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BIEL BIENNE 9. APRIL <strong>2024</strong><br />
CINÉMA<br />
VON<br />
LUDWIG<br />
HERMANN<br />
Woody Allen über die<br />
Bedeutung, die Zufall<br />
und Glück in unserem<br />
Leben haben können.<br />
«Coup de Chance» ist Woody<br />
Allens 50. Film, der erste, den<br />
der 88-Jährige in französischer<br />
Sprache und mit französischen<br />
Darstellern gedreht hat. Warum<br />
Paris und nicht Manhattan als<br />
Handlungsort? «Weil ich mich<br />
während den Dreharbeiten von<br />
‘Midnight in Paris’ in die Stadt<br />
verliebt habe!» Das war 2011.<br />
Meister-Kameramann Vittorio<br />
Storaro, 83, ist in seinem<br />
Element. Im fünften Einsatz<br />
für Woody Allen fängt er die<br />
Schönheit der Seine-Stadt ein<br />
und begleitet mit exquisiten<br />
Bildern den Weg der Protagonisten.<br />
Die heissen Fanny und<br />
Jean, sind ein vielbeneidetes<br />
Ehepaar Mitte dreissig und<br />
wohnen in einer Luxuswohnung<br />
in einem Pariser Nobelquartier.<br />
Beruflich sind Fanny<br />
und Jean erfolgreich, gehören<br />
zur sogenannt besseren Gesellschaft<br />
und sind scheinbar<br />
verliebt wie am ersten Tag.<br />
Mittagspause. «Es gibt<br />
Zufall und Glück im Leben»,<br />
sagt Woody Allen und zeigt in<br />
«Coup de Chance» mit bissigem<br />
Humor, was das für Menschen<br />
wie Fanny (Lou de Laâge) und<br />
Jean (Melvil Poupaud) bedeuten<br />
kann. Ein paar Sekunden<br />
eher oder später, und alles<br />
hätte einen ganz anderen Verlauf<br />
nehmen können: wenn<br />
Fanny auf einem Spaziergang<br />
in der Mittagspause nicht zufällig<br />
einem ehemaligen Schulkameraden<br />
begegnet wäre. Er<br />
heisst Alain (Niels Schneider),<br />
ein unerschrockener Bursche,<br />
Coup de Chance HHH<br />
der sich als Dichter durchs<br />
Leben schlägt und trotz ständiger<br />
Geldnot vor Lebensfreude strotzt.<br />
Fanny verliebt sich Hals<br />
über Kopf. Der einzige Spielverderber<br />
in der aufkeimenden<br />
Romanze: Herr Gemahl, der<br />
– zerfressen von Eifersucht<br />
– hinter jedem Telefonanruf<br />
für Fanny eine Verschwörung<br />
wittert. Er wird einen Detektiv<br />
einstellen (Typ: Blödmann);<br />
Vittorio Storaro wird seine Kamera<br />
im herbstlichen Wald<br />
aufstellen und zeigen, wie dem<br />
Auftragskiller ausgerechnet<br />
ein Reh beim Abschuss im<br />
Wege steht. Es wird zwei Tote<br />
geben. Und als eines der Opfer<br />
spurlos verschwindet, kombiniert<br />
Fannys Mutter Camille<br />
(Valérie Lemercier) als Hobby-<br />
Detektivin: «Da sind bestimmt<br />
Ausserirdische im Spiel!»<br />
Schmunzel-schmunzel.<br />
Wir stecken in Woody Allens<br />
Alltag, wo alles Unmögliche<br />
möglich ist und alles Unerwartete<br />
geschehen kann. «Coup de<br />
Chance»: eine Gesellschafts-<br />
Komödie, ein typischer<br />
«Woody» wie in alten Zeiten,<br />
locker, makaber, frech, gespickt<br />
mit ironischen Dialogen. Ein<br />
Spass, der uns kichern und<br />
schmunzeln lässt und bestens<br />
unterhält – besonders im ersten<br />
Teil. Die zweite, etwas zusammengebastelt<br />
wirkende Hälfte<br />
fällt ein wenig ab. Verdirbt die<br />
Freude aber kaum: Entspannt<br />
verlassen wir das Kino und<br />
wittern Frühlingsluft. n<br />
Woody Allen sur l’importance<br />
que peuvent avoir le hasard et<br />
la chance dans notre vie.<br />
PAR<br />
LUDWIG<br />
HERMANN<br />
«Coup de Chance» est le<br />
50 e film de Woody Allen, le<br />
premier que le réalisateur de<br />
88 ans a tourné en français<br />
et avec des acteurs français.<br />
