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MAINfeeling Herbst 2023

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32 STORY<br />

den Friedensengel in uns, der es allen recht machen will,<br />

damit wir ihnen recht sind. Er hofft schließlich auf etwas<br />

sehr Schönes: auf das Grundgute. Auf Teamgeist. Darauf,<br />

dass man sich höchstens mit Wattebäuschen bewirft und<br />

am Ende die gewinnt, die sogar den Burnout noch mit<br />

einem Lächeln begrüßt. Auf eine Welt, in der Freundlichkeit,<br />

Vernunft und Einsicht regieren, in der sich alle ganz<br />

doll liebhaben und niemand wirklich richtig böse wird.<br />

Der Friedensengel glaubt an das gute Beispiel, an<br />

Freundlichkeit. Er glaubt, dass die 90 Minuten, die Frauen<br />

durchschnittlich jeden Tag mehr Sorgearbeit leisten als<br />

Männer, auf ein imaginäres Konto gehen, das satte Zinsen<br />

trägt und irgendwann in Form von Applaus, Anerkennung,<br />

Wertschätzung, Vergötterung, Liebe ausgezahlt<br />

wird. Er glaubt nicht an Konsequenz, Egoismus, Konflikt<br />

und Konfrontation. Sieht man doch überall, wohin das<br />

führt. Ukraine und so. Es sagt: „Ich haue nicht. Niemals.<br />

Unter keinen Umständen.“ Wie die 56-jährige Carla, mit<br />

der wir vor einiger Zeit einen Selbstverteidigungskurs für<br />

Frauen in Bockenheim besucht haben.<br />

An einem Wochenende wollten wir uns mit zehn<br />

anderen Frauen Grundlegendes zeigen lassen. Nur für den<br />

Angriffsfall. Dazu gehörte, das Gelernte einem Praxistest<br />

zu unterziehen. Einer der Trainer hatte sich dafür in einer<br />

Art Ganzkörperdämmung verschanzt, inklusive Helm und<br />

Gesichtsschutz. Wir Frauen sollten uns im Kreis um ihn<br />

aufstellen und uns seiner Zugriffe erwehren. Bloß Carla<br />

wollte nicht mitmachen. „Die Runde will ich auslassen.<br />

Ich KANN einfach niemanden schlagen. Das ist mir so<br />

dermaßen wesensfremd und widerspricht allem, woran<br />

ich glaube.“ Nur mit größter Mühe war sie davon zu überzeugen,<br />

dass der ganz Kurs ohne diese Übung nun wirklich<br />

wenig Sinn machen würde. Und es ja nur für den Fall<br />

sei, ein potenzieller Angreifer ließe sich nicht von einem<br />

entschiedenen „Stopp!“ und einer eindeutigen Abwehrhaltung<br />

abhalten, eine Frau zu verprügeln.<br />

IM BACKSTAGEBEREICH DER<br />

HARMONISCHEN FASSADEN<br />

Wir staunten sehr, als Carla sich des menschlichen<br />

Crashtest-Dummies erwehren sollte. Sie semmelte ihm<br />

umstandslos so dermaßen eine rein, dass der Schlag den<br />

ganzen Schutzhelm crashte und der große, maximal<br />

durchtrainierte Mann fast umgefallen wäre. Carla war<br />

mindestens so überrascht wie wir ob der Power des<br />

Schlags und der Wut – die offenbar wider Carlas Wissen<br />

in ihr steckte. Nein, wir wollen nicht darauf hinaus, dass<br />

Frauen unbedingt mehr Ohrfeigen verteilen sollten. (Obwohl<br />

es da durchaus ein paar sehr geeignete Kandidaten<br />

gäbe). Wir finden nur, dass Carla ein exzellentes Beispiel<br />

dafür abgibt, wie es im Backstagebereich der harmonischen<br />

Fassaden von Freundlichkeit und Nachgiebigkeit<br />

aussieht. Wie man sich fühlt, wenn man sieht, dass einen<br />

das alles nicht weiterbringt und im Gegenteil wie in der<br />

Fabel vom Hasen und dem Igel stets jemand anderes<br />

schon allhier ist – wenn es gilt, Lorbeeren zu ernten, Anerkennung,<br />

Freizeit, mehr Gehalt und den letzten freien<br />

Frauen-Parkplatz. „Warten Sie hier auf Ihre Geschlechtsumwandlung?“<br />

haben wir den Herrn im SUV gefragt, der<br />

kürzlich den letzten im Parkhaus Hauptwache okkupiert<br />

hatte. Klar, haben wir ein paar unschöne Dinge zu hören<br />

bekommen, in denen unser Alter und unsere Figur<br />

tragende Rollen spielten. Aber ehrlich: Das war es wert.<br />

Und nein, sein Kalkül – das von vielen Männern – ist nicht<br />

aufgegangen. Die schon so unendlich oft angewendete<br />

Vorstellung, dass Frauen immer sofort zum Heulen nach<br />

Hause gehen, wenn man ihre Optik kritisiert und damit<br />

vom Tisch ist, was die nervige Tusse wollte. Nur eine von<br />

vielen Strategien, die uns von dem abhalten sollen, was<br />

uns zusteht, und über die wir natürlich auch schreiben.<br />

LIEBE IST IMMER DORT, WO MAN<br />

ACHTUNG VOREINANDER HAT<br />

Das Wichtigste aber: Wir alle brauchen deutlich<br />

mehr Mittelfinger. Um Grenzposten zu markieren. Zumutungen<br />

abzuschmettern. Eigene Wege zu finden und die<br />

auch zu verteidigen. Nicht nur in Beziehungen, auch im<br />

Job, vor dem Spiegel, auf der Waage, im Vergleich mit<br />

vermeintlichen Schönheitsidealen und genauso auch im<br />

Kinderzimmer. Gerade da. Wir brauchen mehr Selbstbehauptung<br />

und Selbstschutz. Die Entschiedenheit, eigene<br />

Bedürfnisse durchzusetzen, und die Erfahrung, dass gerade<br />

die Verknappung von häuslichen Dienstleistungen,<br />

von Zugewandtheit, von emotionalem Engagement, von<br />

Aufmerksamkeit, von Entgegenkommen sehr viel Schönes<br />

bringt: mehr Freizeit, mehr Erfüllung, mehr Respekt,<br />

mehr Anerkennung, mehr Geld. Und sollte jemand fragen,<br />

wo denn da die Liebe bleibt – die ist immer dort, wo<br />

man Achtung voreinander hat, auch und vor allem vor<br />

den Ressourcen des anderen. Wo man ihn oder sie<br />

schätzt, gerade dafür, dass sie einen nicht im Ungewissen<br />

lässt über Bedürfnisse, Wünsche, Gefühle. Am Ende<br />

ist es doch so: Wir können natürlich 24/7 nett sein. Wir<br />

haben das sehr lange trainiert. Und mindestens so lange<br />

erlebt, dass das nichts bringt. Dass im Gegenteil, jede,<br />

die immer nur sehr lieb sein will, irgendwann böse enttäuscht<br />

wird. Nicht, dass wir ganz auf Freundlichkeit verzichten.<br />

Wir formulieren es einfach mal so: „Danke! Aber<br />

es reicht!“ Und natürlich: „Kopf hoch! Mittelfinger höher!“<br />

(Letzteres vorläufig nur in Gedanken. Jedenfalls so<br />

lange, bis wir auch den Fortgeschrittenen-Kurs in<br />

Selbstverteidigung absolviert haben.)

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