FC50_Agenda_USA
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AUSGABE 50 9. Dezember 2023 € 5,20 EUROPEAN MAGAZINE AWARD WINNER 2023 COVER /// INFOGRAPHIC<br />
Die Jagd auf<br />
den Kanzler<br />
Friedrich Merz über<br />
Neuwahlen, Ehrgeiz und<br />
Machtanspruch<br />
Die Jagd auf<br />
den Wolf<br />
Wie viel Wildnis<br />
verträgt der<br />
moderne Mensch?<br />
1,36 Mio.<br />
Boomer wurden<br />
allein 1964 geboren.<br />
Insgesamt zählen<br />
24 Millionen Deutsche<br />
zur größten Generation<br />
aller Zeiten<br />
RENTE? SPÄTER!<br />
Fit, pflichtbewusst und unverzichtbar? Warum so viele<br />
Babyboomer weiterarbeiten wollen
AGENDA<br />
<strong>USA</strong><br />
Superkraft<br />
Das Graffiti zeigt<br />
Joe Biden als<br />
Captain America<br />
auf einer Hauswand<br />
in Tel Aviv<br />
Anspruch und<br />
Wirklichkeit<br />
Ein Jahr vor der Präsidentschaftswahl:<br />
Joe Biden schafft es nicht,<br />
Donald Trump in Umfragen einzuholen.<br />
Und die internationalen<br />
Krisen kulminieren. Die<br />
Supermacht zwischen Führung<br />
und Rückzug<br />
Fo t o : A m i r L e v y / G e t t y I m a g e s<br />
TEXT VON ALEX BARTL, GUDRUN DOMETEIT,<br />
FABIAN KRETSCHMER,<br />
SEBASTIAN MOLL UND LUKAS STOCK<br />
26 FOCUS 50/2023<br />
27
AGENDA<br />
<strong>USA</strong><br />
Annäherung Biden und<br />
Chinas Staatschef Xi<br />
Jinping bei ihrem Treffen in<br />
Kalifornien im November<br />
chen Auseinandersetzungen im Indopazifik.<br />
Jeremy Shapiro, Direktor im European<br />
Council on Foreign Relations, glaubt, dass<br />
sowohl bei Demokraten als auch Republikanern<br />
das Gefühl wachse, die externen<br />
Engagements könnten das Land allmählich<br />
überfordern. Stattdessen solle<br />
man sich mehr auf die eigene Bevölkerung<br />
und deren Probleme konzentrieren.<br />
Stecken die <strong>USA</strong> also in einer Art<br />
Stresstest, indem sie einerseits ihre Krisenfestigkeit<br />
unter Beweis stellen müssen,<br />
aber andererseits auch gezwungen<br />
sind, Prioritäten zu setzen? Was bedeutet<br />
das für den Status als Supermacht? Könnte<br />
China von Unaufmerksamkeiten profitieren,<br />
klammheimlich einen Überfall auf<br />
die „abtrünnige Provinz“ Taiwan planen?<br />
Hybris und Dekadenz<br />
Seit dem Massaker der Hamas an 1200<br />
Menschen am 7. Oktober versuchte US-<br />
Außenminister Antony Blinken zusammen<br />
mit Katar Gesprächskanäle zur<br />
Hamas offen zu halten. Sein rastloses<br />
Hin- und Herjetten zwischen verschiedenen<br />
Parteien in der Region verglichen<br />
US-Kommentatoren mit der Shuttle-<br />
Diplomatie Henry Kissingers in den Siebzigern,<br />
die zu einem historischen Frieden<br />
zwischen Ägypten und Israel führte. Und<br />
noch wenige Tage vor dem Geiseldeal<br />
bekräftigte Biden in der „Washington<br />
Post“, Amerika gedenke auch künftig seine<br />
Rolle als Supermacht und Anführer der<br />
Freien Welt wahrzunehmen. „Die Welt<br />
Brennpunkt Ukrainische<br />
Soldaten manövrieren<br />
einen US-Schützenpanzer<br />
in der Frontstadt Orichiw<br />
zählt auf uns, um die Probleme unserer<br />
Zeit zu lösen. Das ist die Verpflichtung der<br />
Führungsrolle, und Amerika wird führen.<br />
Wenn wir vor den Herausforderungen<br />
zurückschrecken, werden sich Konflikte<br />
ausweiten und die Kosten, sich ihnen zu<br />
stellen, werden steigen. Wir werden das<br />
verhindern.”<br />
Das klang nach dem unverminderten<br />
Anspruch der <strong>USA</strong>, eine Weltordnung<br />
gemäß ihren Vorstellungen und Interessen<br />
durchzusetzen und aufrechtzuerhalten.<br />
Doch Biden muss sich immer lauter<br />