Pourquoi Paris et non Manhattan<br />
comme lieu d’action?<br />
Darsteller/Distribution: Lou de Laâge,<br />
Melvil Poupaud, Niels Schneider,<br />
Valérie Lemercier<br />
Buch & Regie/Scénario & réalisation:<br />
Woody Allen (2023)<br />
Dauer/Durée: 96 Minuten/96 minutes<br />
Im Kino/Au cinéma: REX 1 (LUNCH’KINO)<br />
Hauptsitz: Postfach, 3074 Muri b. Bern • Büro: Südstrasse 8, 3250 Lyss • Tel.: 032 387 06 76<br />
Woody Allens<br />
Trio (v.l.n.r.):<br />
Niels Schneider,<br />
Melvil Poupaud,<br />
Lou de Laâge.<br />
«Parce que je suis tombé<br />
amoureux de la ville pendant<br />
le tournage de ‘Minuit<br />
à Paris’!» C’était en 2011.<br />
Le maître-cameraman<br />
Vittorio Storaro, 83 ans, est<br />
dans son élément. Dans son 5 e<br />
tournage pour Woody Allen,<br />
il capture la beauté de la ville<br />
de la Seine et accompagne le<br />
parcours des protagonistes<br />
avec des images exquises. Ils<br />
s’appellent Fanny et Jean,<br />
sont un couple de trentenaires<br />
très envié et vivent dans un<br />
appartement de luxe dans un<br />
quartier chic de Paris. Professionnellement,<br />
Fanny et Jean<br />
ont du succès, appartiennent<br />
à la soi-disant bonne société et<br />
sont apparemment amoureux<br />
comme au premier jour.<br />
Pause déjeuner. «Il y<br />
a du hasard et de la chance<br />
dans la vie», dit Woody Allen,<br />
et il montre dans «Coup de<br />
Chance», avec un humour décapant,<br />
ce que cela peut signifier<br />
pour des gens comme Fanny<br />
(Lou de Laâge) et Jean (Melvil<br />
Poupaud). Quelques secondes<br />
plus tôt ou plus tard, tout aurait<br />
pu prendre une autre tournure:<br />
si Fanny n’avait pas rencontré<br />
par hasard un ancien camarade<br />
de classe lors d’une promenade<br />
à la pause de midi. Il s’appelle<br />
Alain (Niels Schneider), un garçon<br />
intrépide qui se débrouille<br />
dans la vie comme poète et qui<br />
déborde de joie de vivre malgré<br />
sa dèche constante.<br />
Le trio de Woody<br />
Allen: Niels Schneider,<br />
Melvil Poupaud,<br />
Lou de Laâge<br />
(de gauche à droite).<br />
Fanny tombe follement<br />
amoureuse. Le seul troublefête<br />
dans cette idylle naissante:<br />
le mari qui, dévoré par<br />
la jalousie, flaire un complot<br />
derrière chaque appel téléphonique<br />
pour Fanny. Il engagera<br />
un détective (type: borné);<br />
Vittorio Storaro plantera sa<br />
caméra dans la forêt automnale<br />
et montrera comment<br />
un chevreuil, justement, fait<br />
obstacle aux tirs d’un tueur à<br />
gages. Il y aura deux morts.<br />
Et quand l’une des victimes<br />
disparaît sans laisser de traces,<br />
la mère de Fanny, Camille<br />
(Valérie Lemercier), combine<br />
en détective amateur: «Il y a<br />
sûrement des extraterrestres<br />
dans le coup!»<br />
Sourire en coin. Nous<br />
sommes plongés dans le quotidien<br />
de Woody Allen, où<br />
tout l’impossible est possible<br />
et où tout l’inattendu peut<br />
arriver. «Coup de Chance»:<br />
une comédie sociale, un<br />
«Woody» typique comme<br />
au bon vieux temps, léger,<br />
macabre, impertinent, truffé<br />
de dialogues ironiques. Un<br />
divertissement qui nous fait<br />
ricaner et sourire et qui nous<br />
divertit au mieux – surtout<br />
dans la première partie. La<br />
deuxième partie, qui semble<br />
un peu bricolée, est un peu<br />
en retrait. Mais cela ne gâche<br />
pas le plaisir: nous quittons le<br />
cinéma détendus en respirant<br />
l’atmosphère printanière. n<br />
Er rettete im Krieg<br />
669 Kinder und<br />
wurde erst<br />
50 Jahre später<br />
