AM PULS COVERSTORY ► Foto: Fabian Sommer / dpa / picturedesk.com Letzer Ausweg: Streik Europaweit sind Ärztinnen, Ärzte und das Pflegepersonal frustriert und ausgelaugt. An der Berliner Charité ist es durch Streikmaßnahmen gelungen, die Arbeitsbedingungen <strong>für</strong> die Ärzteschaft nachhaltig zu verbessern. Juliane Holtz, Verhandlungsführerin auf Seite der Gewerkschaft, im Gespräch über die größten Erfolge und Herausforderungen der Streikbewegung. Von Raphaela Pammer 24 <strong>Ärzt*in</strong> <strong>für</strong> <strong>Wien</strong> 03_<strong>2023</strong>
COVERSTORY AM PULS Foto: Marburger Bund ► <strong>Ärzt*in</strong> <strong>für</strong> <strong>Wien</strong>: Sie sind Rechtsanwältin <strong>für</strong> den Marburger Bund. Können Sie kurz erklären, was der Marburger Bund ist und wen er vertritt? Holtz: Der Marburger Bund vertritt die angestellten und beamteten Ärztinnen und Ärzte in ganz Deutschland. Es gibt vierzehn Landesverbände und ich bin Rechtsanwältin <strong>für</strong> den Marburger Bund Landesverband Berlin/Brandenburg. Unsere Aufgaben sind vor allem das Tarifgeschäft 1 und die Rechtsberatung in individuellen Rechtsangelegenheiten. <strong>Ärzt*in</strong> <strong>für</strong> <strong>Wien</strong>: Sie haben <strong>für</strong> den Marburger Bund die Verhandlungen über die Weiterentwicklung des Haustarifvertrags 2 der Berliner Charité geleitet. Am 5. Oktober 2022 hat der Marburger Bund die Ärztinnen und Ärzte der Berliner Charité zum Streik aufgerufen. Wie ist es zu der Entscheidung gekommen, in den Streik zu treten? Holtz: Das war ein langer Prozess. Wir haben mit einer Kurzumfrage und mit vielen Videokonferenzen bei den Mitgliedern erhoben, wo die Probleme sind. Parallel haben sich zahlreiche Assistentensprecherinnen und -sprecher zusammengetan und Papiere erarbeitet. Und zusammen haben wir daraus einen umfangreichen Forderungskatalog erarbeitet. Damit wollten wir zunächst erst einmal versuchen, die Charité in Gesprächen dazu zu bewegen, die Arbeitsbedingungen zu verbessern. Über den Sommer gab es acht Sondierungsgespräche zwischen beiden Tarifkommissionen 3 in verschiedenen Arbeitsgruppen, um einen roten Faden <strong>für</strong> die weiteren Verhandlungen zu erarbeiten. Als aber dann der dritte offizielle Verhandlungstermin Mitte September war, mussten wir wieder bei null anfangen. Wir sind sehr unzufrieden und desillusioniert aus diesem Termin gegangen. Daraufhin wurde beraten und dann der offizielle Beschluss gefasst, zu streiken. <strong>Ärzt*in</strong> <strong>für</strong> <strong>Wien</strong>: Wie haben die Arbeitgeber auf diesen Beschluss reagiert? Holtz: Ein Streik hat ja nur dann Sinn, wenn der Arbeitgeber überrascht wird. Dass es einen Streik geben wird, ist schon irgendwann durchgesickert, aber wann dieser Streik ist, ist erst spät bei den Arbeitgebern angekommen. Wir haben die Krankenhausleitung erst fünf Tage vorher offiziell informiert. <strong>Ärzt*in</strong> <strong>für</strong> <strong>Wien</strong>: Ist es im Vorfeld seitens der Arbeitgeber auch zu Einschüchterungsversuchen gekommen? Holtz: Nicht direkt vom Vorstand der Charité, aber einige Chefärztinnen und -ärzte haben vor allem die Assistenzärztinnen und -ärzte einzuschüchtern und zu verunsichern versucht. Die Assistenzärztinnen und -ärzte hatten aber zu diesem Zeitpunkt schon über ein Dreivierteljahr zusammengearbeitet und hatten ihre eigenen Messenger-Gruppen mit einigen hundert Mitgliedern. Die waren sehr gut organisiert und wir als Gewerkschaft haben im Vorfeld 24/7 beraten und die nötigen Informationen über unsere verbandseigenen Kommunikationskanäle verbreitet. Ich habe auch spätnachts noch Telefonate mit angsterfüllten Ärztinnen und Ärzten geführt. Wir haben viel Informationsmaterial