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75_Ausgabe September 2009

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Angemerkt<br />

Liebe Leserinnen, liebe Leser,<br />

war da nicht mal was? Wollte Görlitz nicht Kulturhauptstadt<br />

Europas werden? Die Macher<br />

wollten uns gar “aus dem Zentrum des Nirgendwo<br />

zum Herzen Europas” verwandeln. Lange<br />

her. Jetzt macht die hiesige Event-Schickeria<br />

den weltweit bekanntesten Görlitzer, Jacob<br />

Böhme, zum Altstadtfest-Clown. Der Schuster<br />

als wackliger Saufaus auf der Biertonne übern<br />

Untermarkt reitend, hinter sich sein Werk wie<br />

Klopapier, so sehen wir ihn auf dem offiziellen<br />

Festplakat. Und keiner wirft Farbbeutel drauf.<br />

Keiner sagt was, kein Kulturbürgermeister, kein<br />

Kirchenmann, kein Journalist. Dabei gab es<br />

erst jüngst in anderer Sache ein eiligst inszeniertes<br />

Protest-Ritual. Tagelang und seitenweise<br />

sah man in der hiesigen Tagespresse bunte<br />

Porträtfotos zahlreicher Görlitzer. Diesmal will<br />

man also nicht. Wer was dagegen hat, versteht<br />

eben keinen Spaß. Jacob Böhme, in aller<br />

Welt verehrt, wird wie zu seinen Zeiten zum<br />

Gespött gemacht. Wie hatte der damalige Görlitzer<br />

Oberpfarrer Gregor Richter über ihn geschrieben?<br />

“Der Schuster pfleget gemeiniglich<br />

trunken und voll zu sein... Der Schuster säuft<br />

gern ausländischen und Branntewein... Wolltest<br />

du denn seine Bücher lesen? Meide solche<br />

als Teufelsdreck!” Und so weiter. Inzwischen<br />

hat sich die Kirche entschuldigt, mit 3<strong>75</strong> Jahren<br />

Verspätung. Es gab wissenschaftliche Tagungen,<br />

Bücher, Sommertheaterstücke. (Aber<br />

kein Geld für ein Böhme-Zentrum in der Waage<br />

am Untermarkt.) Nun nichts. Das hat Methode.<br />

In Fernsehfilmen werden unsere klassischen<br />

Dichter und Komponisten zu Psychopathen<br />

oder Sexmonstern umgefälscht, unsere Könige<br />

zu Kriegsverbrechern und Nichtsnutzen. Es<br />

wird munter hinterfragt, aufgearbeitet und vom<br />

Sockel gestoßen. Die Deutschen sollen sich mit<br />

Grausen abwenden von ihrer Geschichte und<br />

ihrer nationalen Identität und zu wurzellosen<br />

Globalisierungsnomaden werden, ohne Vaterland,<br />

ohne Heimat, ohne Halt. Wer Widerstand<br />

leistet, dem drohen Ausgrenzung, Verbote, tätliche<br />

Intoleranz. Wie seinerzeit Böhme. Übertreibung?<br />

Augen auf!<br />

In unserem <strong>75</strong>. (!) StadtBILD finden Sie in gewohnter<br />

Weise Wissens- und Bedenkenswertes<br />

aus der Regionalgeschichte und dem heutigen<br />

Kulturangebot. So bekommt die Serie über die<br />

Görlitzer Parkeisenbahn viel Beifall. Ist es doch<br />

ein ungeschönter, lebendiger und dabei identitätstiftender<br />

Blick in unsere jüngere Vergangenheit,<br />

von dem jeder, der dabei gewesen ist,<br />

sagen kann: Ja, so waren wir und so sind wir.<br />

Wir stehen zu unserer Geschichte und unseren<br />

Vorfahren. Und zu unserem Jacob Böhme.<br />

Ihr Ernst Kretzschmar<br />

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Einleitung<br />

3


Der Marienplatz<br />

Marienplatz<br />

in Görlitz –<br />

Äußeres Frauentor und Ausspannung “Zum Goldenen Strauß”, um 1840<br />

Der kleine Stadtplatz zwischen Steinstraße<br />

und Rademarkt (seit 1846 Demianiplatz)<br />

eröffnete eine ganze Reihe schön<br />

gestalteter Plätze im neuen Gründerzeitzentrum<br />

(Postplatz, Wilhelmsplatz, Lutherplatz,<br />

Brautwiesenplatz, Sechsstädteplatz,<br />

Friedrichsplatz). Mit dem Abriß<br />

der mittelalterlichen Stadtverteidigungsanlagen<br />

ab 1847 veränderte diese Gegend<br />

ihr Aussehen beträchtlich. Vorher<br />

ragte der südliche Ausgang der Steingasse<br />

mit Frauentor, Stadtgraben und Steinbrücke<br />

weit in den späteren Marienplatz<br />

hinein. Seit 1477 war über der Toreinfahrt<br />

das in Stein gehauene Stadtwappen<br />

(in der zweiten Fassung von 1433)<br />

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4<br />

Titel |


Der<br />

zwischen<br />

Marienplatz<br />

Altstadt und Stadtzentrum<br />

angebracht. Nach dem Abriß<br />

der gesamten Toranlage und<br />

der südlichen Stadtmauern<br />

blieb nur der “Dicke Turm”,<br />

früher auch Zittauer Turm<br />

oder Frauenturm genannt.<br />

Vor der Reformation besaß<br />

die Verehrung der Gottesmutter<br />

Maria in unserer Gegend<br />

einen besonderen Stellenwert.<br />

Wir denken an die<br />

Klöster St. Marienthal und<br />

St. Marienstern, an den bekannten<br />

Marienaltar in der<br />

früheren Klosterkirche der<br />

Franziskaner am Obermarkt<br />

(jetzt Dreifaltigkeitskirche)<br />

und an die Frauenkirche im<br />

südlichen Vorfeld der alten<br />

Stadt (früher auch Liebfrauenkirche,<br />

geweiht “unserer<br />

lieben Frauen”, also der Maria).<br />

Die so vielfach Geehrte<br />

sehen wir hier noch mehrmals,<br />

nämlich als Begleitfigur<br />

links neben dem Stadtwappen<br />

(seit 1856 an der Frauentor mit Frauenturm und Stadtgraben vor 1847 5<br />

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Titel |


Der Marienplatz<br />

Marienplatz<br />

in Görlitz –<br />

Marienfiguren an der Annenkapelle um 1512<br />

Südseite des Turmes, vorher<br />

am äußeren Frauentor) und<br />

gleich zweimal an der Annenkapelle<br />

gegenüber. Als<br />

Konsolfiguren unter schlanken<br />

Filialenbaldachinen entdecken<br />

wir sie im linken<br />

Arm ihrer Mutter Anna, die<br />

das Jesuskind, ihren Enkel,<br />

im rechten Arm trägt (Heilige<br />

Anna selbdritt) und dann<br />

noch einmal als Gottesmutter<br />

mit dem Kind in ihrem<br />

rechten Arm. Hier endete<br />

auch das südwestliche mittelalterliche<br />

Stadtviertel, das<br />

“Frauenviertel”, ebenfalls<br />

dem Andenken “unserer lieben<br />

Frauen”, der Maria, gewidmet.<br />

Diese vielgestaltige Marienverehrung<br />

bewog in der<br />

Mitte des 19. Jahrhunderts<br />

die traditionsbewußte und<br />

überwiegend protestantische<br />

Stadt Görlitz dazu, diesen<br />

neuen Platz zwischen<br />

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6<br />

Titel |


Der<br />

zwischen<br />

Marienplatz<br />

Altstadt und Stadtzentrum<br />

Marienplatz um 1865<br />

Frauenturm, Annenkapelle und Frauenkirche<br />

“Marienplatz” zu nennen. Wie der<br />

gleichzeitig angelegte “Klosterplatz” an<br />

das frühere Franziskanerkloster erinnert<br />

(dessen Reste waren gerade abgetragen<br />

worden), schafft der Marienplatz eine<br />

gedankliche Verbindung zu Frauenturm<br />

und Frauenkirche und zum einstigen<br />

Frauentor. Es war die Regierungszeit des<br />

preußischen Königs Friedrich Wilhelm IV.<br />

(unter dem auch die Fertigstellung des<br />

Kölner Domes begann). Es war ein Zeichen<br />

für das keimende Miteinander von<br />

evangelischen und römisch-katholischen<br />

Christen in der Stadt, wenn so betont an<br />

die vorreformatorische Görlitzer Kirchen-<br />

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Titel |<br />

7


Der Marienplatz<br />

Marienplatz<br />

in Görlitz –<br />

zung Oberkahle (dann Struvestraße) und<br />

