />

diesem unsichtbaren Anwesenden auch unbed<strong>in</strong>gt teilen zu müssen.<br />

In dieser frühen, k<strong>in</strong>dlichen Phase dachte Katr<strong>in</strong> sofort an<br />

die allgeme<strong>in</strong> bekannten, imag<strong>in</strong>ären Freunde, die e<strong>in</strong> K<strong>in</strong>d sich<br />

manchmal e<strong>in</strong>bildet, weil ihm vielleicht andere, reale Spielkameraden<br />

fehlen oder es sich aus anderen Gründen e<strong>in</strong>sam fühlt.<br />

Dies vielleicht besonders deshalb, weil Lotte schon immer sehr<br />

viel Aufmerksamkeit brauchte, die Katr<strong>in</strong> ihr, auch aus gesundheitlichen<br />

Gründen, oftmals e<strong>in</strong>fach nicht geben konnte. Da es<br />

zudem <strong>für</strong> Katr<strong>in</strong> und ihren Mann Frank f<strong>in</strong>anziell nie wirklich<br />

gut aussah und sich beide immer tiefer <strong>in</strong> die Schuldenfalle manö-<br />

57


Glück und Leid liegen oft nahe beie<strong>in</strong>ander<br />

vrierten, hatte auch Lottes Vater selten Zeit <strong>für</strong> se<strong>in</strong>e kle<strong>in</strong>e Tochter,<br />

weil er zwangsläufig mehrere Jobs annehmen musste, um die<br />

kle<strong>in</strong>e Familie wenigstens halbwegs über Wasser zu halten. Abgesehen<br />

davon, dass Katr<strong>in</strong> ihren Mann auch <strong>in</strong> Sachen Nebenverdienst<br />

immer irgendwie, zum<strong>in</strong>dest e<strong>in</strong> wenig, unterstützte, hatte<br />

sich ihr Gesundheitszustand bereits seit ihrer Schwangerschaft<br />

mit Lotte immer mehr verschlechtert, ohne dass die eigentliche<br />

Ursache da<strong>für</strong>, aus der Sicht zahlreicher Ärzte, zu ergründen gewesen<br />

wäre. Die Rede war zunächst von Schwangerschaftsdepression,<br />

später wurden dann diverse Hormonstörungen und leichtere<br />

Schilddrüsenfehlfunktionen diagnostiziert. Anschließend war<br />

dann auch immer wieder von allgeme<strong>in</strong>en, psychosomatischen<br />

Störungen die Rede. In dieser schweren Zeit übernahmen Lottes<br />

Großeltern nicht selten die Aufsicht über ihre Enkel<strong>in</strong> und<br />

manchmal, wenn es e<strong>in</strong>fach nicht anders möglich war, mussten<br />

auch schon mal Freunde oder gute Bekannte <strong>für</strong> e<strong>in</strong>ige Stunden<br />

e<strong>in</strong>spr<strong>in</strong>gen. Dieser Zustand war <strong>in</strong> Katr<strong>in</strong>s Augen zwar alles andere<br />

als zufriedenstellend, aber <strong>in</strong> Anbetracht der allgeme<strong>in</strong> und<br />

f<strong>in</strong>anziell misslichen Lage, leider unvermeidbar.<br />

Doch Lottes Abwendung von ihren Eltern und e<strong>in</strong>e immer<br />

deutlichere Flucht <strong>in</strong> ihre eigene kle<strong>in</strong>e Welt nahmen langsam,<br />

aber stetig immer deutlichere Züge an. Die Phase, <strong>in</strong> der Lotte<br />

sich immer mehr auf ihre imag<strong>in</strong>ären Spielkameraden fixierte,<br />

erreichte ihren Höhepunkt, als Lotte mitten im Spiel hysterisch<br />

zu we<strong>in</strong>en und sogar zu schreien begann, weil jemand der poten-<br />

58


Glück und Leid liegen oft nahe beie<strong>in</strong>ander<br />

tiell Anwesenden angeblich böse zu ihr war und sie ausschimpfte.<br />

Katr<strong>in</strong> war am Boden zerstört und machte sich nun ernsthafte Gedanken<br />

um ihre kle<strong>in</strong>e Tochter. E<strong>in</strong>en Term<strong>in</strong> bei e<strong>in</strong>em Experten<br />

hatte sie zwar angemeldet, doch dieser sollte sich noch e<strong>in</strong>e Weile<br />

h<strong>in</strong>ziehen, denn schließlich sah, so wie zunächst auch ihre Eltern,<br />

niemand <strong>in</strong> Lottes »zeitweisem« Verhalten e<strong>in</strong>en echten <strong>Not</strong>fall.<br />

Doch als der ersehnte Term<strong>in</strong> endlich näher rückte, änderte sich<br />

Lottes fragwürdiges Verhalten ebenso deutlich und spontan, wie<br />

es begonnen hatte. Allerd<strong>in</strong>gs sah Katr<strong>in</strong> den Grund da<strong>für</strong> zunächst<br />

<strong>in</strong> ihrem eigenen Verhalten, welches sich, besonders aufgrund<br />

ihres sich mittlerweile bessernden Gesundheitszustandes,<br />

<strong>in</strong> Bezug auf ihre Tochter immer mehr zum Positiven veränderte.<br />

Endlich hatte sie wieder mehr Energie und konnte sich auch viel<br />

<strong>in</strong>tensiver um Lotte kümmern.<br />

Doch kaum hatten sich die Wogen <strong>in</strong>sgesamt wieder e<strong>in</strong> wenig<br />

geglättet, traf die kle<strong>in</strong>e Familie e<strong>in</strong> weiterer, schwerer Schicksalsschlag.<br />

Katr<strong>in</strong>s Mann wurde plötzlich durch e<strong>in</strong>en tragischen<br />

Autounfall aus dem Leben gerissen und erneut erlebte Katr<strong>in</strong> den<br />

tiefen Fall <strong>in</strong> die Depression, auch <strong>in</strong> weitere f<strong>in</strong>anzielle Krisen<br />

und immer wieder auch <strong>in</strong> die pure Verzweiflung. Das war e<strong>in</strong>e<br />

Zeit, <strong>in</strong> der sich auch Lotte wieder von allem abzuwenden begann<br />

und sich vollkommen <strong>in</strong> sich zurückzog. Diesmal aber waren sich<br />

alle Beteiligten hundertprozentig sicher, dass Lottes erneut ungewöhnliches<br />

Verhalten mit dem plötzlichen Verlust ihres Vaters zu<br />

tun haben musste. Während auch Katr<strong>in</strong> immer tiefer <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Art<br />

59


Glück und Leid liegen oft nahe beie<strong>in</strong>ander<br />

Seelenloch zu fallen begann, konzentrierte sich ihre kle<strong>in</strong>e Lotte<br />

immer mehr auf ihre imag<strong>in</strong>äre Welt. Katr<strong>in</strong>, mit den Nerven<br />

am Ende, versuchte zwar verzweifelt diesen Prozess aufzuhalten,<br />

sah sich aber selbst außerstande, die Energie dazu aufzubr<strong>in</strong>gen,<br />

ihrer Tochter zu helfen. Immer wieder saß sie bis <strong>in</strong> die tiefe<br />

Nacht <strong>in</strong> der Küche, starrte auf e<strong>in</strong> Bild ihres geliebten Frank<br />

und we<strong>in</strong>te sich regelrecht <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en tranceähnlichen Zustand, der<br />

sie dann manchmal, wenigstens <strong>für</strong> wenige Stunden, e<strong>in</strong>schlafen<br />

ließ. Nicht selten geschah dies am Küchentisch selbst, an dem<br />

sie dann etwas später mit dem Kopf <strong>in</strong> ihren verschränkten Armen<br />

wieder aufwachte. Und es kam mehrfach vor, dass Lotte sie<br />

so vorfand und umarmte, um damit ihre Mama zu trösten. Katr<strong>in</strong><br />

wusste natürlich sehr wohl, dass es nicht so weitergehen durfte,<br />

weil ihr schließlich die Rolle e<strong>in</strong>er tröstenden Mutter zugedacht<br />

war und es sich nicht umgekehrt zutragen durfte. Sie hatte aber<br />

nicht die ger<strong>in</strong>gste Idee, wie sie dies <strong>in</strong> ihrem Zustand ändern<br />

sollte. Ihre Eltern unterstützten Katr<strong>in</strong>, wo sie konnten, hatten<br />

aber, besonders im f<strong>in</strong>anziellen Bereich, wenig Möglichkeiten, da<br />

sie selbst nur von e<strong>in</strong>er kle<strong>in</strong>en Rente leben mussten. Sie konnten<br />

ihre Enkel<strong>in</strong> zwar <strong>für</strong> e<strong>in</strong>e Zeit zu sich nehmen, wussten aber<br />

auch, dass Lotte die Nähe ihrer Mutter dr<strong>in</strong>gend brauchte. Auch<br />

Freunde konnten Katr<strong>in</strong> über ihren Verlust kaum h<strong>in</strong>wegtrösten<br />

oder ihr die grundlegenden Pflichten als Mutter e<strong>in</strong>fach so abnehmen,<br />

versuchten aber natürlich ihr Möglichstes. Die junge Mutter<br />

fühlte sich dennoch alle<strong>in</strong> und überfordert, war aber bereit,<br />

60


Glück und Leid liegen oft nahe beie<strong>in</strong>ander<br />

alles zu tun, um ihrem K<strong>in</strong>d wenigstens e<strong>in</strong>e halbwegs normale,<br />

unbeschwerte K<strong>in</strong>dheit zu ermöglichen. Doch mit ihren erneut<br />

zunehmenden gesundheitlichen Problemen und dem wachsenden<br />

Schuldenberg, der schon zu Lebzeiten ihres Mannes an ihren<br />

Nerven gezerrt hatte, schien ihr das unmöglich. Hilflos sah<br />

sie zu, wie Lotte ihr entglitt und sich mehr und mehr <strong>in</strong> sich zurückzog.<br />

Deshalb war es <strong>für</strong> Katr<strong>in</strong> nicht besonders ungewöhnlich,<br />

als Lotte plötzlich begann, sogar mit ihrem verstorbenen Vater zu<br />

sprechen. Auch die Großeltern und Freunde waren sich darüber<br />

e<strong>in</strong>ig, dass das Lottes Art war, um ihren Papa zu trauern. Doch irgendetwas<br />

war so ganz anders, als Katr<strong>in</strong> es sich unter e<strong>in</strong>er Trauerphase<br />

ihrer Tochter vorstellen konnte. Lotte war bei all ihrem<br />

ungewöhnlichen Verhalten dennoch wieder etwas fröhlicher und<br />

besonders <strong>in</strong> ihrer Art, mit diesen unsichtbaren Besuchern oder<br />

was auch immer es war, umzugehen, gab sich Katr<strong>in</strong>s Tochter viel<br />

lockerer als zuvor. Manchmal sah es tatsächlich so aus, als würde<br />

Lotte jemandem genau zuhören und auch verstehen, was dieser<br />

sagte. Katr<strong>in</strong> beobachtete ihre Kle<strong>in</strong>e irgendwann plötzlich noch<br />

etwas genauer als je zuvor und wunderte sich dabei über ihr eigenes<br />

Verhalten. Sie ertappte sich, bei solchen Sche<strong>in</strong>gesprächen<br />

ihrer Tochter so <strong>in</strong>tensiv h<strong>in</strong>zuhören, als würde sie selbst erwarten,<br />

tatsächlich e<strong>in</strong>en weiteren, fremden Gesprächspartner heraushören<br />

zu können.<br />

Wahrsche<strong>in</strong>lich wohl deshalb, weil ihre Kle<strong>in</strong>e immer wieder<br />

jemanden aus dieser Sche<strong>in</strong>welt mit Papi anredete. Und zwar<br />

61


Glück und Leid liegen oft nahe beie<strong>in</strong>ander<br />

ganz so, wie sie es tat, als Frank noch lebte. Es kam zum Beispiel<br />

mehrfach vor, dass Lotte fröhlich gelaunt auf Katr<strong>in</strong> zukam, ihr<br />

e<strong>in</strong> Buch mit Blumenbildern zeigte und dazu sagte : »Papa hat dich<br />

ganz doll lieb !« In solchen Momenten konnte Katr<strong>in</strong> ihre Tränen<br />

nicht mehr zurückhalten, nahm Lotte <strong>in</strong> den Arm und bemühte<br />

sich ihrer Tochter ebenfalls so viel Trost zu schenken, wie es ihr<br />

unter den gegebenen Umständen nur möglich war. Doch immer<br />

mehr beschlich Katr<strong>in</strong> der Gedanke, dass Lotte den Trost weniger<br />

brauchte als sie selbst und <strong>für</strong> e<strong>in</strong>ige Momente kamen ihr Lottes<br />

Gesten und »Selbstgespräche« unendlich real vor, was sie sich allerd<strong>in</strong>gs<br />

<strong>in</strong> ke<strong>in</strong>em Moment erklären konnte.<br />

Sollte an e<strong>in</strong>em Leben nach dem Tod vielleicht wirklich etwas<br />

dran se<strong>in</strong>? Das fragte sie sich ab und zu. Ihre Eltern waren davon,<br />

aus ihr unerf<strong>in</strong>dlichen Gründen, sogar überzeugt. Sie versuchten<br />

ihrer Katr<strong>in</strong> auch immer wieder Mut zuzusprechen, <strong>in</strong>dem sie<br />

ihr sagten, dass Gott letztendlich alles zum Guten führen würde,<br />

wenn sie nur daran glauben könnte. Doch nach dem tragischen<br />

Tod ihres geliebten Mannes und all den Schicksalsschlägen zuvor,<br />

hatte Katr<strong>in</strong> den Glauben an Gott und verme<strong>in</strong>tliche Engel gänzlich<br />

verloren. Vielleicht sogar zu Recht, denn trotz all dem Leid<br />

und der Verzweiflung, die Katr<strong>in</strong> mit Lotte zu ertragen hatte, gab<br />

dieser angebliche, heilbr<strong>in</strong>gende Gott sich sche<strong>in</strong>bar noch immer<br />

nicht zufrieden. Der Gerichtsvollzieher stand kurze Zeit später vor<br />

Katr<strong>in</strong>s Tür, denn es gab e<strong>in</strong>fach zu viele unbezahlte Rechnungen<br />

und <strong>in</strong> all den Wirren der letzten Zeit waren e<strong>in</strong>ige davon leider<br />

62


Glück und Leid liegen oft nahe beie<strong>in</strong>ander<br />

auch zu lange unbeachtet geblieben. Aber trotzdem musste das<br />

Leben weitergehen. Auch wenn Katr<strong>in</strong> der Me<strong>in</strong>ung war, dass ihr<br />

eigenes Leben kaum noch lebenswert wäre, wollte sie wenigstens<br />

<strong>für</strong> ihr K<strong>in</strong>d alles tun und weiter um e<strong>in</strong> wenig Glück kämpfen.<br />

E<strong>in</strong>es Abends, es war e<strong>in</strong> Samstag, saß Katr<strong>in</strong> vor dem Fernseher.<br />

Bei e<strong>in</strong>em Glas We<strong>in</strong> und e<strong>in</strong>er lustigen Komödie im Fernsehen<br />

erhoffte sie sich e<strong>in</strong> wenig Ablenkung von all dem Stress<br />

der vergangenen Tage. Auch e<strong>in</strong> paar Teelichter hatte sie an diesem<br />

Abend angezündet. Nicht aus e<strong>in</strong>em wirklichen Gefühl der<br />

Bes<strong>in</strong>nlichkeit heraus. Es war vielmehr e<strong>in</strong>e Er<strong>in</strong>nerung an das<br />

Wenige dass ihrem Mann und ihr bis zu se<strong>in</strong>em plötzlichen Tod,<br />

neben all dem Stress und der Hektik des Alltags, noch geblieben<br />

war. Ab und zu e<strong>in</strong> paar wenige Stunden der trauten Zweisamkeit,<br />

bei e<strong>in</strong>em guten Film und e<strong>in</strong>em Gläschen We<strong>in</strong>, den beide gern<br />

mochten. Zu mehr fehlte oft die Zeit, das Geld oder nicht selten<br />

beides. »Gott, warum hast du uns das angetan!«, seufzte Katr<strong>in</strong>,<br />

<strong>in</strong> Gedanken an ihren Frank versunken, leise vor sich h<strong>in</strong> und<br />

nur e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>zige, w<strong>in</strong>zige Träne rann an ihrer Wange h<strong>in</strong>unter.<br />

Nicht e<strong>in</strong>mal mehr Tränen konnte sie noch we<strong>in</strong>en, fiel ihr auf<br />

und sie fühlte sich noch leerer und ausgebrannter, als schon zuvor.<br />

Gleichzeitig sah sie das Bild ihres Mannes, diesmal vor ihrem<br />

<strong>in</strong>neren Auge, als plötzlich die Teelichter auf dem Wohnzimmertisch<br />

zu tanzen begannen. Ganz verblüfft über die Kerzen, die<br />

ausgerechnet <strong>in</strong> dem Moment heftig zu flackern begannen, als sie<br />

<strong>in</strong> Gedanken bei ihrem Mann war, fragte Katr<strong>in</strong> über sich selbst<br />

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Glück und Leid liegen oft nahe beie<strong>in</strong>ander<br />

irgendwie verwundert und spontan : »Bist du hier, Frank, bist du<br />

es ?« Wieder flackerten die Kerzen, be<strong>in</strong>ahe so, als würde etwas<br />

durch sie Katr<strong>in</strong>s Vermutung bestätigen wollen. Dennoch verwarf<br />

Katr<strong>in</strong> solche Gedanken gleich wieder. »Was tat sie da?« Das fragte<br />

sie sich. Ihr Frank war tot und beerdigt und so hart es sie auch <strong>in</strong><br />

jedem e<strong>in</strong>zelnen Moment seit dieser Zeit traf, so unabänderlich<br />

war es. Natürlich dachte sie, Lotte würde schon längst schlafen<br />

und hätte von all dem nichts mitbekommen, als diese plötzlich mit<br />

ihrem Liebl<strong>in</strong>gsteddy unter ihrem Arm <strong>in</strong> der Tür stand und ihre<br />

Mama anlächelte, ja be<strong>in</strong>ahe anstrahlte. Als Katr<strong>in</strong> fragte, was ihr<br />

fehlen würde, me<strong>in</strong>te Lotte nur, dass ihr Papi doch da wäre und<br />

w<strong>in</strong>kte sche<strong>in</strong>bar ihrem, <strong>für</strong> Katr<strong>in</strong> unsichtbaren Vater, aufgeregt<br />

zu. Dabei sah sie zunächst ständig <strong>in</strong> Richtung des Wohnzimmerschranks,<br />

der <strong>in</strong> der gegenüberliegenden Ecke des Zimmers direkt<br />

neben dem Fernseher stand und bewegte sich auch geradewegs<br />

auf diesen zu, während sie ihrer Mutter mit e<strong>in</strong>er Geste zu verstehen<br />

gab, sie sollte ebenfalls dorth<strong>in</strong> sehen. Die Komödie war<br />

mittlerweile schon längst vorbei und als Katr<strong>in</strong> dieses seltsame<br />

Verhalten ihrer Tochter zu analysieren versuchte, bemerkte sie<br />

ganz nebenbei, dass schon e<strong>in</strong>e ganze Zeit verstrichen se<strong>in</strong> musste,<br />

denn die Lottozahlen wurden bereits, spät am Abend, gezogen.<br />

Auch Lotte stand mittlerweile nah am Wohnzimmerschrank, allerd<strong>in</strong>gs<br />

waren ihre Blicke jetzt auf den Fernseher gerichtet. Doch,<br />

so fragte sich Katr<strong>in</strong>, warum sah Lotte im Zusammenhang mit der<br />

angeblichen Anwesenheit ihres Vaters plötzlich wie gebannt <strong>in</strong><br />

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Glück und Leid liegen oft nahe beie<strong>in</strong>ander<br />

Richtung Fernsehapparat, hielt im l<strong>in</strong>ken Arm ihren Teddy und<br />

zeigte mit der rechten Hand immer auf den Wohnzimmerschrank<br />

direkt daneben? Lottes Augen schienen dabei sogar irgendwie<br />

starr und glasig, was Katr<strong>in</strong> noch mehr beunruhigte. »Lotti me<strong>in</strong><br />

Schatz, komm e<strong>in</strong>mal zu mir,« stammelte Katr<strong>in</strong> ganz verdutzt<br />

und streckte ihrer Tochter dabei die Arme entgegen. Doch Lotte<br />

bestand mit e<strong>in</strong>em F<strong>in</strong>gerzeig und e<strong>in</strong>em energischen Kopfschütteln<br />

förmlich darauf, dass ihre Mutter ihre Aufmerksamkeit<br />

genau auf den Schrank richtete, sah dabei weiter stur <strong>in</strong> den<br />

