eTOPICOS - Ausgabe 2-2023 - 63. Jahrgang_einseitig
TÓPICOS mit seinen Beiträgen zu Brasiliens Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur ist die größte Publikation dieser Art für eine deutsch-brasilianische Zielgruppe und wird von der Deutsch-Brasilianischen Gesellschaft e.V. (DBG) www.topicos.de herausgegeben. Revista da Sociedade Brasil-Alemanha
TÓPICOS mit seinen Beiträgen zu Brasiliens Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur ist die größte Publikation dieser Art für eine deutsch-brasilianische Zielgruppe und wird von der Deutsch-Brasilianischen Gesellschaft e.V. (DBG) www.topicos.de herausgegeben.
Revista da Sociedade Brasil-Alemanha
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TÓPICOS 2 - <strong>2023</strong><br />
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37<br />
HERZENSSACHE<br />
DBG-NACHRICHTEN<br />
Notícias da Sociedade Brasil-Alemanha<br />
Was verbindet<br />
Sie mit<br />
Brasilien?<br />
In dieser <strong>Ausgabe</strong> berichtet<br />
DR. UWE KAESTNER<br />
„Brasilien, Du Land der Gegensätze,<br />
Wo alles sich mit neuem Sinn vermengt,<br />
Du Land der Wildnis und der Bodenschätze,<br />
In Dir hat die Natur sich selbst verschenkt.<br />
Brasilien, Dich muss man liebend hassen<br />
Und hassend lieben, eh man Dich versteht.<br />
Wer einmal kommt, der möchte Dich verlassen,<br />
Wer Dich verlässt, bedauert, wenn er geht.<br />
Denn Deiner Schönheit Urgewalt zu fassen,<br />
Brasilien, das ist schwer, doch nie zu spät.“<br />
Das war das erste Gefühlsbetonte, was<br />
ich von einem Land erfuhr, das ich<br />
bis dahin nur aus dem Geographie-<br />
Unterricht kannte – und in dem und für das<br />
ich später Lebensjahre gearbeitet habe.<br />
Vorgetragen wurde der Text (Autor mir nicht<br />
bekannt) mir gegenüber erstmals 1963 von<br />
einer schönen jungen Frau, die später meine<br />
Ehefrau werden sollte. Sie hatte als Teenager<br />
mit ihrer Familie vier Jahre, von 1956<br />
bis 1960, in Rio de Janeiro gelebt, hatte an<br />
einer Nonnenschule ihre Formatura gemacht.<br />
Ihr Vater leitete die Brasilien-Vertretung eines<br />
deutschen Großunternehmens in den Aufbaujahren<br />
unter Juscelino Kubitschek. Ich war<br />
beeindruckt. Rio und Brasilien, von denen in<br />
ihrer Familie immer wieder Erlebnisse erzählt<br />
und Anekdoten ausgetauscht wurde, blieben<br />
aber ein nebulöser Raum, ein eventueller touristischer<br />
Traum.<br />
Ich musste mich in den folgenden Jahren<br />
auf meine Ausbildung im Auswärtigen<br />
Dienst konzentrieren. Am 1. April 1966 wurden<br />
in einer kleinen Feier die Abschlusszeugnisse<br />
ausgehändigt und die ersten Dienstposten<br />
angekündigt: bei mir Rio de Janeiro,<br />
Pressereferent. Als ich dies per Telefon<br />
meiner Frau durchsagte, glaubt sie zunächst<br />
an einen Aprilscherz. Aber natürlich war es<br />
Ernst. In meinem Sprachgepäck, das ich ins<br />
Amt mitgebracht hatte, war Spanisch – und<br />
da könne ich mich, so der Ausbildungsleiter,<br />
leicht umstellen.<br />
Der Traum wurde Wirklichkeit, als wir, frisch<br />
verheiratet, per Schiff im Morgendunst in die<br />
Bucht von Guanabara einliefen. Diese landschaftliche<br />
Schönheit ist unvergleichlich! Es<br />
war das erste Bild einer faszinierenden Welt<br />
zwischen traumhaften Stränden, tropischen<br />
Wäldern, dürren Steppengebieten, schäumenden<br />
Wasserfällen und aufstrebenden Industriekulissen.<br />
Der Morgenverkehr brauste.<br />
Bossa Nova aus allen Radios. Damen hoch<br />
toupiert. Schmuck aus Halbedelsteinen, Stöckelschuhe.<br />
Vier aufregende Jahre in einer für mich<br />
neuen Realität standen bevor. Es herrschte<br />
ein Militärregime. Unter seiner Fuchtel<br />
war mein Arbeitsgebiet, die Pressearbeit,<br />
schwierig – man musste Vertrauen zu Journalisten<br />
aufbauen und die Nachrichten, die<br />
sie nicht veröffentlichen konnten, „zu Fuß“<br />
