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Inspiration Nr 02- 2024

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Gipfeltreffen Nicole Niquille<br />

‹1› Im Sommer 2<strong>02</strong>2 auf dem<br />

Breithorn: «Für Behinderte<br />

ist es besonders wichtig, einen<br />

Traum zu haben.»<br />

‹ 2 › Nicole Niquille am Gasherbrum,<br />

1991: «Bevor ich<br />

Flaschensauerstoff verwende,<br />

bleibe ich lieber unten.»<br />

‹ 3 › Allein unter Männern:<br />

Niquille war eine Pionierin<br />

des weiblichen Höhenbergsteigens,<br />

ehe ein Unfall beim<br />

Pilzesammeln sie in den<br />

Rollstuhl zwang.<br />

‹1›<br />

«Vor dem Unfall habe ich das<br />

Breithorn nie als so besonders<br />

empfunden. Jetzt war es aber<br />

wirklich wunderschön.»<br />

Mit ihrem damaligen Partner Erhard Loretan<br />

waren sie am K2 und am Mount Everest.<br />

In den 1980er-Jahren war das. Seitdem hat<br />

sich dort viel verändert.<br />

Lese ich die heutigen Expeditionsberichte,<br />

dann merke ich sehr deutlich, dass das nicht<br />

mehr das ist, was es einmal war. Es ist kein<br />

Vergleich zu damals. Für uns und für alle,<br />

die in den 80er-Jahren auf Expedition unterwegs<br />

waren, war das noch ein echtes Abenteuer.<br />

Wir haben das lange vorbereitet. Ein<br />

Jahr waren wir allein mit den Vorarbeiten<br />

beschäftigt. Wir haben unser ganzes Material<br />

mitgebracht. Und wir waren ohne Flaschensauerstoff<br />

und ohne Träger am Berg<br />

unterwegs. Zwei Monate lebten wir bei der<br />

K2-Expedition auf dem Gletscher. Insgesamt<br />

waren damals nur drei Expeditionen am K2.<br />

Franzosen, Koreaner und wir Schweizer.<br />

Grosse Namen waren da versammelt: Neben<br />

Ihnen und Erhard Loretan waren auch<br />

Jacques Grandjean, Norbert Joos, Pierre<br />

Morand, Marcel Rüedi und Jean Troillet mit<br />

von der Partie.<br />

Wir waren damals die Ersten am Berg, mit<br />

unseren eigenen Erfahrungen und mit unseren<br />

eigenen Fähigkeiten und Kompetenzen.<br />

Wir mussten auf uns zählen.<br />

Sie sogar ganz besonders. Sie mussten wegen<br />

gesundheitlicher Probleme absteigen.<br />

Ich hatte starke Schmerzen in dem Bein, das<br />

ich mir viele Jahre vorher bei einem Motorradunfall<br />

schwer verletzt hatte. Erhard und die<br />

anderen sind weiter aufgestiegen. Ich war<br />

16 Stunden wirklich ganz alleine am Berg<br />

unterwegs, bis ich zurück im Basislager war.<br />

Kein Vergleich zu heute: Im vergangenen<br />

Sommer wollten 370 Bergsteiger den K2<br />

besteigen. Ende Juli machten sich dann tatsächlich<br />

180 auf den Weg Richtung Gipfel.<br />

Etwas mehr als hundert haben den Gipfel<br />

schliesslich erreicht.<br />

Das ist für diese Menschen sicher auch ein<br />

Abenteuer. Auch wenn die Rahmenbedingungen<br />

natürlich ganz andere sind. Ich finde<br />

es toll, dass sie das machen. Es ist doch<br />

schön zu sehen, dass so viele Menschen<br />

Freude an den hohen Bergen haben. Wobei<br />

ich sagen muss, hätte ich die Wahl, würde<br />

ich unter den heutigen Umständen nicht<br />

mitgehen. Bevor ich Flaschensauerstoff<br />