Fernsehapparat bis die Lottoziehung sich dem Ende neigte und<br />

unterstrich ihr merkwürdiges Verhalten mit den Worten: »Papa<br />

möchte mit dir spielen, Mami.« Katr<strong>in</strong> war nun völlig verwirrt und<br />

fühlte sich gleichzeitig h<strong>in</strong>- und hergerissen, diese Geschichte von<br />

der angeblichen Anwesenheit ihres Mannes tatsächlich ernst zu<br />

nehmen oder nur wieder als re<strong>in</strong>es Fantasiegebilde ihrer Tochter<br />

zu abzutun. »Aber Schätzchen, da ist doch niemand!«, versuchte<br />

sie ihrer Tochter <strong>in</strong>s Gewissen zu reden. Diese aber wollte sich<br />

nicht beirren lassen, stellte sich noch näher an den Fernseher und<br />

zeigte dabei weiter auf den Wohnzimmerschrank. »Spielst du jetzt<br />

auch mit Papa?«, wollte Lotte erneut wissen. Zwischen der Gänsehaut,<br />

erzeugt durch e<strong>in</strong> erneutes Flackern der Teelichter auf dem<br />

Tisch vor ihr und der Szene, die ihre Tochter ihr bot, kam Katr<strong>in</strong><br />

plötzlich e<strong>in</strong> <strong>für</strong> sie ebenfalls verrückter Gedanke. Vielleicht könnte<br />

dieses verwirrende Szenario tatsächlich e<strong>in</strong>en Hauch von S<strong>in</strong>n<br />

ergeben, dachte sie. Kaum war sie gedanklich <strong>in</strong> diese Richtung<br />

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Glück und Leid liegen oft nahe beie<strong>in</strong>ander<br />

abgeglitten, beruhigten sich die Kerzenlichter, Lotte kam lachend<br />

auf ihre Mutter zu, umarmte sie und setzte sich zu ihr auf das Sofa.<br />

Katr<strong>in</strong>s Mund stand vor Entsetzen zwar noch immer offen und ihr<br />

Herz raste vor Aufregung, aber wie durch e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>nere Stimme<br />

geführt, trottete Katr<strong>in</strong> zum Wohnzimmerschrank, auf den ihre<br />

Tochter die ganze Zeit gezeigt hatte. In diesem befand sich nämlich<br />

auch die Brieftasche ihres Mannes. Frank hatte immer wieder<br />

e<strong>in</strong>mal Lotto gespielt, obwohl beide nicht wirklich an e<strong>in</strong> Wunder<br />

geglaubt hatten. Deshalb und auch weil sie es sich nicht leisten<br />

konnten, versprach ihr Frank, vorerst nicht mehr zu spielen.<br />

Doch als Katr<strong>in</strong> Franks Brieftasche <strong>in</strong> die Hand nahm, fiel ihr e<strong>in</strong>e<br />

Ecke e<strong>in</strong>es Spielsche<strong>in</strong>es auf, der aus dem Innenfach herauslugte.<br />

Während Lotte ihr die ganze Zeit zustimmend zusah, nahm Katr<strong>in</strong><br />

mit angehaltenem Atem den Lottosche<strong>in</strong> aus Franks Brieftasche<br />

und begann die Zahlen auf dem Sche<strong>in</strong> ihres Mannes mit den Zahlen<br />

im Fernsehen zu vergleichen. Natürlich hatte Katr<strong>in</strong> ke<strong>in</strong>en<br />

Grund gesehen, während der Ziehung mitzuschreiben und konnte<br />

bei der gerade stattf<strong>in</strong>denden Zusammenfassung d er gezogenen<br />

Gew<strong>in</strong>nzahlen nur noch wenige Zahlen erkennen. Doch was<br />

sie <strong>in</strong> dieser kurzen Zeit noch sehen konnte, machte ihr durchaus<br />

e<strong>in</strong> wenig Hoffnung. Aus wenig wurde dann schnell mehr. Als sie<br />

am nächsten Tag erneut die Zahlen verglich, konnte sie es nicht<br />

fassen. Ihr Mann hatte nicht nur heimlich gespielt, sondern auch<br />

gewonnen!<br />

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Glück und Leid liegen oft nahe beie<strong>in</strong>ander<br />

Wie sich am darauf folgenden Tag herausstellte, zwar nicht den<br />

großen Jackpot, aber immerh<strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Summe von rund zweiundneunzigtausend<br />

Euro. Damit konnte sie nicht nur ihre Schulden<br />

begleichen, sondern sie hatte genug, um ihre Sorgen <strong>in</strong> Bezug<br />

auf die f<strong>in</strong>anzielle Zukunft ihrer kle<strong>in</strong>en Familie zunächst e<strong>in</strong>mal<br />

vergessen zu können. Frank hatte nur wenige Zahlenreihen auf<br />

dem Spielsche<strong>in</strong> angekreuzt, da<strong>für</strong> aber die Spielzeit auf Dauer<br />

festgelegt und den Betrag vom geme<strong>in</strong>samen Konto abbuchen lassen,<br />

was Katr<strong>in</strong> bei all dem Stress natürlich nicht aufgefallen war.<br />

Hätte sie diesen Lottosche<strong>in</strong> nicht entdeckt, wäre der Gew<strong>in</strong>n irgendwann<br />

e<strong>in</strong>fach verfallen und die Erlösung wäre ihr und Lotte<br />

verwehrt geblieben. Manchmal ist es eben doch nicht so falsch,<br />

an Wunder zu glauben und da<strong>für</strong> sogar die e<strong>in</strong> oder andere Abmachungen<br />

nicht ganz so ernst zu nehmen, dachte Katr<strong>in</strong> mit e<strong>in</strong>em<br />

Lächeln tief <strong>in</strong> ihrem Innern.<br />

Immer wenn sie heute an Frank denkt, dann <strong>in</strong> der festen<br />

Überzeugung, dass er sicher ganz <strong>in</strong> ihrer Nähe ist. Sie ist nun<br />

auch davon überzeugt, dass Lotte und ihr Vater geme<strong>in</strong>sam e<strong>in</strong><br />

Wunder vollbracht haben. Dabei sieht Katr<strong>in</strong> das größere Wunder<br />

natürlich nicht nur <strong>in</strong> der Tatsache, heute schuldenfrei zu<br />

se<strong>in</strong>, sondern dar<strong>in</strong>, ihren Glauben an Gott und das ewige Leben<br />

wiedergefunden zu haben. Sehr oft, wenn sie heute nämlich e<strong>in</strong>e<br />

Kerze anzündet und mit ihrem Frank redet, beg<strong>in</strong>nt diese anschließend<br />

zu flackern. Be<strong>in</strong>ahe so, als würde Frank durch sie antworten.<br />

Und heute ist Katr<strong>in</strong> dieser Gedanke auch nicht mehr so<br />

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Glück und Leid liegen oft nahe beie<strong>in</strong>ander<br />

fremd wie e<strong>in</strong>st. Ganz im Gegenteil ist sie heute davon überzeugt,<br />

dass irgende<strong>in</strong> S<strong>in</strong>n <strong>in</strong> allem steckt, auch wenn man diesen nicht<br />

gleich erkennen kann oder will, weil das Schicksal manchmal unerbittlich<br />

ersche<strong>in</strong>t. Und sie hat auch davon erfahren, dass gerade<br />

kle<strong>in</strong>e K<strong>in</strong>der sehr oft noch mit höheren Sphären verbunden s<strong>in</strong>d.<br />

Jenen Gefilden, aus denen wir alle e<strong>in</strong>st hervorgegangen s<strong>in</strong>d und<br />

<strong>in</strong> die wir e<strong>in</strong>es Tages wieder zurückkehren werden, so wie auch<br />

ihr Frank. Wenn sich also e<strong>in</strong> K<strong>in</strong>d mit e<strong>in</strong>em unsichtbaren Spielgefährten<br />

befasst, könnte es durchaus se<strong>in</strong>, dass dieser auch tatsächlich<br />

existiert.<br />

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E<strong>in</strong> Engel <strong>in</strong> Gestalt e<strong>in</strong>er Taube<br />

E<strong>in</strong> Engel <strong>in</strong> Gestalt e<strong>in</strong>er Taube<br />

Manchmal begegnen uns <strong>Menschen</strong>, die wir nicht gleich verstehen<br />

und die e<strong>in</strong>em nur deshalb merkwürdig ersche<strong>in</strong>en, weil sie<br />

überwiegend nur <strong>in</strong> ihrer eigenen Welt existieren und ihr Verhalten<br />

deshalb paradox oder sogar beängstigend ersche<strong>in</strong>t. Dennoch<br />

könnte es sich dabei um solche Zeitgenossen handeln, die<br />

uns an Lebenserfahrung weit voraus oder e<strong>in</strong>fach nur <strong>in</strong> der Lage<br />

s<strong>in</strong>d, über den Tellerrand h<strong>in</strong>auszublicken. Wie zum Beispiel im<br />

Fall von Lene, e<strong>in</strong>e Frau Mitte siebzig, die alle <strong>in</strong> ihrem Umkreis<br />

nur die verrückte Lene nannten. Sie hatte e<strong>in</strong>ige Jahre zuvor ihren<br />

geliebten Mann verloren und war fest davon überzeugt, dass<br />

dieser noch immer mit ihr kommunizieren würde. Familie hatte<br />

die ältere Dame nicht mehr und <strong>für</strong> ihre Bekannten und Nachbarn<br />

waren diese angeblichen, himmlischen Kontakte natürlich<br />

e<strong>in</strong>e Art der Trauerbewältigung oder auch e<strong>in</strong>fach nur die Hirngesp<strong>in</strong>ste<br />

e<strong>in</strong>er sehr e<strong>in</strong>sam gewordenen, vielleicht schon etwas<br />

dementen, aber dennoch liebenswerten Rentner<strong>in</strong>. Sie wohnte<br />

im Erdgeschoss e<strong>in</strong>es Mehrfamilienhauses und dachte nicht im<br />

Traum daran, <strong>in</strong> e<strong>in</strong> Seniorenheim umzusiedeln. Schließlich fühlte<br />

sie sich noch viel zu jung dazu. Ab und an bekam sie Besuch von<br />

ihrer besten Freund<strong>in</strong> Käte, die nur zwei Häuserblocks entfernt<br />

wohnte und manchmal kamen auch zwei Mitbewohner<strong>in</strong>nen des<br />

Hauses auf e<strong>in</strong>e Tasse Kaffee vorbei. Lene war noch immer sehr<br />

69


E<strong>in</strong> Engel <strong>in</strong> Gestalt e<strong>in</strong>er Taube<br />

kontaktfreudig, unterhielt sich gern mit Nachbarn beim E<strong>in</strong>kauf<br />

oder auf der Straße und war <strong>für</strong> jeden Tratsch im Treppenhaus zu<br />

haben. Dabei erzählte sie allen gern von Walter, ihrem verstorbenen<br />

Mann. Immer wieder deutete sie dabei allzu gern an, dass<br />

Walter früher leidenschaftlich Tauben züchtete und sogar e<strong>in</strong>ige<br />

Erfolge auf entsprechenden Ausstellungen mit ihnen erzielte. Immer<br />

wenn heute e<strong>in</strong>e Taube zu ihr aufs Fensterbrett fliegen und<br />

an ihre Scheibe klopfen würde, wüsste sie genau, dass ihr Walter<br />

sie damit aus dem Himmel grüßen würde, fügte sie dann noch<br />

wie selbstverständlich h<strong>in</strong>zu. Jeder im Haus und auch viele Nachbarn<br />

im näheren Umkreis kannten Lenes Liebl<strong>in</strong>gsmärchen, wie<br />

alle ihre exotischen Geschichten mittlerweile zu nennen pflegten.<br />

Allerd<strong>in</strong>gs gab es so e<strong>in</strong>ige Zeitgenossen, denen diese Geschichten<br />

auch so langsam auf die Nerven fielen. Natürlich wollte es ihr<br />

niemand direkt <strong>in</strong>s Gesicht sagen. Ihr Mann war nun zwar schon<br />

über drei Jahre tot, aber manche <strong>Menschen</strong> trauerten eben länger<br />

als andere. Selbst ihre Freund<strong>in</strong> Käte machte sich langsam Sorgen<br />

um Lenes Zustand. Walter me<strong>in</strong>te dies und Walter sagte das<br />

– das wurde immer mehr auch zum Gesprächsthema zwischen<br />

den langjährigen Freund<strong>in</strong>nen. Käte kannte auch Walter noch zu<br />

se<strong>in</strong>en Lebzeiten und hatte selbst ihren Lebensgefährten e<strong>in</strong>ige<br />

Jahre zuvor zu Grabe tragen müssen. Auch sie kannte natürlich<br />

Verlust und Trauer. Dennoch empfand sie das Verhalten ihrer<br />

Freund<strong>in</strong> etwas zu übertrieben und wollte Lene, auch auf Anraten<br />

von Bekannten aus der Umgebung, e<strong>in</strong>mal <strong>in</strong>s Gewissen reden.<br />

70


E<strong>in</strong> Engel <strong>in</strong> Gestalt e<strong>in</strong>er Taube<br />

Sie verabredete sich <strong>für</strong> den nahen Sonntag mit Lene zum Kaffee.<br />

Da der W<strong>in</strong>ter sich bereits mit Frost und Schnee angemeldet hatte,<br />

war das Freizeitangebot <strong>für</strong> die beiden älteren Damen ohneh<strong>in</strong><br />

sehr begrenzt. Dass dieser Umstand besonders <strong>für</strong> ihre Freund<strong>in</strong><br />

zu ersten Zeichen der Vere<strong>in</strong>samung und neuen Visionen ihren<br />

Walter betreffend führen konnte, wusste Käte nur selbst zu gut.<br />

Dies wurde aus der Nachbarschaft auch immer wieder bestätigt,<br />

<strong>in</strong>dem neue Geistergeschichten, die Lene <strong>in</strong> die Welt setzte, die<br />

Runde machten. Das wurde sogar Käte allmählich pe<strong>in</strong>lich. Aufgrund<br />

der Wetterlage und des ger<strong>in</strong>gen Freizeitangebotes <strong>für</strong> Senioren<br />

traf man sich seit e<strong>in</strong>iger Zeit wieder abwechselnd e<strong>in</strong>mal<br />

bei Käte und dann wieder bei Lene zu Hause zum Nachmittagsplausch<br />

bei e<strong>in</strong>er Tasse Kaffee. Diesmal war es an Lene, den Kaffeetisch<br />

zu decken. Sie buk zu diesem Anlass sogar e<strong>in</strong>en Kuchen.<br />

Als Lene ihren beliebten Apfelstrudel aus dem Ofen holte, wusste<br />

sie noch nichts von dem ihr bevorstehenden, ernsten Gespräch<br />

mit ihrer Freund<strong>in</strong>. Sie war fröhlich wie immer und deckte den<br />

Tisch mit e<strong>in</strong>em fröhlichen Pfeifen auf den Lippen. So laut, dass<br />

e<strong>in</strong>e genervte Nachbar<strong>in</strong> schon an die Wand der Nachbarwohnung<br />

klopfte, was Lene herzlich wenig störte. Ihr Walter würde es wohl<br />

genauso sehen, dachte Lene, als sie <strong>in</strong> ihrer lustigen, fröhlichen<br />

Art die Türe öffnete, als es an diesem Sonntag Nachmittag pünktlich<br />

um sechzehn Uhr an ihrer Türe kl<strong>in</strong>gelte und ihre Freund<strong>in</strong><br />

Käte, mit e<strong>in</strong>em etwas betroffenen Gesichtsausdruck und e<strong>in</strong>em<br />

von noch e<strong>in</strong> wenig Schnee bedeckten Mantel, vor ihr stand. Es<br />

71


E<strong>in</strong> Engel <strong>in</strong> Gestalt e<strong>in</strong>er Taube<br />

schneite schon den ganzen Tag und obwohl ihre Freund<strong>in</strong> nur<br />

circa fünf M<strong>in</strong>uten Fußweg zurücklegen musste, hatte Lene zwischenzeitlich<br />

schon be<strong>für</strong>chtet, der Nachmittagsplausch würde<br />

vielleicht ausfallen. Doch auf ihre Freund<strong>in</strong> war Verlass und Käte<br />

ließ sich nicht so schnell von den D<strong>in</strong>gen abhalten, die sie sich<br />

e<strong>in</strong>mal vorgenommen hatte. Also hatte Lene ihre Be<strong>für</strong>chtungen<br />

gleich wieder verworfen. Sie freute sich nur e<strong>in</strong>fach wie e<strong>in</strong> kle<strong>in</strong>es<br />

K<strong>in</strong>d, dass Käte nun vor ihr stand. Doch diese Freude schien<br />

ihre beste Freund<strong>in</strong> heute nicht mit ihr teilen zu wollen, wie Lene<br />

sofort aufgefallen war. Käte strich noch die letzten Schneeflocken<br />

von ihrem Mantel, bevor sie ihn an die Garderobe h<strong>in</strong>g und anmerkte,<br />

von Lenes guter Laune offensichtlich wenig bee<strong>in</strong>druckt,<br />

dass der schaurige W<strong>in</strong>ter nun tatsächlich E<strong>in</strong>zug gehalten hätte<br />

und dies ihren alten Knochen nicht gerade gut tun würde.<br />

Kaum war ihre Busenfreund<strong>in</strong> e<strong>in</strong>getreten und hatte abgelegt,<br />

erzählte Lene ihr auch gleich, dass Walter sie bereits angekündigt<br />

hätte. Käte sah ihrer Freund<strong>in</strong> e<strong>in</strong> wenig vorwurfsvoll direkt <strong>in</strong> die<br />

Augen, wodurch diese <strong>in</strong>nerlich zusammenzuckte. Mit so e<strong>in</strong>em<br />

ernsten Gesichtsausdruck hatte Käte sie noch nie gestraft. »Och<br />

Lene, es ist sechzehn Uhr und du weißt doch sowieso, dass ich immer<br />

pünktlich ersche<strong>in</strong>e!«, me<strong>in</strong>te Käte e<strong>in</strong> wenig ärgerlich. Als<br />

beide sich am Kaffeetisch niedergelassen hatten, bemerkte Lene<br />

die nachdenklichen Züge <strong>in</strong> Kätes Gesichtsausdruck und erkundigte<br />

sich, ob alles <strong>in</strong> Ordnung sei. Dabei sprach sie nochmals ihre<br />

herzliche Begrüßung zuvor und Kätes forsche Reaktion darauf an.<br />

72


E<strong>in</strong> Engel <strong>in</strong> Gestalt e<strong>in</strong>er Taube<br />

»Lene, ich muss unbed<strong>in</strong>gt mit dir über e<strong>in</strong>e bestimmte Sache reden!«,<br />

fuhr es aus Käte heraus. Als Lene sie daraufh<strong>in</strong> ganz erwartungsvoll,<br />

mit angehobenen Augenbrauen und zugleich fragend<br />

ansah, hatte Käte das beruhigende Gefühl, offen mit ihrer Freund<strong>in</strong><br />

reden zu können. Schließlich kannten sie sich e<strong>in</strong>e Ewigkeit<br />

und jede von ihnen wusste genau, welche Geste zu welchem Gemütszustand<br />

der anderen passte. Käte versicherte Lene, dass es<br />

ihr größtes Anliegen wäre, sie glücklich zu sehen und dass sie<br />

durchaus nachfühlen könnte, wie sehr sie ihren Walter vermissen<br />

würde. Allerd<strong>in</strong>gs gab Käte ihrer Freund<strong>in</strong> auch zu verstehen,<br />

dass Walter nun eben nicht mehr auf dieser Erde weile und es<br />

ihr, sowie e<strong>in</strong>igen anderen auch, immer schwerer fiele, ihre Geschichten<br />

um Walters Kontaktversuche aus dem Jenseits zu akzeptieren.<br />

Als Lene offensichtlich Probleme hatte, ihren Mund<br />

vor Erstaunen wieder zu schließen, fügte Käte besänftigend h<strong>in</strong>zu,<br />

dass Lene endlich loslassen sollte, um ihrem Walter den ewigen<br />

Frieden zu gönnen.<br />

Von dieser Botschaft ihrer besten Freund<strong>in</strong> sichtlich enttäuscht<br />

und mit e<strong>in</strong>em leeren Blick sah Lene verloren zum Fenster h<strong>in</strong>aus.<br />

Es schneite heftiger, die Schneeflocken waren größer geworden.<br />

E<strong>in</strong> weißer, dicker Schleier bedeckte mittlerweile die Straße, die<br />

Wiese vor dem Haus sowie auch die Fensterbank. Lene schwieg<br />

zunächst und dachte über die Worte ihrer Freund<strong>in</strong> nach, ohne<br />

e<strong>in</strong>e Antwort darauf zu f<strong>in</strong>den, warum Käte nicht schon früher,<br />

zum<strong>in</strong>dest e<strong>in</strong>e vage Andeutung <strong>in</strong> dieser Richtung gemacht hatte.<br />