Webertorstraße (dann Friedrich-Wilhelm-<br />

Straße) als Kirche Heilig Kreuz geweiht.<br />

Vom neuen Marienplatz kam man in wenigen<br />

Minuten direkten Weges dorthin.<br />

Und über die Steinstraße erreichte man<br />

mit wenigen Schritten die zur gleichen<br />

Museum der Naturforschenden Gesellschaft, eröffnet 1860<br />

geschichte erinnert wurde. Zur gleichen<br />

zeit wurde ja die erste katholische Kirche<br />

seit der Reformation 1853 an der Kreu-<br />

Zeit eröffnete Synagoge der jungen jüdischen<br />

Gemeinde (zwischen Obermarkt<br />

und Langenstraße). Das waren bemerkenswerte<br />

Zeichen religiöser Toleranz im<br />

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8<br />

Titel |


Der<br />

zwischen<br />

Marienplatz<br />

Altstadt und Stadtzentrum<br />

Pferdebahn auf dem Marienplatz, um 1895<br />

Königreich Preußen unter diesem Görlitz<br />

besonders verbundenen Monarchen.<br />

Zänkische Preußenfresser unserer Tage<br />

mögen das zur Kenntnis nehmen. Die<br />

seinerzeit angelegte Prachtstraße mit<br />

vier Baumreihen zwischen Marienplatz<br />

und Friedrich-Wilhelm Straße bekam<br />

dann auch den Namen Elisabethstraße<br />

nach der Gemahlin des Königs und trägt<br />

ihn ununterbrochen bis heute.<br />

Der Marienplatz, früher Taubenmarkt,<br />

wurde nun Schauplatz für Wochenmärkte,<br />

Jahrmärkte und Weihnachtsmärkte.<br />

Zur Zierde wurden Akazien gepflanzt.<br />

1860 war der Neubau für das Museum<br />

für Naturkunde fertiggestellt. 1862 be-<br />

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Titel |<br />

9


Der Marienplatz<br />

Marienplatz<br />

in Görlitz –<br />

Hotel zum Strauss, um 1895<br />

kam das neue Denkmal für den ersten<br />

Görlitzer Oberbürgermeister Gottlob<br />

Ludwig Demiani seinen ursprünglichen<br />

Standort mitten auf dem Marienplatz.<br />

Dieses Frühwerk des Dresdner Bildhauers<br />

Johannes Schilling war so aufgestellt,<br />

dass der Dargestellte hinüber zum Museum<br />

und hinab auf die Marktbesucher<br />

blickte, Ausdruck seiner Fortschrittsgläubigkeit<br />

und seiner Bürgerfreundlichkeit.<br />

An der Westseite ließ die Firma Bargou &<br />

Söhne ihr Kaufhaus errichten; 1902 wurde<br />

es um mehrere Stockwerke erhöht,<br />

erhielt den eindrucksvollen Eckturm und<br />

eine großzügige Jugendstilfassade. Die<br />

drei Häuser zwischen Frauenkirche und<br />

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10<br />

Titel |


Der<br />

zwischen<br />

Marienplatz<br />

Altstadt und Stadtzentrum<br />

Marienplatz hatten zunächst nur je ein<br />

Obergeschoß. An der Ecke Marienplatz<br />

befand sich die Gaststätte “Zum Strauß”,<br />

Wochenmarkt um 1905<br />

in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts<br />

ausgebaut zum Hotel gleichen Namens.<br />

Vor dem Bau des Victoriahotels<br />

galt es als “erstes Haus am Platze”. Die<br />

Ostseite der Platzanlage zwischen Struvestraße<br />

(seit 1874) und Elisabethstraße<br />

wurde mehrmals modernisiert und aufgestockt.<br />

Die Eckhäuser (heute Volksund<br />

Raiffeisenbank und Hotel Sorat)<br />

betonten durch ihre prächtige Fassadengestaltung<br />

ihren Rang im Zentrum. Der<br />

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Titel |<br />

11


Der Marienplatz<br />

Marienplatz<br />

in Görlitz –<br />

Sommer am Demianidenkmal, um 1900<br />

Bau des zweiten Warenhauses Friedländer<br />

(1913) gab der Südseite ein großstädtisches<br />

Gepräge.<br />

1943 kam ein Luftschutzlöschteich mitten<br />

auf den Marienplatz. Bei stark reduzierter<br />

Wasserhöhe blieb er bis Anfang<br />

der 1990er Jahre. Seit den Industrieund<br />

Gewerbe-Ausstellungen 1948 und<br />

1949 (im Kaufhaus) bekam er zunächst<br />

eine künstliche “Insel” mit Wasserspiel<br />

und dann auch Fontänen in wechselnden<br />

Formen und war von farbenfrohen,<br />

üppigen Blumenanpflanzungen umgeben.<br />

Hier verweilte und traf man sich<br />

gern. Vor Winteranbruch wurde das<br />

Wasser abgelassen. In den letzten DDR-<br />

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12<br />

Titel |


Der<br />

zwischen<br />

Marienplatz<br />

Altstadt und Stadtzentrum<br />

Jahrzehnten bevölkerten dann originelle<br />

und kindertümlich gestaltete Figuren<br />

aus Grimms Märchen oder dem Kinderfernsehen<br />

das leere Bassin und stimmten<br />

auf den Weihnachtsmarkt ein. Das<br />

Christkindel mit dem Weihnachtsmann<br />

wurde hier empfangen, auf der Bühne<br />

am Turm gab es weihnachtliche Musik<br />

zu erleben. Im Sommer war die Lottobude<br />

an der Südostecke dicht umlagert;<br />

man hoffte auf den Hauptgewinn, einen<br />

davor ausgestellten nagelneuen “Trabant”.<br />

Nach 1990 konnten das Naturkundemuseum,<br />

der Dicke Turm und das Warenhaus<br />

sowie die zwei neuen Bankgebäude<br />

und die Wohnhäuser denkmalgerecht<br />

und zugleich modern saniert werden.<br />

Noch empfing das Wasserbecken die<br />

Gäste und fand Bewunderer für diese<br />

sinnvolle Umwidmung einer Hinterlassenschaft<br />

aus Kriegszeiten in einen<br />

friedlichen, freundlichen Publikumsmagneten.<br />

Leider blieb der Platz nicht von<br />

zeittypischen Merkwürdigkeiten und<br />

Verwerfungen verschont. Das frühere<br />

Kaufhaus von Bargou, danach Konsum-<br />

Kaufhaus, wurde nun Sitz der Deutschen<br />

Bank, die ihr Stammhaus an der Berliner<br />

Straße (1923), das der fernen Bankzentrale<br />

für das schrumpfende Görlitz zu<br />

groß vorkam, verliess. Das bei der Bevölkerung<br />

beliebte Bassin verschwand.<br />

Mit Spendenmitteln der Allianz-Versicherung,<br />

die anderswo sinnvoller hätten genutzt<br />

werden können, wurde der Platz<br />

mit sarkophagartigen Hochbeeten, einer<br />

vorgeblichen Brunnenanlage mit unförmig-kantigen<br />

Steinklötzern und gestutzten<br />

Bäumchen umgestaltet. Die mit dicken<br />

Steinplatten belegte Fläche wurde<br />

im Winter zur Rutschbahn, im Sommer<br />

zum Reflektor der Sonnenglut. Tourismuswerber<br />

und junge Architekten bejubelten<br />

das als Meisterwerk der Moderne,<br />

die damit endlich in das spießige Görlitz<br />

gekommen sei. Erfahrene Weltenbummler<br />

empfanden den Anblick als kalt, brutal<br />

und steril. Die jungen Skater brettern<br />

in gewagten Kurven über die glatte Fläche.<br />

Gegen Mitternacht machen Bierflaschen<br />

die Runde, zum Ärger der Hotelgäste.<br />

Nun hat die Globalisierungskrise<br />

das architektonisch hochwertige Warenhaus<br />

von 1913 erwischt, inzwischen in<br />

ausländischem Besitz. Das Museum bekam<br />

unter fremdem Namen eine westliche<br />

Zuordnung.<br />

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Titel |<br />

13


Der Marienplatz<br />

Marienplatz<br />

in Görlitz –<br />

Kaufhaus “Zum Strauß”, eröffnet 1913<br />

An der Wende zu den 1990er Jahren kamen<br />

hier viele Görlitzer zu politischen<br />

Kundgebungen zusammen. Redner mit<br />

unterschiedlichen Zunkunftsvorstellungen<br />

kamen zu Wort. Meinungsfreiheit<br />

und Informationsvielfalt waren gefragt.<br />

Über Massenarbeitslosigkeit, Kinderarmut,<br />

