REGELUNGSGEWALT - vernünftig schreiben
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<strong>REGELUNGSGEWALT</strong><br />
Hintergründe der Rechtschreibreform<br />
Theodor Ickler<br />
„Mir wird, je länger ich lebe, immer verdrießlicher, wenn ich den Menschen<br />
sehe, wie er gerade das Gegenteil tut von dem, was er tun will, und sich<br />
alsdann, weil die Anlage im Ganzen verdorben ist, im Einzelnen<br />
kümmerlich herum pfuschet.“<br />
J. W. v. G.<br />
Ursprünglich erschienen im Leibnitz-Verlag St. Goar, 2004. ISBN 3-93115-518-8. Alle Rechte liegen beim Autor. Die<br />
Veröffentlichung als PDF-Datei bei <strong>vernünftig</strong> <strong>schreiben</strong> (http://www.vernuenftig-<strong>schreiben</strong>.de/) wurde von Autor und Verlag<br />
genehmigt.
Vorwort<br />
Eine Gesamtdarstellung der sogenannten Rechtschreibreform ist zur Zeit noch nicht zu<br />
leisten. Die sprachwissenschaftliche Seite ist zwar im wesentlichen aufgeklärt, es fehlt<br />
aber an Erkenntnissen über die Entscheidungsprozesse in Ministerien und Verlagen.<br />
Auf den folgenden Seiten sind Kommentare zusammengetragen, mit denen ich die<br />
Durchsetzung der Reform seit 1996 begleitet habe. Einiges ist in ähnlicher Form<br />
bereits veröffentlicht, anderes war eine Zeitlang nur im Internet oder gar nicht<br />
zugänglich. Der Text ergänzt einerseits mein „Schildbürger“-Büchlein, andererseits die<br />
eher sprachwissenschaftliche Erörterung in meinem „Kritischen Kommentar“. Die<br />
umfangreicheren Dokumente der Reformerseite, auf die ich mich beziehe, konnten hier<br />
nicht abgedruckt werden, doch ist der Zusammenhang auch dann nachvollziehbar,<br />
wenn man die Originale nicht zur Hand hat. Eine Sammlung von Dokumenten ist<br />
wünschenswert und könnte später einmal folgen. Meine eigenen Texte sind durchweg<br />
gekürzt und überarbeitet, Nachträge aus der späteren Erfahrung sind gekennzeichnet.<br />
Ich hoffe, damit zur Beantwortung jener Frage beitragen zu können, die uns wohl noch<br />
eine ganze Weile beschäftigen wird:<br />
Wie war es möglich?<br />
Erlangen, im März 2001 Th. Ickler
Inhalt<br />
I. Propaganda und Wirklichkeit...................................................................................................3<br />
Einleitung...............................................................................................................................5<br />
Ist die Neuregelung eine „Anpassung an die Sprachentwicklung“?......................................5<br />
Erleichtert die Neuregelung den Zugang zur deutschen Schriftsprache?...............................9<br />
Warum arbeiten viele Grundschulen problemlos mit der Neuregelung?..............................11<br />
Ist der Vorwurf der Wortvernichtung aus der Luft gegriffen?..............................................13<br />
Kann jeder erwachsene Bürger weiter <strong>schreiben</strong>, wie er will?.............................................14<br />
Wie wirkt sich die Reform auf die Amtssprache aus?..........................................................16<br />
Welche Rolle spielt die Staatsmacht bei der Durchsetzung der Reform?............................18<br />
War die Öffentlichkeit hinreichend informiert?...................................................................21<br />
Ist eine „Nachbesserung“ des Regelwerks möglich und zu erwarten?.................................24<br />
Wie seriös sind die Befürworter der Reform?......................................................................26<br />
Tricks und Finten..................................................................................................................29<br />
Wer verdient an der Rechtschreibreform?............................................................................35<br />
Warum gehorchen die Lehrer?..............................................................................................36<br />
Was kostet die Rechtschreibreform?....................................................................................38<br />
Wie soll es weitergehen? oder: Gibt es ein Leben nach dem Duden?..................................39<br />
II. Einzelheiten..........................................................................................................................43<br />
Hauptunterschiede zwischen den Reformentwürfen 1992 und 1995/1996..........................45<br />
Die Zahl der Regeln, am Beispiel der Groß- und Kleinschreibung......................................47<br />
Der Fall Bertelsmann............................................................................................................50<br />
Abweichungen zwischen Bertelsmann und Duden .............................................................52<br />
Anmerkungen zur Resolution der Bildungsverbände (30.6.1997).......................................59<br />
Die „Gesellschaft für deutsche Sprache“..............................................................................61<br />
Regel und Ausnahme............................................................................................................66<br />
Die „Rechtschreibreform von 1901“ – eine Legende ..........................................................67<br />
Das Verschwinden der Wörter aus den Wörterbüchern........................................................71<br />
Die Rechtschreibverwirrung.................................................................................................73<br />
Sprachwissenschaftler..........................................................................................................81<br />
Deutsch als Fremdsprache....................................................................................................82<br />
„Angesichts der Machtverhältnisse...“.................................................................................85<br />
Rückbau der Reform im Jahre 2000.....................................................................................89<br />
III. Ablenkungsmanöver............................................................................................................97<br />
IV. Die Mannheimer Anhörung im Januar 1998......................................................................119<br />
Kommentar zur Pressemitteilung der KMK vom 12.2.1998..............................................151<br />
V. Zum Rechtschreib-Urteil des Bundesverfassungsgerichts..................................................156<br />
VI. Die Presse..........................................................................................................................196<br />
VII. Die neuen Wörterbücher..................................................................................................218<br />
VIII. Zum dritten Bericht der Rechtschreibkommission.........................................................262<br />
Literatur...................................................................................................................................284<br />
1
I. Propaganda und Wirklichkeit<br />
3
Einleitung<br />
Die am 1. August 1998 in Kraft getretene, an den Schulen der meisten Bundesländer<br />
jedoch schon vorfristig eingeführte Rechtschreibreform ist zwar nur ein Schatten<br />
dessen, was – im wesentlichen von denselben Autoren – einige Jahre zuvor geplant<br />
war. Dennoch muß sie ernst genommen werden, teils wegen ihrer enormen Kosten,<br />
teils wegen der außerordentlichen, zunächst kaum vorhergesehenen Auswirkungen auf<br />
die deutsche Schriftsprache: auf ihr System, auf die in ihr abgefaßten Texte und auf<br />
ihren Status unter den anderen Sprachen.<br />
Die Neuregelung ist sofort nach dem Bekanntwerden der Einzelheiten, d. h. nach dem<br />
Erscheinen der ersten neuen Wörterbücher und der gleichzeitigen Einführung in die<br />
Schulen vieler Bundesländer, auf den Widerstand einer breiten Bevölkerungsmehrheit<br />
gestoßen. Kritik von sprachwissenschaftlicher Seite gab es schon lange vorher. Sie<br />
blieb unbeachtet. Jedenfalls kann keine Rede davon sein, daß der Protest zu spät kam;<br />
wohl aber ist festzuhalten, daß die Reform volle zwei Jahre vor dem geplanten<br />
Inkrafttreten und damit auch vor dem Beginn der angekündigten Übergangsphase<br />
(1998 bis 2005) in die Schulen der meisten Bundesländer sowie Österreichs und der<br />
Schweiz eingeführt wurde, so daß sich zumindest die Lehrer und die Schüler, aber<br />
auch die Schulbuchverlage den praktischen Auswirkungen nicht entziehen konnten. Ab<br />
1996 wurden neue Schulbücher nur noch zugelassen, wenn sie in reformierter<br />
Rechtschreibung gesetzt waren. Auf die so geschaffenen vollendeten Tatsachen<br />
beriefen sich alsbald die Betreiber der Reform, um jeden Protest als „zu spät“<br />
kommend zurückweisen zu können. Auch solche Interessenverbände, die eine<br />
Rechtschreibreform keineswegs gewollt hatten, wurden unter diesen Umständen auf<br />
die Seite der Reform gezogen, weil sie die wirtschaftlichen Folgen einer Rücknahme<br />
fürchteten.<br />
Die Kritiker sind überzeugt, daß die Neuregelung scheitern muß, da sie sprachwissenschaftlich<br />
verfehlt ist und den Entwicklungstendenzen und Intuitionen der<br />
Sprachgemeinschaft zuwiderläuft. Nach einer Konstruktionszeichnung, die gegen die<br />
Naturgesetze verstößt, kann man keine funktionierende Maschine bauen, auch nicht<br />
unter Einsatz von Machtsprüchen und Gesundbeterei. Dasselbe gilt für die Sprache.<br />
Auch hier gibt es einen Unterschied zwischen richtig und falsch und keineswegs nur<br />
Meinungen, denen man mit dem nötigen Nachdruck zu allgemeiner Geltung verhelfen<br />
könnte. Das Schlimmste, was der Neuregelung passieren konnte, war daher ihr<br />
Inkrafttreten. Dadurch sind plötzlich nicht mehr nur die Schüler, sondern Millionen<br />
Erwachsene im öffentlichen Dienst gezwungen, grammatisch falsche und sinnwidrige<br />
Gebilde zu Papier zu bringen. Die Kritiker wollten nicht ruhig abwarten, bis das<br />
Kartenhaus von selbst zusammenfällt, sondern den Schaden möglichst gering halten.<br />
Das ist nicht gelungen, der Zerfall droht sich noch lange hinzuziehen. Den vielfältigen<br />
Ursachen soll auf den folgenden Seiten nachgespürt werden.<br />
Ist die Neuregelung eine „Anpassung an die Sprachentwicklung“?<br />
Die weitreichenden Reformpläne der achtziger Jahre (der keiser isst opst, der apt al im<br />
bot) konnten nicht verwirklicht werden, weil die Sprachgemeinschaft nur dann bereit<br />
ist, erhebliche Eingriffe in das gewohnte Schriftbild hinzunehmen, wenn sie überzeugend<br />
begründet sind. Je ausgedehnter – räumlich, zeitlich und sozial – eine Schriftkultur<br />
bereits ist, desto schwerer ist es auch, sie grundlegend zu reformieren. Selbst die<br />
5
zurückgestutzte Vorlage von 1992 mit ihren drei Varianten bei der vorläufig<br />
offengehaltenen Groß- und Kleinschreibung mußte sich noch manchen Schnitt gefallen<br />
lassen. Eine letzte Korrektur forderte der bayerische Kultusminister im Herbst 1995,<br />
als die Neuregelung beschlossen und der neue Duden schon gedruckt war. Rein<br />
quantitativ gesehen, waren die verbliebenen Änderungen aber bereits im November<br />
1994 so geringfügig, daß die Frage sich aufdrängte, ob sie den absehbaren Aufwand<br />
überhaupt rechtfertigten.<br />
Es war von Anfang an klar, daß die Reformer sich von beinahe allen ihren Lieblingsideen<br />
hatten trennen müssen. Sie machten aus der Not eine Tugend und priesen<br />
die geplanten Eingriffe als „behutsam“ an. Das war nach der Wiener Konferenz von<br />
1994 die am häufigsten gebrauchte Propagandavokabel. Der Dudenchef sprach von<br />
einer „kleinen Reform der Vernunft“ und – obwohl er es besser wußte – von<br />
„aktualisierender Pflege der Rechtschreibung“. Noch heute wird die kritische Öffentlichkeit<br />
mit dem Hinweis auf die Geringfügigkeit der Änderungen beschwichtigt, die<br />
sich in einem normalen Text ergeben. Besonders gern verwies man auf die Zeitung<br />
„Die Woche“, die seit dem 1. Januar 1997 in neuer Rechtschreibung erschien. Außer<br />
zahlreichen ss-Schreibungen, die 90% aller Änderungen ausmachen, findet man fast<br />
nichts befremdlich Neues, allerdings manche offenkundig minderwertige Schreibweise.<br />
Um so drängender wird jene Frage: Lohnt sich der Aufwand? Versprochen ist eine<br />
enorme Erleichterung des Schreibens und insbesondere des Schreibenlernens. Obwohl<br />
sich – abgesehen von der ss-Schreibung – vielleicht nur 0,05 % der Wortschreibungen<br />
eines normalen Textes ändern, soll die Neuregelung bei Schülern eine Fehlerverminderung<br />
um 30, 40, 50 oder sogar – wie der damalige KMK-Vorsitzende Wernstedt im<br />
Sommer 1997 einmal sagte – 90 Prozent bringen. Das ist schon aus arithmetischen<br />
Gründen unmöglich, es sei denn, die Reform nähme sich genau der statistisch<br />
ermittelten häufigsten Fehlschreibungen an und erklärte sie nunmehr für korrekt.<br />
Davon kann natürlich keine Rede sein. Neuschreibungen wie Quäntchen, behände,<br />
Ständelwurz, Frigidär, Bonboniere, Nessessär usw. sind irrelevant, weil solche Wörter<br />
in Schülertexten nicht vorkommen. Die wenigen Erwachsenen, die Zierat <strong>schreiben</strong>,<br />
brauchen die volksetymologische „Erleichterung“ Zierrat nicht. Bekannte Schwierigkeiten<br />
der deutschen Orthographie wie Branntwein, brillant, Gebaren, Grieß,<br />
todkrank, Verlies, verwandt, weismachen, widerspiegeln, zu Hause sowie die<br />
Unterscheidung von das und daß (dass) bleiben von der Reform unberührt. – Kurzum:<br />
Die Neuregelung kann die versprochenen Erleichterungen weder vom Umfang noch<br />
von der Zielrichtung her bringen. Das ist es, was die vielgerühmte „Behutsamkeit“ in<br />
der Praxis bedeutet.<br />
Selbst eine „kleine“ Reform berührt den Status einer Sprache im Kreise der anderen<br />
Sprachen. Hier scheinen die Reformer einen wichtigen Punkt überhaupt nicht beachtet<br />
zu haben, den man mit ein wenig Übertreibung so ausdrücken könnte: Sprachen mit<br />
internationaler Verbreitung können sich keine Rechtschreibreform leisten. Gerade<br />
nach der Öffnung des ehemaligen Ostblocks hatte das Deutsche eine gute Chance,<br />
seine frühere Rolle als mittel- und osteuropäische Lingua franca in bescheidenem<br />
Umfang (neben dem unumgänglichen Englischen) wiederzugewinnen. Die Reform<br />
kommt also auch in dieser Hinsicht zum ungünstigsten Zeitpunkt, denn sie bedeutet<br />
den Abschied des Deutschen vom Status einer internationalen Verkehrssprache.<br />
Das Reformunternehmen fügt der deutschen auswärtigen Kulturpolitik auch aus dieser<br />
6
Sicht – und nicht nur wegen der unmittelbaren Auswirkungen auf die Wörterbücher<br />
usw. – einen nicht wiedergutzumachenden Schaden zu.<br />
Trotz ihrer quantitativen Geringfügigkeit ist die Neuregelung jedoch eine echte<br />
Reform, ein rigoroser Eingriff in die übliche Orthographie. Das scheint paradox, ist es<br />
aber nicht. Als oberflächlichsten und dennoch zwingenden Beweis kann man anführen,<br />
daß zum erstenmal seit Beginn des Jahrhunderts auf einen Schlag sämtliche<br />
Rechtschreibbücher neu gedruckt werden müssen.<br />
Die Beseitigung von mehreren hundert Wörtern durch gewaltsame Getrenntschreibung<br />
quittierte Peter Eisenberg, damals noch Mitglied der Zwischenstaatlichen Kommission<br />
für deutsche Rechtschreibung, mit dem Satz:<br />
„Aus der Geschichte des Deutschen ist kein vergleichbarer Angriff auf das<br />
Sprachsystem bekannt.“ 1<br />
Und der ehemalige Reformer Horst H. Munske kommt nach einer sorgfältigen Analyse<br />
aller Regelungsbereiche zu dem Ergebnis:<br />
„Diese Rechtschreibreform ist nach Art und Umfang der vorgesehenen Änderungen<br />
tatsächlich eine Reform, ein wesentlicher Eingriff in die Struktur der<br />
Schriftnorm des Deutschen. Und sie ist die allererste Rechtschreibreform in der<br />
deutschen Sprachgeschichte. Denn im Jahre 1901 war praktisch nur der geltende<br />
Usus sanktioniert worden. Deshalb genügte hierfür eine einmalige Konferenz von<br />
drei Tagen.“ 2<br />
Wesentlich ist die Neuregelung, weil sie an entscheidenden Stellen (Getrennt- und<br />
Zusammenschreibung, Groß- und Kleinschreibung, Kommasetzung) die bisherigen,<br />
von der Sprachgemeinschaft im Laufe der Jahrhunderte entwickelten Motive des Sooder-so-Schreibens<br />
durch andere, „am Reißbrett“ entworfene ersetzt. Sie versucht also<br />
nicht, die Intuitionen der Sprachgemeinschaft zu rekonstruieren und besser zu<br />
be<strong>schreiben</strong>, sondern verdrängt sie durch die theoretischen Annahmen und Setzungen<br />
einer „Expertengruppe“. Zum Beispiel erklärt sie es für richtig, Eigenschaftswörter mit<br />
den Ausgängen -ig, -lich und -isch nicht mit Verben oder Partizipien<br />
zusammenzu<strong>schreiben</strong>, und erlaubt daher nur noch fertig stellen (aber bereitstellen),<br />
heilig sprechen (aber freisprechen), Kapital flüssig machen (aber Geld lockermachen).<br />
Es ist vollkommen sicher, daß die Sprachgemeinschaft ein solches Kriterium der<br />
Getrennt- und Zusammenschreibung überhaupt nicht kennt. Hierher gehört auch das<br />
seit Jahrzehnten immer wieder ausgesprochene Ziel der Reformer, der vermehrten<br />
Zusammenschreibung „entgegenzuwirken“ 3 und folglich vorzu<strong>schreiben</strong>: sich mit<br />
etwas auseinander setzen, so genannt usw. Die übliche Zusammenschreibung ist aber<br />
keine Erfindung des Duden, sondern entspringt einer Intuition der Schreibenden selbst.<br />
Daß es der Wissenschaft bisher nicht gelungen ist, diese Intuition restlos auf Begriffe<br />
zu bringen, berechtigt weder den Staat noch seine „Experten“ dazu, dem durch die<br />
Praxis deutlich bezeugten Willen der Sprachgemeinschaft „entgegenzuwirken“.<br />
1 Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 4/1997, S. 129.<br />
2 Eroms/Munske (Hg.): Die Rechtschreibreform: Pro und Kontra, Berlin 1997, S. 154f. –<br />
Munske verließ die Kommission noch vor Eisenberg.<br />
3 Augst et al. (Hg.) 1997, S. 203. Vgl. Internationaler Arbeitskreis für Orthographie (Hg.)<br />
1992, S. 146; sinngemäß ebenso schon in den Wiesbadener Empfehlungen von 1958.<br />
Weitere Belege in Zabel 1996. Ebenso in bezug auf Großschreibung bei festen Begriffen:<br />
Bericht der Kommission vom Januar 1998, S. 42.<br />
7
Dieselbe reaktionäre Tendenz zeigt sich in anderen Bereichen des Regelwerks. Zum<br />
Beispiel schrieb man bisher dudengerecht zu eigen machen, mit einer deutlichen<br />
Neigung zur Zusammenschreibung: zueigen, die irgendwann zugelassen worden wäre.<br />
Die Neuregelung hingegen fordert archaisierend zu Eigen machen, mit einem<br />
Substantiv, das die Wörterbücher längst als „veraltet, gehoben“ kennzeichnen.<br />
In Wirklichkeit ist die Reform also keineswegs „behutsam“, sondern bestenfalls unentschlossen<br />
und inkonsequent. Behutsam war vielmehr die bisherige Dudenpraxis und<br />
mußte es sein, wenn der Duden sein bekanntes Privileg nicht gefährden wollte. Der<br />
Duden paßte sich von Auflage zu Auflage den Neuentwicklungen der deutschen<br />
Sprache vor allem im Bereich der Fremdwortschreibung an. Niemals aber war es<br />
notwendig, die jeweils neueste Auflage zu erwerben. Gerade anläßlich der<br />
Neuregelung tauchten massenhaft alte Dudenbände in den Ramschkästen der Buchhandlungen<br />
auf, die immer noch gute Dienste geleistet hatten, wenn man in Kauf<br />
nahm, daß manche neuen Wörter einfach nicht darinstanden.<br />
In Verkennung dieser Tatsachen behaupten manche Reformfreunde: Die Neuregelung<br />
sei notwendig, weil die deutsche Sprache sich seit der Festlegung von 1901 gewandelt<br />