werdenden Zweifeln stellen, inwiefern<br />
sein Land der Supermacht-Rolle noch<br />
gerecht werden kann. So proklamierte<br />
der US-Bestsellerautor George Packer im<br />
vergangenen Jahr in seinem gleichnamigen<br />
Buch „das Ende des amerikanischen<br />
Jahrhunderts“. Dieses habe mit dem Zweiten<br />
Weltkrieg begonnen und unglaubliche<br />
Höhen und Tiefen durchlaufen. „Und<br />
es endete vorgestern.“ Es sei ein Zeitalter<br />
gewesen, das die transatlantische Allianz,<br />
die freie Welt und relativen Weltfrieden<br />
gebracht habe, aber auch von Hybris und<br />
Dekadenz geprägt gewesen sei.<br />
Bis zum 11. September 2001 gründete<br />
die amerikanische Außenpolitik noch<br />
weitestgehend auf diesen Paradigmen der<br />
Nachkriegszeit. Es ging um die Sicherung<br />
von Einflusssphären und die Verbreitung<br />
demokratischer Staatsordnungen rund<br />
um die Welt. Mit den Abenteuern im Irak<br />
und Afghanistan wurde jedoch nicht nur<br />
der Welt und Amerikas Partnern, sondern<br />
Fo t o s : Doug Mills//laif, Oliver Weiken/dpa, Chuck Kennedy/action press, dpa, imago images, Getty Images<br />
Diplomatie US-Außenminister<br />
Antony Blinken mit<br />
Israels Premier Benjamin<br />
Netanjahu in Tel Aviv<br />
Joe Biden feierte, wenn überhaupt,<br />
seinen Triumph im Stillen,<br />
ein lautes Brustgetrommel,<br />
das wusste der US-Präsident,<br />
wäre zu diesem Zeitpunkt gänzlich<br />
unangebracht gewesen.<br />
„Der Deal von gestern Abend“,<br />
ließ das Weiße Haus nach der<br />
Einigung über einen temporären Waffenstillstand<br />
zwischen der Hamas und Israel<br />
vor gut zwei Wochen via Nachrichtendienst<br />
X knapp wissen, „ist Zeugnis der<br />
unermüdlichen Diplomatie von hingebungsvollen<br />
Individuen in der US-Regierung“.<br />
Das war’s. Mithilfe des Deals<br />
kamen inzwischen 105 von 240 Geiseln<br />
aus Hamas-Gefangenschaft frei.<br />
Doch der diplomatische Erfolg ist angesichts<br />
des großen und immer unerreichbarer<br />
scheinenden Ziels eines anhaltenden<br />
Friedens im Nahen Osten kaum der Rede<br />
wert. Die Waffenruhe ist längst gestoppt,<br />
und Israel hat seine Offensive im Gazastreifen<br />
mit unverminderter Stärke wiederaufgenommen<br />
– diesmal im Süden,<br />
wohin die meisten Palästinenser geflohen<br />
sind. Das Sterben, es geht weiter.<br />
Ein Jahr vor der Präsidentschaftswahl<br />
in den <strong>USA</strong> sieht sich Biden nicht nur<br />
mit der anscheinend unerschütterlichen<br />
Popularität Donald Trumps konfrontiert,<br />
sondern auch mit einer Fülle von Konflikten,<br />
in denen amerikanische Führung<br />
gefragt ist – vor allem in der Ukraine<br />
und in Israel. Dabei hatten sich die<br />
<strong>USA</strong>, obwohl Biden persönlich als großer<br />
Freund Jerusalems gilt, aus dem Nahen<br />
Osten politisch eher zurückgezogen. Zu<br />
mühselig, zu verfahren, zu wenig erfolgversprechend.<br />
Die Nationale Sicherheitsstrategie<br />
von 2022 bezeichnet militärische<br />
Abenteuer wie die im Nahen Osten in<br />
den vergangenen Jahren sogar als „Extravaganzen“,<br />
die vom wichtigsten Fokus<br />
amerikanischer Außenpolitik ablenkten:<br />
dem Wettbewerb mit China und mögliauch<br />
einer Mehrheit der eigenen Bevölkerung<br />
klar, dass der Versuch, diese Ziele mit<br />
wirtschaftlichem und militärischem Druck<br />
zu erreichen, zum Scheitern verurteilt ist.<br />
„Der Begriff ,humanitäre Intervention‘“,<br />
schreibt Packer, „ist zu einem Widerspruch<br />
in sich geworden.“ Vielmehr sei unübersehbar<br />
geworden, dass die <strong>USA</strong> andere<br />
Länder nicht ändern könne und bei dem<br />