73


E<strong>in</strong> Engel <strong>in</strong> Gestalt e<strong>in</strong>er Taube<br />

Sie hätte ihr doch ruhig sagen können, dass sie nicht wirklich so<br />

recht an e<strong>in</strong> Weiterleben nach dem Tod sowie an e<strong>in</strong> Band der Liebe<br />

über den Tod h<strong>in</strong>aus glaubte. Die anderen waren Lene nicht so<br />

wichtig, aber mit Käte teilte sie schließlich jedes Geheimnis und<br />

beide waren immer offen zue<strong>in</strong>ander. Als ihre Freund<strong>in</strong> sche<strong>in</strong>bar<br />

ke<strong>in</strong>en Ton herausbrachte und Käte sich deshalb schon <strong>für</strong><br />

ihre etwas schroffe Art entschuldigen wollte, deutete Lene mit e<strong>in</strong>em<br />

strahlen im Gesicht plötzlich zum Fenster. Als ihre Freund<strong>in</strong><br />

sich daraufh<strong>in</strong> umsah, erblickte sie e<strong>in</strong>e be<strong>in</strong>ahe weiße Taube im<br />

Schnee auf der Fensterbank. Diese musste wohl gerade dort gelandet<br />

se<strong>in</strong>, saß ganz ruhig da und blickte zu den Freund<strong>in</strong>nen <strong>in</strong>s<br />

Zimmer. Als Käte vermutete, an Lenes Verhalten deuten zu können,<br />

dass sie gleich wieder etwas von Zeichen aus dem Himmel<br />

und ihrem Walter zum Besten geben würde, kam sie ihr gleich<br />

zuvor : »Me<strong>in</strong>e Liebe, ich denke, du fütterst diese Tiere ab und<br />

zu. Deshalb kommen sie immer wieder. Gerade jetzt <strong>in</strong> der kalten<br />

Jahreszeit.« Kaum hatte Käte ihren Satz beendet, begann die<br />

Taube ihre Flügel zu spreizen, e<strong>in</strong> wenig mit den Flügeln zu schlagen<br />

und mit dem Schnabel sanft gegen das Fenster zu klopfen,<br />

als würde sie um E<strong>in</strong>lass bitten. Als Käte, nun e<strong>in</strong> wenig verdutzt,<br />

<strong>in</strong> Lenes verklärtes Gesicht blickte, fügte sie h<strong>in</strong>zu : »Und dieses<br />

Täubchen sche<strong>in</strong>t dich wohl öfter besuchen zu kommen.« Lene<br />

sah zum Fenster. Durch e<strong>in</strong> nur angedeutetes Kopfschütteln gab<br />

sie Käte zu verstehen, dass sie Unrecht hatte und deutete gleichzeitig<br />

erneut auf ihren gefiederten Gast auf der Fensterbank. Als<br />

74


E<strong>in</strong> Engel <strong>in</strong> Gestalt e<strong>in</strong>er Taube<br />

hätte die Taube nur darauf gewartet, die Aufmerksamkeit beider<br />

Damen wieder auf sich zu lenken, bot sich den Freund<strong>in</strong>nen nun<br />

e<strong>in</strong> Schauspiel der ganz besonderen Art. Das Tier begann sich im<br />

Schnee aufzuplustern und führte dabei mehrere, schnelle Seitwärtsbewegungen<br />

aus. Es sah e<strong>in</strong>en Moment so aus, als würde<br />

sie sich im Schnee e<strong>in</strong> Nest bauen wollen. Anschließend klopfte<br />

sie mehrfach an die Scheibe, wie schon zuvor. Wieder sah diese<br />

Taube, sche<strong>in</strong>bar erwartungsvoll, <strong>in</strong>s Zimmer. Sichtlich erstaunt<br />

von diesem Gebaren erhoben sich nun beide Frauen be<strong>in</strong>ahe synchron<br />

und wie gebannt von ihren Plätzen, um sich ihrer weißen,<br />

geheimnisvollen Besucher<strong>in</strong> zu nähern. Als beide am Fenster angekommen<br />

waren, erhob sich die Taube und flog davon. Diesmal<br />

war es Käte, die aus dem Staunen nicht mehr herauskam. Auf<br />

der Fensterbank war im Schnee, dort wo zuvor diese Taube ihr<br />

Schauspiel bot, e<strong>in</strong> großes Herz deutlich zu erkennen. Es war ke<strong>in</strong>e<br />

E<strong>in</strong>bildung – wie diesmal zuerst die skeptische Käte feststellte,<br />

sondern e<strong>in</strong>deutig das Abbild e<strong>in</strong>es großen Herzens. »So haben<br />

wir früher als K<strong>in</strong>der doch auch Engel <strong>in</strong> den Schnee gezaubert.«,<br />

me<strong>in</strong>te Lene, die sich <strong>in</strong> ihren Behauptungen Walter betreffend<br />

nun wieder bestärkt fühlte. »Du weißt doch Käte, als wir uns<br />

rückwärts <strong>in</strong> den Schnee fallen ließen und mit den Armen ruderten,<br />

war anschließend e<strong>in</strong> Engel zu sehen. Nur ist es hier eben<br />

e<strong>in</strong> Herz, überbracht durch e<strong>in</strong>en kle<strong>in</strong>en Engel <strong>in</strong> Gestalt e<strong>in</strong>er<br />

Taube!«, versuchte Lene ihre Freund<strong>in</strong> zu überzeugen. Als Käte<br />

dies natürlich auch irgendwie bestätigen musste, aber dennoch<br />

75


E<strong>in</strong> Engel <strong>in</strong> Gestalt e<strong>in</strong>er Taube<br />

e<strong>in</strong> wenig ungläubig den Kopf schüttelte, fügte Lene mit e<strong>in</strong>em<br />

herzlichen Lächeln sowie e<strong>in</strong>em tiefen Seufzer h<strong>in</strong>zu : »Wenn Walter<br />

mich <strong>in</strong> den Arm nahm, sagte er oft zu mir: Lene, me<strong>in</strong> Herz!<br />

und strich mir zärtlich über die Wange. Und vielleicht, me<strong>in</strong>e Liebe,<br />

glaubst du mir jetzt, dass Walter nicht nur <strong>in</strong> me<strong>in</strong>er Fantasie<br />

bei mir ist.« Nun war Käte sprachlos. Dass hier nur zufällig e<strong>in</strong>e<br />

Taube beim Kaffeekränzchen zusah, war schon unwahrsche<strong>in</strong>lich.<br />

Selbst wenn Lene die Tiere fütterte, war dies ke<strong>in</strong> Anlass <strong>für</strong> e<strong>in</strong>e<br />

Taube, Herzen <strong>in</strong> den Schnee zu zaubern und mal höflich anzuklopfen.<br />

Und das ausgerechnet an diesem Tag. Und genau von diesem<br />

Tag an, stellte Käte nie wieder die Aussagen ihrer Freund<strong>in</strong><br />

<strong>in</strong> Frage. Mit Lenes E<strong>in</strong>willigung erzählte sie auch ihren Bekannten<br />

von dieser herzergreifenden Begegnung. Auch diese wurden<br />

nachdenklich. Für sie war e<strong>in</strong> Zufall natürlich noch immer nicht<br />

ganz auszuschließen, doch auch e<strong>in</strong>en möglichen Gruß des Himmels<br />

bestritten sie nicht mehr so ganz. In e<strong>in</strong>er Sache waren sich<br />

allerd<strong>in</strong>gs alle Zweifler e<strong>in</strong>ig. Bevor man e<strong>in</strong>en <strong>Menschen</strong> <strong>für</strong> se<strong>in</strong>e<br />

Eigenarten verurteilt, sollte man sich die Mühe machen, die<br />

wahren H<strong>in</strong>tergründe zu erkennen. Manchmal geschehen eben<br />

doch Wunder. Vorausgesetzt man glaubt daran und ist bereit sie<br />

zu erkennen, wenn sie e<strong>in</strong>em begegnen.<br />

76


Irgendwann sehn wir uns wieder …<br />

Irgendwann sehn wir uns<br />

wieder …<br />

Es war e<strong>in</strong> kalter und regnerischer W<strong>in</strong>termorgen, als Jan das<br />

Haus verließ. »Was <strong>für</strong> e<strong>in</strong>e Trostlosigkeit auf den Straßen <strong>in</strong> diesem<br />

kalten Nass!«, dachte er bei sich, schlug se<strong>in</strong>en Mantelkragen<br />

hoch <strong>in</strong> den Nacken und g<strong>in</strong>g widerwillig <strong>in</strong> Richtung Bushaltestelle,<br />

die circa fünf M<strong>in</strong>uten von se<strong>in</strong>er Wohnung entfernt lag. Er<br />

beachtete kaum die <strong>Menschen</strong>, die ihm dabei auf se<strong>in</strong>em Weg begegneten.<br />

Voller Verbitterung stieß er e<strong>in</strong> verachtungs volles, aber<br />

doch leises »Du kannst mich mal …«, heraus, als ihm jemand im<br />

Vorbeigehen e<strong>in</strong>en guten Morgen wünschte. An diesem Morgen<br />

gab es nun wirklich nichts Gutes, dachte er bei sich und trottete,<br />

langsam vor sich h<strong>in</strong> grübelnd, zur Busstation. »Würde se<strong>in</strong> Vater<br />

noch im Bett liegen und se<strong>in</strong>en Besuch überhaupt bemerken?«,<br />

fragte er sich. Diese leeren, qualvollen Augen e<strong>in</strong>es <strong>Menschen</strong>,<br />

der sich se<strong>in</strong>em unabwendbaren Schicksal nicht mehr widersetzte,<br />

sondern wartete. Wartete, dass se<strong>in</strong>e Qualen endlich e<strong>in</strong> Ende<br />

f<strong>in</strong>den würden. Als es <strong>für</strong> se<strong>in</strong>en Vater vor e<strong>in</strong> paar Monaten hieß:<br />

Krebs im Endstadium, brach <strong>für</strong> Jan e<strong>in</strong>e Welt zusammen. Hilflos<br />

und verzweifelt musste er mit ansehen, wie es mit se<strong>in</strong>em Vater<br />

stetig bergab g<strong>in</strong>g. Dabei hatte dieser, als direkt Betroffener,<br />

noch viel mehr Hoffnung als alle anderen zusammen. Aber Hoff-<br />

77


Irgendwann sehn wir uns wieder …<br />

nung alle<strong>in</strong> heilt selten e<strong>in</strong>en Teufel wie den Krebs, murmelte Jan<br />

wütend vor sich h<strong>in</strong>. Als er circa zwanzig M<strong>in</strong>uten später <strong>in</strong> das<br />

Zimmer se<strong>in</strong>es Vaters im Krankenhaus trat, standen se<strong>in</strong>e Mutter<br />

und e<strong>in</strong> paar Verwandte um das Bett se<strong>in</strong>es Vaters. Ihre bedrückten<br />

Gesichter ließen ke<strong>in</strong>en Zweifel. Es g<strong>in</strong>g zu Ende. Die Anwesenden<br />

wollten Jan ebenfalls ermöglichen, <strong>in</strong> Ruhe Abschied zu<br />

nehmen und verließen schweigend den Raum. Jan setzte sich zu<br />

se<strong>in</strong>em Vater an das Bett und drückte sanft se<strong>in</strong>e Hand. Er konnte<br />

förmlich spüren, wie das Leben aus ihm entwich. Se<strong>in</strong> Vater versuchte<br />

ihm etwas zu sagen, bekam aber zunächst ke<strong>in</strong> deutliches<br />

Wort heraus. Zu sehr hatte der Krebs se<strong>in</strong>en Körper ausgemergelt.<br />

Jan senkte se<strong>in</strong>en Kopf, um wenigstens e<strong>in</strong> leises Flüstern se<strong>in</strong>es<br />

Vaters vernehmen zu können. Und tatsächlich, der Hauch e<strong>in</strong>er<br />

Stimme drang plötzlich an Jans Ohr. Er musste sehr angestrengt<br />

lauschen, um zu verstehen, was se<strong>in</strong> Vater ihm sagen wollte. »E<strong>in</strong>mal<br />

seh ‘n wir uns sicher wieder«, hörte Jan ihn wispern. Zum<strong>in</strong>dest<br />

glaubte er es zu hören und dachte, dass se<strong>in</strong> Vater sich <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>er Art Delirium bef<strong>in</strong>den würde, als dieser se<strong>in</strong>e letzte Kraft<br />

zusammennahm, se<strong>in</strong>e dünne, nunmehr knochige Hand erhob<br />

und auf e<strong>in</strong> Bild zeigte, welches auf dem Tisch neben se<strong>in</strong>em Bett<br />

stand. Jan war dieses alte Foto, bis zu jenem Tag, nicht e<strong>in</strong>mal aufgefallen.<br />

Se<strong>in</strong>e Mutter musste es wohl vor kurzem dort aufgestellt<br />

haben. Es zeigte Jans Vater <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em geliebten Garten, den er <strong>in</strong><br />

jeder freien M<strong>in</strong>ute hegte und pflegte. In der Hand hielt er e<strong>in</strong>e<br />

Rose, die er wohl unmittelbar vor der Aufnahme geschnitten hatte.<br />

78


Irgendwann sehn wir uns wieder …<br />

Ja, se<strong>in</strong> Rosenbusch, auf den er so stolz war und der dann irgendwann<br />

doch verdorrte und nie wieder Blüten trug. Er verdorrte und<br />

starb, so wie se<strong>in</strong> Vater jetzt, dachte Jan und konnte se<strong>in</strong>e Tränen<br />

nicht mehr halten. Jan bemerkte noch e<strong>in</strong>en sanften Druck durch<br />

die Hand se<strong>in</strong>es Vaters, so als hätte dieser ihm noch mitteilen wollen,<br />

dass er nicht traurig se<strong>in</strong> muss. Dann machte Jans Vater e<strong>in</strong>en<br />

letzten, tiefen Atemzug und schloss <strong>für</strong> immer se<strong>in</strong>e Augen, an<br />

diesem trostlosen, bitter kalten W<strong>in</strong>tertag. Eigentlich war <strong>für</strong> Jan<br />

mit dem Tod alles vorbei, erst nachdem die tiefste Phase der Trauer<br />

vorbei war, dachte er erneut über vieles nach, was das Leiden<br />

und Sterben se<strong>in</strong>es Vaters betraf.<br />

Es war mittlerweile Frühl<strong>in</strong>g geworden. Die Zeit, <strong>in</strong> der auch<br />

wieder <strong>für</strong> se<strong>in</strong>en Vater die schönste Zeit, die Gartensaison, begonnen<br />

hatte. Jan fragte sich nun immer wieder, ob er die letzten<br />

Worte se<strong>in</strong>es Vaters richtig vernommen oder er sich diese nur e<strong>in</strong>gebildet<br />

hatte. Se<strong>in</strong> Vater war nicht religiös und glaubte auch nicht<br />

an e<strong>in</strong> Leben nach dem Tod oder etwas <strong>in</strong> der Art. Jan selbst war<br />

sich da nicht so sicher und war stets h<strong>in</strong>- und hergerissen, wenn<br />

es um solche Themen g<strong>in</strong>g. Viele Fragen g<strong>in</strong>gen ihm seit dem<br />

Tod se<strong>in</strong>es Vaters durch den Kopf und se<strong>in</strong>e Trauer nagte noch<br />

immer tief an se<strong>in</strong>er Seele. »Warum zeigte se<strong>in</strong> Vater damals ausgerechnet<br />

auf dieses Bild?«, fuhr es Jan ständig durch den Kopf.<br />

Als er e<strong>in</strong>es Tages von der Arbeit nach Hause kam, hörte er auf<br />

dem Anrufbeantworter die Stimme se<strong>in</strong>er Mutter, die ihn aufgeregt<br />

bat, vorbeizukommen, wenn es se<strong>in</strong>e Zeit zulassen würde. Es<br />

79


Irgendwann sehn wir uns wieder …<br />

klang also nicht wie e<strong>in</strong> <strong>Not</strong>fall, aber da Jan se<strong>in</strong>e Mutter nicht<br />

erreichte, machte er sich Sorgen und begab sich sofort auf den<br />

Weg zu se<strong>in</strong>em Elternhaus, wo ihn se<strong>in</strong>e Mutter jedoch strahlend<br />

und mit e<strong>in</strong>em Lächeln über das ganze Gesicht, <strong>in</strong> Empfang nahm.<br />

»Ich habe versucht anzurufen«, stieß ihr Jan erwartungsvoll und<br />

gleichzeitig fragend entgegen. Doch se<strong>in</strong>e Mutter lächelte nur.<br />

»Hast du im Lotto gewonnen?«, fragte Jan vollkommen verdutzt.<br />

»Ne<strong>in</strong>, viel schöner!«, entgegnete diese ihm und wies ihm den Weg<br />

zum Garten. Als Jan an der Terrassentüre ankam und <strong>in</strong> den Garten<br />

blickte, traute er se<strong>in</strong>en Augen nicht. Der Rosenstrauch se<strong>in</strong>es<br />

Vaters stand, nach ungefähr sieben Jahren der Dürre, wieder <strong>in</strong><br />

voller Blüte. Se<strong>in</strong> Vater hatte ihn damals e<strong>in</strong>fach so stehen lassen,<br />

weil er die Hoffnung nicht aufgeben wollte, dass se<strong>in</strong>e geliebten<br />

Rosen e<strong>in</strong>es Tages wieder blühen würden. Jans Mutter sah ihren<br />

staunenden Sohn nachdenklich an. »Wenn Papa das noch sehen<br />

könnte, se<strong>in</strong>e Rosen, die so kurz nach se<strong>in</strong>em Tod plötzlich wieder<br />

blühen,« seufzte sie.<br />

Jan war nun klar, was se<strong>in</strong> Vater ihm damals am Sterbebett sagen<br />

wollte. Er wusste damals, <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en letzten Stunden und M<strong>in</strong>uten<br />

hier auf Erden, wo er h<strong>in</strong>gehen würde. Er war nicht verwirrt<br />

<strong>in</strong> se<strong>in</strong>en letzten Momenten. Jan war sich plötzlich so sicher wie<br />

nie zuvor. Se<strong>in</strong> Vater wollte ihn darauf h<strong>in</strong>weisen, dass er sicher<br />

auch durch se<strong>in</strong>en Garten weiterleben und e<strong>in</strong> Zeichen setzen<br />

würde. Er konnte die Nähe se<strong>in</strong>es Vaters plötzlich ganz deutlich<br />

80


Irgendwann sehn wir uns wieder …<br />

fühlen, als er zu se<strong>in</strong>er Mutter liebevoll sagte : »Mum, er weiß über<br />

alles Bescheid und er ist jetzt ganz sicher bei uns !«<br />

Jan und se<strong>in</strong>e Mutter s<strong>in</strong>d sich heute ganz sicher, dass es e<strong>in</strong><br />

Leben danach geben muss, so wie auch gewisse Zeichen, oder gar<br />

so etwas wie e<strong>in</strong> letztes Geschenk aus jener Sphäre, wie sie das<br />

wundersame Erblühen der Rosen im Garten immer wieder bezeichnen.<br />

81


Trenne Dich niemals im Zorn<br />

82


Trenne Dich niemals im Zorn<br />

Trenne Dich niemals im Zorn<br />

»Dann ist es nun wohl wirklich vorbei.«, das s<strong>in</strong>d Holgers letzte<br />

Worte nach e<strong>in</strong>em langen Streit mit se<strong>in</strong>er Frau. Lisa blickt ihn<br />

verstört an und nimmt diese erschütternden, sche<strong>in</strong>bar endgültigen<br />

Worte e<strong>in</strong>fach so h<strong>in</strong>, ohne auch nur e<strong>in</strong> e<strong>in</strong>ziges Wort an den<br />

Mann zu richten, den sie doch so sehr liebt. Schließlich hat nicht<br />

sie das endgültige Aus gewollt. Als Holger die geme<strong>in</strong>same Wohnung<br />

verlässt, begleiten ihn Lisas verlorene Blicke e<strong>in</strong> Stück weit<br />

und sie weiß genau, dass er es irgendwie auch fühlen kann, doch<br />

er sieht sich nicht e<strong>in</strong>mal um. Ke<strong>in</strong>en Moment des Zögerns, ke<strong>in</strong>e<br />

Geste der Versöhnung. Er steigt auf se<strong>in</strong> Motorrad und rast durch<br />

die Nacht davon. Leise flüstert Lisa ihrem Holger e<strong>in</strong> »ich liebe<br />

dich« h<strong>in</strong>terher und wirft ihm gleichzeitig e<strong>in</strong>en Kuss zu. Dabei<br />

ahnt sie nicht im Ger<strong>in</strong>gsten, dass es der letzte se<strong>in</strong> wird.<br />

Schon kurze Zeit später wird deutlich, wie uns<strong>in</strong>nig es ist,<br />

wenn zwei <strong>Menschen</strong> sich im Streit über Nichtigkeiten ohne jede<br />