habe. Wenn die Rechtschreibung nicht alle hundert Jahre an den Lautwandel angepaßt<br />
würde, drohe ein Auseinanderklaffen von Laut und Schrift wie im Englischen. Der<br />
österreichische Reformer Karl Blüml schreibt gar:<br />
„Es ist leicht einsehbar, dass sich seit 1901 sehr viel geändert hat in der deutschen<br />
Sprache und dass daher eine Anpassung der Rechtschreibregelung erforderlich<br />
war.“ 4<br />
In Wirklichkeit hat es in den letzten hundert Jahren keinen Sprachwandel im<br />
Deutschen gegeben, der eine Veränderung der Orthographie erforderlich machen<br />
würde; erst recht keinen Lautwandel. Das Englische ist durch seine wesentlich<br />
schwierigere Orthographie nicht daran gehindert worden, die wichtigste Weltsprache<br />
zu werden. Sein Siegeszug setzt sich fort, an eine Rechtschreibreform denken die<br />
anglophonen Länder weniger als je.<br />
Die hundert Jahre, die seit der Zweiten Orthographischen Konferenz vergangen sind,<br />
werden oft mit erhobenem Zeigefinger erwähnt: „Hundert Jahre sind wirklich genug!“ 5<br />
Aber was bedeutet diese Zahl eigentlich? Die Argumentation der Reformer wird hier<br />
seltsam vage. Sind es die alten Regeln, die eben wegen ihres hohen Alters der Revision<br />
bedürfen, oder ist es der seither vom Duden hinzugefügte „Regelwust“, der abzubauen<br />
und auf das Maß von 1901 zurückzuschneiden wäre? 6 Der Reformer Dieter Nerius<br />
4 Eroms/Munske [Hg.] 1997, S. 11. In Wirklichkeit erwähnt Blüml dann aber keinen<br />
Sprachwandel, sondern den Wandel des Duden – also gerade die fortschreitende<br />
Anpassung der Kodifizierung an den Schreibgebrauch!<br />
5 Diesen Satz trug der damalige Parlamentarische Staatsekretär im Bundesinnenministerium<br />
Gerhart Baum schon 1973 zur Eröffnung des Kongresses „<strong>vernünftig</strong>er<br />
<strong>schreiben</strong>“ vor. Der stellvertretende Vorsitzende der KMK, Hans Joachim Meyer, fand es<br />
vor dem Bundestag am 26.3.1998 verständlich, daß um 1950 der Wunsch nach einer<br />
Rechtschreibreform aufkam, weil die letzte Regelung „zu diesem Zeitpunkt ein halbes<br />
Jahrhundert zurücklag“. Der bloße Hinweis auf das Alter der praktisch längst<br />
bedeutungslosen, in keinem Wörterbuch abgedruckten Regeln scheint eine Rechtschreibreform<br />
zu rechtfertigen. Auf Meyers Rede komme ich zurück.<br />
6 So meinte das hessische Kultusministerium, „daß nach fast hundert Jahren seit der<br />
Orthographie-Konferenz im Jahre 1901 eine Neuformulierung – wenn auch auf der<br />
8
erklärt es für „zweifellos legitim, nahezu 100 Jahre nach der Festlegung der<br />
einheitlichen deutschen Orthographie zu prüfen, ob diese Norm den Funktionen und<br />
Anforderungen der schriftlichen Kommunikation noch im erforderlichen Maße gerecht<br />
wird.“ 7 Peter Eisenberg hingegen stellt den „sehr einfachen und übersichtlichen<br />
Regelungen von 1901“ das „mehrschichtige, begrifflich inkonsistente Durcheinander“ 8<br />
gegenüber, das „durch vielfaches kleinschrittiges Überarbeiten“ seither daraus entstanden<br />
sei. (Die beliebte Rede vom „Regelwust“ des Duden relativiert sich übrigens<br />
erheblich, wenn man die sowohl umfangreichere als auch wesentlich kompliziertere<br />
Neuregelung dagegenhält. Die Dudenrichtlinien sind bei aller Differenziertheit bewußt<br />
volkstümlich gehalten und lesen sich im Vergleich geradezu angenehm, auch wenn der<br />
Linguist – für den sie nicht geschrieben sind – eine gewisse Präzision vermissen mag.)<br />
In Wirklichkeit verhält es sich so: Der Schreibbrauch wird unmittelbar (freilich auswählend,<br />
sonst brauchte man keine Orthographie) im Wörterverzeichnis festgehalten.<br />
Der Regelteil ist eine Art Kommentar dazu; man versucht induktiv, das Beobachtete<br />
auf allgemeine Sätze zu bringen. Wie weit man damit geht, ist Ermessenssache. Wenn<br />
der Duden von 1880 keine Regeln zur Getrennt- und Zusammenschreibung enthält, so<br />
bedeutet das nicht, daß dieser Bereich nicht geregelt wäre. Im Wörterbuchteil steht<br />
z. B. wiederbringen, wiedererhalten usw. Die heutige Reform stellt gerade umgekehrt<br />
theoretisch begründete Regeln auf und wendet sie nachträglich (deduktiv) auf den<br />
Wortschatz an, ohne Rücksicht auf das bisher Übliche.<br />
Erleichtert die Neuregelung den Zugang zur deutschen Schriftsprache?<br />
Die Neuregelung ist nicht nur umfangreicher als das bisher gültige Duden-Regelwerk,<br />
sie übertrifft auch an Kompliziertheit alles bisher Dagewesene. Davon überzeugt<br />
schon ein vergleichender Blick in die beiden Werke – wozu sich allerdings viele<br />
Befürworter der Reform nicht aufraffen können. So schreibt der hessische<br />
Kultusminister Holzapfel noch am 25. September 1997 an alle hessischen Bundestagsabgeordneten,<br />
das Ziel „weniger Regeln und überschaubare Regeln“ sei erreicht<br />
worden. Ähnlich äußerten sich seine Kollegen. Sie können das neue Regelwerk nie in<br />
der Hand gehabt haben.<br />
Es wird behauptet, die Neuregelung beseitige zahlreiche Ausnahmen und Ausnahmen<br />
von Ausnahmen. Daß dies nicht zutrifft, kann nur im Rahmen einer vollständigen<br />
Analyse nachgewiesen werden; ich verweise daher auf meinen „Kritischen<br />
Kommentar“. Doch lassen sich auch an dieser Stelle einige wesentliche Beurteilungsgesichtspunkte<br />
in Erinnerung rufen:<br />
Die Unterscheidung von Regel und Ausnahme ist weitgehend ein Problem der<br />
Darstellung und auf die gültige Dudenrechtschreibung nicht ohne weiteres anwendbar,<br />
Grundlage bisheriger Grundsätze – überfällig ist.“ (Leserbrief von Ministerialdirektor<br />
Günter Habedank an die F.A.Z vom 2.11.1995) – In einem für Wernstedt verfaßten Papier<br />
<strong>schreiben</strong> die Reformer Augst und Schaeder: „Herr Ickler irrt, wenn er den Reformern<br />
unterstellt, diese wollten die Rechtschreibung ändern, weil die Sprache und speziell deren<br />
Lautung sich geändert hat. Nein, die Rechtschreibung ist seit 1902 mit einer sinnlosen<br />
Kasuistik überfrachtet worden“ (usw.). Also kein Sprachwandel, sondern ein<br />
Dudenwandel. Folglich wäre der Duden zu reformieren, nicht die Rechtschreibung selbst.<br />
7 Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 4/1997, S. 125.<br />
8 Ebd. S. 129.<br />
9
da man zwischen Ausnahmen und Verfeinerungen (Differenzierungen) unterscheiden<br />
muß. Manche Differenzierungen mögen für die Schule irrelevant sein, aber weder die<br />
gültige noch die geplante Orthographie sind als reine Schulorthographien gedacht. Die<br />
Auswahl des Lernstoffs ist eine pädagogische Aufgabe.<br />
Auch die Neuregelung enthält zahllose Ausnahmen und Ausnahmen von Ausnahmen,<br />
zum Beispiel:<br />
• Verbindungen aus Adjektiv und Verb werden getrennt geschrieben. Ausnahme:<br />
Wenn das Adjektiv in dieser Verbindung nicht steigerbar oder erweiterbar ist oder<br />
wenn es nicht selbständig vorkommt, wird zusammengeschrieben. Ausnahme von<br />
der Ausnahme: Wenn das Adjektiv auf -ig, -lich oder -isch endet, wird getrennt<br />
geschrieben. Ausnahme von der Ausnahme von der Ausnahme: richtiggehend<br />
wird zusammengeschrieben. Generelle Ausnahme: Beim Verb sein wird immer<br />
getrennt geschrieben.<br />
• Der Nebensatz wird durch Kommas vom übergeordneten Satz getrennt. Ausnahme:<br />
Infinitivgefüge brauchen nicht durch Kommas vom Matrixsatz getrennt zu werden.<br />
Ausnahme von der Ausnahme: Wird das Infinitivgefüge durch ein hinweisendes<br />
Wort angekündigt, so muß ein Komma stehen. (Eine enorme Komplikation, an der<br />
die meisten Neuschreiber scheitern!)<br />
Varianten und Freiräume sind so willkürlich eingeführt worden, daß der Lernende<br />
nicht voraussehen kann, wo er eine Wahl hat und wo nicht. Beispiel: Bisher hieß es<br />
zugrunde, zuliebe usw. Die Neuregelung sieht vor, daß man statt zugrunde auch zu<br />
Grunde <strong>schreiben</strong> darf, statt zuliebe aber keineswegs zu Liebe, zwar zutage oder zu<br />
Tage, aber nur zugute, nicht zu Gute. Ähnlich in vielen anderen Fällen. Folglich vergrößert<br />
sich der Lernaufwand.<br />
Abgesehen von der ganz marginalen Trennbarkeit von st (wo Schüler nach dem<br />
zweiten Schuljahr – falls sie überhaupt je trennen – oder gar Erwachsene, das bekannte<br />
Sprüchlein im Kopf, überhaupt keine Probleme hatten), ist das Ziel, die Ausnahmen zu<br />
reduzieren, nicht erreicht worden. Das bezeugen sogar die Reformer selbst:<br />
„Die Zahl der Einzelfestlegungen und Ausnahmen ist mit der Neuregelung kaum<br />
kleiner geworden.“ 9<br />
„Probleme bei der Getrennt- und Zusammenschreibung von Fügungen aus<br />
Adjektiv und Verb wird man in der Praxis auch fernerhin nur mit dem<br />
Rechtschreibwörterbuch lösen müssen.“ 10<br />
Aufgrund dieser und anderer Erkenntnisse kann mit großer Sicherheit behauptet<br />
werden, daß die Neuregelung, obwohl sie ohne Zweifel die Rechtschreibung durch<br />
Aufhebung von Differenzierungsmöglichkeiten vergröbert, den Schülern dennoch<br />
keine Erleichterungen verschafft. Kommafehler nicht mehr anzurechnen ist eine rein<br />
pädagogische Maßnahme, zu der es keiner Reform der Orthographie bedurft hätte.<br />
Die Dudenredaktion irrt, wenn sie in ihrer Stellungnahme für das Bundesverfassungsgericht<br />
schreibt:<br />
9 Gallmann/Sitta: Handbuch Recht<strong>schreiben</strong>, Zürich 1996, S. 87, zur Laut-Buchstaben-Zuordnung.<br />
10 Gallmann/Sitta in Augst et al. [Hg.]: Zur Neuregelung der deutschen Orthographie.<br />
Tübingen 1997, S. 95.<br />
10
„Die Neuregelung der Interpunktion zwingt die Schule geradezu – aber frei vom<br />
Zensurzwang, das ist das eigentlich Neue –, die Schüler zu einem bewussten<br />
Umgang mit der Zeichensetzung anzuleiten.“<br />
Richtiger heißt es in den Duden-Informationen von 1994:<br />
„Zum einen geht es um die Rechtschreibung selbst, um das System der orthographischen<br />
Normen, zum anderen um den Umgang mit der Rechtschreibung (in<br />
Schule und Öffentlichkeit). Das sind zwei sehr verschiedene Dinge – und<br />
Lösungen für die unterschiedlichen Probleme ergeben sich nicht aus der gleichen<br />
Quelle. Die Rechtschreibreform kann nur den ersten Problembereich angehen.“<br />
Der Reformer Gallmann sagte schon vor vielen Jahren:<br />
„Es ist meine feste Überzeugung, daß Probleme der Einstellung gegenüber<br />
orthographischen Regeln, etwa seitens der Schule (Prüfungen, Schulübertritte),<br />
nicht gelöst werden, indem man den Inhalt der Regelwerke verändert.“ 11<br />
Wo wirkliche oder scheinbare Freiräume eröffnet werden, wächst eher die Unsicherheit.<br />
Hinzugekommen ist eine Fülle zunächst kaum vorhersehbarer neuer Ausnahmen<br />
und unplausibler neuer Vorschriften. Eisenberg urteilt abschließend: „Von besserer<br />
Lehrbarkeit der Neuregelung kann insgesamt keine Rede sein.“ 12<br />
Entsprechendes gilt für das Deutsche als Fremdsprache. Die typischen von Ausländern<br />
begangenen Fehler liegen nicht dort, wo die Reform etwas ändert. Hingegen erschwert<br />
die Reform das Lesen, und das ist im Ausland auf viel Kritik gestoßen.<br />
Warum arbeiten viele Grundschulen problemlos mit der Neuregelung?<br />
So „problemlos“, wie die Kultusminister behaupten, funktioniert die Neuregelung<br />
selbstverständlich nicht. Zuverlässige Nachrichten aus dem Schulbereich sind allerdings<br />
schwer zu erlangen, da die Lehrer unter verschiedenen Zwängen arbeiten, die ein<br />
offenes Wort wenig ratsam erscheinen lassen. Wenn zwanzig versammelte Seminarlehrer<br />
von einem zuständigen Ministerialbeamten gefragt werden, ob sie mit der<br />
Neuregelung zurechtkommen, ist es kein Wunder, daß neunzehn mit dem Kopf nicken.<br />
Dem Kenner der Szene braucht man das nicht zu erklären.<br />
Wenn die Grundschüler die Neuschreibungen zufriedenstellend erlernen, so muß man<br />
folgendes bedenken:<br />
Erstens kennen Erstkläßler meist nichts anderes als die Schreibweisen, die sie als erste<br />
erlernen. Sie können also weder vergleichen noch auf anderem Wege eine<br />
minderwertige, undifferenzierte Schreibweise als solche erkennen.<br />
Zweitens werden Grundschüler nur mit winzigen Ausschnitten aus der Neuregelung<br />
konfrontiert, eigentlich fast nur mit der neuen ss-Schreibung, die auf dieser Stufe nicht<br />
schlechter ist als die zunächst etwas überflüssig erscheinende typographische Variante<br />
ß. 13 Wie der KMK-Vorsitzende Wernstedt selbst mitteilte, wird vom Schriftwortschatz<br />
11 Gallmann 1985, S. VII. Das war eine Antwort auf den ersten von neun Punkten des IDS-<br />
Programms von 1979: „Abbau der Überbewertung der Rechtschreibung“.<br />
12 Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 4/1997, S. 129.<br />
13 Daß der Buchstabe ß nach kurzem Vokal eine Ligatur aus zwei s und folglich nur eine<br />
stellungsbedingte typographische Variante für ss ist, deren Änderung gar nicht zum<br />
11
der ersten Klasse kein einziges Wort durch die Neuregelung verändert und vom<br />
gesamten Rechtschreibwortschatz der Grundschule nur 34 Wörter, davon 27 allein<br />
durch die s-Regelung! Das sächsische Kultusministerium hatte das Oberverwaltungsgericht<br />
Bautzen gebeten, in der ersten Klasse die neuen Regeln unterrichten zu dürfen,<br />
weil nur sechs Wortformen (isst, esst, muss, musst, müsst, müsste) betroffen seien. Vom<br />
gleichen Ministerium liegt mir eine offizielle Liste des Rechtschreibwortschatzes der<br />
Grundschule vor; sie enthält 24 geänderte Wörter, allesamt wegen der s-Regelung! Was<br />
soll es also heißen, daß die Neuregelung „problemlos“ und „mit großer Gelassenheit“<br />
gelernt werde? Gerade für Schreibanfänger ist die Neuregelung ohne Bedeutung. Wo<br />
sich nichts ändert, gilt die Zufriedenheit mit der neuen Schreibung eigentlich der alten.<br />
Drittens zeigen Berichte und Beobachtungen, daß der Rechtschreibunterricht im<br />
Gefolge der Reform ungemein intensiviert worden ist. Daher erklären sich vergleichsweise<br />
gute Ergebnisse auch auf höheren Schulstufen, die den Rechtschreibunterricht<br />
bisher vernachlässigt hatten und nun einen großen Teil des Deutschunterrichts darauf<br />
verwenden. Diese unspezifische Wirkung hat mit den Inhalten der Neuregelung gar<br />
nichts zu tun. Viele Lehrer und Eltern berichten in letzter Zeit von neuartigen<br />
Rechtschreibfehlern 14 , die offenbar darauf zurückgehen, daß neben den in der Schule<br />
gelehrten Schreibweisen auch die bisherigen ständig wahrgenommen werden, sei es<br />
durch die Medien, sei es in zu Hause vorhandenen Büchern. Das wird noch auf<br />
Jahrzehnte so bleiben.<br />
Übrigens: Nachdem die Kultusminister jahrelang wider besseres Wissen behauptet<br />
haben, an den Schulen funktioniere die Neuregelung „problemlos“, teilt der Berliner<br />
Schulsenat am 6. Juli 1999 brieflich mit:<br />
„Dass die Umsetzung der Neuregelung in den Schulen besondere Probleme mit<br />
sich bringt, ist den Beteiligten bekannt.“<br />
Auftrag einer orthographischen Neuregelung gehörte, gibt sogar das bayerische<br />
Kultusministerium zu (Rund<strong>schreiben</strong> vom 6.10.1997 an alle Schulen).<br />
14 Am auffälligsten ist wohl die Fehlschreibung weiss, heiss, Strasse, ausser usw., obwohl<br />
doch die geplante s-Schreibung angeblich so besonders „logisch“ sein soll. Die<br />
Vokallänge ist vielen Kindern und auch erwachsenen Laien gar nicht ohne weiteres klar.<br />
12
Ist der Vorwurf der Wortvernichtung aus der Luft gegriffen?<br />
In ihrer Dresdner Erklärung vom 25.10.1996 behaupteten die Kultusminister:<br />
„Kein einziges deutsches Wort geht durch die Neuregelung der Rechtschreibung<br />
verloren.“<br />
Das ist falsch. Die Tilgung von Wörtern zeigt sich nicht nur an den Gewohnheitsgefügen<br />
wie sitzenbleiben, aneinanderhängen usw., von denen gerade die Kritik<br />
gezeigt hat, daß sie keine Zusammensetzungen und daher – entgegen den Annahmen<br />
der Reformer – strenggenommen keine Wörter sind, sondern bloße Zusammenschreibungen.<br />
Hier werden durch die erzwungene, der Sprachentwicklung zuwiderlaufende<br />
Getrenntschreibung nicht Wörter, sondern – schlimm genug – nur Unterscheidungsmöglichkeiten<br />
vernichtet. Allein dies betrifft nach Munske rund 1000 Fälle im<br />
Rechtschreibduden, 2000 im achtbändigen Duden und 4000 in der gesamten<br />
Dudenkartei! 15 Der Vorwurf der Wortvernichtung bezieht sich jedoch in erster Linie auf<br />
die Beseitigung echter Zusammensetzungen wie aufsehenerregend, tiefschürfend,<br />
sogenannt, Handvoll usw. – Auch die erzwungene Großschreibung von Wörtern wie<br />
feind (sein), leid (tun) usw. kann man als Wortvernichtung bezeichnen, da die Behauptung,<br />
es handele sich hier um die gleichlautenden Substantive, objektiv falsch ist.<br />
Die Dudenredaktion behauptet zwar:<br />
„Bei der Orthographie geht es um das konventionelle Buchstabieren von<br />
Wörtern; Wortschatz, Syntax und Stilistik bleiben davon unberührt.“ (Stellungnahme<br />
für das Bundesverfassungsgericht vom 11.11.1997)<br />
Das ist aber offenbar unrichtig, und zwar weil das „Buchstabieren“ (einschließlich<br />
Großbuchstaben, Zwischenräume usw.) in systematischer Weise auf die genannten<br />
Bereiche bezogen ist, und dies wiederum ganz besonders im Deutschen mit seiner<br />
nicht rein lautbezogenen Schreibtechnik. (Beispiele von Neuschreibungen mit lexikologischen,<br />
syntaktischen und stilistischen Auswirkungen findet man in meinem<br />
„Kritischen Kommentar“, vgl. auch Horst H. Munske in Eroms/Munske [Hg.] 1997.)<br />
Natürlich wird der Versuch, Wörter ganz einfach aus dem Verkehr zu ziehen, letzten<br />
Endes nicht gelingen, aber das ist kein Verdienst der Reformer.<br />
Zusammen mit den grammatischen Auswirkungen der Reform widerlegen diese Fälle<br />
auch die oft aufgestellte Behauptung, es gehe nur um die Schrift und nicht um die<br />
Sprache. Man muß Schrift und Sprache keinesfalls verwechseln oder „gleichsetzen“<br />
(wie der Vorwurf an die Kritiker lautet), um eine solche Entgegensetzung überholt zu<br />
finden. Erstens ist die Schriftsprache eine Erscheinungsform der Gesamtsprache, und<br />
zweitens geht es, wie gezeigt, tatsächlich um Eingriffe in das Sprachsystem.<br />
Welche Auswirkungen dieses Unternehmen auf die Wörterbücher hat, läßt sich an der<br />
neuen Generation zweisprachiger Wörterbücher zeigen: Wenn ein deutschlernender<br />
Engländer im „Langenscheidt Universalwörterbuch“ das Wort sogenannt sucht, das<br />
ihm doch in zahllosen deutschen Texten begegnet, findet er es nicht mehr. Ob er darauf<br />
kommt, unter so nachzuschlagen, wo er dann das keineswegs gleichbedeutende so<br />
genannt findet, ist mehr als fraglich. Die neuen Wörterbücher versäumen ihre erste<br />
Pflicht: den vorhandenen Wortschatz gewissenhaft zu verbuchen. – Dies ist ein<br />
15 Eroms/Munske (Hg.) 1997, S. 157. Den Schätzungen liegen Listen zugrunde, die von den<br />
führenden Wörterbuchredaktionen selbst erstellt worden sind.<br />
13
kulturpolitisches Desaster auch im Hinblick auf die Rolle der deutschen Sprache im<br />
Ausland.<br />
Kann jeder erwachsene Bürger weiter <strong>schreiben</strong>, wie er will?<br />
„Die Bürger stimmen beim Volksentscheid nicht darüber ab, wie sie selber<br />
<strong>schreiben</strong>, sondern darüber, was an den Schulen gelehrt wird.“ 16<br />
Daß jeder außerhalb der Schulen und Behörden <strong>schreiben</strong> könne, wie er will, ist formal<br />
richtig, in Wirklichkeit aber Augenwischerei. In den Schulen lernen die Kinder, wie<br />
man schreibt. Das gilt auch in der Umkehrung: Geschrieben wird, wie man es in der<br />
Schule lernt. Daß jemand, der sich nicht an die Neuregelung hält, nicht falsch, sondern<br />