Versuch, eben dies zu tun, viel Schaden<br />
anrichte.<br />
Die Reaktion der Trump-Regierung auf<br />
diese Erkenntnis war ein neuer Isolationismus.<br />
Das Trump’sche Credo lautete<br />
„America First“. Die <strong>USA</strong> wollten sich um<br />
ihre eigenen Probleme kümmern, der Rest<br />
der Welt sollte sehen, wie er zurechtkam.<br />
Trump beschwerte sich fortlaufend darüber,<br />
wie viel Geld die NATO die <strong>USA</strong><br />
koste und verkündete jüngst wieder, bei<br />
seiner Wiederwahl aus dem Bündnis auszutreten.<br />
Der Rückzug aus Afghanistan,<br />
den Biden schließlich vollzog, war bei<br />
Trump von Anfang an Programm.<br />
Biden, politisch auf der Höhe des Kalten<br />
Krieges sozialisiert, schlug hingegen<br />
andere Töne an. Im Konflikt mit den Autokratien<br />
dieser Welt wollten die <strong>USA</strong> mit<br />
aller Macht die Sache der Demokratie verteidigen.<br />
Nach dem Überfall Russlands<br />
auf die Ukraine stellte er sich bedingungslos<br />
an die Seite Kiews. Washington lieferte<br />
Militärhilfen im Wert von 75 Milliarden<br />
Dollar, jetzt soll der amerikanische Kongress<br />
weitere 60 Milliarden bewilligen,<br />
weil die meisten Mittel bis zum Ende des<br />
Jahres aufgebraucht sein werden. Ohne<br />
die Hilfe der <strong>USA</strong> hätte die Ukraine den<br />
Krieg nicht so lange durchhalten können –<br />
das müssen sich auch die Europäer kleinlaut<br />
eingestehen.<br />
Starker Dollar, hohe Schulden<br />
Dennoch ist die Fähigkeit der <strong>USA</strong>, der<br />
Welt ihren Stempel aufzudrücken, deutlich<br />
geschrumpft. So bemerkte der britisch-amerikanische<br />
Historiker Niall<br />
Ferguson jüngst sarkastisch: „Mahatma<br />
Ghandi sagte einmal zum Thema<br />
der westlichen Zivilisation, dass sie eine<br />
gute Idee wäre. Wenn es um eine amerikanische<br />
Führungsrolle in der Welt geht,<br />
habe ich eine ähnliche Reaktion.“<br />
Wie die meisten Beobachter stellt Ferguson<br />
nicht in Abrede, dass die ökonomische<br />
und die militärische Stärke der<br />
<strong>USA</strong> – die beiden gängigen Indikatoren<br />
für den Status als Supermacht – ungebrochen<br />
sind. So sind US-Firmen in 74 Prozent<br />
aller Branchen führend. Der Wert<br />
chinesischer Patente – ein Kriterium für<br />
Innovationskraft – entspricht nicht einmal<br />
zehn Prozent des Wertes amerikanischer<br />
Patente. Auch beim Volkseinkommen<br />
reicht China nicht annähernd den <strong>USA</strong><br />
das Wasser. Und trotz aller Versuche von<br />
China und anderen Staaten, den Dollar als<br />
internationales Zahlungsmittel zurückzudrängen,<br />
ist dessen Bedeutung laut jüngsten<br />
Zahlen des Finanzdienstleisters Swift<br />
gewachsen, von einst einem Drittel auf<br />
jetzt 46 Prozent Anteil am Handel.<br />
Auf militärischem Gebiet geben die<br />
<strong>USA</strong> nicht nur bei Weitem am meisten<br />
Geld aus. Mit fast 900 Milliarden Dollar<br />
sind die Verteidigungsausgaben so groß<br />
wie die der zehn folgenden Länder auf<br />
der Rangliste, einschließlich Russland und<br />
China. Ihre hoch entwickelten Waffensysteme<br />
garantieren ihnen auch Hegemonie<br />
über die sogenannten „Commons“,<br />
die nicht von Staatsgrenzen geschützten<br />
Gebiete Luft, See und Weltraum.<br />
Die Dominanz der <strong>USA</strong> sieht Ferguson,<br />
den das „Time“-Magazin mal zu den 100<br />
einflussreichsten Persönlichkeiten der<br />
Welt zählte, dennoch beeinträchtigt. Die<br />
atlantische Allianz sei äußerst fragil, die<br />
Bereitschaft unter den Bündnispartnern,<br />
den <strong>USA</strong> weltpolitisch zu folgen, schon<br />
