Alpsommer & Viehscheid 2023

Die Minuten vergingen und nichts passierte,
doch dann plötzlich – da war es wieder!
Instink tiv wollte er näher heran und übersah
dabei das Ende des Steges. Wie aus dem
Nichts hatte er den Boden unter den Füßen
verloren und plumpste ins Wasser. Der
Schreck war so groß, dass er vergaß, wie man
schwimmt. Stattdessen strampelte er wie
wild. Als er vor Erschöpfung unterzugehen
drohte, berührte ihn etwas und ehe er es sich
versah, stand er wieder auf dem Steg. Irritiert
blickte er sich um und dann sah er es: Es war
nun ganz nah vor ihm; hätte er seinen Arm
ausgestreckt, hätte er es berühren können. So
ein Tier hatte er noch nie gesehen – ein Fisch
war das nicht, denn die heimischen Arten
kannte er dank der Angelausflüge mit seinem
Papa sehr genau. Nach ein paar Sekunden
fand er seine Sprache wieder und bedankte
sich instinktiv bei dem unbekannten Wesen
(Mama wäre stolz auf ihn gewesen – Höflichkeit
war ihr sehr wichtig). Zu seiner Überraschung
antwortete das Tier: »Gern geschehen!«
Ehe Ole darüber nachdenken
konnte, sprudelte aus ihm die Frage heraus:
»Wer oder was bist du?«
»Ich bin Norbert, ein Nothosaurier. So etwas
wie mich hast du bestimmt noch nie gesehen,
oder?«, sagte der Seebewohner fröhlich. Verdattert
schüttelte Ole den Kopf. Er fragte sich,
ob er das alles nur träumte, denn Dinosaurier
gab es doch gar nicht mehr. Als würde Norbert
seine Gedanken lesen können, erklärte
er: »Hier, wo sich jetzt die Berge erheben, gab
es einst ein riesiges Meer, in dem wir lebten.
Doch dann türmte sich die Erde über Millionen
von Jahren auf, das große Meer verschwand
und übrig blieben nur einige Seen.
Und ein paar unserer Art. Der Alpsee ist zum
Glück groß genug für uns, sodass wir uns
hier heimisch eingerichtet haben.« Ole starrte
den Wassersaurier mit offenem Mund an
und konnte gar nicht glauben, was er da gerade
gehört hatte.
»Aber wie kann es sein, dass euch noch niemand
entdeckt hat? Du bist jetzt nicht gerade
klein«, bemerkte Ole. Norbert erklärte
ihm, dass die Nothosaurier tagsüber auf dem
Grund des Sees schlafen und nur nachts an
die Wasseroberfläche kommen. »Aber ich
habe dich gestern gesehen oder einen deiner
Verwandten«, warf Ole ein. »Das war ich.
Bei all dem Lärm konnte ich nicht schlafen.
Außerdem war ich neugierig und wollte endlich
mal einen Blick auf euch Menschen werfen.
Als meine Eltern das mitbekommen
haben, gab es ganz schön Ärger. Noch größeren
würde es geben, wenn sie erführen,
dass ich jetzt mit dir spreche. Du darfst niemanden
von uns erzählen, denn sonst werden
wir die nächste Touristenattraktion im
Allgäu und mit dem ruhigen Leben im See
wäre es dann vorbei«, sagte Norbert. Ole
nickte verständnisvoll und versprach hoch
und heilig, keinem ein Wörtchen zu sagen.
»Aber darf ich es meiner Schwester erzählen?
Sie liebt Dinosaurier und würde Augen machen,
wenn sie wüsste, dass ich einen getroffen
habe. Bitte, bitte …«, flehte Ole. »Uns
wird das doch eh keiner glauben«, ergänzte
er. Norbert überlegte. Ganz wohl dabei war
ihm nicht, aber der kleine Mann hatte recht:
Wer glaubte schon zwei Kindern, dass es
Dinosaurier im Allgäu gibt? »Na gut«, sagte
er schließlich. »Und jetzt Flosse drauf!«
Nachdem die beiden sich abgeklatscht hatten,
verabschiedeten sie sich und Ole machte
sich auf den Weg zurück in die Ferienwohnung.
Wenn Emma wach ist, wird er ihr sofort
davon erzählen und vielleicht schleichen sie
sich ja morgen Früh zusammen runter zum
Steg. Norbert hatte versprochen, wieder da
zu sein …
Claudia Schöwe
ALPSOMMER & Viehscheid 2023
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