beschaffen. Es war auch die Zeit der Studentenunruhen.<br />
Auf einem meiner Redaktionsgänge<br />
erlebte ich, wir vor Rios Hauptkirche<br />
Candelária berittene Polizei mit Säbeln auf<br />
protestierende Studenten eindrosch. Es kam<br />
der Ato Institutional No. 5, der die Freiheitsrechte<br />
weitgehend aushebelte. Verhaftungen<br />
häuften sich, von Folter wurde unter der Hand<br />
berichtet. Im Rückschlag der Stadtguerilla<br />
kam es zu einer bis heute weltweit einmaligen<br />
Serie von Botschafterentführungen, darunter<br />
unser Chef Ehrenfried von Holleben (vgl. TÓ-<br />
PICOS 02/2010). Er wurde nach einer Woche<br />
gegen politische Häftlinge ausgetauscht<br />
– aber diese Woche lang war die Botschaft<br />
von der Weltpresse belagert, für alle Botschaftsangehörigen<br />
maximale Anspannung<br />
bei minimalem Schlaf.<br />
Auch deutsche Vergangenheit war gegenwärtig.<br />
Unter den damals zahlreichen deutschen<br />
Auslandskorrespondenten waren große<br />
Namen des Exils. In einer Vertretungszeit<br />
als Konsul erfuhr ich von grauenhaften jüdischen<br />
Schicksalen in Konzentrationslagern<br />
sowie Armut und Krankheit in der Emigration.<br />
Ich begründete und befürwortete eine Vielzahl<br />
von Anträgen auf Heilbehandlung und Wiedergutmachung<br />
und leistete so dazu meinen<br />
bescheidenen Betrag. Ein Höhepunkt in der<br />
Aufarbeitung der Vergangenheit war die Verhaftung<br />
und die von uns erfolgreich erzielte<br />
Auslieferung des KZ-Kommandanten Franz<br />
Paul Stangl (vgl. TÓPICOS 01/2022).<br />
In der brasilianischen Innenpolitik stellten<br />
sich nicht nur Studenten gegen die Repression,<br />
sondern neue Basis-Bewegungen im<br />
Rahmen der Katholischen Kirche. Unvergessen<br />
ein Besuch beim Erzbischof von Recife<br />
Arbeitsplatz in Brasília<br />
Dom Hélder Câmara. Auch durfte ich in Pressezuständigkeit<br />
Ex-Bundeskanzler Ludwig Erhard<br />
und Bundesaußenminister Willy Brandt<br />
begleiten.<br />
Privat war und bleibt die Gründung meiner<br />
Familie Glanzpunkt: zwei Kinder sind<br />
„Cariocas“. Wir waren glücklich! Wir spazierten<br />
häufig im Jardim Botânico und genossen<br />
die Düfte tropischer Vegetation. Wir verlebten<br />
unbeschwerte Tage am Strand und im Gebirge<br />
– die Kinder waren unser Mittelpunkt.<br />
Dieses Glück war auch die emotional<br />
stärkste Prägung dieser Rio-Zeit. Dennoch,<br />
als wir nach vier Jahren wieder die Koffer<br />
packen mussten, war der Abschied von der<br />
Cidade Maravilhosa eine Erleichterung. Die<br />
innenpolitische Lange hatte uns „mitgenommen“<br />
und insbesondere die Botschafterentführungen<br />
auch persönlich verunsichert – wie<br />
wenn bei nunmehr besser geschützten Chefs<br />
nun auf die Mitarbeiter „zurückgegriffen“ würde?<br />
Neben der Sonne blieben Schatten in der<br />
Erinnerung.<br />
Dass im Auswärtigen Dienst „Rotation“,<br />
d.h. regelmäßiger Postenwechsel, ansteht,<br />
hat ja auch den Zweck, das zu verhindern,<br />
was die Engländer mit „turn native“ meinen<br />
– der Blickwechsel von der Vertretung des<br />
Entsendestaates zu einer mehr oder weniger<br />
unkritischen Interessenvermischung mit denen<br />
des Gastlandes.<br />
Fügung des Schicksals? Mein Berufsweg<br />
– und unser Familienleben – führte nach Stationen<br />
wie Bonn, Quito, Moskau, Pretoria und<br />
Tokyo zu Anfang des 21. Jahrhunderts wieder<br />
nach Brasilien, nicht Rio, sondern Brasília.<br />
Das Land war ein anderes geworden.<br />
Die Bevölkerung hatte sich seit den 1960er<br />
Jahren mehr als verdoppelt. Seit 1988 demokratisch<br />
verfasst, war das Land aufgrund seiner<br />
Bodenschätze und Industrie zu einer der<br />
führenden Volkswirtschaften aufgestiegen.<br />
Deutschland war wirtschaftlich stark vertreten,<br />
kulturell präsent.<br />
Als Botschafter war ich mitverantwortlich<br />
für das Gelingen vieler offizieller Besuche.