lange nicht mehr dieselbe, wie vielleicht<br />
noch vor zehn Jahren.<br />
Die Gründe dafür sind vielschichtig.<br />
Zum einen herrscht eine gewisse Skepsis<br />
gegenüber der wirtschaftlichen Dominanz<br />
der <strong>USA</strong>. Die immense Staatsverschuldung<br />
des Landes, durch Bidens<br />
große Investitionsprogramme verschärft,<br />
halten manche Europäer für bedenklich.<br />
Nach Projektionen des Congressional<br />
Budget Office, des Haushaltsbüros des<br />
Kongresses, werden die Schuldendienste<br />
bis zum Jahr 2029 die Verteidigungsausgaben<br />
des Landes überschreiten. Das<br />
Haushaltsdefizit soll bis 2033 7,3 Prozent<br />
betragen.<br />
Zudem ist nicht sicher, ob die Länder,<br />
die Amerika in der Ukraine-Politik<br />
folgten, auch bereit sind, bei der Konfrontation<br />
mit China bedingungslos zum<br />
großen Bruder zu stehen oder lieber eine<br />
neu tralere Haltung einzunehmen. Bei<br />
einer großen Anzahl ehemaliger Bündnisstaaten<br />
von Mexiko über Norwegen<br />
bis hin zu Deutschland deckt sich das<br />
Eigeninteresse schon lange nicht mehr<br />
in allen Punkten mit jenem der <strong>USA</strong>.<br />
Sie sind für Amerika unberechenbar<br />
Supermacht <strong>USA</strong>: Aufstieg, Krisen und Konkurrenz<br />
1803<br />
Mit dem Kauf der<br />
französischen Kolonie<br />
Louisiana verdoppeln<br />
die <strong>USA</strong> ihr Gebiet.<br />
Das Neuland reicht<br />
von Kanada bis zum<br />
Golf von Mexiko. So<br />
sichert man sich den<br />
Zugang zum Mississippi<br />
und zum Hafen<br />
von New Orleans für<br />
den Außenhandel<br />
1898<br />
Die <strong>USA</strong> expandieren jenseits des<br />
Kontinents. Nach dem Sieg im Spanisch-<br />
Amerikanischen Krieg fallen ihnen etwa die<br />
Philippinen und Kuba (o.) zu. Durch die<br />
Eroberungen im Pazifik erhofft sich Amerika<br />
die Erschließung asiatischer Märkte<br />
1917<br />
Wegen der Masseneinwanderung ist die<br />
Politik vor allem auf Stabilität und Frieden<br />
im Inneren bedacht. Der Erste Weltkrieg<br />
zwingt das Land zum Umdenken. Mit dem<br />
Kriegseintritt 1917 finden die <strong>USA</strong> eine<br />
neue Rolle auf der Weltbühne<br />
1945<br />
Jubelnde Menschen empfangen<br />
General Eisenhower nach dem Zweiten<br />
Weltkrieg in New York. Auch wirtschaftlich<br />
haben sich die <strong>USA</strong> zur Supermacht<br />
entwickelt. Sie produzieren mehr als<br />
60 Prozent der globalen Industriegüter<br />
1967<br />
Unruhen erschüttern die Vereinigten<br />
Staaten. Afroamerikaner begehren in<br />
Städten wie hier in Newark, New Jersey,<br />
gegen Benachteiligung und Polizeigewalt<br />
auf. Durch den allgegenwärtigen Rassismus<br />
schwächt sich Amerika selbst<br />
1986<br />
Mit dem „Programm 863“ reagiert China<br />
auf seine ökonomische Rückständigkeit.<br />
Unter dem Reformer Deng Xiaoping<br />
beginnt der Staat gezielt die eigene<br />
Hochtechnologie zu fördern, vor allem,<br />
aber nicht nur beim Militär<br />
1991<br />
Die Sowjetunion wird im Dezember aufgelöst.<br />
Dem Zerfall der zweiten Supermacht<br />
neben den <strong>USA</strong> waren Konflikte<br />
zwischen Staatspräsident Gorbatschow<br />
und Boris Jelzin, dem Präsidenten der<br />
Russischen Föderation, vorausgegangen<br />
2010<br />
China ist nach den <strong>USA</strong> zur zweitgrößten<br />
Volkswirtschaft der Welt aufgestiegen.<br />
Hohe Wachstumsraten verhelfen großen<br />
Teilen der Bevölkerung aus der Armut<br />
und stärken das Selbstbewusstsein der<br />
kommunistischen Führung<br />
28 FOCUS 50/2023 FOCUS 50/2023<br />
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