Bildungsgefälle, Geburtenrückgang,<br />

Massenabwanderung, Nato-Beitritt und<br />

Militäreinsätze im Ausland mußte noch<br />

niemand sprechen. Äußerlich sichtbare<br />

Spuren jener Ereignisse findet man<br />

nicht mehr; sogar das Pflaster von damals<br />

ist verschwunden. Selbst Kundgebungen<br />

mit höchstrangigen Rednern<br />

finden nur noch durchschnittliches Inte-<br />

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14<br />

Titel |


Der<br />

zwischen<br />

Marienplatz<br />

Altstadt und Stadtzentrum<br />

resse. Die kaum beachteten<br />

Montagsumzüge weniger Erwerbsloser<br />

(von vielen) enden<br />

hier. Tourismuswerber<br />

ließen gelegentlich am Turm<br />

Palmen aufstellen und erfanden<br />

ein “mediterranes<br />

Flair” in Görlitz. Als hätten<br />

wir in einer fast tausendjährigen<br />

Kulturstadt in der Mitte<br />

Europas und Bildeglied<br />

zwischen Ost und West so<br />

etwas nötig. Schade – bekam<br />

ich immer wieder von<br />

Touristen aus den südlichen<br />

und westlichen Bundesländern<br />

zu hören. Der kleine<br />

Platz zwischen den kostbaren<br />

Bauwerken der Vergangenheit<br />

sei nun Dutzendware<br />

und langweilig, so etwas<br />

könne man auch in Düsseldorf<br />

sehen. Eben.<br />

Marienplatz mit Bassin, 1971<br />

Dr. Ernst Kretzschmar<br />

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Titel |<br />

15


Kamerad marschier<br />

marschier<br />

!<br />

!<br />

Mein Vater Otto Usemann, geboren<br />

1905 in Görlitz, gestorben mit 40 Jahren<br />

in sowjetischer Kriegsgefangenschaft,<br />

verfaßte unsere Familienchronik. Nachdem<br />

ich in einigen Heften StadtBILD<br />

Görlitzer Erinnerungen an die napoleonischen<br />

Kriege gelesen hatte, suchte ich<br />

die folgende Episode aus unserer Chronik<br />

heraus:<br />

Die älteste Erzählung in einer Familienangelegenheit<br />

väterlicherseits liegt zurück<br />

bis zu einer Begebenheit aus den<br />

Kriegen 1806 / 1807. Diese Sache erzählte<br />

mir mein Vater (Herrmann Usemann),<br />

der sie seinerseits von seiner<br />

Mutter hörte. Es betrifft die Großeltern<br />

meiner Großmutter. Beide, Ururgroßvater<br />

und -mutter väterlicherseits arbeiteten<br />

in diesen Jahren als Ledige im Orte<br />

Moys bei Görlitz. Später heirateten sie.<br />

Er hatte die Postpferde zu pflegen, war<br />

entweder Postillion oder sonst Angestellter<br />

bei der Post. Als die Franzosen<br />

ins Land kamen, gab man ihm den Auftrag,<br />

seine 4 gut gepflegten Pferde, die<br />

sich recht an ihn gewöhnt hatten, in den<br />

nahen Wald ins dichteste Gebüsch zu<br />

führen, damit sie nicht den Franzosen in<br />

die Hände fielen. Gerade die Franzosen<br />

waren ja als Pferderäuber schlimmster<br />

Sorte in den Kriegen bekannt. Ferner erinnern<br />

wir Oberlausitzer uns daran, dass<br />

der Gemeindevorsteher von Königshain<br />

deshalb von den Franzosen am Steinberg<br />

erschossen wurde, weil er für Geld<br />

und Bitten die gestohlenen Pferde der<br />

Nachbardörfer wieder einholen wollte.<br />

So war man also mit den Postpferden<br />

von vornherein vorsichtig genug, sie<br />

den Blicken der Franzosen zu entziehen.<br />

Mit Futter für die Gäule war das Versteck<br />

im Buschwerk reichlich versehen. Was<br />

sonst noch Not tat, wurde täglich durch<br />

einen abgemachten Boten gebracht.<br />

Eines Tages wurde nun dem Ururgroßvater<br />

die Mitteilung gegeben: “Die Franzosen<br />

sind abgezogen”. Froh und satt<br />

des langen Wartens galoppierte er bald<br />

darauf mit seinen Pferden wieder zurück<br />

ins Dorf. Noch war er nicht bis zu den<br />

Ställen gekommen, als ihm ein Nachtrupp<br />

berittener Franzosen entgegen<br />

kam. Sie hielten ihn an mit dem Ruf:<br />

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16<br />

Leserbriefe |


Aus einer Familienchronik<br />

Die Pferderäuber, Zeichnung von Frank Usemann<br />

“Kamerad marschier!” Er mußte ins Dorf<br />

ohne seine Pferde abmarschieren. Die<br />

Mühe war umsonst gewesen.<br />

Die Leute im Dorf erzählten ihm, wie die<br />

Franzosen gehaust hätten. Alles Essbare<br />

wurde sofort requiriert. Die Brote vom<br />

Bäcker wurden noch warm aus dem<br />

Ofen geholt. Sie trieben ihren Hohn mit<br />

den Lebensmitteln der hungernden Bevölkerung.<br />

So höhlten sie die Brote aus,<br />

steckten ihre Füße hinein und liefen damit<br />

in den fast leeren Stuben herum –<br />

gleichsam wie in Pantoffeln. Wollte die<br />

Bevölkerung selbst zum Essen kommen,<br />

so mussten die Lebensmittel rechtzeitig<br />

versteckt werden. Das war im Kuhstall.<br />

Hier waren Mägde und Bewohner am<br />

sichersten. Die Ururgroßmutter diente<br />

selbst als Magd.<br />

Frank Usemann, Görlitz<br />

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Leserbriefe |<br />

17


Dr. med.<br />

med.<br />

Oskar Boeters<br />

Oskar<br />

–<br />

Boeters<br />

Ältere Görlitzer und auch Muskauer kennen<br />

ihn noch und fragen gelegentlich<br />

nach ihm und seiner Klinik – der Privatklinik<br />

von Dr. med. Oskar Boeters. Es<br />

Alte Boeters - Klinik in Görlitz bis 1949<br />

ist eines der bekanntesten Häuser auf<br />

dem Konsulplatz in Görlitz – früher auch<br />

„Boeterssche Klinik“ genannt. Seitdem<br />

war der Konsulplatz über Jahrzehnte<br />

Domizil für Ärzte verschiedener medizinischer<br />

Fachrichtungen und wurde nach<br />

der Wende Standort vieler neuer Unter-<br />

nehmen. Heute befindet sich hier das<br />

Ärztehaus „Consulmed“.<br />

In diesem Gebäude praktizierte Dr. med.<br />

Boeters viele Jahre, und noch heute reden<br />

alte Görlitzer mit Hochachtung von<br />

ihm.<br />

Wer war diese Arztpersönlichkeit, dass<br />

man sich seiner noch erinnert?<br />

Oskar Boeters wurde am 11. Oktober<br />

1888 in Berlin geboren. Er studierte in<br />

Würzburg und Breslau Humanmedizin.<br />

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18<br />

Persönlichkeit |


Ein Mediziner half jüdischen Emigranten<br />

Krankenhaus Bad Muskau<br />

Damals lehrte und forschte dort der<br />

deutschlandweit bekannte Chirurg Prof.<br />

Theodor Sauerbruch. 1936 übernahm<br />

Dr. Boeters die Privatklinik seines Vaters.<br />

Er pflegte mit seiner Familie enge<br />

Bekanntschaften mit jüdischen Bürgern.<br />

Aber auch mit dem Literaten, Maler und<br />

Kupferstecher Johannes Wüsten. Bekannt<br />

ist heute, dass Boeters einer jüdischen<br />

Kollegin bei ihrer Flucht nach Paris<br />

half. Wegen seiner antinationalsozialistischen<br />

Einstellung musste 1934 auch Johannes<br />

Wüsten, von Dr. Boeters dabei<br />

unterstützt, nach Prag flüchten. Dadurch<br />

geriet Dr. Boeters bei der NSDAP-Führungsspitzen<br />

Görlitz in Verruf. Sich dem<br />

daraus resultierenden politischen Druck<br />

und nicht der eigenen Überzeugung fügend,<br />

ließ er gelegentlich bescheidene<br />

Spenden dem NS-Ärztebund und dem<br />

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Persönlichkeit |<br />

19


Dr. med.<br />

med.<br />

Oskar Boeters<br />

Oskar<br />

–<br />

Boeters<br />