Aussprache oder gar Versöhnung e<strong>in</strong>fach trennen. Ke<strong>in</strong> Blick,<br />

ke<strong>in</strong> Verzeihen und auch ke<strong>in</strong> Zurück mehr, denn schon wenige<br />

Stunden später stehen <strong>in</strong> dieser Nacht zwei Männer vor Lisas<br />

Türe und fragen nach e<strong>in</strong>em jungen Mann. E<strong>in</strong>em Mann, der kurz<br />

zuvor noch ihre Wohnung verließ, um auf e<strong>in</strong>em Stück<br />

Freiheit, wie er se<strong>in</strong>e Flucht auf dem Motorrad nannte, davonzurasen.<br />

Sie weiß tief <strong>in</strong> ihrem Inneren, dass diese Männer<br />

tatsächlich nach<br />

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Trenne Dich niemals im Zorn<br />

ihm, ihrem Mann, ihrer großen Liebe fragen und es sich nicht um<br />

e<strong>in</strong>en Irrtum handelt. Ihr ist schlagartig bewusst, dass dieser Besuch<br />

etwas Unheilvolles, Unabwendbares mit sich br<strong>in</strong>gen muss.<br />

Tränen r<strong>in</strong>nen durch ihr Gesicht und ihre Vermutung wird zur<br />

bitteren Wahrheit, als sie die Polizeibeamten <strong>in</strong> ihre Wohnung bittet.<br />

Holger übersah e<strong>in</strong> Stoppschild, raste mit e<strong>in</strong>er viel zu hohen<br />

Geschw<strong>in</strong>digkeit <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en LKW und starb noch am Unfallort. Als<br />

ihr die beiden Polizeibeamten die schreckliche Nachricht überbr<strong>in</strong>gen,<br />

ist Lisa merkwürdig gefasst. Be<strong>in</strong>ahe so, als hätte sie es<br />

erwartet. Plötzlich sieht sie erneut die letzten Stunden mit Holger<br />

wie durch e<strong>in</strong>en Schleier an sich vorüberziehen und es werden ihr<br />

so viele D<strong>in</strong>ge wieder bewusst …<br />

Es war dumm, so viel Zeit im Streit zu vergeuden, obwohl das<br />

Leben doch so kurz se<strong>in</strong> konnte. Es war vollkommen uns<strong>in</strong>nig, auf<br />

se<strong>in</strong>em Recht zu bestehen und sich unnachgiebig zu zeigen. Wahre<br />

Liebe kennt so etwas nicht. Sie verzeiht, versteht, kennt ke<strong>in</strong>e<br />

Zweifel, stellt ke<strong>in</strong>e Fragen, fügt sich <strong>in</strong> die Stille e<strong>in</strong>es Herzschlags<br />

e<strong>in</strong> und überlebt sogar den Tod. Das war e<strong>in</strong> Gefühl, welches sie<br />

nur zu gut kannte und mit jemandem teilen konnte. Bis zu jenem<br />

verhängnisvollen Tag. Gäbe das Schicksal ihr noch e<strong>in</strong>mal e<strong>in</strong>e<br />

Chance, würde sie nicht schweigen. Sie würde ihm sagen, was sie<br />

fühlt. Doch nun war es da<strong>für</strong> leider endgültig zu spät …<br />

Die Beamten hatten Holgers Papiere bei ihm gefunden und zudem<br />

war er mit e<strong>in</strong>em auf ihn zugelassenes Motorrad unterwegs.<br />

Es gab also ke<strong>in</strong>en Grund, an se<strong>in</strong>er Identität zu zweifeln und so<br />

84


Trenne Dich niemals im Zorn<br />

erkundigten sich die Polizisten nur noch, ob sie im Moment noch<br />

etwas <strong>für</strong> Lisa tun konnten, wobei e<strong>in</strong>er von ihnen ihr Hilfe durch<br />

e<strong>in</strong>en Polizeipsychologen anbot. Doch dieses lehnte Lisa, wie unter<br />

Drogen stehend, mit e<strong>in</strong>er Geste ihrer Hand ab. Sie wollte <strong>in</strong><br />

diesem Augenblick nur noch alle<strong>in</strong>e se<strong>in</strong>, um ihren Schmerz irgendwie<br />

<strong>in</strong> den Griff zu bekommen. Wie alle<strong>in</strong>e sie nun war, wurde<br />

ihr schlagartig bewusst, als die Türe h<strong>in</strong>ter den Beamten, die<br />

ihr diese unheilvolle Nachricht überbrachten, leise <strong>in</strong>s Schloss<br />

fiel. Alle<strong>in</strong> mit ihrem unendlichen Schmerz und der Gewissheit,<br />

dass es so nicht hätte enden müssen, wenn sie nur zwei Wort an<br />

ihren Holger gerichtet hätte.<br />

»Bitte bleib !« Als ihr zudem noch klar wird, dass sie den Streit<br />

wegen e<strong>in</strong>er Kle<strong>in</strong>igkeit entfachte, nur weil sie wieder e<strong>in</strong>mal, eigentlich<br />

ohne Grund eifersüchtig war, konnte sie ihre Tränen nicht<br />

mehr zurückhalten und ihre ganze Trauer, ihr ganzer Schmerz<br />

ergoss sich nun <strong>in</strong> <strong>für</strong>chterlichen We<strong>in</strong>krämpfen, die ihren zierlichen<br />

Körper regelrecht zu schütteln begannen. Immer wieder<br />

dachte sie dabei an ihre entscheidenden Worte, die Holger aus<br />

dem Haus getrieben hatten. »Geh mir aus den Augen«, brüllte sie<br />

Holger an, als dieser entgegen ihren Erwartungen tatsächlich sofort<br />

e<strong>in</strong> paar Sachen packte, um ihrem Anliegen umgehend nachzukommen.<br />

Sie hätte nicht zusehen müssen, wie er tatsächlich<br />

auf se<strong>in</strong>er Masch<strong>in</strong>e <strong>in</strong> die Nacht davonraste. Sie wusste, dass ihr<br />

Holger e<strong>in</strong> gutes, weiches Herz hatte und, auf ihre Bitte h<strong>in</strong>, zu e<strong>in</strong>er<br />

weiteren Aussprache bereit gewesen wäre. Doch Lisa konnte<br />

85


Trenne Dich niemals im Zorn<br />

<strong>in</strong> jenem Moment ihre Enttäuschung darüber nicht überw<strong>in</strong>den,<br />

dass er sich diesmal so leicht davonmachte, ohne wirklich um ihre<br />

Beziehung zu kämpfen. Nun war jede Schuldzuweisung uns<strong>in</strong>nig,<br />

jedes gefallene Wort hatte se<strong>in</strong>e Bedeutung verloren. Lisa hatte<br />

nur den e<strong>in</strong>en Wunsch: Ihren Holger noch e<strong>in</strong> e<strong>in</strong>ziges Mal <strong>in</strong> den<br />

Armen zu halten. Doch nichts konnte das Geschehene wieder gut<br />

machen, nichts brachte Holger zu ihr zurück. Während sie, zusammengekauert<br />

und von Tränen überströmt auf dem Boden hockend,<br />

ihren Kopf <strong>in</strong> das Sitzkissen legte, auf dem ihr Holger noch<br />

vor e<strong>in</strong>igen Stunden gesessen hatte, betrachtete sie se<strong>in</strong> Bild auf<br />

dem Wohnzimmerschrank. Der Schmerz der bitteren Wahrheit<br />

war nun kaum noch zu ertragen und sie wusste nicht mehr, was<br />

nun aus ihr werden und wozu sie überhaupt ohne Holger weiterleben<br />

sollte. Alles war von e<strong>in</strong>er auf die andere Sekunde s<strong>in</strong>nlos<br />

geworden. Ganz ohne Vorwarnung hatte das Schicksal zugeschlagen<br />

und irgendwie dachte Lisa, dass sie es nicht verdient hätte,<br />

weiter leben zu dürfen, nachdem ihr geliebter Mann durch ihre<br />

Schuld se<strong>in</strong> Leben verlor. Sie dachte plötzlich an die.Schlaftabletten<br />

im Badezimmerschrank, die ihr Arzt ihr vor e<strong>in</strong>igen Wochen<br />

verschrieben hatte, mit der Bitte, sehr vorsichtig damit.umzugehen,<br />

weil dieses Mittel sehr stark se<strong>in</strong> würde. Doch bevor ihre<br />

Gedanken sich weiter um ihr Vorhaben drehen konnten, hörte<br />

sie, wie aus dem Nichts, e<strong>in</strong>e vertraute Stimme :<br />

»Lisa, Liebes, was ist los?«, hört sie ihren Holger ganz aufgeregt<br />

fragen und fühlt, wie se<strong>in</strong>e Hände ihr Gesicht liebkosen, noch be-<br />

86


Trenne Dich niemals im Zorn<br />

vor sie ihre von Tränen verklebten Augen öffnen kann. »Du hast<br />

geträumt, me<strong>in</strong> Schatz«, redet Holger beschwörend auf Lisa e<strong>in</strong>,<br />

während er sie anlächelt und auf ihr von Tränen aufgeweichtes<br />

Kopfkissen deutet. »Du lebst!«, stammelt Lisa vollkommen verstört<br />

und gleichzeitig von allem Leid erlöst. »Das will ich wohl<br />

me<strong>in</strong>en!«, entgegnet ihr Holger mit e<strong>in</strong>em se<strong>in</strong>erseits verdutzten<br />

Gesichtsausdruck. »Gott sei Dank nur e<strong>in</strong> Traum.«, flüstert Lisa<br />

und beg<strong>in</strong>nt erneut zu we<strong>in</strong>en. Diesmal jedoch aus Freude und<br />

Erleichterung über diese zweite Chance, wie sie das Erwachen aus<br />

ihrem Alptraum von nun an deutete …<br />

Als Lisa sich wieder beruhigt hatte, erzählte sie ihrem Mann<br />

von ihrem Traum. Auch von ihrer neuen Angst, dass etwas daran<br />

vielleicht e<strong>in</strong>es Tages wahr werden könnte, denn schließlich war<br />

Holger tatsächlich e<strong>in</strong> begeisterter Motorradfahrer, der ab und zu<br />

wirklich etwas zu schnell unterwegs war.<br />

Nicht, weil Holger tatsächlich abergläubisch war und an solche<br />

Weissagungen glaubte, sondern um se<strong>in</strong>er Lisa e<strong>in</strong>en Herzenswunsch<br />

zu erfüllen, verkaufte er nun se<strong>in</strong>e Masch<strong>in</strong>e und<br />

fuhr fortan nur noch mit dem geme<strong>in</strong>samen Auto. Vielleicht, weil<br />

Lisas Traum ihr so wirklich, so real erschien und sie tatsächlich<br />

Angst hatte, er könne sich e<strong>in</strong>es Tages verwirklichen, vielleicht<br />

aber auch nur, weil sie e<strong>in</strong>sah, dass Holger sie wirklich liebte und<br />

es ke<strong>in</strong>en Grund <strong>für</strong> ihre Eifersucht gab, änderte sich ihr Verhalten<br />

Holger gegenüber vollkommen. Ganz zum Positiven, wie ihr<br />

Mann immer wieder bestätigte. Außer den ganz normalen Mei-<br />

87


Trenne Dich niemals im Zorn<br />

nungsverschiedenheiten, die ja bei allen Paaren immer wieder<br />

e<strong>in</strong>mal vorkommen können, zog bei Lisa und ihrem Holger so etwas<br />

wie Harmonie mit <strong>in</strong> ihr geme<strong>in</strong>sames Heim. Drohte tatsächlich<br />

e<strong>in</strong> größerer Streit, atmete Lisa zunächst tief durch und blieb<br />

gelassener als je zuvor. Dies hatte natürlich zur Folge, dass beide<br />

sich aussprachen und schnell wieder versöhnten.<br />

Vielleicht s<strong>in</strong>d Träume doch manchmal mehr als nur Fantasiegebilde,<br />

mit denen der Verstand das Vergangene verarbeiten kann.<br />

Sie könnten auch e<strong>in</strong>e Art Verständigung zwischen zwei unterschiedlichen<br />

Sphären se<strong>in</strong>. E<strong>in</strong>e Möglichkeit des Himmels, durch<br />

das unbewusste, höhere Selbst mit dem <strong>in</strong> Verb<strong>in</strong>dung zu treten,<br />

was der Mensch, vielleicht ja fälschlicherweise, als se<strong>in</strong> wahres<br />

Ich betrachtet. Manchmal ist e<strong>in</strong> Traum so real, dass man ihn von<br />

der Realität zunächst nicht zu unterscheiden vermag. Doch was ist<br />

überhaupt Realität ?<br />

88


Wahrheit kann sehr wehtun<br />

Wahrheit kann sehr wehtun<br />

Es war wieder e<strong>in</strong>mal Ostern. Die schönste Zeit des Jahres <strong>für</strong><br />

mich überhaupt. Ich denke, die meisten K<strong>in</strong>der mochten Weihnachten<br />

viel lieber, denn da gab es schließlich auch die großen<br />

Geschenke. Ganz abgesehen von den vielen Köstlichkeiten, mit<br />

denen man e<strong>in</strong>e solche Zeit schon sehr früh <strong>in</strong> Verb<strong>in</strong>dung br<strong>in</strong>gt.<br />

Ich aber war zu Ostern der glücklichste Junge auf Erden, denn<br />

diese Zeit verbrachte ich meist mit me<strong>in</strong>en Großeltern – auf ganz<br />

besondere Weise. Zu unseren Ritualen gehörte natürlich auch<br />

die spannende Suche nach den begehrten Schokoladeneiern, die<br />

der nette Osterhase ja bekanntlich verteilte. Dazu suchten me<strong>in</strong>e<br />

Großmutter und ich immer e<strong>in</strong>en ganz besonderen, magischen<br />

Ort auf. Es war e<strong>in</strong> kle<strong>in</strong>er Park, der heute noch existiert und <strong>in</strong><br />

der Nähe des Hauses me<strong>in</strong>er Großeltern lag. Jeden Ostersonntag<br />

und manchmal auch den Montag darauf, wiederholte sich<br />

dasselbe und zugleich doch immer wieder neue und aufregende<br />

Ereignis. Es g<strong>in</strong>g natürlich darum, die Eier zu f<strong>in</strong>den, die me<strong>in</strong>e<br />

Großmutter, <strong>in</strong> Vertretung des Osterhasen, auf der Wiese verteilte,<br />

während ich gerade vollkommen abgelenkt war. Zum Beispiel<br />

mit der Suche nach den zuvor bereits versteckten Süßigkeiten. Obwohl<br />

ich glaubte, me<strong>in</strong>e Oma be<strong>in</strong>ahe immer im Blick zu haben,<br />

fiel es ihr nicht besonders schwer, die vorhandenen Eier mit e<strong>in</strong>em<br />

schnellen Wurf erneut auf die Wiese zu befördern, ohne dass<br />

89


Wahrheit kann sehr wehtun<br />

ich es bemerkte. Abgesehen davon war ich natürlich fest überzeugt,<br />

der Osterhase würde diese schwierige Aufgabe persönlich<br />

erledigen. Etwas komisch kam es mir dann wohl doch immer vor,<br />

dass auch nach längerer und erfolgreicher Suche die Menge der<br />

präsentierten Schokoeier sehr überschaubar blieb. Ich rannte den<br />

halben Tag über die Wiese und freute mich e<strong>in</strong>fach, eben wie e<strong>in</strong><br />

kle<strong>in</strong>es K<strong>in</strong>d, über diesen herrlichen und <strong>für</strong> mich ganz besonderen<br />

Tag. Jedem, der uns entgegen kam, musste ich dies natürlich<br />

lautstark mitteilen, wie me<strong>in</strong>e Großmutter mir viele Jahre danach<br />

und noch immer mit e<strong>in</strong>em Gr<strong>in</strong>sen über das ganze Gesicht, zu<br />

berichten wusste. Be<strong>in</strong>ahe jeder im Park erfuhr durch mich, dass<br />

Ostern war und der Osterhase mich reichlich mit bunten Eiern bedacht<br />

hatte. E<strong>in</strong>ige waren stur, wie me<strong>in</strong>e Großmutter mir später<br />

mitteilte. Andere machten sich ebenfalls e<strong>in</strong>en Spaß daraus und<br />

taten so, als wären sie besonders erstaunt über diese frohe Kunde.<br />

Aber auch die Gleichgültigkeit und Ignoranz e<strong>in</strong>iger Zeitgenossen<br />

hatte mich <strong>in</strong> me<strong>in</strong>er k<strong>in</strong>dlichen Euphorie nicht ausbremsen<br />

können. Me<strong>in</strong>e Großmutter me<strong>in</strong>te, man hätte regelrecht gespürt,<br />

dass ich die Freude e<strong>in</strong>fach mit jedem teilen wollte, auch wenn ich<br />

me<strong>in</strong>e Schokoladeneier dabei lieber <strong>für</strong> mich behielt …<br />

All das ist <strong>für</strong> mich bis heute so deutlich <strong>in</strong> Er<strong>in</strong>nerung geblieben,<br />

als wäre es gestern erst geschehen. Ebenso unvergessen ist<br />

die Liebe, die me<strong>in</strong>e Großeltern mir schenkten. Es kam leider<br />

e<strong>in</strong>e Zeit, <strong>in</strong> der ich besonders me<strong>in</strong>er Großmutter gegenüber versäumt<br />

habe, diese Liebe zu erwidern. Sie nahm sich e<strong>in</strong>es Tages<br />

90


Wahrheit kann sehr wehtun<br />

das Leben und stürzte sich vom zwanzigsten Stockwerk des Hochhauses,<br />

<strong>in</strong> dem sie zuletzt wohnte.<br />

Erst viele Jahre später begriff ich die wichtigste Botschaft, die,<br />

besonders <strong>in</strong> den Erlebnissen dieser geme<strong>in</strong>samen Osterzeit, an<br />

diesem magischen Ort unseres Rituals und <strong>in</strong> ihrer bed<strong>in</strong>gungslosen<br />

Liebe zu f<strong>in</strong>den war. Es ist nicht maßgebend, wieviel man<br />

im Leben an materiellen Werten ansammelt und behalten möchte.<br />

Aber die Wärme im Herzen, angefüllt mit Liebe, Freude, Verständnis<br />

sowie den Erkenntnissen an denen man selbst wachsen<br />

durfte, sollte jeder mit anderen teilen. Genau das war es, dem ich<br />

damals <strong>in</strong> der K<strong>in</strong>dheit noch folgte. Ich teilte die Freude und Herzlichkeit<br />

mit allen <strong>Menschen</strong> unter anderem zu Ostern im Park. Ich<br />

gab damit <strong>in</strong>st<strong>in</strong>ktiv und ohne zu zögern all das weiter, was mir<br />

damals <strong>in</strong> me<strong>in</strong>er fröhlichen, k<strong>in</strong>dhaften Leichtigkeit des Se<strong>in</strong>s<br />

selbst noch wichtig erschien.<br />

Bis ich erwachsen wurde und es dann wohl e<strong>in</strong>fach wieder vergaß.<br />

E<strong>in</strong>e lange Zeit hatte ich an me<strong>in</strong>er Mitschuld, die ich mir am<br />

Tod me<strong>in</strong>er Großmutter selbst gegeben und immer wieder e<strong>in</strong>geredet<br />

hatte, schwer zu tragen. Damals machte ich mir schwere<br />

Vorwürfe, zu der Entscheidung me<strong>in</strong>er Großmutter, freiwillig aus<br />

dem Leben zu treten, maßgeblich beigetragen zu haben. Denn<br />

Herzlichkeit und Verständnis waren genau die Werte, von denen<br />

ich »ihr« leider zu wenig entgegenbrachte und vielleicht zerbrach<br />

sie sogar e<strong>in</strong> Stück weit daran. E<strong>in</strong>e Erlösung von me<strong>in</strong>en bohrenden<br />

Schulgefühlen konnte mir, aus me<strong>in</strong>er damaligen Sicht, nur<br />

91


Wahrheit kann sehr wehtun<br />

e<strong>in</strong> e<strong>in</strong>ziger Mensch im ganzen Universum schenken. Und erst e<strong>in</strong>ige<br />

Jahre nach dem Freitod me<strong>in</strong>er Großmutter hatte ich tatsächlich<br />

wieder Kontakt zu ihr. Ich schien irgendwann plötzlich wieder<br />

empfänglich <strong>für</strong> das zu se<strong>in</strong>, was manche sensitive beziehungsweise<br />

mediale Kontaktaufnahme zum sogenannten Jenseits nennen.<br />

Bereits als K<strong>in</strong>d und dann wieder im frühen Erwachsenenalter<br />

hatte ich erste, zaghafte Erfahrungen damit gesammelt, es<br />

aber dann wieder <strong>für</strong> e<strong>in</strong>ige Zeit und aus verschiedenen Gründen,<br />

e<strong>in</strong>fach aus me<strong>in</strong>em Leben verbannt. Irgendwann befasste ich<br />

mich plötzlich wieder <strong>in</strong>tensiv mit dem Leben nach dem Tod und<br />

allem, was auch nur entfernt damit zu tun hatte. Wie ich feststellten<br />

konnte, hatte me<strong>in</strong>e Großmutter all das mitbekommen und<br />

als die Zeit reif da<strong>für</strong> war, teilte sie mir folgende, e<strong>in</strong>dr<strong>in</strong>gliche<br />