„traditionell“ schreibe, ist ein schlechter Scherz. Man kann ja einmal versuchen, in<br />
einem Bewerbungs<strong>schreiben</strong> „traditionell“ zu <strong>schreiben</strong> ...<br />
Horst H. Munske beurteilt die Lage realistisch:<br />
„Die Kultusminister (...) erklären, die neue Rechtschreibung gelte nur für Schulen<br />
und Behörden. Schon dies ist viel: Es gilt für alle deutschen Schulen des In- und<br />
Auslandes, für alle Hochschulen, für alle kommunalen, Landes- und Bundesbehörden,<br />
für die deutsche Gesetzessprache und für den gesamten Schriftverkehr<br />
der Behörden mit den Bürgern. Der beruhigende Hinweis, im übrigen könne jeder<br />
<strong>schreiben</strong> wie er wolle, ist ein zweischneidiges Argument. Es schließt bewußt die<br />
Möglichkeit ein, daß sich zum Beispiel Zeitungs- und Buchverlage der Reform<br />
verweigern, und daß die Einheit der deutschen Orthographie in die Brüche geht.<br />
Ich kann es darum durchaus nicht ernst nehmen. Tatsächlich ist die für Schulen<br />
und Behörden verordnete Orthographie das Trojanische Pferd einer allgemeinen<br />
Rechtschreibreform.“ 17<br />
Auch die Neuregelung der privaten Briefanrede (Kleinschreibung von du) beweist im<br />
übrigen, daß die Reform durchaus nicht nur das amtlichen Schreiben im Blick hat. Das<br />
Oberverwaltungsgericht Schleswig hat zutreffend ausgeführt:<br />
„Die Rechtschreibreform zielt nämlich nicht nur auf eine Änderung der<br />
Schreibweise im Unterricht und in der Amtssprache. Reformiert wird zum<br />
01.08.1998 die Schreibweise der deutschen Sprache im deutschen Sprachraum<br />
überhaupt.“ (Begründung zum Beschluß vom 13.8.1997)<br />
Die allgemein übliche, von der Sprachgemeinschaft akzeptierte Rechtschreibung wird<br />
Hunderttausenden von Schülern vorenthalten. 18 Es ist eine Tatsache, daß der Staat<br />
erstmals nicht mehr einen Rechtschreibunterricht erteilt, der auf das in der Gesellschaft<br />
Übliche vorbereitet, sondern umgekehrt die gesellschaftlich akzeptierten Normen auf<br />
dem Weg über die Schule verändern will.<br />
Die Dudenredaktion bestreitet in ihrer Stellungnahme für das Bundesverfassungs-<br />
16 Die schleswig-holsteinische Kultusministerin Gisela Böhrk nach „Die Welt“ vom<br />
21.8.1998. Sie mußte kurz darauf wegen der Rechtschreibreform zurücktreten.<br />
17 Eroms/Munske (Hg.) 1997, S. 154.<br />
18 So heißt es zum Beispiel in einem Runderlaß des schleswig-holsteinischen Kultusministeriums<br />
vom 5.11.1996: „Generell werden überholte Regeln und Schreibungen nicht<br />
mehr eingeführt und nicht mehr geübt.“ Diese „überholten“ Schreibungen waren damals<br />
noch die einzigen amtlich gültigen!<br />
14
gericht die Ansicht der klagenden Eltern,<br />
„dass es sich bei der Rechtschreibreform nicht lediglich um eine Fortentwicklung<br />
der bisherigen Bildungsziele und Unterrichtsinhalte handele. Das<br />
Lehr- und Lernziel des Rechtschreibunterrichts, die Fähigkeit zu korrektem<br />
Schreiben zu vermitteln, wird durch die Einführung der reformierten<br />
Rechtschreibung nicht angetastet.“<br />
Doch was ist „korrektes Schreiben“ – wenn nicht das in der Gesellschaft allgemein<br />
übliche? Die Neuschreibung ist aber nicht üblich, sondern soll es gerade erst durch den<br />
Rechtschreibunterricht werden, der sich also insofern ins Blaue hinein vollzieht, ohne<br />
Vorbild und in der bloßen Hoffnung auf den besagten, die Gewohnheit der ganzen<br />
Gesellschaft umwälzenden Erfolg.<br />
Neuerdings ziehen die Reformer aus der Tatsache, daß sie zwar auf Schüler und Staatsdiener<br />
Zugriff haben, auf die übrige Bevölkerung aber nicht, einen sekundären Nutzen.<br />
Sie behaupten nämlich wieder und wieder, am Schreibgebrauch der übrigen Bürger<br />
werde sich bis zum Stichtag im Jahre 2005 erweisen, „wieweit die Sprachteilnehmer<br />
auch außerhalb von Schule und Behörden die Neuregelung angenommen haben“ 19 und<br />
„ob die neuen Schreibungen von der Sprachgemeinschaft angenommen werden oder<br />
nicht“ 20 . Die Schüler zwar werden seit 1996 und die Beschäftigten des öffentlichen<br />
Dienstes ab 1998 ohne jede Möglichkeit einer Gegenwehr gezwungen, die neuen<br />
Schreibweisen zu praktizieren; sollten sie fehlerhaft sein, so kommt die Rettung von<br />
denen, auf die sich die Regelungsgewalt des Staates leider nicht ausdehnen läßt und<br />
die daher die einzigen sind, die ihre Mißbilligung artikulieren dürfen. Auch dieses<br />
scheinbar „demokratische“, gleichsam experimentelle Vorhaben setzt ausdrücklich die<br />
Einheit der deutschen Orthographie aufs Spiel.<br />
Außerdem werden Millionen Menschen als Versuchskaninchen für einen politischen<br />
Zweck mißbraucht. Der stellvertretende Vorsitzende der KMK sagte am 26.3.1998 in<br />
der bereits erwähnten Rede im Deutschen Bundestag:<br />
„Nicht um die Neuregelung der Rechtschreibung geht es in Wahrheit. Es geht um<br />
die Frage, ob diese Gesellschaft veränderungsfähig und veränderungswillig ist.<br />
Wenn es schon bei einem Reförmchen wie diesem zu solchen Reaktionen kommt,<br />
was soll dann erst geschehen, wenn es wirklich ernst wird mit Veränderungen in<br />
Deutschland?“<br />
19 Nerius in: Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 4/1997, S. 127. Der Autor<br />
fährt fort: „Sollte das nicht der Fall sein, muß man dann eine Neukodifizierung der<br />
Orthographie entweder auf der Basis der bisherigen Regelung oder auf einer Grundlage<br />
erwägen, die eine breitere Akzeptanz in der Sprachgemeinschaft findet.“<br />
20 Heller ebd. S. 124. – Ähnlich aber auch schon der bayerische Kultusminister im<br />
„Bayernkurier“ vom 20.9.1997. Der Minister übernahm damit eine Vorgabe der<br />
Mannheimer Kommission, die bei einer Pressekonferenz am 12.9.1997 erklärt hatte: „Die<br />
Schule macht den Vorreiter. Was aber die Schreibgemeinschaft nicht annimmt, wird die<br />
Schule wieder aus dem Lehrplan streichen.“ Diese rhetorisch nicht ungeschickte<br />
Wendung findet man auch in der Pressemitteilung der KMK vom 12.2.1998, im Anschluß<br />
an die Vorlage der Amtschefskommission und an den Bericht der zwischenstaatlichen<br />
Kommission, s. u.; vgl. auch die Rede der KMK-Vorsitzenden Brunn vom 26.3.1998 im<br />
Bundestag.<br />
15
Wie wirkt sich die Reform auf die Amtssprache aus?<br />
Dazu ist noch wenig bekannt. Entsprechende Untersuchungen versäumt zu haben, muß<br />
man den Betreibern der Reform geradezu vorwerfen. Auch das Bundesinnenministerium<br />
hätte untersuchen müssen, was die Neuregelung für die Amtssprache<br />
bedeutet, bevor es am 27.3.1998 im Anschluß an die Bundestagsdebatte über die<br />
Reform laut dpa erklärte, „die Amtssprache müsse der Schulsprache folgen“. 21 Erste<br />
Beobachtungen zeigen folgendes:<br />
Die Auswirkungen reichen von verhältnismäßig trivialen Fällen wie Schiffahrt (neu<br />
*Schifffahrt); das in verschiedenen Gesetzen (z.B. GG Art. 87) vorkommt und dessen<br />
Schreibweise auf zahllosen Schildern usw. geändert werden müßte, Numerierung<br />
(*Nummerierung, z. B. AktG § 158) oder den ungemein häufigen Formeln im<br />
allgemeinen, im ganzen (das besonders im BGB häufig ist) und im übrigen (künftig<br />
allesamt groß zu <strong>schreiben</strong>) bis zu neuen Getrenntschreibungen, die durchaus zu Überlegungen<br />
Anlaß geben, ob semantisch noch der vom Gesetzgeber gemeinte Begriff<br />
vorliegt:<br />
Der feste Begriff schwerbehindert, der im Schwerbehindertengesetz (§ 1) definiert ist,<br />
wird durch die zwingend verordnete neue Getrenntschreibung beseitigt. Er ist nicht<br />
mehr von der be<strong>schreiben</strong>den und subjektiv urteilenden Wortgruppe schwer behindert<br />
zu unterscheiden. Schwerstbehindert bleibt dagegen erhalten.<br />
Der feste Begriff Erste Hilfe, der durch Großschreibung einen Unterschied zu einer<br />
beliebigen „ersten Hilfe“ kennzeichnet, soll in Zukunft klein geschrieben werden.<br />
Davon ist u. a. das Straßenverkehrsgesetz (§ 2: Fahrerlaubnis) betroffen:<br />
Der Nachsuchende um eine Fahrerlaubnis der Klasse 2 nach § 5 Abs. 1 der<br />
Straßenverkehrszulassungsordnung muß (...) nachweisen, daß er bei Verkehrsunfällen<br />
Erste Hilfe leisten kann.<br />
In Gesetzestexten kommen mehrere hundertmal die Begriffe offenlegen und bekanntmachen<br />
vor, die in Zukunft getrennt geschrieben werden müssen. So würde es in § 21<br />
Abs. 3 VerschG (Aufgebotsfrist; inzwischen geändert) heißen:<br />
*Ist das Aufgebot bekannt gemacht, so kann die Aufgebotsfrist nicht mehr<br />
abgekürzt werden.<br />
Die Getrenntschreibung wird hier mit der Steigerbarkeit des ersten Bestandteils<br />
begründet. Diese ist aber gerade für den rechtlichen Terminus überhaupt nicht gegeben,<br />
da ein Aufgebot nicht „bekannter“ bzw. „mehr oder weniger bekannt“ gemacht werden<br />
kann. 22<br />
In § 8 der Patentanmeldungsverordnung würde es nach der Reform so heißen:<br />
21 F.A.Z. vom 28.3.1998. In der Bundestagsdebatte vom 26.3.1998 äußerte auch der<br />
Grünen-Abgeordnete Volker Beck diese erstaunliche Ansicht: „Es darf nicht sein, daß der<br />
Bund eine andere Sprache als Amtssprache haben will als die, die wir an den Schulen<br />
haben. Deshalb muß das, was an den Schulen gilt, auch in die Amtssprache des Bundes<br />
umgesetzt werden.“<br />
22 Der Reformer Schaeder, der für diesen Teil der Neuregelung verantwortlich ist, hat eine<br />
andere Begründung der Getrenntschreibung nachgeschoben (bekannt als „Partizip“), die<br />
in krassem Widerspruch zur einschlägigen Bestimmung § 34 E3(3) des amtlichen<br />
Regelwerks steht.<br />
16
*Jedes Blatt muß weit gehend frei von Radierstellen (...) sein.<br />
Getrenntschreibung soll auch für weitergehend gelten, das besonders in der Verbindung<br />
weitergehende Ansprüche bzw. Gründe häufig vorkommt.<br />
Auch schwerwiegend soll getrennt geschrieben werden, wodurch sich beispielsweise in<br />
der Strafprozeßordnung folgende Änderung ergibt:<br />
*Ein Haftgrund besteht auch, wenn der Beschuldigte dringend verdächtig ist, (...)<br />
wiederholt oder fortgesetzt eine die Rechtsordnung schwer wiegend beeinträchtigende<br />
Straftat nach § 125a (...) begangen zu haben. (StPO § 112a) 23<br />
Wie gleichbleibend und andere Zusammensetzungen mit gleich zu behandeln sind, ist<br />
weder dem Regelwerk noch dem Wörterverzeichnis mit Sicherheit zu entnehmen; die<br />
Wörterbücher kommen zu radikal unterschiedlichen Lösungen. Nach der plausibelsten<br />
(Duden s. v. sowie Duden Bd. 9, S. 334) tritt Getrenntschreibung ein. Also: mit einer<br />
gleich bleibenden Menge und einem gleich bleibenden Wert (HGB § 240 [3]), ja sogar<br />
Kinderzulagen (...), wenn sie als Leistungen für Kinder ausgewiesen sind und ihr<br />
Betrag gleich bleibend ist (Reg. UnterhV § 2) – was eindeutig ungrammatisch ist.<br />
Betroffen sind auch gleichgestellt (JGG § 119 u. ö.), gleichlautende Urkunden (BGB §<br />
116), gleichzuachten (UWG § 5) u. a.<br />
Das Wort aufsichtführend (GVG § 21 [mehrmals], ArbGG § 6a [3], § 29 [1], StGB §<br />
194) soll laut amtlichem Wörterverzeichnis aufgelöst werden: *Aufsicht führend.<br />
Da alle Fügungen aus Wörtern mit -einander und Verb getrennt geschrieben werden<br />
sollen, ergibt sich die Neuschreibung *auseinander zu setzen (HGB § 235 [1], ZSEG §<br />
3[3], UmwG § 93 [1]), *auseinander zu gehen (OWiG § 113 [1]), *auseinander liegen<br />
SGB VIII § 22 [4]), *auseinander gehalten (StVO § 22 [4]), *aneinander grenzen<br />
(GBO § 5 [2]) u. v. a.<br />
Die sprachwidrige Getrenntschreibung sämtlicher Fügungen mit Adjektiven auf -ig<br />
führt zur Auflösung von fertigstellen (neu *fertig stellen) usw., also zum Beispiel:<br />
*von einer noch nicht fertig gestellten Anlage (Umwelt HG § 21 [1]. *Bevor das<br />
Protokoll fertig gestellt ist, darf das Urteil nicht zugestellt werden (StPO § 273 [4]),<br />
vgl. ferner MHG § 2 (1), § 11 (1), § 12 (3), WiStG § 5 (2), BGB § 564 b (4).<br />
geheimgehalten, geheimzuhalten sind künftig getrennt zu <strong>schreiben</strong>, was sich auf<br />
zahlreiche Gesetzestexte auswirkt: StGB § 93 (1) (2), § 95ff., PatG § 50 (4), § 55 (3),<br />
StPO § 110b (3) usw.<br />
In Art. 29 GG geht es um die Frage, ob die betroffenen Länder wie bisher bestehenbleiben<br />
sollen. Daraus wird *bestehen bleiben.<br />
Komposita aus selbst und einem Partizip sollen künftig aufgelöst werden – eine Maßnahme,<br />
deren Sprachwidrigkeit in meinem „Schildbürger“-Buch sowie im „Kritischen<br />
Kommentar“ ausführlich begründet wird. Statt selbstorganisierte Förderung von<br />
Kindern (SGB VIII § 25) soll es also heißen *selbst organisierte Förderung. Ebenso<br />
*selbst gestelltes Arbeitsmaterial (ZPO § 850a [3]), selbstfahrende Arbeitsmaschinen<br />
(StVZO § 18, PflVG § 2 [1]) werden zu *selbst fahrenden, und nach Bertelsmann (1.<br />
Ausgabe) wird auch selbstentzündlich zu *selbst entzündlich.<br />
Die rechtsprechende Gewalt gibt es nicht mehr, sie wird zur *Recht sprechenden (*Die<br />
23 Nachtrag: Bei weitgehend und schwerwiegend scheint die Kommission inzwischen<br />
sowohl Getrennt- als auch Zusammenschreibung zulassen zu wollen.<br />
17
Recht sprechende Gewalt ist den Richtern anvertraut. [GG Art 92; vgl. DRiG § 1<br />
usw.]) Gesetzgebend (GG Art. 122) bleibt jedoch erhalten. Der Grund soll in den unterschiedlichen<br />
verbalen Konstruktionen liegen (Recht sprechen, aber nicht Gesetz geben)<br />
– ein linguistisch abwegiges Argument.<br />
Die neue Großschreibung wirkt sich zum Beispiel auf Wendungen wie an Eides Statt,<br />
an Kindes Statt aus: künftig *an Eides statt, *an Kindes statt. Andererseits wird<br />
rechtens nur noch klein geschrieben: *etwas für rechtens halten, *rechtens sein. Statt<br />
auf seiten, von seiten darf es nur noch heißen aufseiten/auf Seiten, vonseiten/von<br />
Seiten, also *aufseiten/auf Seiten des Empfängers (BGB § 79), *Zahlung vonseiten/von<br />
Seiten des Schuldners (ZPO § 819) usw.<br />
Bei außer acht tritt künftig Großschreibung ein: *wer die im Verkehr erforderliche<br />
Sorgfalt außer Acht läßt (BGB 276). Ebenso bei im voraus: *Die Haftung wegen<br />
Vorsatzes kann dem Schuldner nicht im Voraus erlassen werden (ebd.). *Die Leibrente<br />
ist im Voraus zu entrichten (BGB § 760). Das ist nicht ganz unbedenklich, weil das<br />
Erbrecht auch den Voraus kennt (Voraus des Ehegatten BGB § 1932: Auf den Voraus<br />
sind die für Vermächtnisse geltenden Vorschriften anzuwenden).<br />
Die Großschreibung erfaßt auch pronominal gebrauchte Adjektive: Wenn Körperverletzungen<br />
nach § 223 mit solchen, Beleidigungen mit Körperverletzungen nach §<br />
223 oder letztere mit ersteren auf der Stelle erwidert werden ... (StGB § 233) Daraus<br />
wird nunmehr ...*Letztere mit Ersteren ... (Auf die Sprachwidrigkeit dieser Neuerung<br />
hat besonders H. H. Munske hingewiesen.)<br />
Welche juristische Relevanz diese und weitere, bisher noch kaum überblickbare<br />
Veränderungen der Rechts- und Gesetzessprache haben werden, müssen Fachleute<br />
untersuchen. Diese Arbeit dürfte angesichts der Stoffmassen einige Zeit in Anspruch<br />
nehmen. Es liegt auf der Hand, daß die Reformer, die von ihrer professionellen<br />
Ausrichtung her praktisch nur die Schule im Blick haben konnten, diesen<br />
Gesichtspunkt überhaupt nicht bedacht haben.<br />
Welche Rolle spielt die Staatsmacht bei der Durchsetzung der Reform?<br />
Die Reformer erwähnen bei jeder Gelegenheit, daß die Reform „politisch legitimiert“<br />
sei. Schon sehr früh haben sie erkannt, daß eine Rechtschreibreform ohne das Bündnis<br />
mit der Staatsmacht nicht zu haben, der Wille der Sprachgemeinschaft anders nicht zu<br />
brechen ist. Leo Weisgerber, in den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik ein<br />
Vorkämpfer der Kleinschreibung, hat schon früh die entsprechende Lehre aus dem<br />
Fehlschlag der „Stuttgarter Empfehlungen“ (1954) gezogen:<br />
„Von den Auswirkungen der Diskussion um die Stuttgarter Empfehlungen war<br />
wohl am wichtigsten die Einsicht, daß man neue Formen der Willensbildung<br />
suchen müsse. (...) Der Sprachgemeinschaft gegenüber ist die Macht des objektivierten<br />
Gebildes viel zu groß geworden, als daß man mit inneren Entschließungen<br />
weiterkäme. Zum mindesten muß zur Verwirklichung von Vorschlägen<br />
(selbst einstimmigen) die Unterstützung durch Behörden in Anspruch<br />
genommen werden, die für Schule und amtlichen Gebrauch Anweisungen geben<br />
können.“ 24<br />
24 Leo Weisgerber: Die Verantwortung für die Schrift. Mannheim 1964, S. 62;<br />
18
Das Bündnis mit dem Staat wird auch damit gerechtfertigt, daß der Staat nun einmal<br />
die Regelungskompetenz besitze und daher als einzige Instanz die Möglichkeit habe,<br />
die geltende Rechtschreibung zu ändern. Zur Stützung dieser Ansicht beruft man sich<br />
gern auf die Tatsache, daß unsere heutige Einheitsorthographie auf staatlichen<br />
Beschlüssen von 1902 beruhe. Das ist allerdings eine zweideutige Feststellung. Denn<br />
nicht die Orthographie, sondern deren Einheit beruht – wenigstens in sehr<br />
bescheidenem Maße – auf staatlichen Beschlüssen. Der Staat hat die Rechtschreibung<br />
nicht per Erlaß geschaffen, sondern die Geltung einer vorgegebenen Rechtschreibordnung<br />
für gewisse Lebensbereiche, vor allem die Schule, festgelegt. Er kann dies<br />
aufs neue tun – aber nur wie bisher auf der Grundlage der allgemein üblichen<br />
Rechtschreibung, nicht durch Erfindung und Verordnung völlig neuer Schreibweisen.<br />
Das betrifft nicht nur Einzelwortschreibungen, die nie ein Mensch gebraucht hat<br />
(passee, Tunfisch, Spagetti, platzieren), sondern auch und vor allem eine völlige<br />
Neuorientierung im Bereich der Getrennt- und Zusammenschreibung, der Groß- und<br />
Kleinschreibung und der Zeichensetzung. Der Rostocker Reformer Dieter Nerius baut<br />
ganz auf die Staatsmacht:<br />
„Nach der Herausbildung einer für die ganze Sprachgemeinschaft einheitlichen<br />
Orthographie (...) kann nicht mehr wie vorher von einer mehr oder weniger freien<br />
Entwicklung der Schreibung gesprochen werden, da die umfassend ausgeprägte<br />
und offiziell verbindliche Norm das nicht zuläßt. Veränderungen einzelner<br />
Schreibungen können sich zwar auch weiterhin im Sprachgebrauch vollziehen,<br />
aber nur in den Bereichen, die nicht vollständig kodifiziert sind oder in denen die<br />
Kodifizierung einen gewissen Spielraum zuläßt, wie etwa bei der<br />
Fremdwortschreibung oder in der Getrennt- und Zusammenschreibung. Eine<br />
Veränderung der Orthographie in den eindeutig kodifizierten Bereichen ist jedoch<br />
jetzt nur noch durch eine Änderung der kodifizierten Norm, eine Orthographiereform,<br />
möglich, die durch dazu bevollmächtigte Gremien oder<br />
Personen vorzubereiten und durch entsprechende Verfügungen staatlicher Organe<br />
durchzusetzen wäre.“ 25<br />
All dies gilt natürlich zunächst einmal nur unter der Voraussetzung, daß man überhaupt<br />
die Staatszuständigkeit für die Orthographie anerkennt und nichtobrigkeitliche<br />
Lösungen gar nicht erst ins Auge faßt. Die Tatsachen sprechen aber eine andere<br />
Sprache. Da die staatliche Norm ohnehin – wie gerade die Reformer zur Beruhigung<br />
der Bevölkerung unermüdlich betonen – nur für jene Bereiche verbindlich sein soll, für<br />
die der Staat „Regelungskompetenz“ beansprucht, können sich in den anderen<br />
Bereichen, wo sie allenfalls „Vorbildcharakter“ besitzt, durchaus sprachlicher Wandel<br />
und orthographische Neuerungen entfalten. Dabei werden sich die grundsätzlichen<br />
Entscheidungen selten ändern; denn warum sollte die Sprachgemeinschaft etwas<br />