zum Helden.<br />
VON MARIO CORTESI<br />
Durch Zufall trifft der<br />
damals 29-jährige englische<br />
Börsenmakler Nick Winton<br />
(Johnny Flynn) bei einem<br />
Besuch in Prag auf jüdische<br />
Familien, die aus Deutschland<br />
und Österreich vor Hitlers Krieg<br />
geflohen sind. Die sich aber<br />
jetzt keinesfalls in Sicherheit<br />
befinden, weil die Nationalsozialisten<br />
1938 vor den Toren der<br />
Tschechoslowakei stehen. Die<br />
Gestrandeten leben in Kälte,<br />
Armut, Verzweiflung und<br />
Angst, haben kein Geld für<br />
eine weitere Flucht. Aus innerer<br />
Überzeugung und voller Mitgefühl<br />
beschliesst Winton, diesen<br />
in überfüllten Flüchtlingslagern<br />
untergebrachten Menschen<br />
zu helfen. Die Kinder<br />
zu retten. Er überwindet bürokratische<br />
Hürden, beschafft<br />
von der britischen Einwanderungsbehörde<br />
Visa, sammelt<br />
Geld und sucht Pflegefamilien<br />
in England. Organisiert<br />
mit Helfern insgesamt acht<br />
Zugfahrten für Kinder, bevor<br />
wenig später Hitlers Armee in<br />
Prag einmarschiert und jede<br />
Ausreise verunmöglicht.<br />
50 Jahre später wird Nick<br />
(jetzt Anthony Hopkins) noch<br />
immer von der Schuld geplagt,<br />
«nur» 669 mehrheitlich jüdische<br />
Kinder vor dem Tod<br />
gerettet und die restlichen<br />
dem Nazi-Terror und den<br />
Konzentrationslagern überlassen<br />
zu haben. Er taucht in<br />
seinem englischen Heim in<br />
die Vergangenheit ein, mitten<br />
in einem Chaos von Akten,<br />
Namenlisten und Fotografien.<br />
Stellt sich immer wieder die<br />
Frage, ob er damals nicht<br />
Anthony Hopkins<br />
spielt den betagten<br />
Kinderretter<br />
Nick Winton.<br />
mehr hätte tun können. Die<br />
entsetzliche Vergangenheit<br />
mit dem Holocaust will ihn<br />
nicht loslassen.<br />
Englischer Schindler.<br />
Der britische TV-Regisseur<br />
James Hawes legt in seinem<br />
ersten Kinospielfilm Wert auf<br />
feine Charakterzeichnungen,<br />
wobei er auch in Nebenrollen<br />
(Lena Olin, Jonathan Pryce,<br />
Marthe Keller, Helena Bonham<br />
Carter) auf erstklassige<br />
Darsteller zurückgriff. Natürlich<br />
steht der wunderbare<br />
86-jährige Anthony Hopkins<br />
im Mittelpunkt. Er gibt einen<br />
kummervollen, störrischen,<br />
aber eigentlich tieftraurigen<br />
«gewöhnlichen Menschen»<br />
(wie sich Winton bescheiden<br />
nennt). Ein unscheinbarer<br />
Bürger, der nie gelobt werden<br />
wollte und erst als 80-Jähriger<br />
durch die Medien plötzlich<br />
und erstmals Beachtung als<br />
«britischer Schindler» fand.<br />
One Life HHH(H)<br />
Aufwühlend. James Hawes<br />
ist in seiner klugen und sorgfältigen<br />
Inszenierung den<br />
Fallstricken von zu grossen<br />
Emotionen oder sentimentalem<br />
Kitsch geschickt ausgewichen.<br />
Er wechselt gekonnt<br />
und im richtigen Moment<br />
von den bewegenden und aufwühlenden<br />
Flüchtlingsbildern<br />
und Szenen der Familientrennungen<br />
im Prager Bahnhof<br />
ins unaufgeregte Altersleben<br />
des Helden. Und deshalb<br />
berührt er auch mehr, als<br />
er – überraschend – in ein<br />
schreckliches wie beglückendes<br />
Finale steigt, bei dem wahrscheinlich<br />
kein Zuschauerauge<br />
trocken bleibt.<br />
n<br />
Darsteller/Distribution: Anthony Hopkins,<br />
Johnny Flynn, Helena Bonham Carter,<br />
Marthe Keller, Lena Olin, Jonathan Pryce.<br />
Regie/Mise en scène: James Hawes (2023)<br />
Länge/Durée:110 Minuten/110 minutes<br />
Im Kino/Au cinéma: LIDO 1<br />
Il a sauvé 669 enfants pendant la guerre et<br />