Worte mit : »K<strong>in</strong>d, niemand hat Schuld ! Es ist gut so.« E<strong>in</strong>e weitere<br />

Botschaft habe ich dann auf etwas andere Weise empfangen.<br />

Sie übermittelte mir, dass sie nun denen helfen würde, die aus<br />

Verzweiflung e<strong>in</strong> ähnliches Schicksal gewählt hätten, wie sie e<strong>in</strong>st<br />

selbst. Sie hat mir damals e<strong>in</strong>e Mitschuld an ihrer Entscheidung<br />

abgesprochen und ich fühlte, wie mir e<strong>in</strong>e Last von der Seele wich.<br />

Doch wie vielen <strong>Menschen</strong> tun wir auf dieselbe Weise weh, wie<br />

ich e<strong>in</strong>st me<strong>in</strong>er Großmutter, und verlieren ke<strong>in</strong>en weiteren Gedanken<br />

daran. Wir zeigen ihnen nicht, was unser Herz empf<strong>in</strong>det.<br />

Wir verbergen tief <strong>in</strong> uns, was unsere Seele laut herausschreien<br />

möchte und vergessen zu oft, was wirklich zählt …<br />

92


Wahrheit kann sehr wehtun<br />

Die Brücke, welche auf dem Buchcover me<strong>in</strong>es Buches: »Mitten<br />

im Leben und zwischen zwei Welten« abgebildet ist, ist noch<br />

immer <strong>in</strong> jenem Park <strong>in</strong> Mülheim/Ruhr zu f<strong>in</strong>den, <strong>in</strong> dem ich mit<br />

me<strong>in</strong>er Großmutter bis vor circa 46 Jahren Ostereier sammelte.<br />

Sie ist <strong>für</strong> mich bis heute e<strong>in</strong> Symbol e<strong>in</strong>er glücklichen, behüteten<br />

K<strong>in</strong>dheit und e<strong>in</strong>e wundervolle Er<strong>in</strong>nerung an me<strong>in</strong>e Großeltern.<br />

Gleichzeitig sehe ich <strong>in</strong> diesem Symbol auch e<strong>in</strong>e Verpflichtung.<br />

Nämlich das weiterzugeben, was ich, auch durch die Hilfe der<br />

geistigen Welt, erkennen durfte.<br />

93


Die Sprache der Engel<br />

94


Die Sprache der Engel<br />

Die Sprache der Engel<br />

Es war schon tiefe Nacht. Zusammengekauert auf e<strong>in</strong>em kargen<br />

Sessel und alle<strong>in</strong> im dunklen Zimmer, <strong>in</strong> dem er sie zurückgelassen<br />

hatte, saß Carmen regungslos da. Verloren und völlig verzweifelt,<br />

starrte sie nur e<strong>in</strong>fach so vor sich h<strong>in</strong>. Viele Jahre der Liebe<br />

und des Vertrauens, e<strong>in</strong>fach so vorbei. Tausend Fragen g<strong>in</strong>gen<br />

ihr durch den Kopf. Hatte er sie wirklich je geliebt ? Was hatte ihn<br />

so sehr verändert ? Schon lange erkannte sie <strong>in</strong> ihrer Beziehung<br />

die Bedeutung der Aussage, dass man auch zusammen alle<strong>in</strong> se<strong>in</strong><br />

kann. Und alle<strong>in</strong> fühlte sie sich schon lange. Unendlich alle<strong>in</strong>.<br />

Plötzlich erfasste sie e<strong>in</strong>e wunderbare aber merkwürdige, tiefe<br />

Stille und sie war ganz bei sich, als sie den Hauch e<strong>in</strong>er sanften<br />

Stimme <strong>in</strong> ihrem Kopf vernahm : »Alles <strong>in</strong> De<strong>in</strong>em Leben hat e<strong>in</strong>en<br />

S<strong>in</strong>n, auch wenn Du ihn jetzt noch nicht erkennst. Vertraue<br />

auf die Kraft und Weisheit De<strong>in</strong>es Herzens. Glaube daran, <strong>in</strong> De<strong>in</strong>er<br />

<strong>Not</strong> bist Du nie wirklich ganz alle<strong>in</strong>.« Diese Worte schienen<br />

aus demselben Nichts zu kommen, <strong>in</strong>dem sie sich gerade selbst<br />

so restlos verloren und verlassen fühlte. Sie sah erschrocken auf,<br />

blickte <strong>in</strong> die Dunkelheit des Raumes, fühlte aber dennoch e<strong>in</strong>e<br />

angenehme, irgendwie vertraute und gleichzeitig unerklärliche,<br />

fremde Anwesenheit.<br />

»Wer oder was versuchte sie so e<strong>in</strong>fühlsam mit diesen tröstenden<br />

Worten zu berühren?«, g<strong>in</strong>g es ihr durch den Kopf. Vielleicht<br />

95


Die Sprache der Engel<br />

ja e<strong>in</strong> Engel, um den sie <strong>in</strong> der letzten Zeit so oft gebeten hatte, als<br />

sie sich <strong>in</strong> langen, e<strong>in</strong>samen Nächten <strong>in</strong> den Schlaf we<strong>in</strong>te. Aber<br />

an Wunder konnte sie, <strong>in</strong> jenen Momenten der endlosen Enttäuschung<br />

und Leere, nicht wirklich glauben. E<strong>in</strong>e zierliche Frau, so<br />

zerbrechlich und <strong>in</strong> ihrer großen <strong>Not</strong>, aus tiefster Seele nach Geborgenheit<br />

und Schutz rufend. Sie wünschte sich so sehr e<strong>in</strong>en<br />

mächtigen Engel, der schützend se<strong>in</strong>e Flügel über sie ausbreiten<br />

sollte. So wie sie es sich schon <strong>in</strong> ihrer K<strong>in</strong>dheit ausmalte, wenn<br />

sie e<strong>in</strong>mal traurig war. Damals konnte sie noch an so etwas glauben<br />

und Engel waren <strong>für</strong> sie immer mächtige Lichtwesen, die alles<br />

überragten und D<strong>in</strong>ge, die ihr Angst machten, sofort aus ihrem<br />

k<strong>in</strong>dlichen Gemüt verbannten. So fragte sie, <strong>in</strong> Er<strong>in</strong>nerung an diese<br />

Zeit der vollkommenen Geborgenheit und gleichzeitig aus der<br />

unmittelbaren Dunkelheit und E<strong>in</strong>samkeit ihres Herzens, ohne<br />

wirklich e<strong>in</strong>e Antwort darauf zu erwarten : »Wenn du me<strong>in</strong> Engel<br />

bist, wie groß bist du wirklich ?« Dabei stellte sie sich erneut e<strong>in</strong>en<br />

wunderschönen, riesigen Engel vor, der se<strong>in</strong>e weißen Flügel über<br />

ihrem Haupt entfalten würde. Sogleich durchströmte sie e<strong>in</strong> noch<br />

tieferes Gefühl der Ruhe und Hoffnung. Es legte sich gleichsam<br />

wie e<strong>in</strong> schützender Schleier über sie und e<strong>in</strong>e wundervolle Stimme,<br />

wie tausend Harfen, antwortete ihr : »Ich b<strong>in</strong> so groß, wie Du<br />

Dich fühlst !« Carmen erkannte sofort, dass es nicht das Resultat<br />

ihres re<strong>in</strong>en Wunschdenkens war, welches ihr diese tiefgreifende<br />

Botschaft übermittelte. Sie wusste nun, dass sie <strong>in</strong> ihrer <strong>Not</strong><br />

wahrlich nie alle<strong>in</strong> se<strong>in</strong> würde. Ihr wurde bewusst, dass Engel kei-<br />

96


Die Sprache der Engel<br />

neswegs nur dazu da waren, um den <strong>Menschen</strong> ihre größte <strong>Not</strong><br />

e<strong>in</strong>fach so abzunehmen, sondern um sie dabei zu unterstützen,<br />

den S<strong>in</strong>n dar<strong>in</strong> zu erkennen und ihnen Kraft zu geben, auch aus<br />

eigener Kraft alle Prüfungen des Lebens zu bestehen. Prüfungen<br />

welche sie, wenn sie näher darüber nachdachte, sich selbst auferlegt<br />

hatte.<br />

Alle um sie herum hatten ihr prophezeit, dass der Mann, den<br />

sie liebte, sehr selbstsüchtig war, ihre Liebe nicht verdiente und<br />

sie e<strong>in</strong>es Tages verletzen würde. Doch sie wollte das nicht e<strong>in</strong>sehen,<br />

obwohl sie es <strong>in</strong> ihrem tiefsten Innern ahnte. Es gab viele<br />

Zeichen von se<strong>in</strong>er Seite aus, die deutlich machten, dass ihre Beziehung<br />

e<strong>in</strong>fach nie funktionieren kann. Doch ihre Liebe zu ihm<br />

verzieh ihm alles. Bis ihm auch das nicht mehr reichte. So lernte<br />

sie zum e<strong>in</strong>en, wie tief sie selbst <strong>in</strong> der Lage war, zu verzeihen und<br />

zu lieben. Zum anderen konnte sie nun durch e<strong>in</strong>e harte Lektion<br />

des Lebens erfahren, dass zur wahren, bed<strong>in</strong>gungslosen Liebe<br />

auch das Loslassen gehört. Es ist die Liebe, die dem anderen se<strong>in</strong>e<br />

Freiheit lässt und die e<strong>in</strong>em selbst die Möglichkeit bietet, neu<br />

anzufangen …<br />

So wünsche ich auch Ihnen, liebe Leser, dass Sie immer und<br />

zu jeder Gelegenheit, das rechte Maß <strong>für</strong> sich erkennen mögen.<br />

E<strong>in</strong>es, welches es Ihnen <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie ermöglicht, glücklich und<br />

<strong>in</strong> Frieden <strong>in</strong> sich selbst zu ruhen.<br />

Ende<br />

97


E<strong>in</strong>e zauberhafte Masche (Embrace 2)<br />

oder<br />

E<strong>in</strong>e [nicht] ganz alltägliche Weihnachtsgeschichte „In the Middle of<br />

Nowhere“<br />

D<br />

er gefrorene Schnee knirschte unter jedem se<strong>in</strong>er Schritte, die<br />

ihn eilig vom Parkplatz wegführten, vorbei an e<strong>in</strong>igen <strong>in</strong> der<br />

Dämmerung nur noch schemenhaft erkennbaren Bäumen,<br />

Richtung des Gasthauses „In the Middle of Nowhere“. Alle<strong>in</strong> der<br />

Name sagte alles über den Ort, an dem er gelandet war. Unzählige Orte<br />

hatte er während se<strong>in</strong>er vielen Reisen gesehen. Dies war e<strong>in</strong>er mehr auf<br />

e<strong>in</strong>er langen Liste.<br />

Es war kalt. Ungewöhnlich kalt <strong>für</strong> Anfang Dezember. Die eisige Luft<br />

fühlte sich <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Gesicht an wie unzählige Nadelstiche. Fröstelnd zog<br />

der Händler die Schultern hoch und beschleunigte se<strong>in</strong>en Gang. Eiskalt.<br />

Eisiger Hauch <strong>in</strong> Form kle<strong>in</strong>er nebliger Wölkchen begleitete jeden<br />

Atemzug auf se<strong>in</strong>em Weg, doch es war nicht nur die eisige Kälte rundum,<br />

die sich wie e<strong>in</strong> unerwünschter Mantel aus Blei auf se<strong>in</strong>e Schultern legte.<br />

Da war noch mehr, worüber er schwieg, und was der Händler niemals<br />

e<strong>in</strong>em anderen erzählen würde.<br />

Endlich war er an dem Gasthaus angelangt und trat e<strong>in</strong>. E<strong>in</strong><br />

dampfender Schwall überhitzter Luft traf ihn unmittelbar beim<br />

Durchschreiten der Schwelle. Die rustikale Stube war voller <strong>Menschen</strong>,<br />

lärmender Stimmen und unzähliger Worte, die sich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Melange aus<br />

Gesprächen mit scheppernden Tellern, zu lauter Musik und nicht<br />

zuordenbarem Gelächter vermischte. Irgendwo am Rande konnte er noch<br />

das Knistern brennender Holzscheite <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Bollerofen wahrnehmen,<br />

den warmen Sche<strong>in</strong> der Flammen h<strong>in</strong>ter der Glasscheibe. Wärme.<br />

Ersehnte Wärme, doch sie war nicht das E<strong>in</strong>zige, was er suchte. Da war<br />

noch mehr, worüber er schwieg, und was er auch an diesem<br />

here<strong>in</strong>brechenden Abend an diesem Ort der Durchreise <strong>für</strong> sich behalten<br />

würde.<br />

Der Händler hatte e<strong>in</strong>en langen Weg h<strong>in</strong>ter sich, war müde und<br />

hungrig. Die Schlüssel <strong>für</strong> se<strong>in</strong> reserviertes Zimmer <strong>in</strong> Händen haltend<br />

stand er nach e<strong>in</strong>igen M<strong>in</strong>uten erneut <strong>in</strong> der Gaststube. Alle Tische waren<br />

besetzt, so setzte er sich auf e<strong>in</strong>en der Hocker an dem Tresen und bestellte<br />

etwas zu essen. Während er wartete, blickte er sich um. In dieser Gegend<br />

gab es nicht viele Möglichkeiten zu nächtigen, daher


war der Andrang kaum verwunderlich. Die meisten schienen <strong>in</strong><br />

kle<strong>in</strong>eren oder auch größeren Gruppen unterwegs zu se<strong>in</strong>. Kaum jemand<br />

saß alle<strong>in</strong> – so wie er. Niemand schenkte ihm großartig Beachtung. Der<br />

Händler war nur e<strong>in</strong>er unter vielen Reisenden, und so wandte er sich<br />

schließlich dem dampfenden Teller zu, den die Wirt<strong>in</strong> soeben vor ihm auf<br />

dem Tresen abgestellt hatte.<br />

Während er die heiße, <strong>in</strong>tensiv nach Wald duftende Pilzsuppe löffelte,<br />

konnte er kaum vermeiden, das Gespräch mitanzuhören, das drei Männer<br />

direkt neben ihm am Tresen führten. Diese schienen geistreichen<br />

Getränken offenbar bereits lebhaft zugetan an diesem Abend. Ihre Gestik<br />

wirkte überbordend und ihre Stimmen beschwipst. Sie lachten laut und<br />

viel, obwohl ihre Gesprächsthemen vom Händler als nicht sonderlich<br />

erheiternd empfunden wurden, weshalb er bestmöglich versuchte, all dies<br />

nicht wahrzunehmen und sich <strong>in</strong> das Display se<strong>in</strong>es Smartphones<br />

vertiefte. Auch wenn es dort nichts Interessantes zu f<strong>in</strong>den gab, es lenkte<br />

ihn vom Rundum ab – bis plötzlich e<strong>in</strong>e Socke auf eben jenem Display zu<br />

liegen kam. Der Händler blickte auf und <strong>in</strong> das Gesicht e<strong>in</strong>es unrasierten<br />

Mannes, mit roter Nase und noch röteren, glasigen Augen, der herzhaft<br />

lachte und sich dabei ungelenk <strong>für</strong> das Missgeschick entschuldigte, das<br />

beim Hantieren mit e<strong>in</strong>er Papiertüte und e<strong>in</strong>em Paar Socken entstanden<br />

war.<br />

„Stell dir vor, das hat sie mir geschenkt: Socken! Als ob ich ke<strong>in</strong>e Socken hätte“,<br />

mokierte der offensichtlich Angetrunkene s<strong>in</strong>ngemäß <strong>in</strong> weniger<br />

wohlgesonnenen Worten, die zweite Socke voller Ger<strong>in</strong>gschätzung über<br />

dem Tresen schwenkend.<br />

Der Händler betrachtete das, was vor ihm gelandet war: e<strong>in</strong>e<br />

selbstgestrickte Socke <strong>in</strong> quietschbuntem Design. Vielleicht e<strong>in</strong> wenig zu<br />

bunt <strong>für</strong> e<strong>in</strong>en erwachsenen Mann, aber so lebendig, so e<strong>in</strong>zigartig und<br />

unverwechselbar, dass er sich e<strong>in</strong> Lächeln nicht verkneifen konnte.<br />

Auf das fragende und etwas rüpelhafte „Was?“ des offenbar<br />

unzufriedenen Besitzers der Socke entgegnete der Händler: „Ich denke, da<br />

hat jemand viel Zeit und Arbeit <strong>in</strong>vestiert, um dir dieses besondere Geschenk<br />

machen zu können.“<br />

Daraufh<strong>in</strong> herrschte kurzzeitig Schweigen zwischen den Männern am<br />

Tresen <strong>in</strong>mitten der Geräuschkulisse der Gaststube, bis der Angetrunkene<br />

<strong>in</strong> schallendes Gelächter ausbrach, sich mit den Händen auf se<strong>in</strong>e<br />

Schenkel klopfte und se<strong>in</strong>en Kopf schüttelte.


„Wenn du auf so was stehst, kannst du sie gern haben. Ich schenk‘ sie dir.“<br />

„Ne<strong>in</strong> danke“, erwiderte der Händler ruhig und legte den Löffel beiseite,<br />

denn se<strong>in</strong> Teller war mittlerweile leer. „Diese Socken wurden <strong>für</strong> dich<br />

gemacht. Sie würden mir nicht passen.“<br />

Dann wandte er sich von den drei Männern ab, schob den Teller an den<br />

h<strong>in</strong>teren Rand des Tresens und deutete der Wirt<strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Wunsch zu<br />

zahlen. Die hämischen Worte der anderen ignorierend, agierte er mit<br />

Bedacht, doch auch mit verdeckter Hast, denn da war noch mehr, worüber<br />

er schwieg, und was er nicht zeigen wollte. Er beneidete <strong>in</strong>sgeheim diesen<br />

Trunkenbold um das, was sich h<strong>in</strong>ter diesem nur sche<strong>in</strong>bar banalen<br />

Geschenk verbarg: die Aufmerksamkeit e<strong>in</strong>es anderen Herzens.<br />

Nachdem der Händler se<strong>in</strong>e Rechnung beglichen hatte, stand er vom<br />

Tresen auf und machte e<strong>in</strong> paar Schritte <strong>in</strong> die noch immer übervolle<br />

Gaststube. E<strong>in</strong>erseits wollte er sich noch nicht auf se<strong>in</strong> Zimmer<br />

zurückziehen, andererseits schien hier auch ke<strong>in</strong> passender Platz <strong>für</strong> ihn.<br />

Während er s<strong>in</strong>nierend im Raum stand, holte ihn e<strong>in</strong>e freundliche Stimme<br />

aus se<strong>in</strong>en Gedanken:<br />

„Vergiss den Kerl. Manchmal bekommen die Falschen e<strong>in</strong> Geschenk vom<br />

Leben, das sie nicht zu schätzen wissen. Das ist zwar schade, aber nicht zu<br />

ändern. Hier ist noch Platz. Magst du dich setzen?“<br />

H<strong>in</strong>ter e<strong>in</strong>em großformatigen Block tauchte das Gesicht e<strong>in</strong>er Frau auf,<br />

deren Augen mehr lächelten als ihr Mund. Sie lehnte mit ihrem Rücken<br />

am dunkelblauen Kachelofen, der se<strong>in</strong>e wohlige Wärme unverkennbar bis<br />

weit <strong>in</strong> die Stube ausstrahlte. Dennoch schien es dem Händler, als würde<br />

auch von dieser Frau e<strong>in</strong>e Form von Wärme ausgehen, und so folgte er<br />

gerne ihrer E<strong>in</strong>ladung. Sie schob e<strong>in</strong> gestreiftes Sitzkissen <strong>in</strong> se<strong>in</strong>e<br />

Richtung. Er setzte sich neben sie auf die knarrende Holzbank.<br />

„Was machst du hier?“ erkundigte sie sich.<br />

„Ich b<strong>in</strong> auf der Durchreise.“<br />

„S<strong>in</strong>d wir das nicht alle – mehr oder weniger“, erwiderte die Frau kryptisch,<br />

die sich als Portraitzeichner<strong>in</strong> zu erkennen gab. Rund um sie h<strong>in</strong>gen an<br />

der Wand e<strong>in</strong>ige ihrer Werke. Fe<strong>in</strong> ausgeführte, detailreiche Studien von<br />

Gesichtern, die das Leben gezeichnet hatte – im doppelten Worts<strong>in</strong>n.<br />