Klinik Dr. Boeters als Poliklinik 1949-1990<br />

NS-Fliegerkorps zukommen. Deshalb ist<br />

die Persönlichkeit Dr. Boeters` aus heutiger<br />

Sicht nicht unumstritten. Er wurde<br />

mit zwei weiteren Ärzten beordert, die<br />

Verhältnisse im KZ Leschwitz (Weinhübel)<br />

zu begutachten. Die gemeinsame<br />

Erklärung dieser drei Ärzte, dass keine<br />

Zeichen von Misshandlungen nachweisbar<br />

waren, und besagte Spenden wurden<br />

nach 1945 Boeters zum Verhängnis.<br />

Vor allem aber legte man ihm seine Tätigkeit<br />

als Standortarzt zur Last, zu der<br />

er von den Militärs eingesetzt wurde,<br />

als man Görlitz kurz vor Kriegsende zur<br />

Festung erklärte. Die Folge nach 1945<br />

war die Enteignung seiner durch ihn geführten<br />

Privatklinik.<br />

Enteignet und gedemütigt, nahezu das<br />

60. Lebensjahr erreicht, wurde Boeters<br />

mit seiner großen Berufserfahrung im<br />

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20<br />

Persönlichkeit |


Ein Mediziner half jüdischen Emigranten<br />

Dr. med. Oskar Boeters<br />

Städtischen Krankenhaus in Görlitz<br />

als Assistenzarzt geduldet. Ab<br />

1949 war er dann als Chirurg und<br />

Geburtshelfer in Weißwasser in einer<br />

umfunktionierten Villa des jüdischen<br />

Industriellen Joseph Schweig<br />

tätig. Nach dem Wiederaufbau des<br />

ebenfalls zerstörten Krankenhauses<br />

der Wilhelm-Augusta-Stiftung<br />

in Bad Muskau wirkte Boeters dort<br />

von 1950 bis 1964 als Chefarzt in<br />

der chirurgischen und geburtshilflichen<br />

Abteilung. Nicht selten begann<br />

sein chirurgischer Alltag um<br />

6 Uhr. Von 1964 bis 1969 war er,<br />

langsam von seinem Berufsleben<br />

Abschied nehmend, an der Poliklinik<br />

in Weißwasser tätig. Unabhängig<br />

vom sozialen Status der<br />

Patienten behandelte er sie stets<br />

gleichberechtigt.<br />

Am 27.1.1978 vollendete sich sein<br />

Leben. Seine letzte Ruhestätte fand<br />

er auf dem Bergfriedhof in Bad Muskau,<br />

der sich unmittelbar am Rande jenes<br />

Parks befindet, den der Literat Heinrich<br />

Laube, ein Freund des Fürsten Pückler,<br />

in seinen „Schlesischen Porträts“ als<br />

Grün Schlesiens bezeichnet.<br />

Dr. Jürgen Wenske<br />

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Persönlichkeit |<br />

21


August Matthes<br />

Matthes<br />

–<br />

Sagt Ihnen dieser Name nichts, dann<br />

kennen Sie ihn bestimmt unter seinem<br />

Pseudonym Bihms Koarle.<br />

Am 29. Oktober 1854 erblickte Ernst August<br />

Matthes in Wehrsdorf bei Sohland<br />

das Licht der Welt. In Wehrsdorf erlebte<br />

er seine frühe Kindheit und die Schulzeit<br />

und hat alle großen, z.B. den frühen<br />

Tod der Mutter (1865), und kleinen<br />

Ereignisse dieses Lebensabschnittes in<br />

Dichtungen festgehalten. Nach dem Tod<br />

kümmert sich seine Großmutter Johanna<br />

Sophia Richter, geborene Böhmer,<br />

liebevoll um den Jungen. Fortan kennen<br />

ihn die einfachen Menschen des Ortes<br />

bald nur noch unter dem Namen „Böhmens<br />

Kerle“. 1869 verstirbt seine verehrte<br />

Großmutter. Später übernimmt er<br />

als Pseudonym diesen Spitznamen im<br />

Dialekt „Bihms Koarle“. Sonst ist nicht<br />

viel aus seinen Jugendtagen bekannt.<br />

Von 1870 bis 1876 besuchte er das<br />

Landständische Lehrerseminar in Bautzen.<br />

Matthes` erste Lehrtätigkeiten führten<br />

ihn nach Olbersdorf und Waltersdorf<br />

bei Zittau, und im Jahr 1879 trat<br />

er seine Stelle als Lehrer an der Zittauer<br />

Stadtschule an. Ihm war die unerlernbare<br />

Kunst angeboren, selbst die kleinsten<br />

Schüler zu verstehen. Deswegen<br />

und seiner positiven Lehrtätigkeit wurde<br />

er als Lehrer von vielen geschätzt. Das<br />

wird nach der sonst üblichen Darstellung<br />

des damaligen Schullebens schon<br />

ein großes Lob bedeuten und auf eine<br />

positive Lehrtätigkeit hinweisen. Aber<br />

jeder rechtschaffene Lehrer jener Zeit<br />

hatte über das Lehramt hinaus noch andere<br />

Tätigkeiten nachzuweisen. Sie waren<br />

von sich aus in vielen Vereinen und<br />

widmeten sich der Allgemeinheit. So gehörte<br />

die Erschließung des Zittauer Gebirges<br />

und die Erforschung seiner Flora<br />

zur „Freizeitbeschäftigung“ des Volksschullehrers<br />

August Matthes. In Minna<br />

Schiffner fand er eine treue Lebensgefährtin.<br />

1880 wurde ihm im Dezember<br />

Tochter Anna geboren. Es folgten ihr<br />

Hedwig und Sohn Herrmann. Nach 41<br />

Jahren Lehrens an der Stadtschule ging<br />

er in die wohlverdiente Rente.<br />

Bihms Koarle war in einer Person Mundartdichter,<br />

Mundartsprecher, Sprachforscher,<br />

Volkskundler und Kämpfer für<br />

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22<br />

Persönlichkeit |


August<br />

Er war „Bihms<br />

Matthes<br />

Koarle“<br />

August Matthes<br />

eine einheitliche Mundartschreibung<br />

in der Oberlausitz.<br />

Er hat sich auch große<br />

Verdienste bei der Erschließung<br />

des Zittauer Gebirges,<br />

besonders der Mühlsteinbrüche,<br />

und bei der<br />

Erforschung der heimatlichen<br />

Flora erworben. August<br />

Matthes kannte jeden<br />

Berg, jeden Bach, jeden<br />

Weg unseres Grenzlandes<br />

und des anschließenden<br />

nördlichen Böhmens. Sein<br />

Wissen in Gesteins- und<br />

Pflanzenkunde wies, soweit<br />

es sich um die Heimat<br />

handelte, kaum eine Lücke<br />

auf. 1881 veröffentlichte<br />

Matthes seinen Führer<br />

durch die bis dahin unbekannten<br />

Jonsdorfer Mühlsteinbrüche.<br />

Die erste Auflage<br />

des Buches war schon<br />

nach kurzer Zeit vergriffen.<br />

Genauso war es mit den<br />

zahlreichen anderen Veröf-<br />

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Persönlichkeit |<br />

23


August Matthes<br />

Matthes<br />

fentlichungen von ihm. Zwischen 1909<br />

und 1927 brachte er seine drei „Fuhren“<br />

(Bände) von „Kraut und Rüben“ heraus.<br />

Seine humanistische, mit dem Leben<br />

der Oberlausitzer Bauern und Weber<br />

verbundene Gesinnung stand im Widerspruch<br />

zur Ideologie der Faschisten.<br />

Die vierte Fuhre von „Kraut und Rüben“<br />

blieb leider unveröffentlicht.<br />

Die heutige Mundartschreibweise geht<br />

auf seine Empfehlungen zurück. In unermüdlicher<br />

Arbeit suchte August Matthes<br />

seinen Worten schriftlich Form zu<br />

geben. So entstanden im Laufe der Zeit<br />

noch heute gültige Schreibweisen des<br />

Dialektes unserer Heimat, für den sein<br />

„oa“ und das poapsche „b“ und „d“ besonders<br />

typisch sind. Dass er in vielen<br />

Veranstaltungen mit seinen eigenen<br />

Mundartdichtungen das kulturelle Leben<br />

in Zittau und Umgebung auch vor allem<br />

einfacher Menschen bereicherte, gehört<br />

zu den bleibenden Erinnerungen seiner<br />

dankbaren Zuhörer. Das Leben spendet<br />

noch immer die besten Ideen. Vielleicht<br />

aus dieser ehrfürchtigen Haltung nannte<br />

sich Bihms Koarle schlicht Autor von<br />

„Reimerein“, höchstens Schreiber von<br />

„Dialektstücken.“<br />

Nach längerer Krankheit stirbt Bihms<br />

Koarle am 29. Januar 1937 im Alter von<br />