n’est devenu un héros que 50 ans plus tard.<br />
PAR MARIO CORTESI<br />
C’est par hasard que Nick<br />
Winton (Johnny Flynn), un<br />
agent de change anglais alors<br />
âgé de 29 ans, rencontre,<br />
lors d’une visite à Prague,<br />
des familles juives qui ont<br />
fui l’Allemagne et l’Autriche<br />
pour échapper à la guerre<br />
lancée par Hitler. Mais elles<br />
ne sont plus en sécurité, car<br />
les nazis sont aux portes de la<br />
Tchécoslovaquie en 1938. Les<br />
réfugiés vivent dans le froid,<br />
la pauvreté, le désespoir et la<br />
peur, et n’ont pas les moyens<br />
d’une nouvelle fuite. Par<br />
conviction et par compassion,<br />
Nick Winton décide<br />
d’aider ces gens hébergés<br />
dans des camps surpeuplés.<br />
De sauver les enfants. Il surmonte<br />
les obstacles bureau-<br />
Anthony Hopkins<br />
incarne Nick Winton<br />
à 80 ans, le sauveur<br />
d’enfants juifs.<br />
cratiques, obtient des visas<br />
des services britanniques de<br />
l’immigration, collecte des<br />
fonds et cherche des familles<br />
d’accueil en Angleterre. Avec<br />
des aides, il organise au total<br />
huit voyages en train pour<br />
les enfants, avant que les<br />
forces hitlériennes n’envahissent<br />
Prague peu après,<br />
rendant impossible toute<br />
sortie du territoire.<br />
Cinquante ans plus tard,<br />
Nick (aujourd’hui Anthony<br />
Hopkins) est toujours rongé<br />
par la culpabilité de n’avoir<br />
sauvé de la mort «que»<br />
669 enfants, juifs pour la<br />
plupart, et d’avoir abandonné<br />
les autres à la terreur<br />
nazie et aux camps de<br />
concentration. Il se plonge<br />
dans le passé dans son foyer<br />
anglais, au milieu d’un chaos<br />
de dossiers, de listes de<br />
noms et de photographies.<br />
Se demande sans cesse s’il<br />
n’aurait pas pu faire mieux<br />
à l’époque. L’horrible passé<br />
avec l’Holocauste le hante.<br />
Schindler britannique.<br />
Pour son premier longmétrage<br />
au cinéma, le<br />
réalisateur de télévision<br />
britannique James Hawes<br />
accorde une grande importance<br />
à la finesse des traits de<br />
caractère, en faisant appel à<br />
des acteurs de premier ordre,<br />
même dans les rôles secondaires<br />
(Lena Olin, Jonathan<br />
Pryce, Marthe Keller, Helena<br />
Bonham Carter).<br />
Le merveilleux Anthony<br />
Hopkins, 86 ans, est bien<br />
sûr au centre de l’attention.<br />
Il incarne un «homme ordinaire»<br />
(comme se désigne<br />
modestement Winton), chagrin,<br />
entêté, mais en fait profondément<br />
triste. Un citoyen<br />
discret qui n’a jamais voulu<br />
être à l’honneur et qui, à 80 ans<br />
seulement, a été soudainement<br />
et pour la première fois remarqué<br />
par les médias comme le<br />
«Schindler britannique».<br />
Bouleversant. Dans sa<br />
mise en scène intelligente et<br />
soignée, James Hawes a su<br />
éviter habilement les pièges<br />
d’une trop grande émotion<br />
ou d’un kitsch sentimental.<br />
Il passe habilement et au<br />
bon moment des images<br />
émouvantes et bouleversantes<br />
des réfugiés et des<br />
scènes de séparation familiale<br />
dans la gare de Prague<br />
à la vieillesse sans histoires<br />
du héros. Voilà pourquoi il<br />
touche davantage lorsqu’il<br />
s’élève – de manière surprenante<br />
– vers un final à la<br />
fois terrible et réjouissant,<br />
lors duquel aucun œil de<br />
spectateur ne restera probablement<br />
sec. n<br />
Biel Bienne-Bewertung / Cote de Biel Bienne: HHHH ausgezeichnet / excellent HHH sehr gut / très bon HH gut / bon H Durchschnitt / médiocre – verfehlt / nul