aufgeben, was sich bewährt hat? Aber denken wir an die Binnengroßbuchstaben in<br />
Komposita (eigentlich die Wiederentdeckung einer barocken Schreibmöglichkeit). Sie<br />
ist wesentlich sogar von der Bundesbahn bzw. Deutschen Bahn AG gefördert worden<br />
(BahnCard usw., vgl. auch die Post mit FreeWay und PackSet, die Sparkassen mit<br />
GeldKarte usw.) und verstößt gegen Grundsätze der Norm in einem vollständig<br />
Hervorhebungen hinzugefügt.<br />
25 Dieter Nerius et al.: Deutsche Orthographie. Berlin 1989, S. 32f. – Fast wortgleich auch<br />
schon in seinem einflußreichen programmatischen Werk von 1975, S. 48, ferner in<br />
Nerius/Scharnhorst (Hg.) 1980, S. 51; Mitt. d. Dt. Germanistenverbandes 4/1997;<br />
Eroms/Munske (Hg.) 1997, S. 157 und an vielen anderen Stellen.<br />
19
kodifizierten Bereich, weshalb sie auch bisher weder vom Duden noch von der<br />
Neuregelung berücksichtigt worden ist. Weniger auffällig ist, daß die Großschreibung<br />
von festen Begriffen (Schneller Brüter usw.) entgegen der Dudennorm in größtem<br />
Umfang praktiziert wird – eine Sprachentwicklung, die der Duden allmählich<br />
aufnehmen müßte. Solche Tatsachen widerlegen die Neriussche Argumentation. Nerius<br />
denkt übrigens, wie ein späterer Beitrag (in Eroms/Munske [Hg.] 1997, S. 158;<br />
ausführlicher in Augst et al. [Hg.] 1997) erkennen läßt, stets an die Kleinschreibung<br />
der Substantive, die Leitvorstellung aller Reformer bis zum heutigen Tage. Selbst diese<br />
kann aber ohne staatlichen Eingriff kommen, wenn sich hinreichend viele<br />
einflußreiche Druckwerke, etwa Zeitungen, dazu entschließen, wozu sie ja ohne<br />
weiteres befugt sind. Was hindert die GEW daran, wenigstens ihre Verbandszeitschrift<br />
in Kleinschreibung erscheinen zu lassen? Allerdings sind die meisten Kleinschreiber<br />
der siebziger Jahre inzwischen zur Großschreibung zurückgekehrt, so auch die IG<br />
Medien.<br />
Horst H. Munske stellt nach einem vergleichenden Blick auf die Verhältnisse in Großbritannien<br />
fest:<br />
„Die Deutschen haben sich nach der Reichsgründung einer obrigkeitlichen Regelung<br />
unterworfen, die sich mit der Begründung rechtfertigte, sie gelte nur für<br />
Schulen und Behörden. Hier knüpft die Neuregelung an (...). Dennoch sollte man<br />
sich bewußt bleiben, daß Rechtschreibung auch ohne ministerielle Verordnungen<br />
funktionieren kann.“ 26<br />
Daher ist auch die spekulative Behauptung der Dudenredaktion zurückzuweisen, ohne<br />
staatliche Eingriffe „gäbe es keine deutsche Rechtschreibung im Sinne einer<br />
Einheitsschreibung“. 27 In einer Sprachgemeinschaft mit so dichten Kommunikationsbeziehungen<br />
konvergiert jeder Schreibgebrauch zur Einheitlichkeit, und der „englische<br />
Weg“ war auch im geeinten deutschen Reich längst beschritten, ja fast zu Ende<br />
gebracht, als die Einheitsorthographie vom Staat besiegelt wurde:<br />
„Daß [die Orthographie von 1902] so schnell und ohne irgendwelche Übergangszeiten<br />
eingeführt werden konnte, liegt natürlich daran, daß sie durchgehend bei<br />
den Schulen, mehrheitlich bei den Behörden und ganz überwiegend auch im<br />
übrigen Schreibgebrauch de facto schon eingeführt war – dies doch ein<br />
bedeutender Unterschied zur neuen Orthographie ab 1998.“ 28<br />
Es ist klar, daß der Staat die orthographische Regelungskompetenz, wenn er sie denn<br />
wirklich besitzen sollte, auch wieder abgeben kann. Daß die Schulbehörden für ihren<br />
Zuständigkeitsbereich einheitlich abgestimmte Unterrichtsanweisungen geben und<br />
Prüfungsbestimmungen erlassen können, versteht sich ebenfalls von selbst. Allerdings<br />
sind sie daran gebunden, daß die Schüler auf das Leben außerhalb der Schule, folglich<br />
auch auf die allgemein übliche Rechtschreibung vorbereitet werden.<br />
Den Schülern wird gegenwärtig nicht nur die allgemein übliche Rechtschreibung<br />
26 In Augst et al. [Hg.]1997, S. 414<br />
27 Stellungnahme für das Bundesverfassungsgericht vom 11.11.1997. – In den Duden-<br />
Informationen vom Dezember 1994 heißt es dagegen: „Unsere Rechtschreibung ist<br />
historisch gewachsen. (...) Das System der geschriebenen deutschen Sprache hat sich über<br />
einen Zeitraum von vielen Jahrhunderten entwickelt, ohne daß dabei eine autorisierte<br />
Institution mit verbindlichen Regelungen eingegriffen hätte.“ (S. 7 und S. 14)<br />
28 Scheuringer 1997, S. 87.<br />
20
vorenthalten, sondern der Staat benutzt die Schüler geradezu, um eine allgemeine<br />
Schreibveränderung zu erzwingen. Der führende Reformer Augst schrieb 1982:<br />
„Eine Änderung geltender Konventionen und Normen über den Schüler zu<br />
erreichen, ist zwar verlockend und wäre, wenn es gelänge, auch am erfolgversprechendsten,<br />
aber sie setzt an am schwächsten Glied in der Kette.“ 29<br />
Das Rezept war also bekannt, nur gab es damals noch gewisse Skrupel bei der<br />
Durchführung. Heute gibt es sie nicht mehr. Die Kultusminister behaupten, nachdem in<br />
den Schulen bereits mit der neuen Schreibweise begonnen worden sei, dürfe es um der<br />
Schüler willen kein Bedenken und Besinnen mehr geben. Die Schüler nicht mit ihrer<br />
Sonderschreibung allein zu lassen war im Herbst 1998 beinahe zum einzigen noch<br />
verbliebenen Argument der Reformbetreiber geworden. Die wehrlosen Schüler, in der<br />
Tat die schwächsten Glieder der Kette, werden also vom Staat gleichsam in Geiselhaft<br />
genommen.<br />
War die Öffentlichkeit hinreichend informiert?<br />
Daß die Öffentlichkeit Zeit und Gelegenheit gehabt habe, sich über die Reformpläne<br />
zu informieren, trifft nicht zu. Abgesehen davon, daß die heute geplante Reform bei<br />
weitem nicht mit den früheren Plänen übereinstimmt, genügt es, an die Äußerung eines<br />
maßgeblichen Vorkämpfers der Reform zu erinnern. Auf die Frage „Wissen denn die<br />
Deutschen in etwa, was auf sie zukommt?“ gab Kultusminister Zehetmair die<br />
inzwischen klassisch gewordene Antwort:<br />
„Nein, überhaupt nicht. Die breite Öffentlichkeit ist so gut wie gar nicht<br />
informiert. Deshalb werden viele erschrecken, wenn es nun zu einer Reform<br />
kommt, und zwar auch dann, wenn noch einiges geändert wird. Viele haben gar<br />
nicht mehr an eine Reform geglaubt, nachdem seit fast hundert Jahren alle<br />
Vorschläge gescheitert sind. Man wird uns, die Kultusminister, fragen: Was habt<br />
ihr denn da angestellt? Es wird große Aufregung und viel Streit, sogar erbitterten<br />
Streit geben, und es würde mich nicht wundern, wenn er mit der Schärfe von<br />
Glaubenskämpfen ausgetragen würde.“ 30<br />
Auch Horst H. Munske, seinerzeit Mitglied des Internationalen Arbeitskreises,<br />
bedauert, daß nach den Wiener Beschlüssen keine Diskussion mehr geführt und die<br />
Vorlaufphase bis 1998 nicht zur Erprobung und Korrektur genutzt wurde; er legt dar,<br />
warum die Tragweite verschiedener Neuregelungen der Öffentlichkeit zunächst<br />
verborgen bleiben mußte und erst das Erscheinen der neuen Wörterbücher den Protest<br />
auslösen konnte (in Eroms/Munske [Hg.] 1997, S. 146).<br />
Die millionenfache Verbreitung von irreführend vereinfachten Darstellungen (wie im<br />
„Sprachreport“ des IDS, in Zeitungsbeilagen oder GEW-Faltblättchen) bestätigt eher<br />
den Vorwuf der Desinformation. In den vom IDS vorbereiteten Beilagen der<br />
Zeitschriften „Die Woche“ und „Hörzu“ beispielsweise sind gerade die umstrittensten<br />
Wortgruppen (mit hoch-, wieder- und wohl-) in äußerst auffälliger Weise weggelassen,<br />
ebenso die Auflösung von sogenannt in so genannt! Von den überaus komplizierten<br />
neuen Kommaregeln gibt keine dieser Werbeschriften auch nur annähernd eine<br />
29 Der öffentliche Sprachgebrauch, Band III: Schulen für einen guten Sprachgebrauch, hg.<br />
von der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. Stuttgart 1982, S. 137.<br />
30 „Der Spiegel“ vom 11.9.1995.<br />
21
zutreffende Vorstellung.<br />
Hiltraud Strunk, eine Schülerin des Reformers Gerhard Augst, kommentiert den<br />
geheimnistuerischen Charakter einer Pressemitteilung beim Reformversuch von 1956<br />
so:<br />
„Der Verzicht auf jegliche inhaltliche Information war nach den bisherigen Erfahrungen<br />
sicher richtig.“ 31<br />
Diese Lehre haben die Reformer selbstverständlich ebensowenig vergessen wie jene<br />
andere, daß es ohne ein Bündnis mit der Staatsmacht nicht geht. Beides zusammen<br />
führte zu der seither befolgten Strategie: Einsatz der staatlichen Zwangsmittel für eine<br />
„Überrumpelungsaktion“ (Munske).<br />
Schon nach dem Scheitern der I. Orthographischen Konferenz von 1876 zog man es<br />
vor, „aufgrund der exorbitanten öffentlichen Diskussion (...) eher in den Behörden und<br />
unter Ausschluß der Öffentlichkeit (zu) entscheiden.“ 32 Und die Mannheimer<br />
„Kommission für Rechtschreibfragen“ war laut eigenem Bekenntnis vom Jahre 1985<br />
„insgesamt im Sinne einer aktiv-systematischen Öffentlichkeitsarbeit eher<br />
zurückhaltend, um nicht durch dauernde Zwischenberichte den Eindruck zu erwecken,<br />
daß jeweils morgen eine Reform durchgeführt werde.“ 33<br />
Der Vorwurf an die Kritiker, sie hätten sich zu spät gerührt, muß auch im Lichte einer<br />
Tatsache gesehen werden, auf die Hermann Scheuringer (ein Reformbefürworter)<br />
hinweist. Im Februar 1996 schrieb er:<br />
„Eine endgültige Fassung der neuen Rechtschreibung inkl. Wörterverzeichnis,<br />
wie sie ‚mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit‘ bis zum Sommer 1996<br />
von Deutschland, Österreich und der Schweiz auf Ministerebene ratifiziert und ab<br />
1. August 1998 in Kraft gesetzt werden wird, liegt zum gegenwärtigen Zeitpunkt<br />
nicht vor.“ 34<br />
Als im Herbst 1995 einige Politiker, darunter der bayerische Kultusminister Zehetmair<br />
und Ministerpräsident Stoiber, ihr Mißfallen an dem beschlossenen Regelwerk<br />
bekundeten, mußten sie sich von dem Journalisten Hermann Unterstöger fragen lassen<br />
„Auch schon wach?“ Unterstöger schrieb u.a.:<br />
„Was haben die Herrschaften eigentlich getrieben all die Jahre, während derer die<br />
Rechtschreibreform mit einem öffentlichen Echo sondergleichen ins Werk gesetzt<br />
wurde? (...) Vor sieben Jahren, im September 1988, wurde der Reformvorschlag<br />
präsentiert, 236 Seiten dick und 700 Gramm schwer schwer – doch weit und breit<br />
kein Stoiber, der sich damals unserer Befindlichkeit angenommen hätte.“ 35<br />
In Wirklichkeit war der Entwurf von 1988 ein ganz anderer als der von 1995, und daß<br />
„die“ Rechtschreibreform all die Jahre über „ins Werk gesetzt“ worden sei, ist auch<br />
reichlich unbestimmt ausgedrückt. Eine Handvoll Reformwilliger bastelte eben seit<br />
Jahrzehnten an Reformplänen, aber es gab keinen dringenden Grund für Außenstehende,<br />
sich darum zu kümmern.<br />
31 Strunk 1992, S. 313.<br />
32 Scheuringer 1996, S. 79.<br />
33 Die Rechtschreibung des Deutschen und ihre Neuregelung. Hg. v. d. Kommission für<br />
Rechtschreibfragen. Düsseldorf 1985, S. 47.<br />
34 Scheuringer 1996, S. 131.<br />
35 SZ 28.10.1995.<br />
22
Ein Jahr später verhöhnte der bayerische Kultusminister seinerseits die Unterzeichner<br />
der „Frankfurter Erklärung“, sie hätten geschlafen oder kämen wohl von einem<br />
längeren Auslandsaufenthalt zurück.<br />
Als die Ostberliner Sprachwissenschaftler Fuhrhop, Steinitz und Wurzel einen<br />
reformkritischen Beitrag über die erst auszugsweise bekannten Reformpläne von 1994<br />
im Sprachreport des Instituts für deutsche Sprache (IDS) veröffentlichen wollten,<br />
wurden sie abgewiesen. 36 Klaus Heller weigerte sich in seiner Replik, auf den Inhalt<br />
einzugehen, denn die Diskussion sei abgeschlossen. Wer das „Angebot“, sich zu den<br />
1992 vorgelegten Vorschlägen zu äußern, nicht wahrgenommen habe, könne jetzt nicht<br />
mehr gehört werden. Seit 21 Jahren seien „Forschungsergebnisse, Überlegungen und<br />
Vorschläge zu diesem Gegenstand ständig publiziert und zum Teil ausgiebig diskutiert<br />
worden“. Heller übergeht, daß der 1994 vorgelegte Entwurf in dieser Form noch nie<br />
zuvor veröffentlicht worden war und daher auch nicht diskutiert werden konnte. Aus<br />
Hellers Brief geht hervor, daß der Protest nicht erst 1996 zu spät kam, sondern auch<br />
zwei Jahre vorher, unmittelbar nach der Dritten Wiener Konferenz, zu spät gekommen<br />
wäre, weil eine Diskussion des endgültigen Reformplanes überhaupt nie ins Auge<br />
gefaßt worden war. Interessant sind auch die weiteren Angaben. 1974 also hätte man<br />
sich in die Reformdiskussion einschalten müssen, lange vor der staatlichen<br />
Beauftragung des Internationalen Arbeitskreises. Aus dieser Äußerung spricht auch der<br />
Expertendünkel eines Wissenschaftlers, der ein Vierteljahrhundert nichts anderes als<br />
Orthographieforschung getrieben hat.<br />
Der Reformer Horst Sitta schreibt im Sammelband von Eroms/Munske „Die<br />
Rechtschreibreform – Pro und Kontra“ (1997):<br />
„Ich beteilige mich nicht ohne Zögern an einem Buch, das den Titel trägt: Die<br />
Rechtschreibreform – Pro und Kontra. Die Rechtschreibreform ist von den<br />
politisch zuständigen Stellen beschlossen; man möge nicht so tun, als könne es<br />
noch um pro und kontra gehen. Gehen kann es allenfalls um die Frage, wie die<br />
beschlossene Neuregelung realisiert werden kann und wie diese Realisierung<br />
wissenschaftlich zu begleiten ist.“ 37<br />
Nachdem Sitta, der die Reform geschickter als seine Mitreformer privat vermarktet,<br />
die Sache unter Dach und Fach hat, möchte er jede Diskussion darüber als illegitim<br />
hinstellen – ein Jahr vor dem Inkrafttreten.<br />
Zur Überrumpelung gehört auch die Ansetzung scheinbar großzügiger Übergangsfristen.<br />
Niemand braucht sich schon 1996 aufzuregen, wenn es erst im Jahre 2005<br />
wirklich ernst wird. In Wirklichkeit entschied sich alles in den ersten Wochen. Der<br />
vorgezogene Beginn wurde von den Kultusministern mit dem angeblichen Wunsch der<br />
Eltern gerechtfertigt, ihre Kinder sollten doch nicht mehr in der alten Rechtschreibung<br />
unterwiesen werden, wenn ohnehin bald eine neue gelernt werden müsse. Ob Eltern<br />
dies je gesagt haben, läßt sich kaum noch feststellen. Es wäre auch ohne Belang; denn<br />
der Wille der Eltern spielte im weiteren Fortgang der Reform keine Rolle mehr, soweit<br />
er nicht vor Gericht durchgesetzt werden konnte.<br />
Die GEW schreibt in ihrer Stellungnahme für das Bundesverfassungsgericht vom<br />
November 1997:<br />
36 Der Beitrag erschien dann in der Zeitschrift für germanistische Linguistik 23, 1995. Ebd.<br />
auch Hellers Replik.<br />
37 A.a.O. S. 219.<br />
23
„Die GEW begrüßt den frühestmöglichen Vorgriff auf die Reform. Ein Unterrichten<br />
von Regeln, die in kurzer Zeit als überholt bezeichnet werden müssten,<br />
verstößt gegen die Würde der Lehrenden und der Lernenden.“<br />
Wenn ein Staat beschließt, vom Linksverkehr auf den Rechtsverkehr umzustellen, wird<br />
es niemand als Verstoß gegen seine Würde empfinden, daß er nicht schon vor dem<br />
vereinbarten Stichtag die Fahrbahn wechseln darf. Die lange Übergangsphase von<br />
1998 bis 2005 sollte ja gerade dazu dienen, sich allmählich und sanktionsfrei<br />
umzustellen. „Überholt“ wäre die bisherige Regelung erst 2005. Die vorfristige<br />
Einführung gehörte offensichtlich zum Gesamtplan: vollendete Tatsachen schaffen, um<br />
schon nach wenigen Wochen sagen zu können, jeder Einspruch komme nun zu spät.<br />
Übrigens waren die von der Kommission in ihrem „Bericht“ vom Dezember 1997 für<br />
„unumgänglich notwendig“ erklärten tiefgreifenden Veränderungen des Regelwerks<br />
aufgrund einer KMK-Entscheidung nur aufgeschoben. Es findet, wie wir sehen<br />
werden, inzwischen genau das statt, was in den Augen der GEW gegen die Würde der<br />
Lehrenden und Lernenden verstößt.<br />
Die Reformer berufen sich gern auf eine Anhörung, die im Mai 1993 im Wissenschaftszentrum<br />
Bonn/Bad Godesberg stattgefunden hat. Dadurch sei der Öffentlichkeit<br />
und den interessierten Verbänden die Möglichkeit gegeben worden, auf die<br />
Neuregelung einzuwirken. Zwar hätten viele eingeladene Institutionen (darunter die<br />
Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung, die allerdings nach Mitteilung ihres<br />
Präsidenten von einer Einladung nichts weiß) die Teilnahme verweigert, doch das sei<br />
deren eigene Schuld. Auf die Umstände dieser Anhörung 38 soll hier nicht eingegangen<br />
werden, sie bedürfen zum Teil noch der Aufklärung. Fest steht jedoch, daß der<br />
verhandelte Entwurf in weiten Bereichen nicht mit der 1994 beschlossenen Fassung<br />
übereinstimmte. Die Legende von der langen und breiten demokratischen Vorbereitung<br />
wandert gleichwohl durch die offiziellen Verlautbarungen und findet sich auch im<br />
Beschluß des OVG Schleswig vom 13.8.1997.<br />
Ist eine „Nachbesserung“ des Regelwerks möglich und zu erwarten?<br />
Die Kritik hat nachgewiesen, daß die Neuregelung keines ihrer Ziele auch nur<br />
annähernd erreicht, statt dessen aber in allen Teilbereichen mehr oder weniger<br />
fehlerhaft ist. Da es versäumt wurde, das Regelwerk der praktischen Erprobung und<br />
der wissenschaftlichen Kritik auszusetzen, ist die Möglichkeit versperrt, irgendeine<br />
substantielle und nicht nur redaktionelle Veränderung vorzunehmen, ohne daß die<br />
politischen Vereinbarungen gebrochen und Neuverhandlungen notwendig würden.<br />
Die aber werden von den verantwortlichen Politikern ebenso wie von den Reformern<br />
selbst zu Recht gefürchtet, da es kaum vorstellbar ist, daß die inzwischen hellhörig und<br />
einigermaßen sachkundig gewordene Öffentlichkeit eine solche Reform noch einmal<br />
durchgehen lassen würde. Manche Kultusminister haben denn auch schon bekundet,<br />
ein zweites Mal würden sie so etwas nicht unter<strong>schreiben</strong>. Es gibt praktisch niemanden<br />
mehr, der die Neuregelung für rundum gelungen hielte. Jede Änderung der Regeln<br />
würde außerdem bedeuten, daß etwa zehn Millionen bereits verkaufte neue<br />
38 „Eine der umfangreichsten Anhörungen“ soll sie nach Minister Zehetmair gewesen sein<br />
(dpa-Dienst für Kulturpolitik vom 3.11.1997). Besonders Zabel betreibt die mythische<br />
Verklärung dieser Veranstaltung, gibt aber zu, daß ihr öffentliches Echo „vergleichsweise<br />
bescheiden“ ausfiel (Zabel 1996, S. 67).<br />
24
Wörterbücher und ein Vielfaches von umgestellter Literatur anderer Art von heute<br />
auf morgen unbrauchbar würden. 39 Die einschlägig tätigen Verlage versuchen dem<br />
begreiflicherweise entgegenzuwirken.<br />
Im Frühjahr 1997 wurde die verspätet einberufene zwischenstaatliche Rechtschreibkommission<br />
40 mit der Erarbeitung einer Liste von Zweifelsfällen beauftragt:<br />
„Die Kultusminister der Länder halten es im Interesse der Sache und aller<br />
Beteiligten für erforderlich, daß in möglichst kurzer Frist – am besten noch vor<br />
Beginn des neuen Schuljahres – durch die Kommission eine Liste<br />
unterschiedlicher Schreibungen, insbesondere im Bereich der Getrennt- und<br />
Zusammenschreibung und der Groß- und Kleinschreibung, vorgelegt wird,<br />
welche die notwendigen Entscheidungen auf der Grundlage der Neuregelung<br />
enthält.“ 41<br />
Der Vorsitzende der Rechtschreibkommission Augst verkündete in einem Interview mit<br />
dem „Rheinischen Merkur“ vom 30. Mai 1997, daß die Kommission die Zweifelsfälle<br />
„bis zum 1. August 1998 klären“ werde. Die Liste ist nie erschienen. Zwar wurden<br />
dann gewisse Korrekturvorschläge besonders zur Getrennt- und Zusammenschreibung<br />