82 Jahren. Zahlreiche Nachrufe von Kollegen<br />

und Freunden konnte man in den<br />

damaligen Zeitungen entnehmen. Anlässlich<br />

seines 50. Todestages wurde im<br />

Januar 1987 eine Gedenktafel am ehemaligen<br />

Wohnhaus an der Kreuzung<br />

Schrammstraße/ Humboldtstraße in Zittau<br />

enthüllt. In Wehrsdorf steht eine Erinnerungstafel<br />

an ihn, und sie vermerkt<br />

„Wegbereiter der Oberlausitzer Mundartdichtung“.<br />

In diesem Jahr können wir<br />

den 155. Geburtstag von Bihms Koarle<br />

feiern. Mit seinen Werken, die noch<br />

heute im Altbestand der Christian-Weise-Bibliothek<br />

vorhanden sind, bleibt er<br />

uns stets in Erinnerung.<br />

Daniela Baake, Zittau<br />

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24<br />

Persönlichkeit |


Horst<br />

Ehrenbürger Horst Wenzel<br />

Görlitzer Geschichte wurde in Gesprächen<br />

lebendig<br />

Es ist für mich immer wieder schön, zu<br />

einem Besuch in meine Geburtsstadt zurückzukehren.<br />

Anfang Juli, als ich eine<br />

Ehrenbürger Horst Wenzel (links) mit unserem Autor auf<br />

der Terrasse des Hotels Marschall Duroc<br />

Woche in Görlitz verbrachte, hatte mich<br />

ein besonders freudiger Anlass hierher<br />

geführt. Ich konnte durch die Vermittlung<br />

des StadtBILD-Verlages in der Comenius-<br />

Buchhandlung, Steinstraße, meinen Roman<br />

„Im Schatten der Landeskrone“ interessierten<br />

Lesern vorstellen. In dem Buch,<br />

das in Görlitz und den umliegenden Dörfern<br />

spielt, werden die schweren Nachkriegsjahre<br />

in teilweise autobiografischen<br />

Szenen lebendig. – Natürlich führte mich<br />

der Zweck meiner Reise auch zu immer<br />

noch lebenden Verwandten und zu meinem<br />

Freund Horst Wenzel, Ehrenbürger<br />

der Stadt. Wir kennen uns bereits,<br />

wenn anfangs auch nur<br />

flüchtig, aus unseren ersten<br />

Jahren pädagogischer Tätigkeit<br />

in Görlitz. Dass wir uns<br />

später beide schriftstellerisch<br />

betätigen und Freunde werden<br />

würden, ahnten wir damals<br />

nicht. In diesem Jahr<br />

konnte ich ihn nicht in Weinhübel<br />

besuchen, da er inzwischen<br />

im Caritas-Pflegeheim<br />

in Rauschwalde wohnt. Wir<br />

verbrachten zwei wunderschöne Sommernachmittage<br />

miteinander, einen auf der<br />

Terrasse eines Hotels am Stadtrand und<br />

einen bei gemeinsamen Freunden. Viel<br />

Vergangenes, ein ganzes Stück Görlitzer<br />

Geschichte, wurde da in den Gesprächen<br />

wieder lebendig.<br />

Günter W. Müller, Bad Zwischenahn<br />

im August <strong>2009</strong><br />

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Persönlichkeit |<br />

25


Rothenburg<br />

Eine kleine Stadt in der Mitte<br />

Marktplatz um 1850<br />

Die östlichste Kleinstadt Deutschlands<br />

zählt zu den ältesten Kleinstädten der<br />

Oberlausitz - Rothenburg.<br />

Um 1000 siedelten im Umfeld einer Grenzburg<br />

thüringische, fränkische und slawische<br />

Volksgruppen. Bereits 1268 wurde<br />

Rothenburg als Stadt in einer Urkunde des<br />

Markgrafen von Brandenburg erwähnt. Als<br />

erster Besitzer des Ortes und der umliegenden<br />

Dörfer wird eine Familie derer von<br />

Rothenburg genannt.<br />

Dieses vermutlich aus Thüringen stammende<br />

Rittergeschlecht gab der Stadt ihren<br />

Namen. Bereits 1313 wurde eine massive<br />

Kirche errichtet. Um 1400 stand das<br />

Messerschmiedehandwerk in voller Blüte,<br />

die kunstvollen Messer wurden auch außerhalb<br />

Rothenburgs verkauft. Die Ober-<br />

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26<br />

Geschichte |


Rothenburg<br />

zwischen Madrid und Moskau<br />

lausitz und damit auch Rothenburg waren<br />

immer wieder Spielball der Herrscher von<br />

Brandenburg und Böhmen.<br />

König Wladislaus von Böhmen verlieh 1490<br />

Rothenburg das Marktrecht. Auch wurde<br />

begonnen, Gerichtsverhandlungen in den<br />

„Schöppenbüchern“ niederzuschreiben.<br />

Der Dreißigjährige Krieg und viele Stadtbrände<br />

hinterließen auch Spuren in dieser<br />

blühenden Stadt und warfen sie immer<br />

Markt mit Rathaus<br />

wieder in ihrer Entwicklung zurück.<br />

Der Sonderfrieden zu Prag 1635 schlug die<br />

gesamte Lausitz dem Kurfürstentum Sachsen<br />

als erbliches Lehen zu. In Rothenburg<br />

entwickelte sich um 1700 neben vielen<br />

Zünften auch die Tuchmacherei zur stabi-<br />

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Geschichte |<br />

27


Rothenburg<br />

Eine kleine Stadt in der Mitte<br />

Stadtpark<br />

len Stütze der Wirtschaft. Auf dem Markt<br />

entstand ein Tuchmacherhaus.<br />

Die Einwohner erduldeten 1798 den letzten<br />

von insgesamt 13 verheerenden Stadtbränden.<br />

Die ganze Stadt wurde in einen<br />

Trümmerhaufen verwandelt, Burg, Kirche,<br />

Stadtbefestigung, die gesamten mittelalterlichen<br />

Bauten wurden ein Opfer der<br />

Flammen. Die Einwohner bauten aber mit<br />

Hilfe umliegender Gemeinden ihre Stadt<br />

wieder auf. Auch<br />

wurde ein neues<br />

Schloss auf dem<br />

Fundament der<br />

alten Burg errichtet.<br />

Der napoleonische<br />

Krieg machte<br />

keinen Bogen um<br />

Rothenburg. Der<br />

Wiener Kongress<br />

1815 löste die<br />

östliche Oberlausitz<br />

von Sachsen,<br />

sie wurde preußisch.<br />

Rothenburg<br />

wurde Kreisstadt<br />

des flächenmäßig<br />

größten Kreises<br />

Deutschlands<br />

bis 1945. Ein Gesangverein<br />

sowie<br />

die Freiwillige Feuerwehr gründeten sich<br />

im 19. Jahrhundert und bestehen heute<br />

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28<br />

Geschichte |


Rothenburg<br />

zwischen Madrid und Moskau<br />

noch.<br />

1952 wurde auf<br />

Beschluss des sowjetischen<br />

Kommandanten<br />

das<br />

Schloss abgerissen.<br />

1953 wurde im<br />

Auftrag der sowjetischen<br />

Besatzungsmacht<br />

ein<br />

Militärflugplatz errichtet<br />

und Rothenburg<br />

eine Garnisonstadt.<br />

Heute sind soziale<br />

Dienstleistung,<br />

Handwerk, Gewerbe<br />

und Gastronomie<br />

eine stabile<br />

Neissewehr<br />

Säule der wirtschaftlichen Entwicklung.<br />

Zwei um 1900 gegründete diakonische<br />

Einrichtungen, der Martinshof und das<br />

Martin - Ulbrich - Haus, haben sich überregional<br />

profiliert.<br />

Der eigene Flugplatz ist nicht nur durch<br />

seine Grenzlage für Firmenansiedlungen<br />

interessant. Für Flugfreunde gibt<br />

es Rundflüge, und 2008 fand die Weltmeisterschaft<br />

im Segelkunstflug statt.<br />

Etwa 45 ha Gewerbefläche stehen Firmen<br />

zur Verfügung. Einige Unternehmen<br />

haben sich bereits etabliert. Seit 1994 ist<br />

Rothenburg Standort der Polizeifachhoch-<br />

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Geschichte |<br />

29


Rothenburg<br />

Eine kleine Stadt in der Mitte<br />

Neissetours<br />

schule Sachsen mit 300 Studenten.<br />

Saniert und liebevoll gepflegt präsentiert<br />

sich Rothenburg in einer unberührten<br />

Landschaft dem Besucher. Auf den ersten<br />

Blick ist es romantisch still…<br />

Der zweite Blick zeigt das lebendige Rothenburg:<br />