Auch jetzt glitt ihre Hand fl<strong>in</strong>k über den Skizzenblock, führte sicher hier<br />

e<strong>in</strong>en Strich und dort e<strong>in</strong>e Schraffierung aus. Der Händler folgte<br />

<strong>in</strong>teressiert ihrem Tun.<br />

„Und was hat dich hierhergeführt?“


„Ich verdiene mir mit den Zeichnungen e<strong>in</strong> kle<strong>in</strong>es Zubrot. Wenn die<br />

Gaststube voll ist, f<strong>in</strong>det sich meistens Kundschaft. Und wenn nicht, übe ich<br />

e<strong>in</strong>fach e<strong>in</strong> wenig.“<br />

Sie lächelte, und ihr Lächeln war e<strong>in</strong>es, das e<strong>in</strong> Herz erwärmen konnte.<br />

An diesem Abend saßen der Händler und die Portraitzeichner<strong>in</strong> noch<br />

lange an den Kachelofen gelehnt <strong>in</strong> der Gaststube, die sich von Stunde zu<br />

Stunde leerte, bis nur noch die beiden und die Wirt<strong>in</strong> übrig waren. Sie<br />

unterhielten sich über ferne Länder; über Wunder, die sich erblickt hatten;<br />

über Rätsel, die noch der Lösung harrten; über das Leben, das sie<br />

hierhergeführt hatte. Wohl niemand hätte vermutet, dass sie e<strong>in</strong>ander<br />

eben erst kennengelernt hatten, so vertraut wirkten sie nebene<strong>in</strong>ander,<br />

stimmig im Tun und Denken. Leider endete dieser Abend mit der<br />

Sperrstunde.<br />

Als der Händler schließlich se<strong>in</strong> Zimmer betrat, hielt er <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en<br />

Händen e<strong>in</strong>en Bogen Papier, auf dem se<strong>in</strong> Gesicht zu erkennen war. Die<br />

Portraitzeichner<strong>in</strong> hatte das Blatt signiert und auch ihre Telefonnummer<br />

dazugeschrieben, <strong>für</strong> den Fall, dass er noch Änderungen wünschte. Er<br />

betrachtete das Werk noch e<strong>in</strong>ige Zeit, bevor er es sorgsam<br />

zusammenrollte, mit e<strong>in</strong>em Gummiband fixierte und ordentlich <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em<br />

Koffer verstaute. Se<strong>in</strong>e Gedanken und Gefühle <strong>in</strong> dieser Nacht waren<br />

nicht so e<strong>in</strong>fach zu ordnen. Er lag lange wach, denn da war noch mehr,<br />

worüber er schwieg, weil er es sich selbst nicht erklären konnte.<br />

Am nächsten Morgen setzte der Händler se<strong>in</strong>en Weg fort, ohne die<br />

Portraitzeichner<strong>in</strong> noch e<strong>in</strong>mal getroffen zu haben. Mit jedem Tag führte<br />

ihn se<strong>in</strong>e Reise weiter fort von dem Gasthaus „In the Middle of Nowhere“,<br />

doch se<strong>in</strong>e Gedanken kehrten täglich dorth<strong>in</strong> zurück, wenn er den Bogen<br />

Papier zur Hand nahm und die Zeichnung darauf betrachtete. Es waren<br />

nur Striche, L<strong>in</strong>ien und Schraffierungen, unverkennbar se<strong>in</strong> Gesicht,<br />

dennoch – da war noch mehr, was die Portraitzeichner<strong>in</strong> erfasst und<br />

festgehalten hatte. Facetten se<strong>in</strong>er selbst, die niemand außer ihm kennen<br />

konnte. In ihrer Zeichnung fand er, was er der Welt zeigte – und was er<br />

vor ihr verbarg. Dass sie ihn auf diese Weise wahrzunehmen vermochte,<br />

irritierte den Händler zutiefst. Auch wenn er den Wunsch verspürte, sie<br />

wiederzusehen, so zögerte er doch, sie anzurufen, denn er <strong>für</strong>chtete, dass<br />

da etwas war, das sie nicht auf dieselbe Weise erwidern würde. Zu viele<br />

Wunden aus der Vergangenheit, die noch immer schmerzten, hielten ihn<br />

davon ab, jenen Schritt zu wagen, den er ersehnte und gleichzeitig mehr<br />

als alles andere <strong>für</strong>chtete.


Wenige Tage vor Weihnachten schlug der Händler e<strong>in</strong>en Umweg e<strong>in</strong>,<br />

um noch e<strong>in</strong>mal zum Gasthaus „In the Middle of Nowhere“ zu fahren. Er<br />

wusste selbst nicht so genau, was er dort zu f<strong>in</strong>den erhoffte, doch etwas<br />

ließ ihn nicht zur Ruhe kommen. Als er die Stube betrat, fiel se<strong>in</strong> Blick<br />

sofort auf den Platz am dunkelblauen Kachelofen, an dem die<br />

Portraitzeichner<strong>in</strong> zuletzt gesessen hatte. Der Platz war leer. Se<strong>in</strong>e<br />

Hoffnung wich e<strong>in</strong>em Gefühl der Schwere, des Bedauerns, das er mit<br />

e<strong>in</strong>er großen Portion Pragmatismus im S<strong>in</strong>ne „ist wohl besser so“ zur Seite<br />

schob. Dennoch nahm der Händler wieder an der Stelle Platz, an der er<br />

auch an diesem Abend vor e<strong>in</strong>igen Wochen gesessen war, auf dem<br />

gestreiften Kissen, mit dem Rücken an der warmen Seitenfront des<br />

Kachelofens lehnend. Die Wirt<strong>in</strong> kam mit der Speisekarte, die aus e<strong>in</strong>em<br />

e<strong>in</strong>zelnen lam<strong>in</strong>ierten Blatt bestand. Der Händler w<strong>in</strong>kte ab und bestellte<br />

nur die Pilzsuppe, die er zuletzt gegessen hatte.<br />

Wenige M<strong>in</strong>uten später kehrte die Wirt<strong>in</strong> mit e<strong>in</strong>em Teller dampfender,<br />

nach Wald duftender Suppe zurück – und e<strong>in</strong>er kle<strong>in</strong>en Schachtel. Beides<br />

stellte sie vor ihrem Gast auf den Tisch und me<strong>in</strong>te, das Paket sei <strong>für</strong> ihn<br />

deponiert worden. Der Händler runzelte die Stirn. Wer sollte <strong>für</strong> ihn hier<br />

e<strong>in</strong> Paket deponieren? In the Middle of nowhere? Verwundert griff er<br />

danach. Es war schlichter, grauer Karton, verschlossen mit e<strong>in</strong> paar<br />

transparenten Klebestreifen, nicht sonderlich schwer, und wenn er die<br />

Schachtel schüttelte, war ke<strong>in</strong> Geräusch dar<strong>in</strong> zu hören.<br />

Der Händler schob den Teller Suppe etwas beiseite und begann,<br />

vorsichtig die Klebestreifen zu lösen. Dann nahm er den oberen Teil der<br />

Schachtel ab. Weißliches Seidenpapier kam zum Vorsche<strong>in</strong>, dass er<br />

raschelnd entfaltete und darunter e<strong>in</strong> paar handgestrickte Socken<br />

entdeckte, die er staunend aus der Verpackung holte. Kunterbunt waren<br />

sie mit e<strong>in</strong>em eigenwilligen Muster, angenehm weich, alles andere als<br />

perfekt, denn e<strong>in</strong>ige Maschen schienen nicht ganz <strong>in</strong>s Muster zu passen,<br />

doch genau das machte sie.


WINTERMOND (bisher unveröffentlicht)<br />

E<strong>in</strong>e Weihnachtsgeschichte<br />

Wie e<strong>in</strong> lebendig gewordenes W<strong>in</strong>termärchen liegen die Straßen der<br />

Stadt tief verschneit vor mir. Unzählige bunte Lichter glitzern und funkeln<br />

zwischen dem warmen Licht der von Reisig umranken Laternen. Es ist<br />

kalt, dennoch herrscht rundum reges Treiben <strong>in</strong> der e<strong>in</strong>brechenden<br />

Dunkelheit. Nur noch wenige Tage bis zum Weihnachtsfest. Besorgungen<br />

<strong>in</strong> letzter M<strong>in</strong>ute. Geschäftigkeit mischt sich unter die fröhlichen Klänge<br />

weihnachtlicher Melodien an den Punschständen, die zum Verweilen<br />

e<strong>in</strong>laden würden, doch mich zieht es weiter. Fort von den <strong>Menschen</strong>,<br />

h<strong>in</strong>e<strong>in</strong> <strong>in</strong> die Stille dieser W<strong>in</strong>ternacht.<br />

Kurze Zeit später f<strong>in</strong>de ich mich auf e<strong>in</strong>em menschenleeren Pfad<br />

wieder, schlendere den zugefrorenen Fluss entlang, dessen vom W<strong>in</strong>d<br />

zerfurchte Eisoberfläche den silbrigen Sche<strong>in</strong> des Mondes reflektiert. Die<br />

Kälte kriecht mir <strong>in</strong> die Knochen. Unter jedem me<strong>in</strong>er Schritte knirscht der<br />

gefrorene Boden, durchbricht die beklemmende Stille, <strong>in</strong> der auch me<strong>in</strong>e<br />

Gedanken <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er e<strong>in</strong>zigen Frage erstarrt s<strong>in</strong>d: Warum?<br />

Warum war all Das geschehen? Warum konnten wir – ich – es nicht<br />

verh<strong>in</strong>dern? Warum war das Leben so unerbittlich? Warum führten<br />

manche Wege sche<strong>in</strong>bar unaufhaltsam <strong>in</strong> den Abgrund? Warum g<strong>in</strong>gen<br />

manche viel zu früh h<strong>in</strong>über <strong>in</strong> das große Unbekannte? Warum auch diese<br />

e<strong>in</strong>e Seele? Warum … e<strong>in</strong> Wort, das ich immer und immer wieder fragend<br />

dem e<strong>in</strong>zigen entgegenschleudere, der mich auf diesem e<strong>in</strong>samen Pfad<br />

begleitet: dem W<strong>in</strong>termond hoch über mir am sternenklaren<br />

Nachthimmel. Antworten f<strong>in</strong>den sich ke<strong>in</strong>e, denn es gibt sie nicht.<br />

Resignierend ziehe ich me<strong>in</strong>e Schultern etwas höher im Versuch, die Kälte<br />

e<strong>in</strong> wenig auszusperren, senke me<strong>in</strong>en Blick auf den verschneiten Boden<br />

vor mir.<br />

„Es gibt Antworten auf de<strong>in</strong>e Fragen“, flüstert e<strong>in</strong>e Stimme <strong>in</strong> der Stille<br />

der W<strong>in</strong>ternacht.<br />

Ich halte <strong>in</strong>ne, hebe me<strong>in</strong>en Kopf und blicke h<strong>in</strong>auf zur silbrigen<br />

Scheibe über mir. Der Hauch me<strong>in</strong>es Atems legt sich wie Nebelschwaden<br />

um jenen, der so nah sche<strong>in</strong>t, und doch unendlich fern, unerreichbar, wie<br />

jene Seele, die mich mit Fragen zurückließ, auf die ich immer noch<br />

Antworten suche.


„Was du suchst, ist längst hier.“<br />

Ist es das? Mit e<strong>in</strong>em tiefen Atemzug schließe ich me<strong>in</strong>e Augen, spüre<br />

die eisige Luft <strong>in</strong> me<strong>in</strong>e Lungen strömen, fühle die Wärme <strong>in</strong> mir weichen.<br />

„Die Antworten s<strong>in</strong>d da, vertrau mir.“<br />

Ungläubig schüttle ich me<strong>in</strong>en Kopf.<br />

„Sie s<strong>in</strong>d da, <strong>in</strong> diesem Augenblick, hier und jetzt.“<br />

Wo? Schreie ich stumm <strong>in</strong> die Dunkelheit h<strong>in</strong>aus, r<strong>in</strong>gend mit me<strong>in</strong>en<br />

Tränen. Wo s<strong>in</strong>d diese Antworten? Nicht e<strong>in</strong>e habe ich bis heute<br />

gefunden. Nichts, das erklärt oder Frieden br<strong>in</strong>gt. Nichts.<br />

„Du stellst die Fragen <strong>in</strong> de<strong>in</strong>er Sprache, doch ich antworte <strong>in</strong> me<strong>in</strong>er.<br />

Lerne me<strong>in</strong>e Sprache, und du wirst verstehen.“<br />

De<strong>in</strong>e Sprache? Welches war die Sprache des W<strong>in</strong>termondes? Die<br />

Sprache des Schicksals? Oder des Lebens? Me<strong>in</strong> Blick folgt e<strong>in</strong>em<br />

Streiflicht über den zugefrorenen Fluss Richtung Unendlichkeit. Verbirgt<br />

sich <strong>in</strong> der Dunkelheit die Antwort, die ich suche? Ich lausche <strong>in</strong> die Stille,<br />

höre das leise Klirren der Eiskristalle an den kahlen Zweigen e<strong>in</strong>er Weide,<br />

die sich kaum merkbar <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Brise wiegen. Entdecke die tänzelnden<br />

Schneeflocken, zuerst nur e<strong>in</strong>zelne, dann mehr und mehr, die langsam<br />

herabrieseln und e<strong>in</strong>e weiße Decke über der erstarrten Welt ausbreiten. Es<br />

fühlt sich an, als sei selbst die Zeit zum Stillstand gekommen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em<br />

e<strong>in</strong>zigen Herzschlag. Ich halte me<strong>in</strong>en Atem an.<br />

„All der Schmerz. Denkst du wirklich, jene Seele, um die du trauerst,<br />

f<strong>in</strong>det Frieden <strong>in</strong> dem Wissen, das du leidest? Soll das Andenken an jene<br />

Seele erfüllt se<strong>in</strong> von Schmerz? Oder von Liebe? Von all den<br />

wundervollen Momenten, die ihr geteilt habt? Von Dankbarkeit <strong>für</strong> den<br />

geme<strong>in</strong>samen Weg? Lass nicht zu, dass de<strong>in</strong>e Liebe vom Schmerz erstickt<br />

wird.“<br />

Mit geschlossenen Augen atme ich langsam aus, spüre e<strong>in</strong>e heiße Träne<br />

auf me<strong>in</strong>en kalten Wangen, und e<strong>in</strong>e wortlose Antwort <strong>in</strong> mir, während<br />

sich zaghaft e<strong>in</strong> Lächeln se<strong>in</strong>en Weg <strong>in</strong> diese Welt bahnt, me<strong>in</strong> Herz sich<br />

gefühlt weit über me<strong>in</strong>en Körper h<strong>in</strong>aus öffnet und e<strong>in</strong> wärmendes Licht<br />

die Stille der Nacht erhellt, die silbrige Scheibe hoch über mir magisch<br />

zum Leuchten br<strong>in</strong>gt. Er<strong>in</strong>nerungen steigen aus der Dunkelheit empor.<br />

Wunderschöne Er<strong>in</strong>nerungen, hell, voller Lachen und Lebendigkeit,<br />

sprühend vor Lebensfreude, berühren sie mich tief <strong>in</strong> me<strong>in</strong>em Innersten,<br />

brechen die starre Kruste des Schmerzes auf, führen mich zurück <strong>in</strong> den<br />

zeitlosen


Augenblick <strong>in</strong>niger Verbundenheit, die weit über das Vergängliche<br />

h<strong>in</strong>aus existiert. E<strong>in</strong>e Gewissheit, die ich nicht <strong>in</strong> Worte fassen kann, lässt<br />

mich schweigend zum W<strong>in</strong>termond hochblicken. Die Fragen <strong>in</strong> mir s<strong>in</strong>d<br />

verstummt.<br />

Am folgenden Morgen gehören me<strong>in</strong>e Fußspuren zu den ersten, die<br />

sich im Neuschnee auf den Wegen abzeichnen. Die <strong>Menschen</strong>, die mir<br />

begegnen, blicken mich an und <strong>für</strong> e<strong>in</strong>en kurzen Augenblick, bevor sie<br />

wieder <strong>in</strong> ihrem Treiben vers<strong>in</strong>ken, huscht e<strong>in</strong> Lächeln über ihr Gesicht,<br />

ganz so, als könnten sie erahnen, was ich <strong>in</strong> mir trage: Umfassenden<br />

Frieden und die Dankbarkeit da<strong>für</strong>, e<strong>in</strong> Stück me<strong>in</strong>es Weges mit e<strong>in</strong>er<br />

Seele geteilt zu haben, der ich <strong>in</strong> Liebe verbunden war und b<strong>in</strong> – wo auch<br />

immer sie nun weilt.<br />

Dies erkannt zu haben, ist e<strong>in</strong> Geschenk des W<strong>in</strong>termondes an mich,<br />

dass ich bis ans Ende me<strong>in</strong>es Weges dankbar <strong>in</strong> Ehren halten werde. Das<br />

Geschenk e<strong>in</strong>er besonderen Nacht der Stille und Bes<strong>in</strong>nung.


E<strong>in</strong>e mystische Panne (Embrace 2)<br />

D<br />

er Verlauf der Straße war kaum noch zu erkennen <strong>in</strong> dem<br />

dichten Schneegestöber. Heftige Sturmböen erfassten den<br />

Wagen seitlich und drohten ihn <strong>in</strong> den Straßengraben zu<br />

drücken. Niemand war freiwillig <strong>in</strong> diesem ungewöhnlich<br />

starken Schneesturm unterwegs – außer dem, der am Steuer se<strong>in</strong>es<br />

Wagens darum rang, vorwärtszukommen. Woh<strong>in</strong>, das war ihm selbst<br />

nicht so ganz klar. Vielleicht sah er es selbst nicht so, aber er war e<strong>in</strong><br />

Suchender ohne Ziel, der be<strong>in</strong>ahe bl<strong>in</strong>d durch e<strong>in</strong> eisiges Unwetter<br />

manövrierte, e<strong>in</strong>e Welt <strong>in</strong> diffusem Weiß ohne klare Konturen, der samt<br />

se<strong>in</strong>em Vehikel von der Wucht des Sturms h<strong>in</strong> und hergeschaukelt wurde.<br />

Plötzlich rumpelte es heftig, gleich darauf folgte e<strong>in</strong> dumpfes Krachen, der<br />

Motor heulte kurz auf und verstummte endgültig.<br />

Na wunderbar, dachte sich der Suchende, der aufgrund der kaum<br />

vorhandenen Sicht e<strong>in</strong>e Kurve übersehen hatte und mit se<strong>in</strong>em Wagen<br />

unsanft im Straßengraben gelandet war. Rund um ihn tobte der<br />

Schneesturm unaufhörlich. Dennoch stieg er aus und öffnete die<br />

Motorhaube, aus der dunkler Rauch qualmte. Gestrandet im nirgendwo.<br />

Wenige Augenblicke genügten, um die Kälte zu spüren, die unter die<br />

Kleidung und <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Körper kroch. Se<strong>in</strong> Blick reichte kaum e<strong>in</strong> paar<br />

Meter weit, aber er wusste auch so, dass er mit se<strong>in</strong>em Wagen weit<br />

entfernt von der nächsten Siedlung zum Liegen gekommen war. Mit<br />

se<strong>in</strong>en <strong>in</strong>zwischen klammen F<strong>in</strong>gern zog der Suchende se<strong>in</strong> Handy aus<br />

der Gesäßtasche se<strong>in</strong>er Jeans. Das Display glänzte <strong>in</strong> schwarz. Akku leer.<br />

Auch das noch, murrte er wortlos <strong>in</strong> sich h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>. Was nun?<br />

Da tauchten wie aus dem Nichts zwischen den wirbelnden<br />

Schneeflocken zwei Lichter auf, begleitet vom tiefen Brummen e<strong>in</strong>es<br />

Dieselmotors. Wenige Augenblicke später stand e<strong>in</strong> großer, stämmiger<br />

Mann mit Vollbart und e<strong>in</strong> wenig Schmieröl im Gesicht vor ihm.<br />

„Sieht so aus, als käme ich genau zur richtigen Zeit“, stellte der Fremde<br />

lächelnd fest. Wie sich zeigte, war es tatsächlich Glück im Unglück, denn<br />

er war Mechaniker und se<strong>in</strong>e Werkstatt lag nur wenige hundert Meter<br />

entfernt, das wohl e<strong>in</strong>zige Anwesen im Umkreis von mehreren<br />

Kilometern. Schnell brachten die beiden Männer e<strong>in</strong> Abschleppseil<br />

zwischen ihren Fahrzeugen an. Sie beeilten sich, denn die Sturmböen<br />

tobten immer heftiger. Allmählich wurde es auch dämmrig, und damit<br />

noch kälter als bisher.