tatsächlich ausgearbeitet, im Dezember 1997 vorgelegt und zum Gegenstand einer<br />
Anhörung im Januar 1998 gemacht. Aber die Geschwindigkeit, mit der die<br />
Kommission die angeblichen Resultate dieser Anhörung in ihren Entwurf einarbeitete<br />
(oder vielmehr nicht einarbeitete), deutet darauf hin, daß an eine wirkliche<br />
Berücksichtigung der Kritik nie gedacht war. Die Fundamente der Reform wollte man<br />
sich ohnehin nicht nehmen lassen. Dieter Nerius schrieb im Herbst 1997:<br />
„Ernsthafte, linguistisch begründete Kritik an der Neuregelung muß man<br />
ernsthaft prüfen und gegebenenfalls berücksichtigen, soweit sich das mit dem<br />
Gesamtkonzept der Reform vereinbaren läßt.“ 42<br />
Das ganze Reformunternehmen ist eben von Anfang an ausschließlich von unbedingt<br />
Reformwilligen betrieben worden; das „Gesamtkonzept“ ist und bleibt jeder Kritik<br />
entzogen. 43 In einem vorgedruckten Standardbrief, den die Rechtschreibkommission an<br />
Ratsuchende verschickt, heißt es:<br />
„Wir möchten Sie darauf aufmerksam machen, dass nach der Unterzeichnung der<br />
Gemeinsamen Erklärung in Wien weitere Änderungen vorerst grundsätzlich nicht<br />
mehr möglich sind.“<br />
39 Wie weiter unten gezeigt wird, ist dieser Fall inzwischen tatsächlich eingetreten.<br />
40 Eine solche Kommission war schon zehn Jahre zuvor ins Auge gefaßt worden. Sie wurde<br />
praktischerweise weitgehend mit den Reformern selbst besetzt, weil sie am besten<br />
geeignet seien, eine authentische Interpretation ihres Werkes zu leisten.<br />
41 KMK-Vorsitzender Wernstedt bei der konstituierenden Sitzung der Kommission am<br />
25.3.1997.<br />
42 Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 4/1997, S. 127; Hervorhebung<br />
hinzugefügt. Das grundlegende Werk der neueren deutschen Orthographieforschung<br />
stammt von Nerius und trägt den bezeichnenden Titel „Untersuchungen zu einer Reform<br />
der deutschen Orthographie“ (Berlin 1975). Ein großer Teil der Orthographieforschung<br />
wird seither unter dem Aspekt der Reform betrieben, deren Notwendigkeit als<br />
unumstößliche Prämisse gilt. Auch die „Kommission für Rechtschreibfragen“ beim IDS<br />
hieß noch 1976 „Kommission für Rechtschreibreform“.<br />
43 Auf die bedenkliche Art und Weise der Rekrutierung der Reformer weist Horst H.<br />
Munske in „Kunst & Kultur“ 1/1998 hin.<br />
25
Damit wird nicht nur die aus der Not geborene Selbstfesselung der irregeleiteten<br />
Reformer zutreffend beschrieben, sondern auch der Beunruhigung wegen etwa<br />
bevorstehender Änderungen mit ihren weitreichenden Folgen vorgebaut. Auch aus<br />
mehreren Interviews des Kommissionsvorsitzenden geht hervor, daß er die<br />
Notwendigkeit von Änderungen zwar einsieht, diese Änderungen aber erst nach dem<br />
Inkrafttreten der Neuregelung allmählich eingeführt wissen wollte – wie er denn<br />
überhaupt eine permanente Reform der deutschen Orthographie für erstrebenswert<br />
hält. Mit dieser Strategie, die das Scheitern der Reform eine Zeitlang zu verschleiern<br />
versprach, fand er bei den Kultusministern offene Ohren.<br />
Im Oktober 1997 wurde bekanntgegeben, daß sich die Rechtschreibkommission mit<br />
den wichtigsten Wörterbuchverlagen auf eine gemeinsame Linie zunächst bei der<br />
Silbentrennung einigen werde. Auch dies könnte nur auf einen Bruch mit dem<br />
Regelwerk hinauslaufen, denn die Regeln sind gerade in diesem Bereich leider nur zu<br />
eindeutig. Sollten sich die Lexikographen mit den Reformern zum Beispiel darauf<br />
einigen, von den verwirrend zahlreichen Trennmöglichkeiten nur einige wenige<br />
zuzulassen, so würden sie gegen das Regelwerk verstoßen und könnten für ihre<br />
inoffiziellen Absprachen keinerlei Verbindlichkeit beanspruchen.<br />
Einerseits also sind umfassende Nachbesserungen der Reform unabweisbar notwendig<br />
und würden das Gesamtgebäude bis in die Grundmauern erschüttern, andererseits sind<br />
sie aus politischen und ökonomischen, ja auch psychologischen Gründen so gut wie<br />
undurchführbar. Eine Rücknahme der gesamten Reform wäre das kleinere Übel, weil<br />
• bei einer Fortsetzung des Projekts der größte Teil der Kosten erst in Zukunft<br />
anfallen wird, mithin durch eine Notbremsung noch vermieden werden könnte,<br />
• die bereits geänderten Schulbücher nur bei einem Reformstopp noch aufgebraucht<br />
werden könnten, während sie nach einer nochmaligen Änderung gerade an den<br />
Stellen fehlerhaft wären, an denen sie es auf keinen Fall sein dürften,<br />
• die Einheit der deutschen Orthographie auf Jahrzehnte zerstört wäre, während sie<br />
zum jetzigen Zeitpunkt auf der Grundlage der in den allermeisten Büchern<br />
praktizierten Schreibweise noch gerettet werden könnte.<br />
Wie seriös sind die Befürworter der Reform?<br />
Die Reformer nehmen für sich in Anspruch, sachlich zu argumentieren, während sie<br />
den Kritikern nachsagen, „unsachlich“ oder „emotional“ zu reagieren, die Reformer zu<br />
„verunglimpfen“ usw. Die Melodie ist wohlbekannt: Vor vierzig Jahren wiederholte<br />
der damalige Anführer der Kleinschreibungsfront, Leo Weisgerber, in seinem entsprechend<br />
betitelten Büchlein („Die Verantwortung für die Schrift“) wohl mehr als<br />
hundertmal, er selbst und seine Mitstreiter handelten „verantwortlich“, die Gegner<br />
jedoch seien „verantwortungslos“, „Hörige“ der Schreibkonvention, die „roboterhaft“<br />
reagierten, wenn man ihnen Verbesserungen vorschlage.<br />
Der Verband der Schulbuchverlage lobte die Reform in einem Schreiben an die<br />
Abgeordneten des Deutschen Bundestages vom 23.6.1997 ohne nähere Begründung<br />
und wies die Kritik daran gleichzeitig als „häufig unsachlich, überzogen und falsch“<br />
zurück. Jene Schriftsteller, die die Frankfurter Erklärung unterzeichnet hatten, wurden<br />
vom Institut für deutsche Sprache (IDS) als Psychopathen dargestellt (Presseerklärung<br />
26
„Was manche Schriftsteller alles nicht wissen“ vom 17.10.1997, vgl. die<br />
psychologisierenden Passagen im „Bericht“ der Kommission vom Dezember 1997).<br />
Die namhaftesten deutschen Schriftsteller, Germanisten und Verleger mußten sich nach<br />
ihrer „Frankfurter Erklärung“ als Stammtisch-Schwätzer und Schlafmützen darstellen<br />
lassen, die gerade von einem längeren Auslandsaufenthalt zurückgekehrt und daher<br />
über die beste Rechtschreibreform aller Zeiten 44 nicht im Bilde zu sein schienen.<br />
Um die Gegner der Reform lächerlich zu machen, konzentrieren sich die Reformer<br />
gern auf gelegentliche Fehler und Versehen, die dem einen oder anderen Kritiker<br />
(ebenso wie den Verteidigern) der Reform unterlaufen. Viele Journalisten benutzen<br />
Beispiele, die zwar vor einiger Zeit geplant waren (Asfalt, Rytmus, Restorant),<br />
inzwischen aber aus den Reformvorlagen wieder entfernt wurden. Immerhin sind es<br />
meistens Änderungsvorschläge, die nicht von den Kritikern frei erfunden, sondern von<br />
den Reformern selbst in vollem Ernst vorgelegt und nur aufgrund höherer Gewalt,<br />
nämlich vor allem des Einspruchs der Politik, aufgegeben worden waren. Die<br />
Berufung auf solche Beispiele kann also nicht von vornherein als lächerliche Verirrung<br />
angesehen werden. 45<br />
Als einem sonst wohlinformierten Journalisten einige wenige falsche Beispiele<br />
unterlaufen waren, stürzte sich die Mannheimer Rechtschreibkommission sofort darauf<br />
und gab noch am selben Tag (7.6.97) in einer Presseerklärung bekannt:<br />
„Die Kommission weist (...) alle Verunglimpfungen entschieden zurück und<br />
wendet sich nachdrücklich gegen verzerrende Darstellung der Regeln und falsche<br />
Beispiele, die lediglich der Polemik dienen. So sind zum Beispiel von den<br />
Kritikern angeführte Trennungen, wie Misss-tand (richtig: Miss-stand) oder<br />
kus-secht (richtig: kuss-echt) unsinnig und falsch.“<br />
Aus dem winzigen Lapsus eines einzelnen werden „von den Kritikern angeführte<br />
Trennungen“. Diese kleinliche, für ein staatlich finanziertes Forschungsinstitut geradezu<br />
unwürdige Vorgehensweise 46 erweckt den Eindruck, als seien die Versehen<br />
typisch und als gebe es nicht seit langem zahllose ernstzunehmende Einwände gegen<br />
die Reform.<br />
Die Reformer ergehen sich seit Jahren in Selbstlob und bezeichnen jede Kritik als<br />
44 Zu dieser Selbsteinschätzung der Reformer s. mein „Schildbürger“-Buch, S. 157. – Daß<br />
das deutsche Feuilleton solche Ausfälligkeiten von Kultusministern schweigend hinnahm<br />
oder gar mit Beifall bedachte, ist unbegreiflich.<br />
45 Der damalige Vorsitzende des Bundeselternrates, Peter Hennes, versandte noch im<br />
Oktober 1997 (übrigens auf Kosten des rheinland-pfälzischen Innenministeriums, dem er<br />
als Beamter dient und dessen „Infrastruktur“ er, wie er mir schrieb, für seine Verbandsarbeit<br />
mitbenutzt) Propagandamaterial, in dem längst zurückgenommene Neuschreibungen<br />
von 1995 (Reuma usw.) vorgestellt werden. Dieter E. Zimmer bezeichnet in der<br />
„Zeit“ vom 14.11.1997 Katastrofe als „Phantasieschreibung“; es steht aber in der<br />
Neuregelung von 1995!<br />
46 Auch die Kultusminister und ihre Ministerialbeamten lassen kaum eine Gelegenheit aus,<br />
orthographische Fehler in Briefen reformkritischer Bürger zu bespötteln (vgl. etwa<br />
„Bayernkurier“ vom 20.9.1997) – obwohl gewöhnliche Bürger doch, wie stets beteuert<br />
wird, nicht verpflichtet sind, der staatlich verordneten Norm zu folgen, und obwohl es<br />
keineswegs widersprüchlich ist, von offiziellen und professionellen Texten einen<br />
orthographischen Standard zu erwarten, der über die eigenen, möglicherweise<br />
bescheideneren Fähigkeiten hinausgeht.<br />
27
„Verunglimpfung“. Ihre politischen Auftraggeber verweisen Fragesteller und Kritiker<br />
stets an die Mannheimer Kommission als den einzig legitimen Ort, Rechtschreibfragen<br />
zu diskutieren. Damit haben sich die Kulturpolitiker allerdings selbst vollkommen in<br />
die Hand der Reformer gegeben und von deren Informationsmanagement abhängig<br />
gemacht. Als die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung sich erkühnte, eine<br />
eigene Rechtschreibkommission zu gründen, wurde dies in Mannheim als Ketzerei<br />
empfunden und mit entsprechenden Kommentaren bedacht.<br />
Die ständigen Mahnungen zur „Sachlichkeit“ laufen so sehr ins Leere, daß man einer<br />
Diskussionsteilnehmerin recht geben möchte, die den Mahnern folgendes<br />
entgegenhielt:<br />
„Was verstehen Sie unter den gutdeutschen Worten ,Sachlichkeit‘, ,sachliche Auseinandersetzung‘<br />
und ,sachliche Begründung‘? Es liegt gegen die Rechtschreibreform<br />
eine Fülle ernstzunehmender, von maßgeblicher Seite vorgetragener und<br />
begründeter Argumente vor. Diese Argumente beinhalten Tatsachen und stehen in<br />
sachlichem Zusammenhang mit der Sache Rechtschreibreform. Trotzdem wird<br />
von Ihrer Seite immer wieder sowohl die Kritik pauschal als auch der einzelne<br />
Kritiker als unsachlich und emotional abgetan. Anstatt sich mit den<br />
vorgebrachten Argumenten auseinanderzusetzen, wird stereotyp eine<br />
,Versachlichung‘ und eine ,sachliche Diskussion‘ gewünscht, obwohl diese<br />
meines Erachtens von seiten der Kritiker längst im Gange ist.“<br />
Dieses Zitat habe ich allerdings leicht verändert: Statt „Rechtschreibreform“ heißt es<br />
im Original „Rahmenrichtlinien“, und es handelt sich um den Diskussionsbeitrag einer<br />
Frau aus dem Volk gegen den Deutschdidaktiker und Chefideologen der Hessischen<br />
Rahmenrichtlinien, Hubert Ivo, aus dem Jahre 1973. 47 Es ist kein Zufall, daß sich<br />
seither nichts geändert zu haben scheint. Die Rechtschreibreform leitet sich, obwohl<br />
fast bis zur Unkenntlichkeit verwässert, immer noch aus jenem Geist der<br />
emanzipatorischen Pädagogik her, wofür insbesondere die alles überdauernde Figur<br />
des Reformers Augst bürgt.<br />
Die Lehrer werden zu „Gelassenheit“ gemahnt, besonders von den Kultusministern,<br />
vom Chef der Dudenredaktion und von den Schulbuchverlagen, die in Ruhe Geschäfte<br />
machen wollen.<br />
„Seit dem Schuljahr 1996/97 lernen Millionen von Schülern und lehren viele<br />
tausend Lehrer nach den neuen Regeln. Sie tun dies mit Erfolg, wie es<br />
Schülertests beweisen, und mit großer Gelassenheit.“<br />
So der Verband der Schulbuchverlage e.V. in einem Schreiben vom 23. Juni 1997 an<br />
alle Abgeordneten des Deutschen Bundestages. Utz Maas stellt jedoch mit Recht fest,<br />
daß die „Gelassenheit“, mit der man sprachwissenschaftliche Kontroversen beobachtet,<br />
„gegenüber Instanzen der Verstaatlichung der Rechtschreibung“ nicht angebracht sei. 48<br />
Einen denkwürdigen Einblick in die menschlich-allzumenschlichen Hintergründe der<br />
Reform eröffnet ein jüngst veröffentlichter Bericht von Gerhard Augst über die<br />
Unterzeichnung der Wiener Absichtserklärung:<br />
„Es war für mich ein bewegender Augenblick, aus der zweiten Sitzreihe – neben<br />
47 Jahrbuch der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung 1973, Heidelberg 1974, S.<br />
168.<br />
48 Augst et al. (Hg.) 1997, S. 360.<br />
28
den Mitstreitern Blüml, Heller, Ebner und Sitta – mitzuerleben, wie neun Beauftragte<br />
– darunter leibhaftige Ministerinnen und Minister – die ,Gemeinsame<br />
Absichtserklärung zur Neuregelung der deutschen Rechtschreibung‘ am 1. Juli in<br />
Wien unterzeichnet haben. 1973 hatte ich zum ersten Mal etwas zur Rechtschreibreform<br />
geschrieben. Sah es damals durch den Frankfurter Kongreß<br />
,<strong>vernünftig</strong>er <strong>schreiben</strong>‘ nach baldiger Reform aus, so vergingen nun doch noch<br />
23 Jahre schwieriger Arbeit mit einem Auf und Ab der Gefühle, vielen<br />
Verunglimpfungen (,Honeckers fünfte Kolonne‘), aber auch Ermutigungen<br />
durchzuhalten, vor allem aus der ersten Reihe.“ 49<br />
Im gleichen Text verschweigt Augst durchaus nicht, daß er „viele geliebte<br />
Reformziele“ hatte aufgeben müssen. Die am heißesten „geliebten“ (!) Ziele waren die<br />
Kleinschreibung der Substantive, die Tilgung der Dehnungszeichen, die Einheitsschreibung<br />
das und die Fremdworteindeutschung. Da die Neuregelung in allen diesen<br />
Punkten nun gerade das Gegenteil vorsieht, muß man annehmen, daß es Augst mehr<br />
noch als um die Reformziele um sein Lebensziel ging: sich als Reformer der deutschen<br />
Orthographie, ganz gleich in welcher Richtung, einen Namen zu machen. Daher die<br />
Verklärung jener Szene, in der die Mächtigen etwas unterzeichneten, was er, Augst,<br />
zuwege gebracht hatte. Daher auch der heiße Dank des Mannes in der zweiten Reihe<br />
an die Männer in der ersten. Das bemerkenswerte Bekenntnis lädt förmlich dazu ein,<br />
auch einmal die biographischen Hintergründe der Reform zu durchleuchten, den Sieg<br />
von Ehrgeiz und Opportunismus über die Prinzipientreue der ausgeschiedenen<br />
„Mitstreiter“ (B. Weisgerber, Mentrup).<br />
Tricks und Finten<br />
1. Wie viele Regeln sind es?<br />
In einem undatierten internen Papier der Dudenredaktion heißt es:<br />
„Neuregelung: Das amtliche Regelwerk ist in 112 Hauptregeln gegliedert.<br />
Umsetzung: Die Dudenrichtlinien werden auch künftig Hinweise enthalten, die<br />
über den rein orthographischen Bereich hinausgehen. Durch Neustrukturierung<br />
und vor allem durch Zusammenfassung einzelner Regeln und Regelbereiche wird<br />
die Zahl der Richtlinien von 212 auf 136 gesenkt.<br />
Begründung: Die inhaltlich falsche, aber politisch wirksame Formel ,aus 212<br />
mach 112‘ muß auch im Duden ihren angemessenen Ausdruck finden.“<br />
Die Dudenredaktion bekannte sich also zur Mitwirkung an einem Täuschungsmanöver.<br />
(Erst mit der zweiten Auflage im Jahre 2000 wird die Camouflage aufgegeben; s. u.)<br />
Auch der Vorsitzende der KMK, Rolf Wernstedt, behauptete noch im Herbst 1997, die<br />
212 Dudenregeln seien auf 112 reduziert worden. 50<br />
Zunächst ist schon die Zahl 212 falsch. Von den 212 Regeln des Duden beziehen sich<br />
26 gar nicht auf orthographische Fragen, 6 sind Doppelanführungen (wegen der<br />
alphabetischen Anordnung), und weitere 9 werden ausdrücklich als bloße Zusammenfassung<br />
der Kommaregeln dargestellt. Es gibt also nur 171 numerierte<br />
49 Hiltraud Strunk [Hg.]: Documenta orthographica. Die Stuttgarter und Wiesbadener<br />
Empfehlungen Bd. 1, Hildesheim 1998, S. XVIIf.<br />
50 Offenburger Tageblatt vom 16.10.1997.<br />
29
orthographische Regeln und nicht 212. 51<br />
Im übrigen betrifft diese Zahl ebenso wie die Zahl 112 für das neue Regelwerk nur die<br />
Numerierung und nicht die wirkliche Anzahl der Regeln, die im Falle der<br />
Neuregelung weit über 1000 liegt (nach einer Untersuchung von Werner H. Veith).<br />
Ebenso unsinnig ist die Behauptung, 52 Kommaregeln seien auf 9 reduziert worden. In<br />
Wirklichkeit haben die neuen Kommaregeln den gleichen Umfang wie die alten (rund<br />
10 DIN-A4-Seiten), nur die Numerierung hat sich geändert. Ein besonders<br />
eindrucksvolles Beispiel dafür, wie man die Zahl der Paragraphen, nicht aber die Zahl<br />
der Regeln vermindert, ist wohl § 96: „Man setzt den Apostroph in drei Gruppen von<br />
Fällen.“ – eine Regel ohne jeden Gehalt, der vielmehr erst in den Unterregeln geboten<br />
wird.<br />
Prüfen wir die angebliche „Reduzierung“ der Regeln am Beispiel der Groß- und Kleinschreibung<br />
nach, so stellen wir fest, daß die Zahl der wirklich identifizierbaren Regeln<br />
sich zwischen Duden und Neuregelung von höchstens 82 auf 96 erhöht hat!<br />
2. Das Mogeldiktat<br />
Mit dem Argument, die Schüler bekämen aufgrund der Neuregelung bessere Noten,<br />
warb das bayerische Kultusministerium eine Zeitlang. Toni Schmid, der Pressesprecher<br />
des Ministeriums und einer der tatkräftigsten „Durchsetzer“ der Reform, schrieb<br />
folgendes:<br />
„Bei der Korrektur eines von 650 bayerischen Schülern geschriebenen Diktats<br />
nach den neuen Regeln war die Fehlerzahl um deutlich mehr als die Hälfte<br />
geringer als bei der Korrektur nach den bisherigen Regeln. Dem Rechtschreibgefühl<br />
junger Menschen scheint die neue Regelung entgegenzukommen.“ 52<br />
Darüber hatte eine Zeitung zuvor schon berichtet:<br />
„Ein Probe im letzten Schuljahr bei 700 bayerischen Schülern, die nicht über den<br />
Zusammenhang mit der neuen Rechtschreibung informiert waren, wurde doppelt<br />
korrigiert: einmal nach den neuen, einmal nach den alten Regeln. Das Ergebnis:<br />
eine um einen Grad bessere Durchschnittsnote bei der Korrektur nach den neuen<br />
Regeln.“ 53<br />
Das Probediktat, auf das sich die sensationelle Meldung und zahlreiche Verlautbarungen<br />
des bayerischen und anderer Kultusministerien beziehen, ist von dem Reformer<br />
Burkhard Schaeder verfaßt und war lange Zeit nur vom Hörensagen bekannt. Es hat<br />
folgenden Wortlaut:<br />
Ein Alptraum. Gestern nacht hatte ich einen schrecklichen Traum. Nach den<br />
Schularbeiten wollte ich radfahren, als plötzlich ein Riese vor mir im Zimmer<br />
stand. Er stellte zehn Becher Joghurt vor mir auf den Tisch und forderte mich<br />
auf, sie zu essen. Anschließend sollte ich die Becher numerieren und aufeinanderstapeln.<br />
Kaum hatte ich den ersten Becher ausgelöffelt, da standen zwanzig<br />
51 Die falschen Zahlen stehen schon in den „Informationen“ der KMK vom 1.12.1995,<br />
gehören also wohl zu den Voraussetzungen, von denen die Kultusminister bei ihrem<br />
Reformbeschluß ausgingen.<br />
52 Sage und Schreibe 162/1997, S. 23.<br />
53 AZ 9.10.1996.<br />
30
neue auf dem Tisch. Und so ging es weiter, bis das ganze Zimmer mit<br />
Joghurtbechern angefüllt war. Ich schrie vor Angst und wachte auf. Vor mir stand<br />