verwende, bleibe ich lieber unten.<br />

Indem Sie gezeigt haben, was an den hohen<br />

Bergen möglich ist, waren Sie damals<br />

in gewisser Weise auch Wegbereiterin für<br />

das, was heute dort passiert. Ein anderer<br />

war Reinhold Messner, der heute wohl der<br />

grösste Kritiker des modernen Expeditionsbergsteigens<br />

ist.<br />

Ich erhebe nicht den Anspruch, mit einem<br />

Messner verglichen zu werden, aber wir waren<br />

zur gleichen Zeit im Himalaya aktiv. Es<br />

wäre interessant zu wissen, was Reinhold<br />

Messner machen würde, wäre er heute jung.<br />

Eine hypothetische Frage, auf die wir nie<br />

eine Antwort bekommen werden. Ihre Karriere<br />

als Bergsteigerin und auch Bergführerin<br />

nahm ein jähes Ende, als beim Pilzesammeln<br />

ein Stein Ihren Kopf traf. Die Diagnose:<br />

Schädel-Hirn-Trauma und eine massive<br />

Schädigung des Hirnareals, das für den Bewegungsapparat<br />

zuständig ist.<br />

Aber das Bergsteigen wirkt weiter. Es hat<br />

mir sehr geholfen. Die Berge sind eine gute<br />

Schule für die Schwierigkeiten und die besonderen<br />

Herausforderungen im Leben.<br />

Das Bergsteigen war eine Vorbereitung auf<br />

Fotos: Caroline Fink, zvg<br />

das, was jetzt ist. Jedes Mal, wenn es jetzt<br />

Schwierigkeiten gibt, denke ich an schwierige<br />

Situationen in den Bergen. Ist mir kalt,<br />

dann erinnere ich mich an die Basislager<br />

von K2 oder Everest oder ein ausgesetztes<br />

Biwak und sage mir: «Damals war es noch<br />

viel kälter.» Das hilft mir. Hinzu kommt,<br />

dass für mich als Bergführerin die Herausforderung<br />

normal war und dass ich gelernt<br />

hatte, mich minutiös und sehr genau<br />

vorzubereiten. Das muss man auch, wenn<br />

man im Rollstuhl sitzt. Und: Ich nehme vieles<br />

einfach mit Humor. Humor hilft viel, er<br />

macht vieles leichter.<br />

‹2›<br />

Wie hat sich eigentlich die Bedeutung der<br />

Berge durch den Unfall für Sie verändert?<br />

Ich lebe in Charmey und damit in den Bergen<br />

und in der Natur. Ich habe also Berge<br />

um mich herum. Aber der Bergsport interessiert<br />

mich nicht mehr gross. Wenn man die<br />

Protagonisten nicht mehr trifft, dann verfolgt<br />

man das nicht mehr so intensiv. Ich schaue<br />

auch keine Filme über Berge und das Bergsteigen.<br />

Wenn aber meine Schwester auf einen<br />

Berg steigt, dann freut mich das und ich<br />

bin in ihrem Herzen dabei. Ich habe fünf Nichten.<br />

Zwei davon sind sehr starke Bergsteigerinnen.<br />

Natürlich würde es mich freuen, würde<br />

eine davon Bergführerin werden. Aber das ist<br />

kein Muss und schon gar keine Verpflichtung.<br />

Ihre Grossmutter soll Ihnen einmal den Rat<br />

gegeben haben, immer den schwierigeren<br />

Weg zu wählen. Bei Ihrem Unfall hat wohl<br />

eher das Schicksal voll zugeschlagen.<br />

Was meine Grossmutter betrifft: Das hat sie<br />

mir tatsächlich geraten. Ich wähle immer<br />

noch den schwierigeren Weg. Und dann<br />

sage ich mir: «Das ist aber interessant.»<br />

Ich fordere mich damit also auf, eine Lösung<br />

für das Problem zu finden. Nichtsdestotrotz:<br />

Mein jetziges Leben wünsche ich<br />