Kaum e<strong>in</strong>e halbe Stunde später schoben sie den beschädigten Wagen<br />

durch das große Tor <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Art Scheune. Viel hatte der Suchende von<br />

außen nicht erkennen können. E<strong>in</strong>setzende Dämmerung und der<br />

Schneesturm trugen das ihrige dazu bei. Hier dr<strong>in</strong>nen war es deutlich<br />

gemütlicher, wenngleich auch wesentlich bunter. Mehrere Werkbänke<br />

mit e<strong>in</strong>er Unmenge an Werkzeug, alles fe<strong>in</strong> säuberlich geordnet, reihten<br />

sich vor e<strong>in</strong>er langen Wand aus Holzbrettern ane<strong>in</strong>ander, auf der e<strong>in</strong>ige<br />

verblasste Werbetafeln aus Blech – Zeitzeugen e<strong>in</strong>es anderen<br />

Jahrhunderts – h<strong>in</strong>gen. Zwischen manchen dieser Bretter klafften kle<strong>in</strong>e<br />

Ritzen, durch die der eisige W<strong>in</strong>d pfiff und die e<strong>in</strong>e oder andere<br />

Schneeflocke mit sich trieb. Im h<strong>in</strong>teren Bereich der Scheune standen<br />

e<strong>in</strong>ige ältere Modelle, wohl Oldtimer. Von der Decke h<strong>in</strong>gen Ketten, Teile<br />

e<strong>in</strong>es Lastenkrans. Alles <strong>in</strong> allem e<strong>in</strong>e funktionstüchtige Werkstatt und<br />

damit genau das, was der Suchende jetzt dr<strong>in</strong>gender als alles andere<br />

brauchte.<br />

Während es im Freien h<strong>in</strong>ter den schmutzigen Fensterscheiben<br />

allmählich dunkel wurde, machte sich der Mechaniker hier dr<strong>in</strong>nen an die<br />

Arbeit. Zuvor hatte er <strong>für</strong> den Suchenden und sich selbst noch Kaffee<br />

gemacht, dessen aromatischer Duft den Hauch von Schmieröl zum<strong>in</strong>dest<br />

zeitweise überlagerte. Der Suchende lehnte an e<strong>in</strong>er der Werkbänke und<br />

hielt nachdenklich e<strong>in</strong>e sehr große Tasse <strong>in</strong> weiß mit dem ultimativen<br />

gelben Smiley darauf <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en noch immer klammen Händen.<br />

„Was treibt dich bei diesem Wetter und so kurz vor den Feiertagen <strong>in</strong> unsere<br />

verschlafene Gegend?“ erkundigte sich der Mechaniker beiläufig. Als<br />

m<strong>in</strong>utenlang ke<strong>in</strong>e Antwort folgte, schlussfolgerte er pragmatisch: „Also<br />

auf der Flucht. Wovor – wenn ich fragen darf?“<br />

Erst jetzt hob der Suchende se<strong>in</strong>en Kopf, blickte erstaunt auf den<br />

Mechaniker, der geräuschvoll <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Werkzeugkiste kramte.<br />

„Wieso denkst du, dass ich auf der Flucht b<strong>in</strong>?“ entgegnete der Suchende<br />

e<strong>in</strong> wenig nervös.<br />

„Man sieht es dir an.“<br />

Der Mechaniker lächelte verschmitzt <strong>in</strong> Richtung Werkbank, wobei<br />

se<strong>in</strong>e strahlendblauen Augen schelmisch funkelten, bevor er sich wieder<br />

dem Problem im Motorraum des Wagens widmete.<br />

Immer noch darüber rätselnd, wie dieser Fremde das so rasch erkannt<br />

haben konnte, fragte sich der Suchende, ob er darüber sprechen sollte. Da<br />

war etwas, das er bislang noch niemandem erzählt hatte, das ihn<br />

beschäftigte, <strong>für</strong> das er ke<strong>in</strong>e Lösung wusste und


das ihn <strong>in</strong> diese E<strong>in</strong>öde getrieben hatte. E<strong>in</strong>fach so mit e<strong>in</strong>em Fremden<br />

darüber reden? Die Skepsis war groß <strong>in</strong> ihm, trotzdem schob er sie –<br />

warum auch immer – beiseite und äußerte sich ziemlich kryptisch zur<br />

Frage des Mechanikers.<br />

„Da ist diese Frau.“<br />

Zwischen den metallenen E<strong>in</strong>geweiden des Motorraums drang e<strong>in</strong><br />

amüsierter Kommentar hervor.<br />

„Cherchez la femme … hab‘ ich mir schon gedacht. Muss e<strong>in</strong>e ziemliche<br />

Xanthippe se<strong>in</strong>, wenn sie dich bei diesem Wetter rausscheucht.“<br />

„Ne<strong>in</strong>, eigentlich nicht“, erwiderte der Suchende zögernd, „ganz im<br />

Gegenteil. Sie ist wunderbar, liebevoll, <strong>für</strong>sorglich, fröhlich, witzig… Sie ist<br />

etwas Besonderes.“<br />

„Reich mir mal den Schlüssel, der neben dir liegt“, forderte der Mechaniker,<br />

immer noch kopfüber im Motorraum steckend, und ergänzte, als er das<br />

Werkzeug ohne aufzusehen ergriffen hatte, „wenn sie also so ist, wie du sie<br />

gerade beschrieben hast, liegt es wohl daran, dass sie nichts von dir wissen will.“<br />

Der Suchende schüttelte zunächst schweigend se<strong>in</strong>en Kopf, was der<br />

Mechaniker natürlich nicht sehen konnte, weshalb er mit Worten<br />

nachsetzte: „Ne<strong>in</strong>, das ist es nicht. Sie hat mir e<strong>in</strong>deutig zu verstehen gegeben,<br />

dass sie mit mir zusammen se<strong>in</strong> möchte.“<br />

„Dann versteh ich jetzt nicht, warum du auf der Flucht bist“, rätselte der<br />

Mechaniker, während er sich aufrichtete, um se<strong>in</strong>em Überraschungsgast<br />

an diesem stürmischen W<strong>in</strong>tertag <strong>in</strong>s Gesicht zu blicken. Vielleicht ließe<br />

sich die Erklärung dort ablesen?<br />

„Es ist kompliziert.“<br />

„Ist es das nicht immer?“<br />

Der Suchende senkte den Blick. Ja, es war kompliziert, irgendwie, aber<br />

irgendwie auch nicht. Und irgendwie hatte der Mechaniker Recht: Er war<br />

auf der Flucht. Auch wenn er es auf der e<strong>in</strong>en Seite nicht wollte, konnte er<br />

auf der anderen nicht anders. Se<strong>in</strong>e Gedanken kreisten <strong>in</strong> der wortlosen<br />

Stille der Scheune. Er fiel aus der hektischen Zeit des Alltags <strong>in</strong> die<br />

Unendlichkeit e<strong>in</strong>es Augenblicks, e<strong>in</strong>er unbeantworteten Frage, als die<br />

Stimme des Mechanikers ihn zurück <strong>in</strong> die Gegenwart holte:<br />

„Ja, es ist schon blöd, e<strong>in</strong>e zu treffen, die all das ist, was man gesucht hat. Du<br />

lässt dich drauf e<strong>in</strong>. Erst ist es wunderbar. Dann geht was schief, du verlierst alles<br />

und weißt, dass du nie wieder E<strong>in</strong>e wie sie f<strong>in</strong>den wirst. Da ist es doch viel besser,<br />

es gar nicht erst zu versuchen.“


„Du hältst mich <strong>für</strong> feige?“<br />

„Ne<strong>in</strong>, ganz und gar nicht“, erwiderte der Mechaniker ruhig, blickte den<br />

Suchenden e<strong>in</strong>ige Zeit schweigend an, <strong>in</strong> der nur das Pfeifen des W<strong>in</strong>des<br />

vor den Fenstern zu hören war, und fuhr dann fort: „Ich denke, du hast gute<br />

Gründe <strong>für</strong> de<strong>in</strong>e Entscheidung und es gehört e<strong>in</strong>e Menge Mut dazu, e<strong>in</strong><br />

Geschenk des Lebens nicht anzunehmen.“<br />

Bis zu diesem Zeitpunkt war dies auch die Überzeugung des<br />

Suchenden, doch nun war er sich dessen nicht mehr so sicher.<br />

„Feierabend <strong>für</strong> heute. Morgen früh geht’s weiter. Bis Mittag sollte de<strong>in</strong><br />

Wagen wieder flott se<strong>in</strong>. Du kannst heute Nacht auf me<strong>in</strong>er Couch schlafen. Bei<br />

dem Wetter kommst du zu Fuß nicht weit und Taxi wird sich ke<strong>in</strong>es hier raus<br />

wagen.“<br />

Als wollte er die Worte bekräftigen, heulte der Sturm kräftig rund um<br />

die Scheune, fauchte zwischen den Ritzen der Wände h<strong>in</strong>durch und<br />

scheuchte auch jenen auf, der bislang zusammengekauert auf e<strong>in</strong>em alten<br />

Schrank geschlafen hatte.<br />

„Diego, hab‘ ich nicht Recht? Ke<strong>in</strong> Wetter, um vor die Tür zu gehen.“<br />

Geschmeidig landete der rote Kater auf se<strong>in</strong>en vier Pfoten auf dem<br />

staubigen Boden der Scheune, streckte sich ausgiebig, legte dabei se<strong>in</strong>e<br />

spitzen Ohren nach h<strong>in</strong>ten und zeigte se<strong>in</strong>e scharfen Krallen.<br />

Anschließend trabte er munter auf den Suchenden zu und lehnte sich<br />

schnurrend gegen se<strong>in</strong> Be<strong>in</strong>. Dieser war noch unschlüssig, ob er die<br />

E<strong>in</strong>ladung annehmen sollte, auch wenn es ke<strong>in</strong>e echte Alternative dazu<br />

gab, <strong>in</strong>mitten e<strong>in</strong>es Schneesturms <strong>in</strong> der E<strong>in</strong>öde.<br />

„Sieht nicht danach aus, als würde Diego e<strong>in</strong>e Absage akzeptieren.“<br />

Das alte Tankstellenhäuschen, das dem Blick des Suchenden zuvor<br />

entgangen war, stand unmittelbar neben der Scheune und stellte sich als<br />

m<strong>in</strong>imalistisches, dennoch behagliches Zuhause des Mechanikers heraus.<br />

Auf dem Herd brodelte <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em großen Topf e<strong>in</strong> kräftiges Gulasch, das<br />

sich wunderbar da<strong>für</strong> eignete, sowohl den Hunger zu stillen als auch<br />

durch e<strong>in</strong>, zwei Fläschchen Bier begleitet zu werden. An diesem<br />

Männerabend drehten sich die Gespräche um viele Themen, um Motoren,<br />

Sport, auch e<strong>in</strong> wenig um das Leben selbst. Mittendr<strong>in</strong> schlummerte<br />

Diego auf e<strong>in</strong>em Stuhl dicht neben dem prasselnden Bollerofen,<br />

unberührt von den Gesprächen oder dem tobenden Sturm. H<strong>in</strong>ter der<br />

Frontscheibe aus Glas tanzten orange-rote Flammen. Sie drängten mit<br />

ihrem behaglichen Licht auch dann noch die völlige Dunkelheit <strong>in</strong> dieser<br />

sturmumtosten W<strong>in</strong>ternacht zurück, als der Mechaniker


sich längst im anderen Zimmer schlafen gelegt hatte. Der Suchende<br />

streckte sich unter e<strong>in</strong>er farbenprächtigen Patchwork-Decke auf dem Sofa<br />

aus. Anfangs störte er sich noch am Sche<strong>in</strong> des Feuers im Ofen, am leisen<br />

Knacken und Knistern der glosenden Holzscheite, das ab und an von e<strong>in</strong>er<br />

besonders heftigen Sturmbö übertönt wurde, doch es war e<strong>in</strong> langer Tag<br />

<strong>für</strong> ihn gewesen und schon bald schlief er e<strong>in</strong>.<br />

Mitten <strong>in</strong> der Nacht erwachte der Suchende und verspürte e<strong>in</strong>en<br />

heftigen Druck auf se<strong>in</strong>er Brust, der ihm den Atem zu rauben schien. Als<br />

er se<strong>in</strong>e Augen öffnete, erblickte er vor sich zwei glühende Punkte, die ihn<br />

anzustarren schienen. Im schwachen Sche<strong>in</strong> des Bollerofens entpuppte<br />

sich das Gewicht auf se<strong>in</strong>er Brust als Diego, der gleich e<strong>in</strong>er Sph<strong>in</strong>x<br />

majestätisch auf dem Suchenden thronte und ihn mit strengem Blick<br />

fixierte.<br />

„Junge, du bist ganz schön schwer“, mokierte er se<strong>in</strong>e unfreiwillige Lage<br />

als Ruhestatt des Katers.<br />

„Und du bist ganz schön verschlafen“, erwiderte Diego schlagfertig.<br />

Verdutzt hielt der Suchende <strong>in</strong>ne. Hatte der Kater mit ihm gesprochen?<br />

Das konnte nur e<strong>in</strong> schräger Traum se<strong>in</strong>, oder …<br />

„Oder was?“<br />

… oder er hatte vorh<strong>in</strong> wohl doch e<strong>in</strong> Bier zu viel getrunken.<br />

„Zweifel, de<strong>in</strong> Name ist Mensch“, konstatierte Diego trocken und kniff<br />

se<strong>in</strong>e Augen zusammen, was ihm e<strong>in</strong>en gefährlichen Raubtierblick<br />

verlieh.<br />

E<strong>in</strong>deutig. Er musste betrunken se<strong>in</strong>.<br />

„Und wenn nicht? Was, wenn ich beschlossen habe, dir bei de<strong>in</strong>em<br />

komplizierten Fall zu helfen. Wäre das so unglaublich?“<br />

„Ja.“<br />

Diego legte se<strong>in</strong>en Kopf zur Seite, kratzte sich mit e<strong>in</strong>er Pfote h<strong>in</strong>ter<br />

se<strong>in</strong>em l<strong>in</strong>ken Ohr - was den unter ihm liegenden Suchenden e<strong>in</strong> wenig<br />

unruhig werden ließ, ob der blitzenden Krallen – und schüttelte sich dann<br />

am ganzen Körper.<br />

„<strong>Menschen</strong>.“<br />

Mit e<strong>in</strong>em Schwung wuchtete sich Diego auf se<strong>in</strong>e vier Pfoten, die nun<br />

ihrerseits an vier Stellen heftig auf den Brustkorb des Mannes unter ihm<br />

drückten. Der Kater senkte se<strong>in</strong>en Kopf. Se<strong>in</strong>e Schnurrbarthaare kitzelten<br />

die Nase des Suchenden.


„Dem Alten kannst du ja was vormachen, aber mir nicht. Ich habe dich<br />

durchschaut. Ich weiß, wovor du wirklich davonläufst.“<br />

Ach ja?<br />

„Kompliziert? Ne<strong>in</strong>, die Sache ist ganz e<strong>in</strong>fach.“<br />

Das war sie nicht!<br />

„Schnickschnack“, fauchte Diego mürrisch, „Du liebst diese Frau. Sie liebt<br />

dich. Alles bestens. Warum willst du es kompliziert machen?“<br />

„Weil es nicht so e<strong>in</strong>fach ist“, erwiderte der Suchende genervt, und spürte<br />

im nächsten Augenblick die Krallen des Katers, die sich durch die bunte<br />

Patchwork-Decke h<strong>in</strong>durch <strong>in</strong> se<strong>in</strong>e Haut bohrten.<br />

„Sorry“, entschuldigte sich Diego halbherzig, „vernunftbefreite<br />

menschliche Sturheit löst bei mir e<strong>in</strong>ige Reflexe aus.“<br />

Der Suchende schnaufte gereizt. Welch Anmaßung lag <strong>in</strong> den Worten<br />

des Katers. Am liebsten hätte er ihn mit e<strong>in</strong>er schwungvollen Bewegung<br />

von sich gestoßen, aber wer weiß, vielleicht würde er se<strong>in</strong>e Krallen dann<br />

erst recht zu spüren bekommen.<br />

„Was hält dich davon ab, mit dieser Frau glücklich zu werden?“ setzte Diego<br />

e<strong>in</strong>e provokante Frage nach.<br />

E<strong>in</strong>en Augenblick lang schien es, als würde dem Suchenden der Kragen<br />

platzen, doch dann hielt er <strong>in</strong>ne, schloss se<strong>in</strong>e Augen und sagte nur e<strong>in</strong><br />

Wort:<br />

„Alles.“<br />

… alles, was ich b<strong>in</strong>.<br />

… alles, was ich je se<strong>in</strong> werde.<br />

… alles, was mich bestimmt.<br />

Glücklich zu werden schien nichts zu se<strong>in</strong>, was das Schicksal ihm<br />

mitgegeben hatte. Zu vieles war bereits geschehen, das dem Glück an der<br />

Seite e<strong>in</strong>er Frau im Weg zu stehen schien. In se<strong>in</strong>em Rückzug sah er die<br />

Chance, sie und sich selbst vor dem zu bewahren, was unweigerlich<br />

irgendwann geschehen würde.<br />

„Schnickschnack“, konterte Diego, „Alles, was du bist? Hast du denn<br />

überhaupt e<strong>in</strong>e Ahnung, wovon du da sprichst?“<br />

Dem überraschten Blick des Suchenden entnahm der schlaue Kater,<br />

dass er diesen offenbar überrumpelt und aus se<strong>in</strong>er Gedankenschleife<br />

gerissen hatte. Dies galt es nun zu nutzen.


„Ich zeige dir ‚alles‘. Komm mit.“<br />

Schwungvoll stieß Diego sich mit allen vier Pfoten vom Brustkorb des<br />

Suchenden ab, der kurz zusammenzuckte.<br />

„Komm schon“, forderte ihn der rote Kater neuerlich auf.<br />

Immer noch verwundert erhob sich der Suchende und folgte Diego<br />

vorbei am knisternden Bollerofen, durch e<strong>in</strong>e Tür h<strong>in</strong>durch, die sich zuvor<br />

<strong>in</strong> der Dunkelheit verborgen hatte. Die beiden erreichten e<strong>in</strong>en Raum, <strong>in</strong><br />

dessen Mitte sie stehen blieben.<br />

„Sieh dich um. Hier ist ‚alles‘. Alle Orte, an denen du je gewesen bist.“<br />

Wie <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Kaleidoskop fächerte sich rund um die beiden e<strong>in</strong>e bunte<br />

Welt auf. Hunderte, Tausende von Bildern. E<strong>in</strong> jedes anders. E<strong>in</strong> jedes e<strong>in</strong><br />

Augenblick <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Leben, das bereits so e<strong>in</strong>ige davonzählte. Alles<br />

vertraut, und doch überwältigend im Gesamte<strong>in</strong>druck. Stundenlang hätte<br />

der Suchende verweilen können, ohne alles noch e<strong>in</strong>mal bewusst zu<br />

sehen, doch Diego trabte weiter und er folgte ihm <strong>in</strong> den nächsten Raum.<br />

„Sieh, hier s<strong>in</strong>d alle <strong>Menschen</strong>, denen du je begegnet bist, an all den Orten, an<br />

denen du je gewesen bist.“<br />

Wiederum waren es unzählige Bilder, bereichert um all jene Gesichter,<br />

<strong>in</strong> die der Suchende Zeit se<strong>in</strong>es Lebens geblickt hatte. Staunend sah er sich<br />

um. Er<strong>in</strong>nerte sich an so vieles, doch auch hier verharrte Diego nicht,<br />

sondern g<strong>in</strong>g zügig weiter <strong>in</strong> den nächsten Raum.<br />

„Sieh auf all das, was du mit diesen <strong>Menschen</strong> gesprochen und getan hast, an<br />

all den Orten, zu all den Zeiten de<strong>in</strong>es Lebens. Sieh auf alles, was je <strong>in</strong> de<strong>in</strong>em<br />

Leben geschehen ist. All das ist, was du bist. Und da ist noch mehr.“<br />

Überwältigt von den E<strong>in</strong>drücken blickte der Suchende auf den roten<br />

Kater, der sich zwischen se<strong>in</strong>en Be<strong>in</strong>en h<strong>in</strong>durchschlängelte.<br />

„Blick <strong>in</strong> den Spiegel vor dir.“<br />

Als er aufsah, leuchtete e<strong>in</strong>e reflektierende Scheibe wie aus dem Nichts<br />

vor ihm auf.<br />

„Blick h<strong>in</strong>durch und erkenne, wer du wirklich bist. Erkenne, was die Frau, die<br />

dich liebt, längst erkannt hat.“<br />

Der Suchende atmete tief und ruhig, während se<strong>in</strong> Blick wie gebannt <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>e Ferne jenseits der Oberfläche gerichtet war, se<strong>in</strong> Geist leer, doch se<strong>in</strong><br />

Herz weit geöffnet war und er die Wahrheit fühlte. All die Orte, an denen<br />

er gewesen war. All die Ereignisse, die <strong>Menschen</strong>, all das war e<strong>in</strong> Teil<br />

se<strong>in</strong>er Geschichte und machte ihn zu dem, der er war.