meine Mutter, beruhigte mich und meinte, daß es das beste wäre, diesen Traum<br />
schnell zu vergessen.<br />
Anstelle der bunten Fülle wirklicher Fehler, wie sie in echten Schülertexten (z. B. Aufsätzen)<br />
vorkommen, hat Schaeder hier ein paar derjenigen Stolpersteine ausgewählt,<br />
deren Fehlschreibung nach der geplanten Neuregelung keine mehr sein soll: Alptraum<br />
(Alptraum/Albtraum), gestern nacht (Nacht), radfahren (Rad fahren), Joghurt<br />
(Joghurt/Jogurt), numerieren (nummerieren), aufeinanderstapeln (aufeinander<br />
stapeln), das beste (das Beste) sowie zwei erweiterte Infinitive mit einem Komma, das<br />
(angeblich! – s. u.) künftig wegfallen kann. Auf diesem methodisch völlig indiskutablen<br />
Wege läßt sich leicht erreichen, daß die Fehlerquote drastisch sinkt. Zur sofort<br />
erkennbaren methodischen Unzulässigkeit kommt noch folgendes hinzu: Bei gestern<br />
nacht unterliegen Anfänger natürlich einer gewissen Verführung, Nacht groß zu<br />
<strong>schreiben</strong>, womit sie – auch ohne Kenntnis irgendeiner Regel – der geplanten<br />
Neuregelung zufällig gerecht werden. Zur Kontrolle hätte man eine Fügung wie<br />
Sonntag nacht einfügen müssen, wo derselbe Mechanismus zu einer Schreibung<br />
geführt hätte, die auch nach der Neuregelung falsch wäre: Sonntag Nacht statt<br />
Sonntagnacht. Schaeder selbst hat den Diktattest ausgewertet und dabei gefunden, daß<br />
in einer achten Klasse insgesamt 124 Fehler gemacht wurden, von denen nach einer<br />
Reform 43 übriggeblieben wären. Natürlich <strong>schreiben</strong> die 14jährigen das beste und<br />
nacht überwiegend groß und numerieren mit zwei m – etwas anderes ist nicht zu<br />
erwarten, bevor sie mehr Leseerfahrung oder einen besseren Unterricht genossen<br />
haben. Dabei zählt Schaeder auch noch falsch, da er die Bindestrich-Schreibung<br />
Joghurt-Becher als Fehler wertet; die alte Dudenregel R 33 („Zusammengesetzte<br />
Wörter werden gewöhnlich ohne Bindestrich geschrieben“) läßt einen solchen<br />
Bindestrich durchaus zu (vgl. auch Nerius: Die Neuregelung der deutschen<br />
Rechtschreibung. Berlin 1996, S. 51). Außerdem wertet Schaeder das letzte Komma<br />
als fakultativ; es ist aber nach der Neuregelung (§ 77[5]) obligatorisch! Daß nicht<br />
weniger als 13 von 22 Schülern in diesem Kontext Radfahren geschrieben haben, ist<br />
sonderbar. Übrigens ist Rad fahren kein Fehler. Die Dudenregel R 207 bestimmt:<br />
„Man schreibt ein Substantiv mit einem Verb zusammen, wenn das Substantiv<br />
verblaßt ist und die Vorstellung der Tätigkeit vorherrscht.“ Damit ist radfahren<br />
zulässig, Rad fahren aber nicht unzulässig, denn dies läßt sich jederzeit frei<br />
konstruieren, „unverblaßt“ sozusagen. Im Wörterbuch braucht es nicht zu stehen;<br />
Fahrrad fahren steht ja auch nicht drin. Ähnlich könnte man aufeinander stapeln nicht<br />
als Fehler, sondern als Nichtanwendung einer in R 205 angegebenen Möglichkeit<br />
betrachten. Schaeder jedoch bilanziert allein aufgrund dieser beiden Fälle, daß sich<br />
durch die Neuregelung die Fehlerzahl im Bereich Getrennt- und Zusammenschreibung<br />
von 14 auf 0 reduziere! Eine Fehlerverminderung um 100% läßt natürlich jeden<br />
Kritiker verstummen und übertrifft selbst die kühnsten Träume der Reformer.<br />
Nachdem das „Mogeldiktat“ (wie es alsbald hieß) durch meinen Leserbrief in der<br />
Süddeutschen Zeitung vom 22.3.1997 einer breiten Öffentlichkeit bekannt gemacht<br />
worden war, spielte es in der Diskussion um die angeblichen Vorzüge der Neuregelung<br />
keine Rolle mehr. Der Reformer Zabel freilich hat das Diktat samt Schaeders<br />
Korrektur in seinem Buch „Widerworte“ (1997) festgehalten, kaum zur Freude des<br />
Erfinders. – Übrigens waren sich schon in den fünfziger Jahren alle damaligen<br />
Reformer (Hugo Moser, Leo Weisgerber u. a.) einig, daß solche künstlichen Diktate<br />
31
nach dem Muster des „Kosogschen Diktats“ völlig wertlos sind. Dieses Urteil bestätigte<br />
Augst: „Der Wert solcher Diktate für die tatsächliche Rechtschreibleistung ist sehr<br />
gering.“ 54 Nur der Deutsche Philologenverband argumentierte in seiner Stellungnahme<br />
für das Bundesverfassungsgericht weiterhin mit einem derartigen Scherz-Artikel des<br />
Journalisten Dieter E. Zimmer. Daß sich die GEW in ihrer Stellungnahme vorbehaltlos<br />
auf das Schaedersche Diktat und sein phänomenales Ergebnis einer Fehlerverminderung<br />
um rund zwei Drittel bezieht, versteht sich von selbst.<br />
Der Eindruck, es würden weniger Fehler gemacht, beruht u. a. darauf, daß die Lehrer<br />
einfach weniger Fehler anstreichen – anzustreichen wagen, muß man wohl sagen. Das<br />
zeigten Nachkorrekturen von mehr als tausend Aufsätzen. Die wichtigsten Gründe:<br />
• Die Lehrer sind selbst verunsichert. Alle didaktischen Aufbereitungen der Reform<br />
sind fehlerhaft. Die Kommaregeln werden nicht einmal in den neuen Duden-<br />
Spezialwerken (Bd. 9 und Taschenbuch „Punkt, Komma und alle anderen<br />
Satzzeichen“) korrekt dargestellt. Außerdem begreift niemand, warum es neuerdings<br />
heißen soll des Weiteren, aber nach wie vor bis auf weiteres, zwar der Einzelne, aber<br />
nicht der *Andere usw.<br />
• Der zweite Grund geht besonders deutlich aus einem Rund<strong>schreiben</strong> des rheinlandpfälzischen<br />
Kultusministers Zöllner vom 1.12.1997 hervor. Darin werden die Lehrer<br />
angewiesen, alle in den neuen Wörterbüchern verzeichneten Angaben, und seien es<br />
die widersprüchlichsten, gelten zu lassen. 55 Auch dadurch sinkt die Fehlerzahl<br />
natürlich ganz erheblich – bei völlig identischen Leistungen.<br />
3. Der Fall Heller<br />
Die Kommission für deutsche Rechtschreibung verteilte anläßlich einer Pressekonferenz<br />
am 12. September 1997 in Mannheim einen Aufsatz, in dem ihr Geschäftsführer<br />
Klaus Heller „Das Märchen von tausendundeiner Differenz“ zu widerlegen versuchte.<br />
Er fahndete nach den Abweichungen, welche die Reformkritiker zwischen Duden und<br />
Bertelsmann festgestellt hatten, – und fand sie nicht! Wie geht das zu? Ganz einfach:<br />
Seit der meistverkauften 1. Ausgabe hat sich das Wörterbuch von Bertelsmann in<br />
Hunderten von Fällen stillschweigend an das Leitwörterbuch Duden angeglichen –<br />
besonders in der 10. Ausgabe (nicht „Auflage“ – es war immer noch die erste!), die<br />
immerhin den winzigkleinen Vermerk „neu durchgesehen“ trägt. Mehr als eine Million<br />
Bertelsmann-Käufer wußten nicht, daß sie ein längst überholtes Wörterbuch besaßen.<br />
(Im März 1999 erschien eine zweite Auflage, durch die 1,8 Mill. Bände der ersten<br />
endgültig wertlos wurden.) Daß auch die Fehler angeglichen wurden, z. B. die falsche<br />
Getrenntschreibung von wieder sehen, sei nur nebenbei erwähnt ... Klaus Heller<br />
erwähnt mit keinem Wort, daß er seinem Vergleich die bereits angeglichene<br />
Version des Bertelsmann zugrunde gelegt hat. 56<br />
54 Augst [Hg.] 1974, S. 43f.; vgl. auch Zabel 1996, S. 256.<br />
55 Der Text wird weiter unten wiedergegeben.<br />
56 Telefonisch versicherte Heller am 18.9.1997, von solchen Angleichungen wisse er nichts.<br />
Auch auf die Vorhaltung, mehr als eine Million Käufer befinde sich im Besitz eines ganz<br />
anderen, fehlerhaften „Bertelsmann“, antwortete der Bertelsmannautor und Geleitwortschreiber<br />
zum Bertelsmann-Wörterbuch mit „kann sein“ und „weiß ich nicht“. Erst auf<br />
meine Intervention hin veranlaßte er, daß wenigstens dem Abdruck seiner Arbeit in der<br />
32
Die KMK wiederum beruft sich in ihren „Informationen zur Neuregelung der<br />
deutschen Rechtschreibung“ vom 28.8.1997 auf diesen bewußt irreführenden Aufsatz,<br />
um das Problem der 1001 (und noch viel mehr!) Differenzen zwischen den<br />
Wörterbüchern zu verharmlosen. Die KMK trägt damit zur Täuschung der<br />
Öffentlichkeit bei und macht sich zum Handlanger derer, die an der Reform Geld<br />
verdienen. Dasselbe muß vom bayerischen Kultusministerium gesagt werden, das die<br />
Hellerschen Befunde in einem Rund<strong>schreiben</strong> vom 6.10.1997 an alle Schulen<br />
weiterverbreitete. 57 Das Institut für deutsche Sprache druckte gar noch im Dezember<br />
1997 eine Erklärung des Kommissionsvorsitzenden Augst vom August 1997, die sich<br />
auf den Güthert/Hellerschen Text als Beweismittel beruft, im „Sprachreport“ (4/97, S.<br />
10) ab. Im nächsten Heft (1/98, S. 17) distanzierte sich das Kommissionsmitglied Peter<br />
Eisenberg davon.<br />
4. Aus der Provinz<br />
Der Nürnberger Lehrer Klaus Koch berichtet in einem Beitrag für die Nürnberger<br />
Nachrichten (31.12.1996) folgendes:<br />
„,Endlich mal wieder eine Zwei‘, frohlockt die Achtkläßlerin der Wirtschaftsschule.<br />
Vor allem die Schlußbemerkung des Lehrers findet Julia hochinteressant.<br />
Da steht: ,Aufgrund der Anwendung der neuen Rechtschreibregeln<br />
sind elf Fehler weniger in Rechtschreibung und Zeichensetzung zu verzeichnen;<br />
die Arbeit ist daher mit ,gut‘ zu bewerten.‘“<br />
Diese Bemerkung ist in der Tat interessant. Nicht die Schülerin, sondern der Lehrer hat<br />
die neuen Regeln angewandt. Die Schülerin schreibt offenbar ebenso wie bisher, nur<br />
werden ihr weniger Fehler angerechnet. Die Leistung ist also objektiv gleich<br />
geblieben, sie wird nur nach einem neuen Maßstab bewertet. Das ließe sich allerdings<br />
auch ohne Rechtschreibreform erreichen: Das Ministerium braucht die Lehrer nur<br />
anzuweisen, bei zehn Fehlern statt einer Drei künftig eine Zwei zu geben.<br />
Auf Kochs Anregung schwärmten die Schüler aus, um Passanten zu befragen. Sie<br />
legten ihnen Stolpersteine der gültigen Rechtschreibung wie in bezug auf und von<br />
seiten vor und fanden erwartungsgemäß, daß die meisten Leute nach der alten<br />
Regelung falsch <strong>schreiben</strong>, was nach der neuen richtig sein soll. Von besseren Noten<br />
für gleiche Leistungen bestochen, sagen die Schüler am Ende von Kochs Bericht:<br />
„,Die sind halt einfach gegen alles Neue, ob’s ihnen nützt oder nicht‘, wundert<br />
sich Oliver. Für Petra ist die Sache klar: ,Diese ganze Umfragerei in den Medien<br />
nervt. Die Leute werden doch bloß von den Reformgegnern eingelullt und<br />
verwirrt. Ich war ja auch dagegen, bis ich gecheckt habe, daß es für mich was<br />
bringt!‘“<br />
5. Wann trat die Reform in Kraft?<br />
„Muttersprache“ ein Vermerk über die benutzte Ausgabe des Bertelsmann-Wörterbuchs<br />
angefügt wurde.<br />
57 Sogar der Reformer Sitta gibt vor, den Schwindel nicht zu durchschauen (in<br />
Eroms/Munske [Hg.] 1997, S. 219f.). Er arbeitet für Duden und empfiehlt die<br />
Wiederherstellung des Duden-Privilegs.<br />
33
Die Rechtschreibreform sollte am 1. August 1998 in Kraft treten. Es lag im Interesse<br />
der Verlage wie der Schulverwaltungen, dieses Datum nach Möglichkeit zu<br />
verschleiern. Lehrer und Käufer sollten in dem Glauben gehalten werden, die „amtliche<br />
Regelung“ sei bereits früher gültig und fordere Beachtung. Wörterbücher traten<br />
seit 1996 mit dem Anspruch auf, die „neue“, „amtliche“ oder „gültige“ Rechtschreibung<br />
darzustellen. Auf dem schwarzrotgelben Einband des neuen, schon durch<br />
seine Aufmachung Amtlichkeit suggerierenden Duden steht 17mal das Wort neu. Die<br />
irrige Annahme, die Neuregelung sei bereits jetzt gültig, dürfte manchen zum Kauf<br />
eines Buches verleitet haben, das wegen der unabwendbaren „Nachbesserung“ des<br />
Reformwerks schon sehr bald nur noch Altpapier war. – Es folgt eine Auswahl aus den<br />
widersprüchlichen Angaben:<br />
„Am 1. Juli 1996 unterzeichneten in Wien die politischen Vertreter der deutschsprachigen<br />
Staaten und weiterer interessierter Länder eine Gemeinsame<br />
Erklärung zur Neuregelung der deutschen Rechtschreibung, die mit ihrer<br />
offiziellen Veröffentlichung in Kraft tritt.“ (Klaus Heller in: Neues deutsches<br />
Wörterbuch. Verlag Naumann & Göbel, Köln 1996, S. VI) (Vertrieb: Eduscho)<br />
„Gemäß der Vereinbarung tritt das Regelwerk am 01.08.1998 in Kraft.“<br />
(Schreiben des bayerischen Kultusministers Nr. III/9-S 44/4-8/98 648 an die<br />
Schulen in Bayern vom 1.7.1996)<br />
„Nach abschließenden Beratungen (...) konnte mit Unterzeichnung der zwischenstaatlichen<br />
Erklärung im Juli 1996 die Neuregelung in Kraft treten." (Handreichungen<br />
Neuregelung der deutschen Rechtschreibung. Hrsg. vom Staatsinstitut<br />
für Schulpädagogik und Bildungsforschung München. Bamberg 1996, S. 9)<br />
„Am 1. Juli 1996 wurde in Wien die zwischenstaatliche Erklärung zur Neuregelung<br />
der deutschen Rechtschreibung unterzeichnet und damit als Verordnung<br />
rechtskräftig.“ (Kontaktbrief Deutsch 1996 des Staatsinstituts für Schulpädagogik<br />
und Bildungsforschung München)<br />
„Nach dem Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 1. Dezember 1995 tritt<br />
die Neuregelung der deutschen Rechtschreibung am 1. August 1998 (...) in<br />
Kraft.“ (Ebd. S. 11)<br />
„wird die Neuregelung der deutschen Rechtschreibung zum 1. August 1998 in<br />
Kraft gesetzt.“ (Lutz Götze im Bertelsmann-Wörterbuch „Die neue deutsche<br />
Rechtschreibung“, Gütersloh 1996)<br />
„ist die Neuregelung der deutschen Rechtschreibung am 1. Juli 1996 in Kraft<br />
getreten.“ (Lutz Götze im Bertelsmann-Wörterbuch „Die neue deutsche Rechtschreibung“,<br />
Gütersloh 1996, Nachdruck)<br />
In den Dudenwörterbüchern werden seit 1996 zahlreiche Formen als „frühere Schreibungen“<br />
bezeichnet, die laut KMK-Beschluß vom 1.12.1995 bis 31.7.1998 die allein<br />
gültigen waren, seit 1998 noch zulässig sind und erst ab 2005 „frühere“ Schreibungen<br />
sein werden. Der Duden des Jahres 2000 bezeichnet die weiterhin gültigen<br />
Schreibungen wohl 5000mal als „alte Schreibweise“.<br />
34
Wer verdient an der Rechtschreibreform?<br />
Obwohl im Internationalen Arbeitskreis für Orthographie eine Vereinbarung bestand,<br />
daß keiner der Reformer die Reform für Privatgeschäfte nutzen solle, geschah genau<br />
dies sofort nach der Wiener Abschlußkonferenz. Inzwischen beteiligen sich mit<br />
wenigen Ausnahmen alle Reformer an der privaten Vermarktung ihres Werkes.<br />
Die Wörterbuchverlage haben den einen oder anderen Reformer gleichsam eingekauft,<br />
um seinen Namen werbewirksam in die Titelei ihrer Bücher zu bringen. Bei Klaus<br />
Heller war es der Name der Dudenstadt Mannheim, der unbedingt auf den Einband<br />
des leider nur in Gütersloh erscheinenden Bertelsmann-Wörterbuches mußte. Zwar hat<br />
Heller mit dem Duden nichts zu tun, sondern ist nur zufällig in Mannheim (beim IDS)<br />
beschäftigt, aber das wissen die meisten Käufer natürlich nicht. Bald darauf entfernte<br />
Bertelsmann (wohl auf Einspruch des staatlich finanzierten IDS) zuerst den Namen des<br />
Instituts und dann auch den damit wertlos gewordenen des Geleitwortschreibers vom<br />
Einband. 58 Dafür tauchten das IDS und Mannheim auf dem Umschlag der Heyne-<br />
Taschenbuchausgabe des Eduscho-Wörterbuchs auf, und zwar als angebliche<br />
Wirkungsstätte des Dortmunder Reformers Hermann Zabel.<br />
Welche Wirtschaftsinteressen hinter dem Reformunternehmen stehen und auch die<br />
Politiker unerbittlich voranpeitschen, geht aus folgender Pressemitteilung vom<br />
3.10.1997 hervor:<br />
Bonn (AP) Mit einer neuen Aktion werben deutsche Schulbuchverlage bei<br />
Bundestagsabgeordneten für die Rechtschreibreform. Den Parlamentariern wurde<br />
das Buch „Widerworte: Lieber Herr Grass, Ihre Aufregung ist unbegründet“<br />
zugestellt. Wie der AOL-Verlag am Mittwoch in Bonn ferner mitteilte, enthält die<br />
Publikation Antworten an Gegner und Kritiker der Rechtschreibreform.<br />
In diesem Jahr hätten AOL und Bertelsmann Wörter- und Rechtschreibbücher an<br />
alle 40.000 Schulen verschickt, erklärte ein Verlagssprecher. Der AOL-Verlag<br />
habe mit eigenen Büchern sowie durch Koproduktionen mit den Verlagen<br />
Bertelsmann und Rowohlt dafür gesorgt, daß alle Schulen seit April 1996<br />
regelmäßig und mehrfach Arbeitsbücher, Nachschlagewerke sowie Lehr- und<br />
Lernmittel zur neuen Rechtschreibung erhielten. Mit der Zusendung des neuen<br />
Buches wurden die Bundestagsabgeordneten aller Parteien gebeten, „die<br />
Geschichte der Rechtschreibreform und die Gegenargumente zu den Angriffen<br />
der Reformgegner zur Kenntnis zu nehmen und zu gewichten“.<br />
Im gleichen Monat ist aus München zu hören, daß die Hauptschulen, wo sich oft zwei<br />
Schüler ein Buch teilen müssen, nicht wissen, wie sie die neuen Deutschbücher<br />
bezahlen sollen, die durch die Rechtschreibreform notwendig geworden sind (SZ vom<br />
24.10.1997). Überall im Lande mustern seither die öffentlichen Büchereien Kinder-<br />
und Jugendbücher in „alter“ Schreibweise aus und bitten um Spenden für<br />
Neuanschaffungen.<br />
Der Bundeselternrat führte im Oktober 1997 zur Unterstützung der gefährdeten<br />
58 Daß Hellers Geleitwort aus Phrasen besteht, deren dürftiger Inhalt im Haupttext ohnehin<br />
noch einmal erscheint, versteht sich von selbst. Dasselbe gilt für Zabels Geleitwort zum<br />
Eduscho-Wörterbuch. Mit den zahllosen Fehlern dieses Werkes konfrontiert, teilt Zabel<br />
brieflich mit, er habe das Buch nur flüchtig durchgesehen und erst durch mich erfahren,<br />
wer überhaupt die Verfasser waren.<br />
35
Reform eine Anzeigenkampagne in zahlreichen großen Zeitungen durch, die mehrere<br />
hunderttausend Mark gekostet haben muß. Der Vorsitzende Peter Hennes wollte auf<br />
Befragen nicht mitteilen, wer die Kampagne bezahlt habe. Dem Vernehmen nach war<br />
es „eine Verlagsgruppe“. Im August und September 1998 führte der Verband der<br />
Schulbuchverleger eine 400.000 DM teure Kampagne zur Beeinflussung des<br />
Volksentscheids in Schleswig-Holstein durch.<br />
Während das Geschäftsinteresse der Schulbuchverleger eindeutig und legitim ist, bleibt<br />
unerklärlich, warum sich der Bundeselternrat, die GEW und andere sogenannte<br />
„Bildungsverbände“ mit den Wirtschaftsunternehmen verbündeten. Gemeinsam gaben<br />
sie am 30. Juni 1997 jenen Appell heraus, den ich unten genauer analysiere. Die mit<br />
diesem Aufruf einhergehende Unterschriftenaktion erbrachte trotz straffer Organisation<br />
der GEW usw. kaum Unterschriften zugunsten der Reform.<br />
Warum gehorchen die Lehrer?<br />
Im Oktober 1996 gab ein Sprecher des bayerischen Kultusministeriums bekannt, man<br />
habe von den Schulen „nur Positives“ gehört. Die Grundschulen hätten mit der neuen<br />
Rechtschreibung „anstandslos angefangen“. Allerdings fügte er hinzu, im Falle der<br />
Weigerung hätten die Lehrer mit Disziplinarmaßnahmen zu rechnen, denn die<br />
Neuregelung sei ebenso verbindlich wie der Lehrplan. (Süddeutsche Zeitung vom<br />
17.10.1996) – Das trifft zu. Lehrer haben kein Widerstandsrecht gegen Erlasse ihres<br />
Dienstherrn. Genau darauf beruht ja, wie wir bereits gesehen haben, das Kalkül der<br />
Reformer bei der Durchsetzung ihrer unpopulären Reform. Als einige Monate später in<br />
Nürnberg eine Lehrerinitiative „Wir Lehrer gegen die Rechtschreibreform“ gegründet<br />
wurde, reagierte das bayerische Kultusministerium blitzartig mit folgender Presseerklärung:<br />
36
„4. März 1997<br />
Zur dpa-Meldung lby vom 4. März 1997 („Lehrerinitiative gegen Rechtschreibreform“)<br />
stellt das Bayerische Kultusministerium fest:<br />
Aus dem Tiefschlaf erwacht!<br />
Bayerische Lehrer, die sich der neugegründeten Initiative „Wir Lehrer gegen die<br />
Rechtschreibreform“ anschließen, müssen sich fragen lassen, was sie in den<br />
letzten Jahren eigentlich gemacht haben. Im März 1995 brachte die<br />