Hier gibt es 48 aktive Vereine,<br />

ein Mehrgenerationenhaus,<br />

Museen,<br />

eine Bibliothek,<br />

Handwerkerhalle<br />

und Gewerbegebiete.<br />

Fühlen Sie sich<br />

reif für die Insel<br />

oder brauchen Sie<br />

echtes „Outdoorfeeling“-<br />

in Rothenburg<br />

sind sie<br />

genau richtig. Diese<br />

Stadt bietet unter<br />

anderem:<br />

- ein städtisches<br />

Flair inmitten landschaftlicher<br />

Idylle<br />

- ein schmuckes<br />

Rathaus, umgeben<br />

von einem historischen Markplatz<br />

- zwei Kirchen, eine Gruft mit einer Statue<br />

eines isländischen Künstlers<br />

- einen zu jeder Jahreszeit reizvollen Stadtpark<br />

- gemütliche Übernachtungsmöglichkeiten<br />

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30<br />

Ausblick |


Rothenburg<br />

zwischen Madrid und Moskau<br />

- Neißewehre in<br />

Lodenau und Nieder<br />

- Neundorf<br />

- Schlauchboottouren<br />

auf der Neiße<br />

- Reitsport<br />

- mehrere Radwanderwege<br />

wie:<br />

der Frosch-, Neiße-<br />

und der Wolfsradwanderweg<br />

- Schießplatz in<br />

Steinbach<br />

…kommen und<br />

staunen Sie, was<br />

in Rothenburg so<br />

üblich ist:<br />

- Hexenbrennen in<br />

vielen Ortsteilen in<br />

der letzten Aprilnacht<br />

Zentrum mit Kirche<br />

- Dorf- und Parkfest in Nieder-Neundorf zu<br />

Pfingsten<br />

- Schlauchbootrennen auf dem Lodenauer<br />

Baggerloch<br />

- am ersten Augustwochenende das traditionelle<br />

Rothenburger Sommerfest<br />

- Spring- und Dressurreiten<br />

- Sport von Billard bis Beachvolleyball<br />

- ein vielfältiges Literaturangebot der<br />

Stadtbibliothek<br />

- Ausstellungen im Stadtmuseum<br />

Rothenburger Stadtmuseum<br />

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Ausblick |<br />

31


Parkeisenbahn<br />

Die Geschichte der Görlitzer Parkeisenbahn –<br />

Der Lokschuppen und sein<br />

Ausbau schritten ebenfalls voran,<br />

der Bahnhof nahm langsam<br />

Gestalt an. Aber noch<br />

waren nicht alle Probleme gelöst.<br />

Zwei Weichen mussten<br />

beschafft werden, die eine als<br />

Abzweig von der Hauptstrecke<br />

zum Lokschuppen und die<br />

andere vor dem Lokschuppen<br />

zur Teilung auf zwei Gleisstränge<br />

in den Lokschuppen.<br />

Wir besorgten die Weichen.<br />

Stellen Sie sich vor, lieber Leser<br />

– wir luden sie komplett<br />

per Hand auf! Zirka 20 Mann<br />

mussten dabei mit anpacken.<br />

Wenn man da von Schinderei<br />

sprechen will, dann war das<br />

eine „riesengroße“. Dazu kam<br />

ja noch, dass die Weichen<br />

auch ohne Beschädigung wieder<br />

abgeladen werden mussten.<br />

Und das alles ohne Kran oder Greifer!<br />

Dank aller tapferen Mitstreiter haben<br />

wir das geschafft.<br />

Jetzt sah es gut aus rings um den Weinberg.<br />

Jetzt konnte und sollte laut meinem<br />

Netzplan der Druck der ersten<br />

Fahrkarten, Postkarten, Urkunden etc.<br />

begonnen werden. Sogar die Post konn-<br />

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32<br />

Geschichte |


Parkeisenbahn<br />

ihre Mütter und Väter (Teil IV)<br />

te ich gewinnen. Sie stellte einen alten<br />

Postbriefkasten zur Verfügung, der am<br />

Bahnhof installiert und täglich geleert<br />

wurde. Es gab auch einen Sonderstempel<br />

zum „Adler“ – also wir waren sehr<br />

gut vorbereitet.<br />

Um aber die vielfältigen Aufgaben, die<br />

beim Druck anfielen, bewältigen zu können,<br />

muss ich an dieser Stelle unbedingt<br />

einen guten Freund des „Adlers“, Herrn<br />

Peter Malossek, nennen. Von Anfang<br />

an unterstützte er mich als Grafiker in<br />

diesen Belangen, sei es beim Druck in<br />

technischen Dingen oder bei Vorschlägen<br />

zur Machbarkeit von Souveniren. Er<br />

hat damit erheblich zum Gelingen des<br />

gesamten Vorhabens beigetragen.<br />

Mittlerweile war das Interesse der Bevölkerung<br />

geweckt und stieg mit dem Fortgang<br />

unserer Arbeit am Bau der Parkeisenbahn.<br />

Selbst an den Wochenenden<br />

im Winter verlegten wir die Schwellen<br />

und bohrten sie vor. Die Spaziergänger,<br />

die damals noch ins Weinberghaus zum<br />

Essen gehen konnten, staunten oft über<br />

unseren Enthusiasmus. Glückwünsche<br />

für unseren Erfolg blieben da nicht aus.<br />

Vorderseite<br />

Rückseite<br />

Medaille zur Eröffnung der Parkeisenbahn<br />

Winter und Frühling waren schnell vorbei,<br />

und die Zeit lief uns weg. Am 1. Juni<br />

sollte ja die Bahn an den Start gehen!<br />

Um den Besuchern eine bleibende Erin-<br />

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Geschichte |<br />

33


Parkeisenbahn<br />

Die Geschichte der Görlitzer Parkeisenbahn –<br />

Verschiedene Gläser mit dem Logo Parkeisenbahn<br />

nerung anzubieten, hatte ich die Idee zu<br />

einer Medaille. Zwei Numismatiker vom<br />

Waggonbau, Herr Pätzold und sein Kollege,<br />

entwarfen Vorder- und Rückseite<br />

der Medaille. Sie gelang vortrefflich. Ich<br />

bedanke mich an dieser Stelle bei Herrn<br />

Zosel, der aus Kupferblech die Ronden<br />

(Scheiben) erstellte, ebenso wie Herrn<br />

Voigt, der mit seinem Balance (eine Art<br />

Presse) die Prägung ermöglichte.<br />

Ein weiteres Highlight waren die Biergläser<br />

mit Goldrand<br />

und eingebranntem<br />

farbigem<br />

Adlerzug im<br />

Geschenkkarton.<br />

Der<br />

Einfall war<br />

schon gut<br />

– aber seine<br />

Verwirklichung<br />

nicht<br />

ganz einfach.<br />

Ich fand Helfer<br />

im damaligen<br />

Leuchtenwerk<br />

an<br />

der Zittauer<br />

Straße. Herr<br />

Schäfer mit seinen Mitarbeitern fertigte<br />

die Gläser und brannte auch die Bilder<br />

ein.<br />

Herr Malossek spendierte den Goldrand,<br />

und Herr Völker fertigte die erste Zeich-<br />

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34<br />

Geschichte |


Parkeisenbahn<br />

ihre Mütter und Väter (Teil IV)<br />

Richtfest Bahnhof<br />

nung vom Adlerzug für die Gläser an.<br />

Dieses Motiv sollte später noch für die<br />

ersten Fahrkarten Verwendung finden.<br />

Die Geschenkkartons wurden an der<br />

Melanchthonstraße in der Druckerei von<br />

Herrn Radewagen und Herrn Malossek<br />

gefertigt. Das Ganze war einfach eine<br />

tolle Gemeinschaftsarbeit. Im gleichen<br />

Haus wie die Druckerei an der Melanchthonstraße<br />

(es war ein Betriebsteil der<br />

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Geschichte |<br />

35


Parkeisenbahn<br />

Die Geschichte der Görlitzer Parkeisenbahn –<br />

Jens und Thomas in den schmucken Uniformen<br />

Graphischen Werkstätten<br />

Görlitz, befand<br />

sich auch die<br />

Firma Kammler, Lederwaren.<br />

Sie halfen<br />

uns ebenso, wo sie<br />

konnten, und es gibt<br />

noch heute Lederkalender<br />

mit Goldprägung.<br />

Nun ging es mit Riesenschritten<br />

auf die<br />

Fertigstellung der<br />

Bahn zu, doch überall<br />

fehlte es noch<br />

am gewissen Etwas<br />

– denn bekanntlich<br />

liegt ja der Teufel<br />

im Detail! Die Stahlfenster<br />

wurden im<br />

Lokschuppen eingesetzt<br />

und die Stahlträger<br />

für die offene<br />