niemandem. Und ob der Unfall Schicksal<br />

war? Ich hatte die Wahl. Statt für den Familienausflug<br />

zum Muttertag habe ich mich<br />

für das Pilzesammeln entschieden. Voilà,<br />

wir alle kennen das Ergebnis.<br />

Erhard Loretan hatten Sie nach dem Unfall<br />

erklärt, mit ihm wieder auf das Matterhorn<br />

steigen zu wollen. Wann war der Zeitpunkt,<br />

an dem für Sie selbst klar war, dass das nie<br />

mehr passieren würde?<br />

Ich habe lange gesagt, dass ich wieder laufen<br />

werde. Vielleicht habe ich ein Jahr lang<br />

wirklich fest daran geglaubt. Die Erkenntnis,<br />

dass es mit dem Matterhorn nichts<br />

mehr werden würde, kam dann langsam.<br />

Das kommt nicht an einem Tag. Man gewöhnt<br />

sich daran. Man gewöhnt sich daran,<br />

nicht mehr Skifahren gehen zu können.<br />

Man gewöhnt sich daran, nicht mehr klettern<br />

zu können und endlich (das meinte sie<br />

ironisch) den Lift nehmen zu müssen.<br />

‹3›<br />

Zwar war es nicht das Matterhorn, aber dafür<br />

waren Sie im Sommer 2<strong>02</strong>2 in Sichtweite<br />

des Matterhorns auf dem Breithorn.<br />

Das war ein wunderschönes Erlebnis, ein<br />

ganz tolles Abenteuer. Ich hatte zufällig<br />

Caroline George in Zermatt getroffen. Sie<br />

kam als Bergführerin gerade mit einem<br />

Gast vom Breithorn zurück. Und sie fragte<br />

mich spontan, ob ich zum Breithorn<br />

mitkommen würde. «Ja, natürlich», sagte<br />

ich sofort. So kam das dann. Sie hat<br />

sich um das Team gekümmert. Ich mich<br />

um die Technik. Orthotec, die technische<br />

Werkstatt des Spitals Nottwil, baute den<br />

Prototypen des Schlittens und passte ihn<br />

dann nach Feldtests an. Die Leute bei Orthotec<br />

waren grossartig, sie haben uns<br />

den Schlitten sogar unentgeltlich überlassen.<br />

Dann fand Caroline 16 Frauen, die<br />

mich zum Breithorn schleppten. Auch Rita<br />

Christen, die Präsidentin des Schweizerischen<br />

Bergführerverbandes, und Heidi<br />

Hanselmann, Präsidentin der Schweizer<br />

Stiftung für Paraplegiker, waren mit dabei.<br />

Vermutlich auch ein Rekord. Mir ist nicht<br />

bekannt, dass das vorher jemals jemand gemacht<br />

hatte.<br />

Am Breithorn war ich einmal nicht die Erste,<br />

eine Gruppe des Pelotons de Gendarmerie<br />

de Haute Montagne in Chamonix hatte ein<br />

paar Jahre vorher einen querschnittsgelähmten<br />

Bergführeranwärter in einem Akja<br />

zum Gipfel des Breithorns gebracht.<br />

Haben Sie eigentlich dort oben so etwas wie<br />

Gipfelglück gespürt?<br />

Ja. Tatsächlich. Es war sehr, sehr schön und<br />

auch sehr emotional. Zumal das Breithorn<br />

mein erster Gipfel in den Alpen seit meinem<br />

Unfall war. Vor dem Unfall habe ich das Breithorn<br />

nie als so besonders empfunden. Jetzt<br />

war es aber wirklich wunderschön. Jetzt ist<br />

einfach jeder Berg besonders für mich. In<br />

Nepal war ich davor schon öfter auf über<br />

4000 Meter hohen Gipfeln; dort aber nicht<br />

mit einem Schlitten, sondern auf dem Rücken<br />

von einem Träger oder auf einem Pferd.<br />

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