Lehrerzeitschrift „schulreport“ bereits einen vierseitigen Überblick über die<br />
wichtigsten Änderungen mit Literaturhinweisen zur Information aller Lehrer.<br />
Gleichzeitig wurden die Eltern in der Zeitschrift „Schule aktuell“ informiert. Im<br />
August 1995 veröffentlichte das Ministerium ein Schreiben an alle Schulen mit<br />
der Bitte an die Deutschlehrer, sich mit den vorgesehenen Neuregelungen vertraut<br />
zu machen und Schüler und Eltern über den Stand der Dinge zu informieren. Im<br />
Juni 1996 veröffentlichte „schulreport“ eine abschließende 8seitige Zusammenfassung<br />
der Änderungen für die Hand der Lehrer, gleichzeitig informierte<br />
„Schule aktuell“ die Eltern mit Beispielen zur neuen Schreibung. Zeitgleich mit<br />
der Unterzeichnung der gemeinsamen Absichtserklärung in Wien wandte sich<br />
Kultusminister Zehetmair am 1. Juli 1996 an die Schulen mit abschließenden<br />
Hinweisen zur Umsetzung der Neuregelung. Ebenfalls im Juli 1996 erschien eine<br />
Sondernummer des Amtsblattes mit den Neuregelungen. Die Lektüre des<br />
Amtsblattes gehört zu den Dienstpflichten jedes Lehrers. Noch vor Beginn des<br />
neuen Schuljahres erhielten die Schulen darüber hinaus eine 112seitige Handreichung<br />
des ISB, in der die Neuregelung bezogen auf die Lehrpläne der<br />
einzelnen Schularten didaktisch und methodisch aufbereitet wurde.<br />
Nunmehr, über eineinhalb Jahre nach der bindenden Aufforderung, sich mit der<br />
Neuregelung vertraut zu machen und auch die Schüler entsprechend zu<br />
informieren, wirft die Gründung einer Lehrerinitiative gegen die Rechtschreibreform<br />
ein bezeichnendes Licht auf alle, die ihr beigetreten sind. Wie haben es<br />
die Unterzeichner in den letzten Jahren mit der Wahrnehmung ihrer Dienstpflichten<br />
gehalten?<br />
Bayerisches Staatsministerium für Unterricht, Kultus, Wissenschaft und Kunst,<br />
Toni Schmid, Pressereferent“<br />
Es ist das gute Recht aller Lehrer, eine Initiative zu gründen, und sie brauchen sich<br />
vom Ministerium nicht den Zeitpunkt einer solchen Gründung vor<strong>schreiben</strong> zu lassen.<br />
Der nahegelegte Verdacht der Dienstpflichtverletzung soll offenbar andere Lehrer<br />
abschrecken, sich der Initiative anzuschließen. Unüblich ist es auch, daß der Dienstherr<br />
öffentlich gegen seine Beamten polemisiert; ihm stehen ja andere<br />
Disziplinierungsmittel zur Verfügung.<br />
Zur Sache ist zu sagen: Die genannten Informationsschriften geben selbstverständlich<br />
nur einen sehr unvollständigen Eindruck von der geplanten Neuregelung, und das<br />
Studium des Amtsblattes, d. h. des gesamten Originaltextes der Neuregelung, kostet<br />
selbst einen berufsmäßigen Sprachwissenschaftler ungefähr ein Jahr konzentrierte<br />
Arbeit. Der Ministerialrat weiß genau, daß es keinem Lehrer zuzumuten ist, während<br />
der Sommerferien das amtliche Regelwerk zu studieren. Sogar die Reformer selbst<br />
waren ja nicht wenig überrascht, als sie mit den Auswirkungen ihres Produktes auf die<br />
deutsche Grammatik und auf den Gesamtwortschatz konfrontiert wurden. Die nicht<br />
37
edachten Folgen der neuen Kommaregeln zum Beispiel haben bei ihnen eine bis<br />
heute andauernde Sprachlosigkeit bewirkt.<br />
Was kostet die Rechtschreibreform?<br />
Die Reform wurde als „kostenneutral“ angepriesen, weil die Übergangsfrist es den<br />
Schulen und auch den Schulbuchverlagen ermögliche, die Umstellung der Bücher im<br />
Rahmen der normalen Ersatzbeschaffung vorzunehmen. Noch am 5.7.1996 schrieb<br />
Dieter E. Zimmer in der „Zeit“, die Neuregelung koste „dank der vorgesehenen<br />
Allmählichkeit ihrer Einführung bis zum Jahre 2005 auch keine fünf Milliarden,<br />
sondern fast nichts“. Als die Kritiker im Herbst 1996 von Milliardenkosten sprachen,<br />
wurden sie als Erfinder von „Katastrophenszenarios“ verhöhnt.<br />
Im Sommer 1997 las man es plötzlich anders: Der Verband der Schulbuchverlage, der<br />
sich am entschiedensten für die weitere Durchsetzung der Reform aussprach und alle<br />
Bundestagsabgeordneten in diesem Sinne zu beeinflussen versuchte 59 , ließ durch<br />
seinen Geschäftsführer mitteilen: „Wenn man hochrechnet, was da insgesamt bereits<br />
ausgegeben wurde, kommt man auf Milliarden-Investitionen.“ 60 Bis Ende 1997 sollen<br />
die Zusatzkosten der Umstellung nach Angaben desselben Verbandes sich auf 100<br />
Mill. Mark belaufen. – Zwischendurch hatte der Reformer Zabel geschrieben, nicht die<br />
Reform, sondern ein Reformstopp koste Milliarden. Noch skurriler ist ein<br />
Diskussionsbeitrag von F. Menze. Er rechnet vor, die Reform erspare dem Staat<br />
innerhalb von zehn Jahren elf Milliarden Mark, und zwar durch den Wegfall von<br />
1.250.000.000 Unterrichtsstunden aufgrund vereinfachter Regeln. 61 In Wirklichkeit ist<br />
der Rechtschreibunterricht infolge der Reform intensiviert worden wie noch nie. Aber<br />
was zählt das angesichts des Zahlenrausches, den der Autor (Inhaber des AOL-Verlags,<br />
der die Reform zusammen mit Bertelsmann vermarktet, und mit seiner Frau Verfasser<br />
von Rechtschreibbüchern, die u. a. bei Rowohlt erscheinen) am 25. Februar 1997 im<br />
Börsenblatt für den deutschen Buchhandel erscheinen ließ.<br />
Nach dem 1. August 1998 bot ein Management-Institut in sechzehn Großstädten ganztägige<br />
„Original Duden-Seminare“ an, zu 525 DM pro Teilnehmer. Andere Schulungen<br />
sind noch teurer. Ein großer Versicherungskonzern beschloß die orthographische<br />
Umstellung und beauftragte damit ein Mitglied der Rechtschreibkommission. Auch<br />
eine Handvoll Germanistikprofessoren, die mit der Reform nichts zu tun hatten,<br />
versuchten mit Rechtschreibbüchern und durch Volkshochschulseminare etwas<br />
hinzuzuverdienen. Das Milliardengeschäft mit der Rechtschreibreform verursacht auch<br />
dem Staat nicht nur eigene Umstellungskosten, sondern erhebliche Steuerausfälle, da<br />
die Mehrkosten der Verlage, die Umschulungs- und Anschaffungskosten der Wirtschaft<br />
selbstverständlich steuermindernd geltend gemacht werden.<br />
59 Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages sind von den Verlagen privat angerufen<br />
und intensiv bearbeitet worden. Der Erfolg war, daß der Gruppenantrag von fünfzig<br />
Abgeordneten gegen die Rechtschreibreform schon bald auf keine Mehrheit im Plenum<br />
mehr hoffen konnte und die Behandlung dieses Gegenstandes immer wieder hinausgezögert<br />
wurde.<br />
60 „Die Zeit“ vom 7.8.1997: „Teure Ignoranz“.<br />
61 In ähnlichen Zahlen schwelgte Jahrzehnte vorher schon Leo Weisgerber, der 200<br />
Millionen Kinderstunden pro Jahr allein durch die Groß- und Kleinschreibung vergeudet<br />
sah (Weisgerber 1964, S. 101).<br />
38
Wie soll es weitergehen? oder: Gibt es ein Leben nach dem Duden?<br />
„Die Regeln der Groß- und Kleinschreibung, der Zeichensetzung, ja sogar der<br />
Silbentrennung sind das Resultat einer kollektiven Sprachreflexion von Grammatikern<br />
und Lehrern, von Autoren und Lesern seit dem 16. Jahrhundert. Deshalb<br />
steckt in vielen Regeln mehr Weisheit, als mancher Linguist auf Anhieb<br />
bemerkt.“ 62<br />
Horst H. Munske, der freimütig bekennt, seine einst reformfreudige Einstellung habe<br />
sich mit wachsender Einsicht sehr gewandelt, plädiert seit Jahren energisch für eine<br />
„Pflege“ der Orthographie, das heißt für die Bewahrung ihres wesentlichen Gehaltes<br />
bei gleichzeitigem Bemühen um eine bessere Darstellung, als sie der Duden – aus<br />
welchen Gründen auch immer – bisher geleistet hat.<br />
Das Dudenprivileg, ungenau auch „Monopol“ genannt, betraute ein privatwirtschaftliches<br />
Verlagsunternehmen mit einer amtlichen Aufgabe. Damit ist es vorbei, und man<br />
darf annehmen, daß eine Rückkehr zu dieser rechtlich umstrittenen Konstruktion nicht<br />
mehr möglich ist.<br />
Auf der anderen Seite ist es wünschenswert, die geradezu beispielhafte Einheitlichkeit<br />
der deutschen Orthographie zu bewahren oder – soweit sie durch den Mutwillen der<br />
Kultusminister bereits zerstört ist – wiederherzustellen. Nach den schlechten<br />
Erfahrungen mit staatlich beauftragten Kommissionen (deren Rekrutierung sich in<br />
einem undurchdringlichen Kompetenz- und Kooptationswirrwarr verliert) sollte eine<br />
grundsätzlich nichtobrigkeitliche Lösung dieser Aufgabe gesucht werden. Liegt ein<br />
überzeugender Vorschlag auf dem Tisch, so werden die Verlage und alle anderen<br />
Interessierten ihm gern folgen, und es spricht nichts dagegen, daß auch die<br />
Schulbehörden ihn für ihren Zuständigkeitsbereich verbindlich machen.<br />
Ich habe dazu am 14.11.1997 in der F. A. Z. folgende Skizze veröffentlicht:<br />
Die deutsche Orthographie ist geregelt. Täglich werden Hunderttausende von<br />
Texten gedruckt und geschrieben, die genau dieselben Schreibweisen befolgen,<br />
wie sie in Millionen von Büchern bereits vorliegen. Es gibt einen Usus, der in<br />
seinem Kernbestand fraglos gilt und bisher vom Duden schlecht und recht<br />
beschrieben war. Erfunden hat der Duden die übliche Rechtschreibung natürlich<br />
nicht. Sie ist vielmehr das Ergebnis einer jahrhundertelangen Schreibpraxis von<br />
unzähligen Menschen, die sich sehr wohl etwas dabei gedacht haben, wenn sie<br />
groß und klein, getrennt und zusammenschrieben, Kommas und Anführungszeichen<br />
setzten. Die Zweite Orthographische Konferenz zu Beginn des Jahrhunderts<br />
hat keinerlei Neuerungen gebracht, sondern lediglich die regionalen<br />
Schulorthographien vereinheitlicht und gegen willkürliche Veränderungen unter<br />
Schutz gestellt. Deshalb benötigte sie nur drei Tage und nicht zwanzig Jahre.<br />
Das Ärgerliche am Duden ist, daß er seiner Fehldeutung durch Normfetischisten<br />
nicht entgegengewirkt, ja sie im Gegenteil noch gefördert hat. Das wollen wir uns<br />
an einigen Beispielen klar machen. Klar machen? Nein, sagt der Duden, klarmachen!<br />
Denn getrennt geschrieben wird, „wenn klar im urspr. Sinne gebraucht<br />
wird“, zum Beispiel klar werden (auch vom Wetter). Dagegen gilt „Zusammen-<br />
62 Munske 1997, S. 2.<br />
39
40<br />
schreibung, wenn ein neuer Begriff entsteht“, z. B. klarwerden: ihm ist sein<br />
Irrtum klargeworden. Der Wein wird klar gemacht, das Schiff und der Irrtum<br />
werden klargemacht. Aber wenn ich nun die Klarheit der berühmten Kloßbrühe<br />
gar nicht als die ursprüngliche Klarheit betrachte, sondern gerade umgekehrt die<br />
Klarheit des Gedankens?<br />
Um diesem Unsinn einen Reiz abzugewinnen, müßte man ein Ionesco sein. Das<br />
Rechtschreibwörterbuch aber hat den Usus zu be<strong>schreiben</strong>. Was es den beobachtbaren<br />
Tatsachen an Begründungen, Erklärungen, ja auch nur an Regeln, d. h.<br />
verallgemeinerten Beschreibungen hinzufügt, ist Theorie und kann falsch sein.<br />
Damit wird es unbeachtlich. Denn falsche Theorien kann nicht einmal eine<br />
Kultusministerkonferenz verbindlich machen. (Aus diesen Überlegungen geht<br />
nebenbei auch hervor, daß das Wörterverzeichnis und nicht das Regelwerk der<br />
Kern der Orthographie ist und daß es eine Zumutung war, der Öffentlichkeit<br />
jahrelang nur ein neues Regelwerk ohne Wörterbuch zu präsentieren.)<br />
Ein Gedanke kann ebenso wie die Brühe klar sein und klar werden und<br />
selbstverständlich auch klar gemacht werden. Das alles ist grammatisch einwandfrei.<br />
Es gibt allerdings im Deutschen ein kleines Unterprogramm, wonach<br />
Resultativzusätze, wenn sie nicht zu umfangreich sind, mit Verben zusammengeschrieben<br />
werden können: kaputtschlagen, blaureiben, gesundrationalisieren,<br />
kaltmachen und natürlich auch klarmachen. Mit „urspr. Sinn“ und neuem Begriff<br />
hat das überhaupt nichts zu tun.<br />
Wenn man den Duden liest, könnte man tatsächlich meinen, radfahren müsse im<br />
Gegensatz zu Auto fahren zusammengeschrieben werden. Die Theorie steht in R<br />
207: „Man schreibt ein Substantiv mit einem Verb zusammen, wenn das<br />
Substantiv verblaßt ist und die Vorstellung der Tätigkeit überwiegt.“ Unsere<br />
modernen Linguisten haben sich über das „Verblassen“ der Substantive mokiert,<br />
wohl kaum mit Recht. (Als kürzlich der schöne Begriff „bleaching“ über den<br />
großen Teich zu uns kam, wurde er von denselben Linguisten freudig begrüßt ...)<br />
Bei radfahren also herrscht tatsächlich die Vorstellung der Tätigkeit vor, weshalb<br />
auch schon zu Beginn des Jahrhunderts das Verb radeln im Duden stand,<br />
während die Autofahrer es bis heute nicht zu einer ähnlich gemütvollen Bezeichnung<br />
ihrer Fortbewegungsart gebracht haben. Wie dem auch sei – ganz<br />
falsch wäre jedenfalls die Folgerung, man dürfe radfahren gar nicht getrennt<br />
<strong>schreiben</strong>. Man kann Auto fahren, Traktor fahren, Roller, Dreirad und Fahrrad<br />
fahren und selbstverständlich auch Rad fahren. Die Bezeichnung eines<br />
geeigneten Fahrzeugs zusammen mit fahren ergibt immer eine grammatisch<br />
zulässige Verbindung. Was die Grammatik erlaubt, kann die Orthographie<br />
nicht verbieten. Das ist der Kernsatz einer richtigen Dudenexegese. Nur als<br />
besondere Lizenz gibt es auch radfahren. Damit ist den Reformern, wie man<br />
sieht, schon ziemlich viel Wind aus den Segeln genommen.<br />
Einmal aufmerksam geworden, entdeckt man, daß fast alle Dudenregeln Kann-<br />
Bestimmungen sind, Spielräume eröffnen. Sogar unsere Regel 207 läßt Rad<br />
fahren zu. Möge immerhin das „verblaßte“ Substantiv mit dem Verb zusammengeschrieben<br />
werden – das unverblaßte bleibt davon unberührt. Es braucht auch<br />
nicht eigens im Wörterbuch zu stehen. Traktor fahren steht ja auch nicht drin.
Die Reformer bilden sich ein, dem Bindestrich eine größere Anwendungsbreite<br />
verschafft zu haben. Joghurt-Becher, so sagen sie, sei bisher falsch gewesen und<br />
werde infolge der Neuregelung richtig sein. Weit gefehlt! R 33 sagt, daß<br />
zusammengesetzte Wörter „gewöhnlich“ ohne Bindestrich geschrieben werden.<br />
In den folgenden Regeln wird vorgeführt, wie der Bindestrich zur Erhöhung der<br />
Übersichtlichkeit oder zur Herausarbeitung eines eigentlichen Sinnes gesetzt<br />
werden kann: Druck-Erzeugnis, Hoch-Zeit, be-greifen sind die Originalbeispiele.<br />
Folglich ist auch Joghurt-Becher völlig in Ordnung.<br />
Fast alle Bedenken, die man gegen Widersprüche und Haarspaltereien des Duden<br />
vorgebracht hat, lassen sich nach dem Prinzip der wohlwollenden Interpretation<br />
beseitigen.<br />
Daraus ergibt sich von selbst, wie zu verfahren ist, wenn man die von den Kultusministern<br />
leichtfertig zerstörte Einheit der deutschen Orthographie wiederherstellen<br />
will: Die gewohnten Schreibweisen bleiben gültig, ihre Kodifikation wird –<br />
nach dem unwiderruflichen Ende des Dudenprivilegs – auf eine andere, weder<br />
kommerziell interessierte noch politisch gebundene Instanz übertragen, damit die<br />
Schulen und Verlage etwas haben, woran sie sich halten können. Da es nur um<br />
eine Rekonstruktion, das heißt um die Erfassung und Beschreibung des Usus geht<br />
und nicht um eine Neukonstruktion, hält die Arbeit sich sehr in Grenzen. Bei der<br />
Neufassung der Regeln sollten folgende Grundsätze gelten:<br />
• Alle Schreibweisen, die im Wörterverzeichnis des Rechtschreibdudens bis zur<br />
zwanzigsten Auflage (1991) verbucht sind, bleiben richtig.<br />
• Darüber hinaus sind alle Schreibweisen richtig, die sich bei sinngemäßer und<br />
grundsätzlich liberaler Auslegung aus den Regeln des genannten Werkes<br />
ableiten lassen.<br />
• Keine Schreibweise, die der deutschen Grammatik gerecht wird, kann<br />
orthographisch als falsch gelten.<br />
Aus diesen Grundsätzen folgt, daß niemand, der korrekt <strong>schreiben</strong> will, ein<br />
anderes Werk als die bis zum Sommer 1996 vorliegenden dudenkonformen<br />
Regelwerke, Wörterbücher und didaktischen Materialien heranzuziehen braucht.<br />
Niemand wäre also gezwungen, neue Bücher zu kaufen.<br />
Was bisher für die sogenannte Rechtschreibreform ausgegeben wurde, ist so oder<br />
so verlorenes Geld. Die Wiederherstellung normaler Zustände jedenfalls ist<br />
kostenlos zu haben. Man muß sie nur wollen.<br />
(Nachtrag: Der Plan eines rein orthographischen Wörterbuchs mit neuer<br />
Regeldarstellung und konsequenter Ausrichtung am tatsächlichen Schreibbrauch<br />
ist inzwischen verwirklicht: Das Rechtschreibwörterbuch. 3. Aufl., Leibniz<br />
Verlag, Sankt Goar 2001.)<br />
41
II. Einzelheiten<br />
43
Hauptunterschiede zwischen den Reformentwürfen 1992 und 1995/1996<br />
(nach Vorarbeiten Christian Stetters zusammengestellt)<br />
1992 1995/1996<br />
das (auch als Konjunktion) das vs. dass<br />
behende, Gemse behände, Gämse<br />
schneuzen, verbleuen schnäuzen, verbläuen<br />
auch Obergine, Dublette, Siluette -<br />
Babys/Babies, Ladys/Ladies Babys, Ladys<br />
fertigstellen usw. Getrenntschreibung, wenn der erste<br />
Bestandteil auf -ig/-isch/-lich endet,<br />
also fertig stellen, aber bereitstellen<br />
gebe acht, halte haus gebe Acht, halte Haus<br />
- Airbag, Bandleader usw.<br />
Background, Bypassoperation,<br />
Secondhandshop, Softdrink usw.<br />
Bigband/Big Band, Blackbox/Black Box<br />
instand, zurande, zustande, zuwege auch: in Stand, zu Rande, zu Stande, zu<br />
Wege<br />
auch: garnicht, garnichts nur: gar nicht, gar nichts<br />
2-zeilig, 3-fach 2-zeilig, aber 3fach<br />
Alma mater Alma Mater<br />
Corned beef, Hot dog Corned Beef/Cornedbeef, Hot<br />
Dog/Hotdog<br />
Strofe/Strophe (1996:) Strophe (ebenso ca. 35<br />
weitere Fälle)<br />
gestern morgen/gestern Morgen usw. gestern Morgen usw.<br />
angst sein, ebenso: bang(e), ernst, feind, angst, bange, ernst, gram, leid,<br />
freund, gram, klasse, leid, not, pleite, recht, pleite, recht, unrecht, wert<br />
schuld, unrecht, weh, wurst<br />
Das tut mir leid. Das tut not. Das tut mir Leid. Das tut Not.<br />
des weiteren/Weiteren des Weiteren<br />
zum besten/Besten geben usw. zum Besten geben usw.<br />
auf deutsch/Deutsch auf Deutsch<br />
durch dick und dünn/Dick und Dünn durch dick und dünn<br />
etwas derartiges/Derartiges etwas Derartiges<br />
beachten Sie folgendes/Folgendes beachten Sie Folgendes<br />
aufs herzlichste aufs herzlichste/Herzlichste<br />
45
es kamen unzählige es kamen Unzählige<br />
die übrigen, der einzige die Übrigen, der Einzige<br />
schweizer Käse Schweizer Käse<br />
„Er war glücklich“. „Er war glücklich.“<br />
Die Beispiele stehen meist für ganze Gruppen ähnlicher Fälle.<br />
Liste der mit Verben zusammenzu<strong>schreiben</strong>den Partikeln:<br />
ab, abseits-, abwärts-, an-, auf-, ab-, an-, auf-, aus-, bei-, beisammen-,<br />
aufwärts- aus-, bei-, beisammen-, da-, da-, dabei-, dafür-, dagegen-, daher-,<br />
dabei-, dafür-, dagegen-, daher-, dahin-, daneben-, dar-, daran-/dran-,<br />
dahin-, dahinter-, daneben- dar-, darein-/drein-, darum-, davon-, dawi-<br />
darauflos-/drauflos-, darüber-, der-, dazu-, dazwischen-, drauf-,<br />
darunter-/drunter-, davon-, davor-, drauflos-, drin-, durch-, ein-, einher-,<br />
dazu-, durch-, ein-, einher-, empor-, empor-, entgegen-, entlang-, entzwei-,<br />
entgegen-, fort- gegenüber-, her-, fort-, gegen-, gegenüber-, her-, herab-,<br />
herab-, heran-, heraus-, herbei-, heran-, herauf-, heraus-, herbei-,<br />
herein-, herüber-, herum-, herunter-, herein-, hernieder-, herüber-, herum-,<br />
hervor-, hin-, hinab-, hinauf-, hinaus-, herunter-, hervor-, herzu-, hin-, hinab-,<br />
hinein-, hinunter-, hinzu-, inne-, los-, hinan-, hinauf-, hinaus-, hindurch-,<br />
mit-, nach-, rückwärts-, seitwärts-, hinein-, hintan-, hintenüber-, hinterherüber-,<br />