Arbeitsbühne in der<br />

Weinhübler Stahlund<br />

Fahrzeug PGH<br />

durch die Herren<br />

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36<br />

Geschichte |


Parkeisenbahn<br />

ihre Mütter und Väter (Teil IV)<br />

Lehmann und Hoffmann gefertigt. Die<br />

Stahltore wurden ebenfalls aufgestellt.<br />

Nun kam die Reihe an das Dach des<br />

Lokschuppens. Der Bau des Lokschuppens<br />

mit all seinen Besonderheiten war<br />

schon schwer, aber das Dach war nur<br />

mit Hilfe der tollen Mannschaft von Dieter<br />

Friedrich und Rainer Neumann (heute<br />

DGG Dach- und Gebäudesanierung<br />

Görlitz GmbH) zu schaffen. Sie deckten<br />

das Dach mit Spezialplatten. Dabei<br />

muss unbedingt Erwähnung finden,<br />

Spezialisten der Eisenbahn werden es<br />

genau beurteilen können, dass die Luftabzugshauben<br />

auf dem Lokschuppen<br />

dem Original sehr echt nachempfunden<br />

wurden. Das Lob gebührt Herrn Sorge<br />

vom VEB Luft- und Wärmetechnik, der<br />

in oft mühevoller Arbeit die drei großen<br />

Abzugshauben gebaut hat. In der Folge<br />

wurde nun das Bahnhofsdach gedeckt.<br />

Später bauten sie noch unter erschwerten<br />

Bedingungen das Wirtschaftsgebäude<br />

mit den Garagen für unsere Sonderfahrzeuge.<br />

Nun gab es weitere Besonderheiten zu<br />

klären – gemeint ist eine schöne spezielle<br />

Uniform für unsere jungen Parkeisenbahner,<br />

strapazierfähig und elegant<br />

sollte sie sein. Dazu nahm ich Kontakt<br />

zur Firma „Steppke“ an der Salomonstraße<br />

auf. Hier sprach ich mit Herrn<br />

Gläser und Frau Rehwinkel. Sie entwarf<br />

in Anlehnung an die ersten Uniformen<br />

der bayrischen Bahn die Uniform für unsere<br />

„Adlerkinder“ in einem dunklen und<br />

einem helleren Blau mit rotem Gürtel.<br />

Dazu passend gab es ein sehr schickes<br />

Käppi. Diese Uniform wurde von allen<br />

geschätzt und später auch in Budapest<br />

im Museum ausgestellt. Ein weiterer<br />

Frauenbetrieb in Görlitz hatte ebenfalls<br />

ein Herz für Kinder. Frau Matthieu aus<br />

dem Volltuchbetrieb ließ in den zwei<br />

Farben Stoff in guter Qualität herstellen,<br />

damit die Frauen aus dem Bekleidungswerk<br />

die Uniformen für die Kinder<br />

nähen konnten.<br />

Hans-Rüdiger Eulitz<br />

(Fortsetzung folgt)<br />

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Geschichte |<br />

37


Die letzten<br />

letzten<br />

Patrone –<br />

Patrone<br />

Erinnern Sie sich? Im StadtBILD<br />

April <strong>2009</strong> (Nr. 70) endete unser<br />

Bericht zu den Herrschaftsverhältnissen<br />

in Deutsch-Ossig<br />

mit den Familien, die am Ende<br />

des 18. Jahrhunderts und zu<br />

Beginn des 19. Jahrhunderts im<br />

Besitz der Güter waren. Durch<br />

die Beobachtung der Verhältnisse<br />

im 19. Jahrhundert wird<br />

eine grundlegende Wandlung<br />

in Wirtschaft und Bewusstsein<br />

deutlich. Um die danach folgenden<br />

Umwälzungen des 20.<br />

Jahrhunderts samt seiner katastrophalen<br />

Kriege recht zu<br />

verstehen, ist ein Erkennen der<br />

Vorgänge des 19. Jahrhunderts<br />

vonnöten, und auch an dem<br />

im Verhältnis klein anmutenden<br />

Ausschnitt der Gemeinde<br />

Deutsch–Ossig ist das nachvollziehbar.<br />

Das Gut Ober-Deutsch-Ossig<br />

1801 kam dieses Gut endgültig<br />

an den Rittergutspächter Jo-<br />

Bauer bei der Aussaat, aus der Schlesischen Fibel<br />

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38<br />

Geschichte |


Deutsch-Ossig<br />

bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts<br />

hann Jannasch aus Neukirch bei Bautzen.<br />

Er ließ die alten hölzernen Gebäude<br />

wegreißen und dafür steinerne Gebäude<br />

bauen. Von den Repressalien der Befreiungskriege<br />

hat sich Jannasch jedoch<br />

nicht mehr erholt. Er starb Ende des<br />

Jahres 1814. Im folgenden Jahr 1815<br />

kam das Gut unter die Vormundschaft<br />

Fickers aus Ober-Pfaffendorf auf den<br />

kleinen, erst 1 ½ Jahre alten Sohn Johann<br />

Moritz Jannasch. Nach dem Tode<br />

Fickers 1822 war Carl Gottlob Semmer<br />

der Vormund, bis es 1834 der junge Jannasch<br />

selbst zur Bewirtschaftung übernehmen<br />

konnte. Von seiner Mutter war<br />

es bis dahin verpachtet worden.<br />

Reformen, die offensichtlich den Landstand<br />

schädigten, führten 1838 – 1853<br />

zur Ablösung und Kündigung von Verpflichtungen<br />

zwischen Stadt und Land<br />

sowie Landwirten und Fabrikbesitzern<br />

(vor allem der Mühlen). Die Jagd ging<br />

ohne Entschädigung dem Land verloren,<br />

was den Verlust eines uralten Rechtes<br />

bedeutete. Die feudale Lebensform war<br />

eine der Gegenseitigkeit und der freien<br />

Verpflichtung. Darum war im Dreißigjährigen<br />

Krieg noch gerungen worden.<br />

Die Befreiungskriege ließen das Besitzbürgertum<br />

als Sieger hervorgehen.<br />

1855 erwarb Carl Heinrich Pohlank,<br />

Kaufmann in Löbau, das Obergut. Dieser<br />

tauschte Flächen aus, schuf damit<br />

eine Wirtschaftseinheit. Er ließ die<br />

Fischteiche trockenlegen und die Dämme<br />

abgraben. Tiefe Entwässerungsgräben<br />

wurden gezogen, das lebendige<br />

Holz gerodet und Dampfmaschinen angeschafft.<br />

Außerdem ließ Pohlank noch<br />

zweckmäßige Wirtschaftsgebäude errichten.<br />

Schon 1860 verkaufte Pohlank<br />

das Anwesen mit einem Gewinn von<br />

32.500 Reichstalern an Carl Theodor<br />

Freiherr von Vitzthum von Egersberg<br />

(der Name Vitzthum taucht im Zusammenhang<br />

mit einer Mätresse August des<br />

Starken in Sachsen auf). Der Genannte<br />

war Großherzoglicher fürstlicher Kammerherr<br />

und Finanzrat. Auf dem Gutsgelände<br />

ließ er das Wohnhaus abbrechen<br />

und ein neues errichten. Ein zweites<br />

Wirtschaftsgebäude kam hinzu. Durch<br />

Kauf erwarb er in der Ortslage weitere<br />

100 Morgen Land. Die Wirtschaft selbst<br />

Impressum:<br />

Herausgeber (V.i.S.d.P.):<br />

StadtBILD-Verlag<br />

Inh. Thomas Oertel<br />

Carl-von-Ossietzky Str. 45<br />

02826 Görlitz<br />

Ruf: 03581/87 87 87<br />

Fax: 03581/40 13 41<br />

Mail: info@stadtbild-verlag.de<br />

www.stadtbild-verlag.de<br />

Verantw. Redakteur:<br />

Kathrin Drochmann<br />

Marnie Willig<br />

Impessum<br />

Geschichte |<br />

Redaktion:<br />

Dr. Ernst Kretzschmar,<br />

Dipl. Ing. Eberhard Oertel<br />

Layout:<br />

A. Ch. Oertel, K. Drochmann,<br />

M. Willig, M. Schneider<br />

Anzeigen verantw.:<br />

Dipl. Ing. Eberhard Oertel<br />

Mobil: 0151/ 14 43 13 11<br />

Druck:<br />

www.print-mania.de<br />

Teile der Auflage werden auch kostenlos<br />

verteilt, um eine größere Verbreitungsdichte<br />

zu gewährleisten. Für eingesandte<br />

Texte & Fotos übernimmt der<br />

Herausgeber keine Haftung. Artikel, die<br />

namentlich gekennzeichnet sind, spiegeln<br />

nicht die Auffassung des Herausgebers<br />

wider. Anzeigen und redaktionelle<br />

Texte können nur nach schriftlicher Genehmigung<br />

des Herausgebers verwendet<br />

werden.<br />

Anzeigenschluss für die Oktober-<br />

<strong>Ausgabe</strong>: 15. <strong>September</strong> <strong>2009</strong><br />

