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Inspiration Nr 02- 2024

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Wegweiser Trekking Maloja – Soglio<br />

Im Roman «Karte und Gebiet» von Michel Houellebecq fertigt<br />

ein junger Künstler Fotos von Michelin-Landkarten an, denen er<br />

matschige Luftaufnahmen derselben Orte gegenüberstellt. «Die<br />

Karte ist interessanter als das Gebiet» ist der Titel der Ausstellung,<br />

die ihm zum Durchbruch verhilft. Unter diesem Motto<br />

schien auch die Tourenvorbereitung von Sils nach Soglio zu stehen:<br />

Wieder und wieder durchforsteten wir die Karten nach den<br />

besten Biwakplätzen, suchten Quellen und Ebenen, beklagten<br />

die grobe Auflösung der Maxar-Satellitenbilder vom Val da la<br />

Prasgnola. Irgendwann fühlten wir uns wie umgekehrte Vermesser,<br />

die nur noch loszogen, um ihre Daten mit der Wirklichkeit<br />

abzugleichen.<br />

Und dann das: Noch vor dem Anpfiff geht das Gebiet gegen<br />

die Karte eins zu null in Führung. Der von Sils sanft ansteigende<br />

Weg hinauf zum Lunghinsee ist wegen Steinschlaggefahr<br />

gesperrt. Also Maloja – Soglio statt Sils – Soglio. Das geht zwar<br />

schlechter über die Lippen, ist aber nicht minder schön. In der<br />

Abendsonne leuchten die Alpenrosen und Feuerlilien noch ein<br />

wenig bunter als sonst, zwei Wanderpärchen und drei junge Italiener<br />

kommen uns mit Profikameras und strahlenden Mienen ent-<br />

‹1›<br />

‹1› Einmalig in Europa: Am Pass<br />

Lunghin liegt die Dreifach-Wasserscheide<br />

zwischen Nordsee, Mittelmeer<br />

und Schwarzem Meer.<br />

‹2› Bergeller Bollwerk: Vom Pass da<br />

la Duana bekommen wir einen ersten<br />

Blick auf Cengalo, Badile & Co.<br />

‹4›<br />

«Kurz fühlen wir kleinen Menschlein<br />

uns ganz mächtig und spritzen<br />

das Wasser erst in den Atlantik, dann<br />

ins Mittelmeer und schliesslich<br />

noch ins Schwarze Meer.»<br />

‹2›<br />

‹3› Alleinstellungsmerkmal: Edelweiss<br />

deuten darauf hin, dass die<br />

Hochtäler Val da la Duana und Val da<br />

Roda eher wenig besucht werden.<br />

‹4› Schlechtes Timing: Den Abenteuerspielplatz<br />

im Talschluss des Val<br />

Maroz erreichen wir genau dann, als<br />

wir Strecke machen wollen.<br />

‹3›<br />

‹3›<br />

gegen. Muss schön sein, da oben. Ist es auch, aber – zwei zu null:<br />

Kalte Böen legen den Lunghinsee in Falten, sodass wir die besten<br />

Plätze am Ufer bald aufgeben und uns fürs Biwak zwischen<br />

die nahen Felsen verkriechen. Dass Houellebecq irrt, deutet sich<br />

also schon an und steht spätestens nach dem Abendspaziergang<br />

fest: Definitiv ist das Gebiet interessanter als die Karte. Ob es<br />

eben ist, sagt Swisstopo. Ob man auf Gras oder Steinen sein Lager<br />

aufschlägt, erfährt man auf Google Earth. Aber ob man fünf<br />

Meter neben der Isomatte einen Murmeltierzahn findet, um den<br />

man den Kindern daheim ein Märchen spinnen kann – das weiss<br />

keine Karte. Beim Stand von drei zu null verliert der Biancograt<br />

sein letztes Licht, dann leuchtet nur noch die Bergstation vom<br />

Corvatsch. Der Seeabfluss rauscht uns in den Schlaf.<br />

Spuren lesen auf der Via Sett<br />

Anderntags freuen wir uns, nicht noch weiter aufgestiegen zu<br />

sein. Hinter dem See wird die Landschaft sandig, karg, feucht.<br />

«Der Winter ist hier auch noch nicht lange her», meint Jürg.<br />

Apropos Karte und Gebiet: Die Dreifach-Wasserscheide am<br />

Pass Lunghin, das geografische Highlight der Tour, müssen wir<br />

im Nebel erst mal suchen. Kurz fühlen wir kleinen Menschlein<br />

uns ganz mächtig und spritzen das Wasser aus dem Granitbassin<br />

erst Richtung Atlantik, dann ins Mittelmeer und schliesslich<br />

noch ins Schwarze Meer. Nicht angeschrieben ist das Meer<br />

aus gelbem Enzian, durch das wir mit imaginärem Kräuterschnapsgeschmack<br />

auf der Zunge hinüber zum Septimerpass<br />

wandern. Dort erschrecken wir über eine Hütte. Teil des Plans<br />

war es doch, jede Chamanna und Capanna so weiträumig zu<br />

umgehen, als wären wir zwei der chronisch menschenscheuen<br />

Hauptfiguren eines Houellebecq-Romans. Doch die privat geführte<br />

und topmodern eingerichtete Cesa da Sett mit ihren 16 Betten<br />

hat ohnehin geschlossen. Jürg spekuliert noch auf einen frischen<br />

Espresso, drückt sich die Nase aber vergeblich platt.<br />

In den Karten der alten Römer dürfte der Septimerpass<br />

noch mit deutlich dickerem Strich verzeichnet gewesen sein,<br />

stellte er doch neben dem Julierpass den wichtigsten Übergang<br />

zwischen Chur und Mailand dar. Heute ist der Pass da Sett nur<br />

noch bei den Bikern die Nummer eins. Drei Velofahrer folgen<br />

der nationalen MTB-Route <strong>Nr</strong>. 1 auf Fahrstrassen nach Süden,<br />

das Kopfsteinpflaster der Via Sett haben wir für uns allein. Jede<br />

Kehre regt die Fantasie an: Hat man hier einen Zusatzochsen<br />

vorgespannt? Ist dort einst Flavius Vehiculus mit seinem wurmstichigen<br />

Klapperwagen steckengeblieben? Am «Sascel battü»<br />

verkündet eine Tafel, dass dieser Felsklotz schon vor 500 Jahren<br />

die Grenze zwischen Bivio und Bergell markierte. Auch eine<br />

1991 von den Instruktoren der Maurerlehrhallen Sursee vorbildlich<br />

restaurierte Bogenbrücke versprüht antiken Charme,<br />

vermag aber nicht ganz über die Bunkeranlagen (helvetisch,<br />

nicht römisch) und die 220-kV-Freileitung hinwegzutäuschen.<br />

Im Talboden passieren wir Maroz Dora und Maroz Dent. Das<br />

sind keine Zahncremes für morgens und abends, sondern zwei<br />

Alpen, von denen Dent, die obere, eindeutig die schönere ist. Ein<br />

14<br />

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