ausgegeben, Patienteninformationen oder wie man mit Drohungen des Arbeitgebers umgeht. Wir haben an Chefärztinnen und -ärzte geschrieben und sie informiert, dass das Streikrecht verfassungsrechtlich geschützt ist. <strong>Ärzt*in</strong> <strong>für</strong> <strong>Wien</strong>: Haben nur die Ärztinnen und Ärzte gestreikt oder gab es Unterstützung der anderen Gesundheitsberufe? Holtz: Das waren nur Ärztinnen und Ärzte. Die Pflege hatte ein knappes Jahr vorher schon lange und ausführlich gestreikt und sich an der Charité dann jedenfalls auch <strong>für</strong> den Protest der Ärztinnen und Ärzte ausgesprochen. <strong>Ärzt*in</strong> <strong>für</strong> <strong>Wien</strong>: Gab es auch Skeptikerinnen und Skeptiker? Oder wurde der Streik von einer breiten Basis getragen? Juliane Holtz: „Die größte Herausforderung war <strong>für</strong> uns die Mobilisierung.“ „Die Jungen sind einfach nicht mehr bereit, so zu Lasten der eigenen Gesundheit zu knüppeln wie die Generation vorher.“ Berliner Charité – Hintergrund des Ärztestreiks Holtz: Es gab im Vorfeld auch einige wenige kritische Stimmen, die gemeint haben, es sei jetzt nicht die Zeit <strong>für</strong> einen Streik, das würde sowieso nichts bringen. Das waren aber eher Ärztinnen und Ärzte aus den höheren Entgeltgruppen. Insgesamt gab es aber einen sehr hohen Zuspruch aus der gesamten ärztlichen Belegschaft. Es haben dann rund 1.000 von 2.700 Ärztinnen und Ärzten am Streik teilgenommen und wir waren damit sehr zufrieden. <strong>Ärzt*in</strong> <strong>für</strong> <strong>Wien</strong>: Orten Sie auch einen Generationenkonflikt? Holtz: Ja, es passiert gerade Einiges in der Ärzteschaft. Die Jungen sind einfach nicht mehr bereit, so zu Lasten der eigenen Gesundheit zu knüppeln wie die Generation vorher, während die Ober- oder auch Chefärztinnen und -ärzte zum Teil noch anders denken. Das ist insgesamt ein großes Gesellschaftsthema gerade. Work-Life-Balance steht hoch im Kurs, also die Vereinbarkeit von Berufs- und Privatleben. Das waren auch die wichtigsten Themen bei unserer Forderungsfindung. <strong>Ärzt*in</strong> <strong>für</strong> <strong>Wien</strong>: Wie ist der Warnstreik konkret abgelaufen? Hat die ganze Charité auf einmal gestreikt oder immer nur einzelne Abteilungen? Wie wurde die Versorgung der Patientinnen und Patienten sichergestellt und mussten auch Eingriffe verschoben werden? Holtz: Es waren alle drei Standorte der Charité, verteilt in Berlin, am Streik beteiligt und an allen drei wurde gleichzeitig gestreikt. Es war ein ganztägiger Warnstreik, der um null Uhr losging Rund 2700 Ärztinnen und Ärzte arbeiten nach offiziellen Angaben an der renommierten Berliner Charité, dem größten Universitätsklinikum Europas und mit rund 21.000 Beschäftigten auch einer der größten Arbeitgeber Berlins. Hintergrund des Ärztestreiks im Oktober waren die Verhandlungen über die Weiterentwicklung des Haustarifvertrags, der zuletzt im Jahr 2019 geändert worden war. Vertreten wurden die Ärztinnen und Ärzte dabei vom 1947 gegründeten Marburger Bund, Deutschlands einziger Ärztegewerkschaft, die rund 135.000 Mitglieder und 14 Landesverbände hat. Zuständig <strong>für</strong> die Berliner Charité ist der Landesverband Berlin/Brandenburg, der rund 11.000 Mitglieder zählt. Die Kernforderungen der Gewerkschaft umfassten neben einer Erhöhung der Gehälter um 6,9 Prozent, verlässlichere Dienstpläne, maximal vier Bereitschaftsdienste pro Monat und gestaffelte Zuschläge <strong>für</strong> kurzfristiges Einspringen. Seit der erfolgreichen Einigung Ende November befindet sich der Landesverband Berlin/Brandenburg mit der Charité in Redaktionsverhandlungen zum vereinbarten Tarifvertrag. 03_<strong>2023</strong> <strong>Ärzt*in</strong> <strong>für</strong> <strong>Wien</strong> 25