Doch jenseits dieses Spiegels fand sich noch so viel mehr, das so viel<br />

mehr möglich machte, als er je geglaubt hatte. Unendliche Freiheit,<br />

unbeschreibliche Kraft, unerschöpfliche Liebe, unerschütterliches<br />

Vertrauen, unbändige Lebensfreude, die ihn erfasste und lachend<br />

herumwirbeln ließ, als er über den Kater stolperte und mit e<strong>in</strong>em lauten<br />

Schrei „Diego“ zu Boden stürzte.<br />

„Ich weiß ja nicht, was me<strong>in</strong> Kater diesmal wieder angestellt hat, aber ich hoffe,<br />

du bist noch heil“, schmunzelte der Mechaniker, der e<strong>in</strong>e Tasse Kaffee auf<br />

den Tisch vor der Couch stellte. Zwischen beidem war der Suchende<br />

abgestürzt und lag nun samt Kissen und Decke auf dem Boden. Verwirrt<br />

blickte er sich um. Alles nur e<strong>in</strong> Traum?<br />

Unter dem Tisch h<strong>in</strong>durch funkelten ihn die grünen Augen von Diego<br />

an. Es machte fast den E<strong>in</strong>druck, als würde der Kater … lachen?<br />

Der Suchende schüttelte den Schlaf endgültig ab, setzte sich aufs Sofa<br />

und ergriff die Tasse Kaffee. Vielleicht war alles nur e<strong>in</strong> Traum gewesen,<br />

aber er hatte etwas <strong>in</strong> ihm wachgerufen. Etwas, das nicht wieder <strong>in</strong> der<br />

Versenkung des Vergessens verschwand. Etwas, das ihn an diesem<br />

Morgen noch länger beschäftigte. Auch noch, als er am frühen Nachmittag<br />

wieder am Steuer se<strong>in</strong>es Wagens saß, durch die verschneite<br />

W<strong>in</strong>terlandschaft fuhr, die im Sonnenlicht glitzerte und funkelte als wäre<br />

sie mit Myriaden von w<strong>in</strong>zigen Kristallen bedeckt. Die perfekte Kulisse<br />

<strong>für</strong> das bevorstehende Weihnachtsfest.<br />

Der Sturm hatte sich über Nacht gelegt und der Schneeräumdienst<br />

die Verwehungen beseitigt. Die Straßen waren wieder frei, auf denen<br />

der Suchende se<strong>in</strong> Ziel ansteuerte, von dem er nun wusste, wo es lag –<br />

und so fuhr er jenen Weg zurück, der ihn am Tag zuvor hierhergeführt<br />

hatte.<br />

Wer e<strong>in</strong> Licht <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Herzen trägt,<br />

wird nie se<strong>in</strong>en Weg aus den Augen verlieren.


VON WEIHNACHTEN AUSGEBREMST<br />

(bisher unveröffentlicht)<br />

Oder besser gesagt: Vom Leben ausgebremst. Das wäre e<strong>in</strong> treffender<br />

Titel <strong>für</strong> diese Geschichte, die so unglaublich ersche<strong>in</strong>t, das ich selbst h<strong>in</strong><br />

und wieder daran zweifle, ob all dies wirklich geschehen ist. Aber der<br />

Reihe nach…<br />

Es war an e<strong>in</strong>em Abend kurz vor Weihnachten. Ich lag unbestreitbar<br />

miesgelaunt auf der Couch und zappte durch die Kanäle. Viel mehr<br />

konnte ich auch nicht tun. E<strong>in</strong> Fuß <strong>in</strong> Gips war ärgerlich, aber zusätzlich<br />

auch noch e<strong>in</strong>en Arm <strong>in</strong> Gips – das war absolut verzichtbar. Seit Tagen<br />

Nebelgrau ohne e<strong>in</strong>en e<strong>in</strong>zigen Sonnenstrahl trübte me<strong>in</strong>e Stimmung<br />

zusätzlich. Me<strong>in</strong>e möglichen Beschäftigungen schränkten sich drastisch<br />

e<strong>in</strong> auf Rumliegen und Serien Streamen. B<strong>in</strong>ge Watch<strong>in</strong>g, um e<strong>in</strong>en<br />

zeitgemäßen Ausdruck <strong>für</strong> etwas zu verwenden, das mich ablenken sollte.<br />

E<strong>in</strong>e Zeitlang hatte das recht gut funktioniert. Doch mittlerweile war ich<br />

auch dessen überdrüssig. Ebenso wie me<strong>in</strong>er selbst.<br />

Ja, <strong>in</strong> wenigen Tagen würde es wieder so weit se<strong>in</strong>: Weihnachten.<br />

Familie und Freunde treffen – manche persönlich, andere onl<strong>in</strong>e, weil die<br />

äußeren Umstände nichts anderes zuließen. Gute Laune – gespielt oder<br />

echt, strahlende Gesichter, der e<strong>in</strong>e oder andere Zwist, mehr oder weniger<br />

s<strong>in</strong>nvolle Geschenke, süßer Punsch und sündige Vanillekipferl.<br />

Weihnachten eben.<br />

Ja, es würden wieder viele Geschichten erzählt werden. Manche neu,<br />

andere bereicherten das Programm seit Ewigkeiten mit Vorhersagbarkeit<br />

wie „D<strong>in</strong>ner for One“ den Silvester. Irgendwie machte mich die Aussicht<br />

auf all das unrund. Vielleicht hatte ich gipsbed<strong>in</strong>gt zu viel Zeit zum<br />

Nachdenken gehabt. Vielleicht lag es auch an etwas anderem. In mir<br />

waren Gedanken, die so gar nicht zu duftenden Keksen und funkelnden<br />

Lichterketten passen wollten. Ich dachte an jene, mit denen ich nicht<br />

sprechen würde, weil wir im Streit mite<strong>in</strong>ander lagen, und ich mich beim<br />

besten Willen nicht mehr an den Grund da<strong>für</strong> er<strong>in</strong>nern konnte. Ich dachte<br />

an jene, denen ich gerne etwas sagen würde, was mir nicht leicht viel, weil<br />

es sehr persönlich war und ich nicht wusste, welche Reaktion folgen<br />

würde. Also wich ich dem seit langem konsequent aus. Und ich dachte an<br />

jene, denen ich viel zu selten me<strong>in</strong>e Dankbarkeit und Freude darüber<br />

zeigte, dass sie e<strong>in</strong> Teil me<strong>in</strong>es Lebens waren.


Kurz gesagt, ich wälzte schwermütige Gedanken <strong>in</strong> Dauerschleife vor<br />

dem H<strong>in</strong>tergrund von Netflix & Co. Schließlich angelte ich mir die<br />

Fernbedienung. E<strong>in</strong> Knopfdruck genügte, um den bunten Bildschirm <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong> tiefschwarzes Rechteck zu verwandeln. Auch rund um mich wurde es<br />

allmählich dunkel. Durch die halbgeschlossenen Jalousien drang noch e<strong>in</strong><br />

wenig Licht der Laternen vor dem Fenster. Vor mir stand auf dem Tisch<br />

e<strong>in</strong>e brennende Kerze, deren Flamme sche<strong>in</strong>bar unbeweglich <strong>in</strong>mitten des<br />

warmen Sche<strong>in</strong>s verharrte und me<strong>in</strong>en Blick gefangen nahm. Für e<strong>in</strong>en<br />

Augenblick nur schloss ich me<strong>in</strong>e Augen, als mich etwas an der Nase<br />

kitzelte …<br />

„E<strong>in</strong>en wunderschönen guten Abend.“<br />

Erschrocken riss ich me<strong>in</strong>e Augen auf und starrte auf etwas, das ich im<br />

ersten Moment <strong>für</strong> e<strong>in</strong>e Halluz<strong>in</strong>ation hielt. Vor mir schwebte e<strong>in</strong>e<br />

goldene Weihnachtselfe, deren Flügelschläge glitzernden, nach Zimt<br />

duftenden Elfenstaub im Halbdunkel verstreuten. Was <strong>für</strong> e<strong>in</strong> magischer<br />

Traum, dachte ich bei mir, als mich e<strong>in</strong>e barsche Stimme e<strong>in</strong>es Besseren<br />

belehrte.<br />

„Ich b<strong>in</strong> doch ke<strong>in</strong>e Weihnachtselfe!“<br />

Ach ne<strong>in</strong>? Was bist du dann?<br />

„Das sieht man doch: ich b<strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Schmetterl<strong>in</strong>gsfee!“<br />

Okay, wie viel Punsch hatte ich zuvor getrunken?<br />

„Komm schon, du bist nicht betrunken.“<br />

Daran zweifelte ich <strong>in</strong> diesem Augenblick mehr als berechtigt. E<strong>in</strong>e<br />

Schmetterl<strong>in</strong>gsfee zu Weihnachten?<br />

„Ja, das mag etwas verwirrend se<strong>in</strong>, aber die Weihnachtselfen s<strong>in</strong>d derzeit im<br />

Dauere<strong>in</strong>satz und unterbesetzt, deshalb spr<strong>in</strong>ge ich als Praktikant<strong>in</strong> e<strong>in</strong>.“<br />

E<strong>in</strong>deutig, ich war betrunken. Vielleicht konnte auch exzessiver<br />

Konsum von Vanillekipferln Halluz<strong>in</strong>ationen auslösen? Me<strong>in</strong> Verstand<br />

suchte e<strong>in</strong>e rationale Erklärung <strong>für</strong> das Unerklärliche.<br />

„Ich b<strong>in</strong> de<strong>in</strong>etwegen hier“, offenbarte mir das flatterhafte, goldene<br />

Wesen, dessen Existenz ich immer noch <strong>für</strong> e<strong>in</strong> Produkt me<strong>in</strong>er Fantasie<br />

hielt. Dennoch entschied ich mich – warum auch immer – mitzuspielen.<br />

„Me<strong>in</strong>etwegen? Das heißt, ich habe jetzt drei Wünsche frei?“ fragte ich<br />

erwartungsvoll.<br />

„Ne<strong>in</strong>, natürlich nicht. Ich b<strong>in</strong> ja nicht als Schmetterl<strong>in</strong>gsfee bei dir, sondern<br />

als Weihnachtself-Praktikant<strong>in</strong>.“


Me<strong>in</strong>e Verwirrung war wohl unübersehbar, denn auf dem w<strong>in</strong>zigen<br />

Gesicht des Flatterwesens spiegelten sich Anzeichen von Ungeduld.<br />

„Okay – Weihnachten. Das heißt, du zeigst mir jetzt das vergangene, das<br />

heurige und das künftige Weihnachten?“ schlussfolgerte ich komb<strong>in</strong>ierend.<br />

„Das ist e<strong>in</strong>e andere Geschichte. Oder fühlst du dich wie Ebenezer Scrooge?“<br />

murrte e<strong>in</strong>e leicht enervierte Stimme, um gleich darauf – ich schwöre, ich<br />

konnte das erkennen – das l<strong>in</strong>ke Auge zusammenzukneifen. „Wenn ich es<br />

genau betrachte, dann ist dir sehr wohl bewusst, was du vergangenes<br />

Weihnachten alles hättest tun sollen und wo<strong>für</strong> du dieses Jahr noch Gelegenheit<br />

hast.“<br />

Spielte dieses sonderbare Wesen, das vermutlich nur <strong>in</strong> me<strong>in</strong>er Fantasie<br />

existierte – aber vielleicht auch nicht - etwa auf das an, was kurz zuvor<br />

me<strong>in</strong>e Gedanken okkupiert hatte? Ich fühlte mich dabei ertappt, me<strong>in</strong>e<br />

bestgehüteten Geheimnisse entblößt zu haben vor e<strong>in</strong>er …<br />

„Weihnachtself-Praktikant<strong>in</strong>!“<br />

Schweigend starrte ich auf das <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er zimtigen Aura aus Glitzerstaub<br />

schwebenden Etwas, das sämtliche me<strong>in</strong>er Gedanken zum Stillstand<br />

gebracht hatte.<br />

„Perfekt. Dann können wir ja loslegen.“<br />

Womit?<br />

„Mit me<strong>in</strong>em heutigen Auftrag. Du bist schon etwas schwerfällig, wie ich<br />

feststelle.“<br />

Ich – schwerfällig?<br />

„Bist du bereit?“<br />

Wo<strong>für</strong>? E<strong>in</strong>e halbwegs verständliche Erklärung hätte ich als hilfreich<br />

empfunden, doch alles, was ich bekam, war e<strong>in</strong> kryptischer Satz und e<strong>in</strong>e<br />

Anweisung:<br />

„Es gibt da etwas, das ich dir zeigen möchte. Schließ de<strong>in</strong>e Augen und mach<br />

e<strong>in</strong>fach, was ich dir sage.“<br />

Für e<strong>in</strong>en kurzen Moment zögerte ich. Doch dann gewann me<strong>in</strong>e<br />

Neugier die Oberhand. Ich war alle<strong>in</strong> im Raum. Was sollte schon<br />

passieren? War alles nur e<strong>in</strong> Traum, würde ich irgendwann aufwachen.<br />

Und wenn nicht, würde sich das auch zeigen. Das „schwerfällig“ wollte<br />

und konnte ich nicht so e<strong>in</strong>fach auf mir sitzen lassen. Also folgte ich der<br />

Anweisung der Weihnachtself-Praktikant<strong>in</strong>.


„Sehr schön. Jetzt stell dir bitte vor, wie du auf all jene zugehst, mit denen du<br />

im Streit liegst. Wie du jene Worte sprichst, die die Kluft zwischen auch<br />

überw<strong>in</strong>den und Versöhnung ermöglich.“<br />

Offenbar runzelte ich skeptisch die Stirn, denn es folgte e<strong>in</strong>e weitere<br />

Anweisung.<br />

„Frag dich bitte nicht, wie das funktionieren soll und ob die anderen das auch<br />

möchten. Stell es dir e<strong>in</strong>fach vor. Bau e<strong>in</strong>e Brücke zu denen, die du verloren<br />

glaubst. Hör auf die versöhnliche Stimme <strong>in</strong> dir, nicht auf die verletzte. Folge<br />

de<strong>in</strong>em Herzen.“<br />

Das traf e<strong>in</strong>en wunden Punkt. Ich schluckte e<strong>in</strong>en Kloss <strong>in</strong> me<strong>in</strong>em Hals<br />

runter, atmete tief durch und ließ mich nach e<strong>in</strong>igem Zögern auf das<br />

verb<strong>in</strong>dende Gefühl <strong>in</strong> mir e<strong>in</strong>, dass ich lange Zeit zurückgestellt hatte,<br />

um Platz <strong>für</strong> me<strong>in</strong>en Groll zu haben.<br />

„Stell dir auch vor, wie du all jenes aussprichst, was du tief <strong>in</strong> dir verbirgst,<br />

seien es Worte der Anerkennung, der Wertschätzung, des Trostes oder der Liebe.<br />

Offenbare, was du fühlst, jenen, die Teil dieses Gefühls s<strong>in</strong>d.“<br />

In der Tat brauchte es nicht viel Fantasie, mir das vorzustellen. Die<br />

Worte da<strong>für</strong> hatte ich unzählige Male im Geiste formuliert, doch stets<br />

zurückgehalten. Manchmal schienen sie nicht passend, e<strong>in</strong> anderes fehlte<br />

mir der Mut. Da war so viel <strong>in</strong> mir, das gesagt werden wollte, aber an der<br />

Mauer des Schweigens scheiterte, die ich um mich gezogen hatte. Ich hatte<br />

mich selbst ausgebremst – dauerhaft, und ohne es zu bemerken. Hatte mir<br />

selbst die Leichtigkeit der Spontaneität genommen, <strong>in</strong> dem Bestreben, zu<br />

kontrollieren, zu bewerten, zu taktieren. Das Denken h<strong>in</strong>kte stets<br />

schwerfällig dem Moment des Fühlens h<strong>in</strong>terher, der flüchtig wie e<strong>in</strong> im<br />

W<strong>in</strong>d tänzelnder Schmetterl<strong>in</strong>g entschwebte.<br />

Ich verlor me<strong>in</strong> Zeitgefühl. Waren M<strong>in</strong>uten oder Stunden vergangen,<br />

als ich wieder die helle Stimme hörte:<br />

„Öffne de<strong>in</strong>e Augen.“<br />

Bl<strong>in</strong>zelnd folgte ich der Anweisung und erblickte im warmen Sche<strong>in</strong><br />

der Kerze vor mir mich selbst – um Jahre gealtert, doch mit e<strong>in</strong>em<br />

Ausdruck umfassender Zufriedenheit im Gesicht, e<strong>in</strong>em von Herzen<br />

kommenden Lächeln und sehr viel Gelassenheit. Verwirrt schüttelte ich<br />

me<strong>in</strong>en Kopf, doch bevor ich noch e<strong>in</strong>e Frage stellen konnte, begann me<strong>in</strong><br />

anderes Ich zu erklären.<br />

„Ich b<strong>in</strong>, wer du <strong>in</strong> vielen Jahren se<strong>in</strong> wirst, wenn du all das getan hast, was<br />

bislang nur <strong>in</strong> de<strong>in</strong>er Vorstellung geschehen ist.“


Ich war völlig perplex, und doch - me<strong>in</strong> zukünftiges Ich wirkte auf<br />

mich, als würde es sich 100% wohl fühlen.<br />

„Das tue ich. Mir geht es wunderbar, weil du letztendlich all das getan hast,<br />

was du dich bislang nicht getraut hast. Du hast die Gräben zugeschüttet und<br />

Brücken gebaut. De<strong>in</strong> Herz geöffnet und <strong>Menschen</strong> an dich herangelassen. Du<br />

hast das Wunderschöne <strong>in</strong> dir mit anderen geteilt.“<br />

Ich war sprachlos. All das hatte ich getan – oder würde es noch tun?<br />

„Das – und noch viel mehr. Ich kann dir e<strong>in</strong>es sagen, als de<strong>in</strong> Ich aus der<br />

Zukunft, du wirst nichts von alldem bereuen. Ganz im Gegenteil. Der Anfang<br />

mag dich Überw<strong>in</strong>dung kosten, doch du wirst feststellen, dass es mit jedem<br />

Gespräch leichter wird. Du wirst dich sogar e<strong>in</strong>es Tages fragen, warum du all dies<br />

nicht früher getan hast: Den Schmerz des Trennenden durch die Freude des<br />

Verb<strong>in</strong>denden zu ersetzen.“<br />

Me<strong>in</strong> zukünftiges Ich zw<strong>in</strong>kerte mir zu. Gleich darauf löste es sich <strong>in</strong><br />

unzählige glitzernde Schneeflocken auf, die ause<strong>in</strong>anderstieben und<br />

allmählich mit der Dunkelheit rundum verschmolzen. Zurückblieben e<strong>in</strong>e<br />

flackernde Kerze auf dem Tisch, e<strong>in</strong> goldenes Flatterwesen mit e<strong>in</strong>em<br />

Hauch von Zimt und me<strong>in</strong> nachdenkliches, gegenwärtiges Ich <strong>in</strong> der Stille<br />

e<strong>in</strong>es Abends kurz vor Weihnachten.<br />

„Mission abgeschlossen“, klopfte sich die Weihnachtself-Praktikant<strong>in</strong><br />

sichtlich zufrieden auf die eigene Schulter und verschwand mit e<strong>in</strong>em<br />

heftigen Flügelschlag, der die Kerze ausblies, bevor ich noch aus me<strong>in</strong>er<br />

Sprachlosigkeit auftauen und auch nur e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>zige me<strong>in</strong>er gefühlt 1.000<br />

Fragen stellen konnte. Über der erloschenen Kerze vor mir stieg kräuselnd<br />

e<strong>in</strong>e zarte Rauchsäule auf, die me<strong>in</strong>e Nase e<strong>in</strong> wenig kitzelte. Hatte ich<br />

das alles nur geträumt?<br />

Als ich am nächsten Morgen aus dem Fenster h<strong>in</strong>ausblickte, war das<br />

Nebelgrau der vergangenen Tage verschwunden. Strahlendes Weiß<br />

bedeckte die Welt von heute, funkelnd und glitzernd im Sonnenlicht.<br />

Ganz so, als hätte das Leben beschlossen, von Neuem zu beg<strong>in</strong>nen. In mir<br />

hörte ich e<strong>in</strong>e Stimme – wobei, es waren weniger Worte, die ich hörte, es<br />

war mehr e<strong>in</strong> Gefühl, e<strong>in</strong>e Gewissheit mit e<strong>in</strong>em Hauch von Zimt, die mir<br />

sagte: „Folge de<strong>in</strong>em Herzen. Es wird zur richtigen Zeit die richtigen Worte<br />

f<strong>in</strong>den.“<br />

Danach ergriff ich me<strong>in</strong> Telefon und wählte e<strong>in</strong>e Nummer, die ich lange<br />

nicht angerufen hatte.

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