75_Ausgabe September 2009
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Angemerkt<br />
Liebe Leserinnen, liebe Leser,<br />
war da nicht mal was? Wollte Görlitz nicht Kulturhauptstadt<br />
Europas werden? Die Macher<br />
wollten uns gar “aus dem Zentrum des Nirgendwo<br />
zum Herzen Europas” verwandeln. Lange<br />
her. Jetzt macht die hiesige Event-Schickeria<br />
den weltweit bekanntesten Görlitzer, Jacob<br />
Böhme, zum Altstadtfest-Clown. Der Schuster<br />
als wackliger Saufaus auf der Biertonne übern<br />
Untermarkt reitend, hinter sich sein Werk wie<br />
Klopapier, so sehen wir ihn auf dem offiziellen<br />
Festplakat. Und keiner wirft Farbbeutel drauf.<br />
Keiner sagt was, kein Kulturbürgermeister, kein<br />
Kirchenmann, kein Journalist. Dabei gab es<br />
erst jüngst in anderer Sache ein eiligst inszeniertes<br />
Protest-Ritual. Tagelang und seitenweise<br />
sah man in der hiesigen Tagespresse bunte<br />
Porträtfotos zahlreicher Görlitzer. Diesmal will<br />
man also nicht. Wer was dagegen hat, versteht<br />
eben keinen Spaß. Jacob Böhme, in aller<br />
Welt verehrt, wird wie zu seinen Zeiten zum<br />
Gespött gemacht. Wie hatte der damalige Görlitzer<br />
Oberpfarrer Gregor Richter über ihn geschrieben?<br />
“Der Schuster pfleget gemeiniglich<br />
trunken und voll zu sein... Der Schuster säuft<br />
gern ausländischen und Branntewein... Wolltest<br />
du denn seine Bücher lesen? Meide solche<br />
als Teufelsdreck!” Und so weiter. Inzwischen<br />
hat sich die Kirche entschuldigt, mit 3<strong>75</strong> Jahren<br />
Verspätung. Es gab wissenschaftliche Tagungen,<br />
Bücher, Sommertheaterstücke. (Aber<br />
kein Geld für ein Böhme-Zentrum in der Waage<br />
am Untermarkt.) Nun nichts. Das hat Methode.<br />
In Fernsehfilmen werden unsere klassischen<br />
Dichter und Komponisten zu Psychopathen<br />
oder Sexmonstern umgefälscht, unsere Könige<br />
zu Kriegsverbrechern und Nichtsnutzen. Es<br />
wird munter hinterfragt, aufgearbeitet und vom<br />
Sockel gestoßen. Die Deutschen sollen sich mit<br />
Grausen abwenden von ihrer Geschichte und<br />
ihrer nationalen Identität und zu wurzellosen<br />
Globalisierungsnomaden werden, ohne Vaterland,<br />
ohne Heimat, ohne Halt. Wer Widerstand<br />
leistet, dem drohen Ausgrenzung, Verbote, tätliche<br />
Intoleranz. Wie seinerzeit Böhme. Übertreibung?<br />
Augen auf!<br />
In unserem <strong>75</strong>. (!) StadtBILD finden Sie in gewohnter<br />
Weise Wissens- und Bedenkenswertes<br />
aus der Regionalgeschichte und dem heutigen<br />
Kulturangebot. So bekommt die Serie über die<br />
Görlitzer Parkeisenbahn viel Beifall. Ist es doch<br />
ein ungeschönter, lebendiger und dabei identitätstiftender<br />
Blick in unsere jüngere Vergangenheit,<br />
von dem jeder, der dabei gewesen ist,<br />
sagen kann: Ja, so waren wir und so sind wir.<br />
Wir stehen zu unserer Geschichte und unseren<br />
Vorfahren. Und zu unserem Jacob Böhme.<br />
Ihr Ernst Kretzschmar<br />
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Einleitung<br />
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