Redaktionsschluss: 15. <strong>September</strong><br />

<strong>2009</strong><br />

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39


Die letzten<br />

letzten<br />

Patrone –<br />

Patrone<br />

Bauernwirtschaft Pohl in Deutsch-Ossig<br />

wurde weiter modernisiert.<br />

1866 kam das Obergut an Philipp Schöller,<br />

Kaufmann und Fabrikbesitzer in Düren.<br />

Der Kaufpreis betrug nun 415.000<br />

Mark. So war das Gut im Laufe von<br />

achtzig Jahren im Preis um ein Beträchtliches<br />

gestiegen.<br />

Das Gut Nieder-Deutsch-Ossig<br />

Es war 1801 von<br />

Johann Gottlieb<br />

Lange für 18.400<br />

Reichstaler erworben<br />

worden.<br />

In den Jahren<br />

1812 – 1815 verlor<br />

Lange den<br />

ganzen Viehbestand<br />

und sämtliche<br />

Fuhrwerke.<br />

1827 kam das Gut<br />

zu gleichem Wert<br />

auf seine einzige<br />

Tochter Johanne<br />

Gottliebe Lange.<br />

Die Gebäude<br />

befanden sich zu<br />

dieser Zeit kurz<br />

vor dem Einstürzen. Johanne Gottliebe<br />

Lange verheiratete sich mit einem sächsischen<br />

Hauptmann, der die Gebäude<br />

in den folgenden Jahren neu errichtete.<br />

1845 ging dann das Gut durch Verkauf<br />

zum doppelten Preis an Carl August<br />

Büttner, Kaufmann in Lauban, über.<br />

Dieser legte die Flächen zusammen, er-<br />

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40<br />

Geschichte |


Deutsch-Ossig<br />

bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts<br />

warb Land dazu und beseitigte<br />

die Teiche.<br />

Der Wertanstieg zwei Jahre<br />

später bei dem Verkauf an<br />

Carl Eduard Schnabel, Königlich-sächsischer<br />

Finanzsekretär,<br />

auf 45.000 Reichstaler kennzeichnet<br />

die Veränderungen.<br />

Ob der Wert dem tatsächlich<br />

entsprach, bleibt zweifelhaft.<br />

1850 brannten das Wohnhaus<br />

und zwei über der Straße liegende<br />

Häuser ab. 1851 wurde<br />

das Gut als Konkursmasse für<br />

27.<strong>75</strong>0 Reichstaler an Heinrich<br />

Ferdinand Müller aus Miltitz bei<br />

Meißen verkauft. Ein Jahr später<br />

baute Müller das Wohnhaus<br />

wieder auf, erst 1870 eine massive<br />

Scheune nebst etlichen<br />

Verbesserungen dazu. 1884 erhielt<br />

der jüngste Sohn Reinhold<br />

Müller das Gut.<br />

Das Gut Mittel-Deutsch-<br />

Ossig I<br />

1817 kaufte Carl Gottlob Semmer<br />

aus Elstra bei Bischofswer- Fachwerkhaus Deutsch-Ossig, um 1930<br />

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Geschichte |<br />

41


Die letzten<br />

letzten<br />

Patrone –<br />

Patrone<br />

da das Gut für 12.000 Reichstaler.<br />

Seine Frau, eine geborene<br />

Jannasch, starb bereits 1820,<br />

eine Tochter und einen Sohn<br />

hinterlassend. Semmer baute<br />

1824 anstelle des alten Wohnhauses<br />

ein zweistöckiges neues.<br />

Fünf Jahre später kamen<br />

eine neues Gesindehaus und<br />

Rinderstallungen hinzu. Noch<br />

zu Lebzeiten, Semmer starb<br />

1836, überließ er das Gut seinem<br />

Sohn Carl Traugott Wilhelm<br />

Semmer.<br />

Semmer jun. verheiratete sich<br />

mit einer von Leuthold und trat<br />

1830 sein Erbe an. Ein Jahr<br />

darauf starb seine Frau mit<br />

nur 19 Jahren im Wochenbett.<br />

Semmer heiratete später wieder,<br />

jetzt eine geborene Winkler.<br />

Auch während seiner Patronatszeit<br />

ist ein gänzlicher<br />

Neubau des Gutes zu beobachten,<br />

einhergehend mit einer<br />

Erweiterung durch Austausch<br />

und Zukauf von Flächen. Die<br />

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42<br />

Geschichte |


Deutsch-Ossig<br />

bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts<br />

ehemals kleine Landwirtschaft wurde<br />

zum Großgrundbesitz.<br />

1870 verkaufte Semmer das Gut nach<br />

vierzigjährigem Besitz an Johann Friedrich<br />

Gottfried Weise, Mühlenbesitzer aus<br />

Biela. Dieser wiederum verkaufte 1881<br />

an seinen Stiefsohn Reinhold Held.<br />

Das Gut Mittel-Deutsch-Ossig II<br />

1774 war das Gut aus der Dietrichschen<br />

Linie auf Carl Gotthelf Winkler gekommen.<br />

Winkler hatte mit seiner Wirtschaft<br />

letztendlich kein Glück. Bei einem großen<br />

Dorfbrand wurde 1810 das gesamte<br />

Gut vernichtet. Mühsam wieder aufgebaut,<br />

wurde es durch den folgenden<br />

Krieg gänzlich ruiniert. (vgl. StadtBILD<br />

Nr. 73 Tagebuchnotizen des G. Semmer)<br />

Als Ersatz für die zerstörten Brücken in<br />

Leschwitz und Radmeritz wurde über<br />

Winklers Land und durch seine Wirtschaft<br />

eine Straße angelegt, die zu einer<br />

Behelfsbrücke führte. Winkler hat so alles<br />

Militär gesehen, das den Ort heimsuchte.<br />

Er starb 1816.<br />

Seine Kinder verkauften 1818 an den<br />

Gasthofbesitzer Friedrich August Sorge<br />

aus Zittau. 1837 erwarb das Gut Wilhelm<br />

Ehrenfried Seiler aus Ruppersdorf.<br />

1853 kam es für 24.000 Reichstaler an<br />

Johann Gottfried Kiesling aus Kiesdorf.<br />

1873 wurde das Gut an Carl Göttlich<br />

verkauft.<br />

Es ist unschwer zu erkennen, dass das<br />

Stammgut Mittel-Deutsch-Ossig, vor<br />

allem aber Nieder-Deutsch-Ossig, an<br />

Wert verloren. Die beherrschende Rolle<br />

übernahm mit dem 19. Jahrhundert<br />

das Obergut mit seinen kapitalträchtigen<br />

Besitzern. Die dörflichen Verhältnisse<br />

gestalteten sich grundlegend um. Es<br />

kam zu einer Polarisierung der Einwohner<br />

in Besitz- und Arbeitsstand. Mit dem<br />

Beginn des 20. Jahrhunderts (1909)<br />

herrschten auf Deutsch-Ossig folgende<br />

Patrone:<br />

für Ober-Deutsch-Ossig Adalbert Neumann<br />

als Administrator für Schöller, für<br />

Mittel-Deutsch-Ossig I Fritz Wittkop, für<br />

Mittel-Deutsch-Ossig II Wilhelm Göttlich<br />

und für Nieder-Deutsch-Ossig Willi<br />

Jung.<br />

(Fortsetzung folgt)<br />

Dieter Liebig, Volker Richter, zusammengestellt<br />

durch Dr. Ingrid Oertel<br />

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Geschichte |<br />

43


Görlitzer<br />

Geschichten aus dem Görlitzer Stadtverkehr –<br />

Wenn man heute durch die Bautzener<br />

Straße mit ihren überwiegend sanierten<br />

Häuserfassaden geht, erinnert kaum noch<br />

etwas an jene Zeit, als hier noch Straßenbahngleise<br />

hindurch<br />

verliefen,<br />

welche zeitweilig<br />

die Hauptlast des<br />

Verkehrs von und<br />

nach Rauschwalde<br />

aufnehmen mussten<br />

– angesichts<br />

der relativ geringen<br />

Breite dieser<br />

Straße aus heutiger<br />

Sicht kaum<br />

ten Adressen von Görlitz zählen. Ihre gewerbliche<br />

Prägung und der eigenwillige<br />

Verlauf verleihen ihr aber dennoch einen<br />

ganz individuellen Reiz, welcher mich von<br />

noch vorstellbar,<br />

aber fast einhundert<br />

Jahre alltäglich.<br />

Man mag die<br />

Bautzener Straße<br />

Blick zum Kaisertrutz vor 1905<br />

am Südwestrand<br />

des Demianiplatzes mit ihren scheinbar frühester Kindheit an in seinen Bann zog.<br />

bunt durcheinander gewürfelten Bauten Insbesondere eine große Traktorenwerkstatt<br />

im unteren Bereich der Ostseite und<br />

aus verschiedenen Bauepochen, zurückreichend<br />

bis in die früheren Jahrzehnte eine sehr bekannte Altstoffsammelstelle<br />

des 19. Jahrhunderts, nicht zu den ers- gegenüber der einmündenden Mittelstra-<br />

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44<br />

Geschichte |


Bautzener<br />

Straßenbahngleise in<br />

Straße<br />

der Bautzener Straße<br />

ße sind mir als die eigentlichen Highlights<br />

noch gut im Gedächtnis. Seit 23.9.1890<br />

verlief die Ringbahnlinie I der Pferdebahn<br />

vom Obermarkt kommend auf ihrem<br />

Brunnen- und Teichstraße (links) im Juni 1985<br />

Kurs zum Bahnhof durch diese Straße.<br />

Mit dieser – nun als II bezeichneten- Linie<br />

begann dann am 1.12.1897 auch der<br />

elektrische Betrieb der nun meterspurigen<br />

Bahn. Die noch vorhandenen Wandrosetten<br />

stammen aus dieser Zeit. Wenige<br />

Tage später, nämlich am 9.12.1897,<br />

erfolgte die Eröffnung der neuen Linie<br />

III von der Rauschwalder Straße bis zum<br />

Gasthof „Stadt<br />

Prag“ im heute<br />

polnischen Teil der<br />

Stadt und wurde<br />

zur Geburtsstunde<br />

des Ost- und<br />

West Straßenbahnverkehrs<br />

am<br />

Demianiplatz. Vor<br />

der Bautzener<br />

Straße bestand<br />

nun ein Abzweig,<br />

welcher ab Ende<br />

1906 sogar zweigleisig<br />

ausgebaut<br />

worden ist. Mit<br />

der Betriebseinstellung<br />

der Ringbahn<br />

gegen Ende des ersten Weltkrieges<br />

verliefen ab den frühen 20er Jahren<br />

die Gleise von der Bautzener Straße am<br />

Demianiplatz nur noch in Ostrichtung.<br />

Seither änderte sich wenig an diesem<br />

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Geschichte |<br />

45


Görlitzer<br />

Geschichten aus dem Görlitzer Stadtverkehr<br />

betrieblich einst wichtigen Streckenabschnitt<br />

unserer Tram. Ab 1956 schlängelten<br />

sich die für die enge Straße viel<br />

zu langen LOWA- und Gothazüge quietschend<br />

hier hindurch, bis es schließlich<br />

im März 1986 zur Einstellung des Betriebes<br />

der Linie 1 zwischen Demianiplatz<br />

und Rauschwalde kam. Einige Monate<br />

noch pendelten Solowagen- nun als Linie<br />

3 bezeichnet- von der und zur Rauschwalder<br />

Straße. Geblieben sind neben den<br />

Erinnerungen unzählige Fotos von einer<br />

der romantischsten Innenstadtstrecken<br />

im Görlitzer Straßenbahnverkehr. Noch<br />

heute ist der Rückzug der Straßenbahn<br />

nach Rauschwalde schmerzlich spürbar.<br />

Diese Lücke konnte bisher noch nicht anderweitig<br />

ausgefüllt werden.<br />

(Fortsetzung folgt)<br />

Andreas Riedel, Wiesbaden Blick Richtung Mittelstraße, Dezember 1957<br />

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Geschichte |

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