um-, umher-, unter-, vor-, voran, , hinüber-,<br />
hinunter-, hinweg-, hinzu-,<br />
voraus-, vorbei-, vorher-, vorüber-, inne-, los-, mit-, nach-, nieder-, über-,<br />
vorwärts-, weg-, wider-, wieder-, zu-, überein-, um-, umher-, umhin-, unter-,<br />
zurecht-, zurück-, zusammen-, zuvor-, vor-, voran-, vorauf-, voraus-, vorbei-,<br />
zuwider-<br />
vorher-, vorüber-, vorweg-, weg-,<br />
weiter-wider-, wieder-, zu-, zurechtzurück-,<br />
zusammen-, zuvor-, zuwider-,<br />
zwischen-<br />
Die unterstrichenen Formen sind 1995 herausgefallen (linke Spalte) bzw. neu hinzugekommen<br />
(rechte Spalte). Gegenüber der Fassung von 1995 ist 1996 ran weggefallen,<br />
da(r)nieder hinzugekommen.<br />
Die oben angeführte Partikelliste wurde im Rahmen der Veränderungsvorschläge vom<br />
Dezember 1997 in eine offene Liste umgewandelt. Sie sah so aus:<br />
46<br />
ab- (Beispiele: abändern, abbauen, abbeißen, abbestellen, abbiegen), an-, auf-,<br />
aus-, bei-, da-, dar-, d(a)ran-, d(a)rein-, da(r)nieder-, davon-, drauf-, drauflos-,<br />
drin-, durch-, ein-, einher-, empor-, entgegen-, entlang-, entzwei-, fort-, gegen-,<br />
her-, herab-, heran-, herauf-, heraus-, herbei-, herein-, hernieder-, herüber-,<br />
herum-, herunter-, hervor-, herzu-, hin-, hinab-, hinan-, hinauf-, hinaus-,<br />
hindurch-, hinein-, hintan-, hinüber-, hinweg-, hinzu-, los-, nach-, nieder-, über-,<br />
überein-, um-, umher-, umhin-, unter-, vor-, voran-, vorauf-, voraus-, vorbei-,<br />
vorher-, vorüber-, vorweg-, weg-, wider-, zurück-, zuvor-, zuwider-, zwischen-
Wenige Wochen später, nach der Anhörung vom 23. Januar 1998, hatte die Liste<br />
folgende Gestalt:<br />
ab- (Beispiele: abändern, abbauen, abbeißen, abbestellen, abbiegen), an-, auf-,<br />
aus-, bei-, beisammen-, da-, dabei-, dafür-, dagegen-, daher-, dahin-, dahinter-,<br />
daneben-, danieder-, dar-, daran-, darauf-, darein-, darin-, darnieder-, darüber-,<br />
darum-, davon-, davor-, dawider-, dazu-, dazwischen-, dran-, drauf-, drauflos-,<br />
drein-, drin-, durch-, ein-, einher-, empor-, entgegen-, entlang-, entzwei-, fort-,<br />
gegen-, gegenüber-, her-, herab-, heran-, herauf-, heraus-, herbei-, herein-,<br />
hernieder-, herüber-, herum-, herunter-, hervor-, herzu-, hin-, hinab-, hinan-,<br />
hinauf-, hinaus-, hindurch-, hinein-, hintan-, hintenüber-, hinterher-, hinüber-,<br />
hinunter-, hinweg-, hinzu-, inne-, los-, mit-, nach-, nieder-, über-, überein-, um-,<br />
umher-, umhin-, unter-, vor-, voran-, vorauf-, voraus-, vorbei-, vorher-,<br />
vornüber-, vorüber-, vorweg-, weg-, weiter-, wider-, wieder-, zu-, zurecht-,<br />
zurück-, zusammen-, zuvor-, zuwider-, zwischen-<br />
Die unterstrichenen Wörter sind im Entwurf vom Dezember 1997 weder in der<br />
Verbzusatz-Liste noch unter den Beispielen aus § 34 E1(1) enthalten, die vollständig in<br />
die neue Liste übernommen worden sind. Inne ist aus § 34(2) des Entwurfs (angeblich<br />
„Adjektive“) überführt worden. Die Sonderliste E1 ist in der Endfassung insofern<br />
verändert, als darein und hinüber hinzugekommen sind, zu dagegen weggefallen ist.<br />
Die Zahl der Regeln, am Beispiel der Groß- und Kleinschreibung<br />
Die Neuregelung hat hierzu zwar nur 14 Paragraphen (gegenüber 24 Regeln im<br />
gültigen Duden von 1991), aber sie erstrecken sich (im Amtsblatt des bayer. Kultusministeriums)<br />
über 17½ Seiten im Format DIN-A4!<br />
Interessanter ist folgende Berechnung: Anläßlich des Kongresses „<strong>vernünftig</strong>er<br />
<strong>schreiben</strong>“ (Frankfurt 1973) wurde von vielen Rednern behauptet, die Groß- und<br />
Kleinschreibung sei im gültigen Duden in 78 Regeln gefaßt. Diese Zahl – wie immer<br />
sie zustande gekommen sein mag – diente als Beleg für die Nichtbeherrschbarkeit der<br />
gültigen Norm. Wolfgang Mentrup brauchte im Duden-Taschenbuch von 1968 sogar<br />
82 Regeln, um die Groß- und Kleinschreibung erschöpfend darzustellen. Wie sieht die<br />
Neuregelung hier aus, die doch nicht zuletzt unter dem Gebot angetreten war, die<br />
berüchtigte Groß- und Kleinschreibung zu vereinfachen? Eine wohlwollende, d. h. nur<br />
die tatsächlich gekennzeichneten Gliederungspunkte berücksichtigende Zählung dieses<br />
Bereichs in der Neuregelung von 1996 ergibt folgendes. (Der Inhalt der Regeln ist, um<br />
die Nachprüfung zu erleichtern, stichwortartig angegeben.)<br />
§ 53: Großschreibung des ersten Wortes in Überschriften usw.<br />
1 Überschriften<br />
2 Titel<br />
3 auch innerhalb von Texten<br />
4 Verkürzungen<br />
5 Anschriften<br />
6 nach Anrede<br />
47
§ 54: Großschreibung am Satzanfang<br />
7 nach Doppelpunkt<br />
8 wörtliche Rede<br />
9 Begleitsatz<br />
10 Parenthese<br />
11 Gliederungsangaben<br />
12 Auslassungspunkte usw.<br />
§ 55: Großschreibung von Substantiven<br />
13 Anfang von Bindestrichzusammensetzungen<br />
14 Abkürzungen als Teile von Bindestrichkomposita<br />
15 Substantive als Teile von Bindestrichkomposita<br />
16 Substantive aus Fremdsprachen<br />
17 Substantive im Inneren mehrteiliger Fügungen<br />
18 Ausnahmen davon<br />
19 Substantive in festen Gefügen<br />
20 Substantive in adv. Fügungen aus Fremdsprachen<br />
21 Zahlsubstantive<br />
22 Tageszeiten<br />
§ 56: Kleinschreibung von Desubstantivierungen<br />
23 (Liste von Desubstantivierungen)<br />
24 Verbzusätze<br />
25 Substantiv mit Infinitiv<br />
26 Adverbien usw. auf -s<br />
27 Präpositionen (Liste)<br />
28 Zahlwörter (Liste)<br />
29 Bruchzahlen vor Maßangaben<br />
30 Ausnahmen dazu<br />
31 Uhrzeiten<br />
32 Sonstige<br />
§ 57: Großschreibung von Substantivierungen<br />
33 Feste Substantivierungen<br />
34 Substantivierte Adjektive usw.<br />
35 Ausnahmen dazu<br />
36 Ordnungszahladjektive<br />
37 Unbestimmte Zahladjektive<br />
38 Substantivierte Verben<br />
39 in mehrteiligen Fügungen<br />
40 Ausnahmen<br />
41 Substantivierte Pronomen<br />
42 Grundzahlen als Bezeichnung von Ziffern<br />
43 Subst. Adverbien<br />
44 mehrteilige Konjunktionen<br />
§ 58: Kleinschreibung trotz Substantivierung<br />
45 Adjektive usw.<br />
46 Superlative<br />
47 Ausnahmen dazu<br />
48 feste adverbiale Wendungen<br />
49 Ausnahmen dazu<br />
48
50 feste Verbindungen aus Präpos. und Adj.<br />
51 Ausnahmen dazu<br />
52 Pronomen<br />
53 Ausnahmen dazu<br />
54 Zahladjektive (Liste)<br />
55 Ausnahmen dazu<br />
56 Kardinalzahlen<br />
57 Ausnahmen dazu<br />
58 Analogie dazu (“dutzend“)<br />
§ 59: Großschreibung von Eigennamen<br />
§ 60: Großschreibung in mehrteiligen Eigennamen<br />
59 Artikel in mehrteiligen Eigennamen<br />
60 Personennamen usw.<br />
61 Präpositionen in Adelsnamen u.ä.<br />
62 geographische Namen<br />
63 Städtenamen usw.<br />
64 Landschaftsnamen usw.<br />
65 Meere usw.<br />
66 Sterne usw.<br />
67 Fahrzeuge usw.<br />
68 Tiere usw.<br />
69 Orden usw.<br />
70 Dienststellen usw.<br />
71 Organisationen usw.<br />
72 Betriebe usw.<br />
73 Zeitungen usw.<br />
74 Artikel darin<br />
75 inoffizielle Eigennamen usw.<br />
76 Ausnahmen dazu<br />
§ 61: Ableitungen von geographischen Eigennamen auf -er<br />
§ 62: Kleinschreibung von Ableitungen von Eigennamen auf -isch<br />
§ 63: Kleinschreibung von Adjektiven in festen Verbindungen<br />
§ 64: Großschreibung von Adjektiven in bestimmten Wortgruppen<br />
77 Titel usw.<br />
78 Klassifizierungen<br />
79 Kalendertage<br />
80 histor. Ereignisse<br />
§ 65: Großschreibung von Anredepronomen<br />
81 ältere Anredeformen<br />
82 besondere Anreden<br />
§ 66: Kleinschreibung von Anredepronomen<br />
Fazit: Die neugeregelte Groß- und Kleinschreibung umfaßt 14 Paragraphen plus 82<br />
Einzel-, Unter- und Ausnahmeregeln sowie rund 50 Verweisungen auf andere<br />
Paragraphen des Regelwerks.<br />
49
Der Fall Bertelsmann<br />
Die „Neue deutsche Rechtschreibung“ von Bertelsmann erschien am Tag nach der<br />
Wiener Absichtserklärung zur Orthographiereform im Juli 1996. Aufgrund von<br />
Verlagsangaben wird geschätzt, daß von dieser ersten Ausgabe (nebst geringfügig<br />
veränderten Nachdrucken) fast zwei Millionen Exemplare verkauft wurden, davon<br />
800.000 in den ersten Wochen. Der Duden erschien erst sieben Wochen später. 63<br />
Die „Weltwoche“ kommentierte am 22.8.1996: „Eine deutsche Festung schien auf<br />
ewig uneinnehmbar: der Duden. Doch jetzt könnte es Bertelsmann-Chef Mark<br />
Woessner gelingen, das Bollwerk zu knacken. Der weltweit drittgrösste<br />
Medienkonzern ahnte mit feinem Gespür, wann Deutschland, Österreich und die<br />
Schweiz ihre Rechtschreibreform verabschieden würden. Gerade rechtzeitig auf<br />
Anfang Juli lancierten die Bertelsmänner ihr neues Rechtschreib-Lexikon, seither<br />
verkauften sie bereits 70 0000 Exemplare. Der revidierte Duden hingegen kommt erst<br />
diesen Donnerstag auf den Markt. Dem Hause Brockhaus, aus dem der Duden stammt,<br />
bleibt jetzt nichts anderes übrig, als auf eine verbissene Aufholjagd und den<br />
traditionsreichen, makellosen Namen zu setzen.“<br />
Der folgende Vergleich ausgewählter Einträge zeigt, daß Bertelsmann die Neuregelung<br />
zunächst nur sehr eingeschränkt umsetzte und sich in späteren Bearbeitungen<br />
weitgehend an das Konkurrenzprodukt Duden anglich. Allerdings hat die Angleichung<br />
des Bertelsmann dazu geführt, daß auch Falsches (wie getrennt geschriebenes wieder<br />
sehen usw.) nunmehr übereinstimmend verzeichnet ist.<br />
Bei Zählungen der Unterschiede zwischen den einzelnen Wörterbüchern kommt man<br />
zu ganz verschiedenen Ergebnissen je nach der zugrunde gelegten Bertelsmann-<br />
Version.<br />
Die Käufer sind über diese Verhältnisse nicht informiert. Über eine Million von ihnen<br />
besitzen also heute extrem fehlerhafte Rechtschreibwörterbücher.<br />
(Hv. = Hauptvariante, Nv. = Nebenvariante, > = wird zu)<br />
Bertelsmann I (Juli 1996)<br />
Bertelsmann X („neu durchgesehen“)<br />
Haute Couture Haute Couture Nv. > Hautecouture Hv.<br />
Heavy Metal Heavy Metal Nv. > Heavymetal Hv.<br />
Hawaii-Inseln Hawaii-Inseln Nv. > Hawaiiinseln Hv.<br />
He|bräer He|bräer auch: Heb|räer<br />
Hegelsch Hegelsch > hegelsch<br />
- heißbegehrt > heiß begehrt<br />
Helikop|ter Heliko|pter auch: -kop|ter<br />
herwollen -<br />
- Hillbillimusic > auch: Hillbillimusik<br />
63 Das Zögern des Dudenverlags erklärt sich wohl daraus, daß er ein Jahr zuvor in<br />
existenzgefährdender Weise hereingelegt worden war. Nachdem bereits eine unbekannte,<br />
jedenfalls sehr große Zahl von neuen Wörterbüchern gedruckt war, wurde die ganze<br />
Reform gestoppt, angeblich weil rund drei Dutzend Fremdworteindeutschungen dem<br />
bayerischen Kultusminister nicht gefielen (dessen Fachbeamte die Neuregelung<br />
mitbeschlossen hatten). Die Bücher mußten eingestampft werden.<br />
50
hochachten hochachten > hoch achten<br />
hochbegabt hochbegabt > hoch begabt<br />
- hochbesteuert > hoch besteuert<br />
- hochbezahlt > hoch bezahlt<br />
- hochdekoriert > hoch dekoriert<br />
- hochdotiert > hoch dotiert<br />
hochempfindlich hochempfindlich > hoch empfindlich<br />
hochentwickelt hochentwickelt > hoch entwickelt<br />
hochgeachtet hochgeachtet > hoch geachtet<br />
hochgeehrt hochgeehrt > hoch geehrt<br />
- hochgelegen > hoch gelegen<br />
hochgeschätzt hochgeschätzt > hoch geschätzt<br />
hochgestellte Persönlichkeiten hoch gestellte Persönlichkeiten<br />
- hochindustrialisiert > hoch industrialisiert<br />
- hochliegend > hoch liegend<br />
- hochmechanisiert > hoch mechanisiert<br />
- hochqualifiziert > hoch qualifiziert<br />
hochschätzen hochschätzen > hoch schätzen<br />
hochstehend hochstehend > hoch stehend<br />
- hochtechnisiert > hoch technisiert<br />
- hochverschuldet > hoch verschuldet<br />
- hochzivilisiert > hoch zivilisiert<br />
des Hohenliedes des hohen Liedes (usw.)<br />
des Hohenpriesters des hohen Priesters (usw.)<br />
- höhergruppieren > höher gruppieren<br />
- höhergestellt > höher gestellt<br />
hurra rufen Hurra rufen auch: hurra rufen<br />
Huygenssches Prinzip Huygenssches Prinzip > huygenssches<br />
[Prinzip<br />
(Die unterstrichenen Einträge sind auch im Duden enthalten.)<br />
wiederaufbauen wieder aufbauen<br />
der Staat wurde wiederaufgebaut der Staat wurde wieder aufgebaut<br />
aber: das Haus wurde wieder aufgebaut das Haus wurde wieder aufgebaut<br />
wiederentdecken wieder entdecken<br />
ich habe ihn wiederentdeckt ich habe ihn wiederentdeckt<br />
oder: habe ihn wieder entdeckt<br />
wiedererkennen wieder erkennen<br />
wiedereröffnen wieder eröffnen<br />
wiedererstehen wieder erstehen<br />
wiedererzählen wieder erzählen<br />
wiederfinden wieder finden<br />
wiedergeboren wieder geboren<br />
wiedergutmachen wieder gutmachen<br />
wiederimpfen wieder impfen<br />
wiedersehen wieder sehen<br />
51
wiederverheiraten wieder verheiraten<br />
wiederverkaufen wieder verkaufen<br />
er hat die Waren wiederverkauft wieder verkauft [in beiden Fällen]<br />
(als Großhändler); aber: ich habe das Auto<br />
wieder verkauft<br />
wiederwählen wieder wählen<br />
wievielerlei > wie vielerlei wievielerlei<br />
wievielmal > wie vielmal wievielmal<br />
In Bertelsmann I sind mehrere Einträge nach dem Muster von wiederaufbauen bzw.<br />
wiederentdecken gestaltet, ohne daß klar wäre, ob zwischen „oder“ und „aber“ ein<br />
Unterschied besteht. Die vermehrte Getrenntschreibung von Verb und Verbzusatz führt<br />
dazu, daß Duden und Bertelsmann X nunmehr das Regelwerk (§ 34) gleichermaßen<br />
falsch auslegen.<br />
- (wohlgefühlt > wohl gefühlt) wohlfühlen > wohl fühlen<br />
wohlgemeint wohl gemeint<br />
wohlgetan > wohl getan -<br />
- wohlsituiert > wohl situiert<br />
wohltemperiert -<br />
wohltuend > wohl tuend -<br />
- wohlüberlegt > wohl überlegt<br />
wohlunterrichtet wohl unterrichtet<br />
wohlverwahrt wohl verwahrt<br />
Anmerkung: Der Eintrag wohlfühlen > wohl fühlen in Bertelsmann X (und<br />
entsprechend zum Partizip in Bertelsmann I) ist unrichtig, da auch die bisher gültige<br />
Rechtschreibung nur Getrenntschreibung vorsah. – Es fällt auf, daß mehrere Einträge<br />
ersatzlos gestrichen sind. Im übrigen ist durchweg an den Duden angeglichen worden.<br />
Das zeigt sich auch bei der Schließung von Stichwortlücken in anderen Bereichen des<br />
Wörterbuch. So fehlte in Bertelsmann I der Eintrag Russisch Brot; in Bertelsmann X ist<br />
er nachgetragen und zugleich die Umwandlung in Russischbrot angegeben – ganz wie<br />
im Duden, jedoch ohne Stütze durch das amtliche Regelwerk. Eine große Anzahl<br />
Einträge vom Typ „Heavy Metal“ bzw. „Heavy Metal Nv. > Heavymetal Hv.“ ist<br />
grundsätzlich falsch, da die bisherige Schreibweise Kleinschreibung des Substantivs<br />
vorsieht: Heavy metal.<br />
Abweichungen zwischen Bertelsmann und Duden<br />
(Auswahl, ohne Silbentrennung)<br />
Die kursiv gedruckten Schreibweisen entsprechen der bisher gültigen Norm [Duden,<br />
20. Aufl. Mannheim 1991]. Die fettgedruckten Schreibweisen sind in späteren<br />
Ausgaben des Bertelsmannwörterbuchs im Sinne einer Angleichung an die Duden-<br />
Rechtschreibung verändert worden.<br />
52
Bertelsmann (Juli 1996) Duden (August 1996)<br />
ach und weh schreien Ach und Weh schreien<br />
Albertinische Linie albertinische Linie<br />
allein seligmachend allein selig machend<br />
andersgeartet anders geartet<br />
anhand/an Hand anhand<br />
aufs allerhöchste aufs allerhöchste/Allerhöchste<br />
Alma mater Alma Mater<br />
Alter ego Alter Ego<br />
altwienerisch alt-wienerisch<br />
Ancien régime Ancien Régime<br />
arbeitsuchend Arbeit suchend<br />
Archimedisches Prinzip archimedisches Prinzip<br />
Armee-Einheit Armeeeinheit<br />
Armesünder, Armensünders usw.Armesünder, armen Sünders usw.<br />
das Außerachtlassen das Außer-Acht-Lassen<br />
Basedow-Krankheit Basedowkrankheit/Basedow-Krankheit<br />
Basic-English Basic English<br />
die Bessergestellten die Bessergestellten/besser Gestellten<br />
bittersüß bittersüß/bitter-süß<br />
blau machen blaumachen<br />
bleuen (schlagen) bläuen (schlagen)<br />
buchführend Buch führend<br />
Captatio benevolentiae Captatio Benevolentiae<br />
Carnet de passages Carnet de Passages<br />
Casus belli Casus Belli<br />
Consecutio temporum Consecutio Temporum<br />
Consilium abeundi Consilium Abeundi<br />
Corpus delicti Corpus Delicti<br />
Corpus iuris Corpus Juris<br />
Curriculum vitae Curriculum Vitae<br />
dafürkönnen dafür können<br />
desungeachtet des ungeachtet<br />
diensthabend Dienst habend<br />
53
diensttuend Dienst tuend<br />
Dies irae Dies Irae<br />
Dolce vita/Dolcevita Dolce Vita<br />
doppelt kohlensauer doppeltkohlensauer<br />
dünn machen dünnmachen/dünn machen<br />
Eau de toilette Eau de Toilette<br />
eben solche ebensolche<br />
mit ehestem mit Ehestem<br />
ein für allemal ein für alle Mal<br />
einigemal einige Mal<br />
auf das engste auf das engste/Engste<br />
epochemachend Epoche machend<br />
erfolgversprechend Erfolg versprechend<br />
Erholungsuchende Erholung Suchende/Erholungsuchende<br />
Eustachische Röhre eustachische Röhre<br />
Facultas docendi Facultas Docendi<br />
fernhalten fern halten<br />
fertigmachen fertig machen<br />
festangestellt fest angestellt<br />
festbesoldet fest besoldet<br />
Fin de siècle Fin de Siècle<br />
Fines herbes Fines Herbes<br />
fleischgeworden Fleisch geworden<br />
fliegende Fische Fliegende Fische<br />
Fraunhofer-Linien, Fraunhofersche L. Fraunhoferlinien, fraunhofersche L.<br />
frei haben freihaben<br />
frei bekommen freibekommen<br />
Frucht bringend fruchtbringend<br />
fürs erste fürs Erste<br />
Gallup-Institut Gallupinstitut<br />
Genus verbi Genus Verbi<br />
gerade biegen gerade biegen, geradebiegen (übertr.)<br />
glattgehen glatt gehen<br />
glatthobeln glatt hobeln<br />
54
glattlegen glatt legen<br />
glattschleifen glatt schleifen<br />
glattstreichen glatt streichen<br />
glattziehen glatt ziehen<br />
gleichbleiben gleich bleiben<br />
gleichgesinnt gleich gesinnt<br />
gleichgestimmt gleich gestimmt<br />
Glimmstengel Glimmstängel<br />
good-bye goodbye<br />
Gott bewahre! gottbewahre!<br />
gräko-lateinisch gräkolateinisch<br />
Grauen erregend Grauen erregend/grauenerregend<br />
Gregorianischer Choral gregorianischer Choral<br />
Grimmsch grimmsch<br />
Guck-in-die-Luft Guckindieluft<br />
guten Abend sagen guten/Guten Abend sagen<br />
gutgesinnt gut gesinnt<br />
halb lang halblang<br />
halblinks, halb links halb links<br />
Hawaii-Inseln Hawaiiinseln<br />
Heavy Metal Heavymetal<br />
Hegelsch hegelsch<br />
heiß laufen heißlaufen<br />
hierhergehörig hierher gehörig<br />
High-Tech-Industrie Hightechindustrie (m. Verweisen)<br />
hinterdrein laufen hinterdreinlaufen<br />
hochachten hoch achten<br />
hochbegabt hoch begabt<br />
hochempfindlich hoch empfindlich<br />
hochentwickelt hoch entwickelt<br />
hochgeehrt hoch geehrt<br />
hochgestellt hoch gestellte Persönlichkeiten,<br />
hochgestellte Indizes<br />
hochgewachsen hoch gewachsen<br />
hochschätzen hoch schätzen<br />
55
hochstehend hoch stehend<br />
Hohelied, des Hohenliedes Hohelied/Hohe Lied, des Hohen Liedes<br />
Hohepriester, Hohenpriesters usw. Hohepriester/Hohe Priester, Hohen<br />
Priesters<br />
hurra (rufen) Hurra/hurra (schreien)<br />
Huygenssches Prinzip huygenssches Prinzip<br />
I-Punkt i-Punkt<br />
i. allg. (im allgemeinen) i. Allg. (im Allgemeinen)<br />
immerwährend immer während<br />
Inkrafttreten In-Kraft-Treten<br />
insonderheit in Sonderheit<br />
ja und amen sagen ja und amen/Ja und Amen sagen<br />
jedesmal jedes Mal<br />
jenseits von Gut und Böse jenseits von gut und böse<br />
Kargo Cargo/Kargo<br />
klar machen klarmachen<br />
Kölnisch Wasser kölnisch Wasser<br />
kurzhalten kurz halten<br />
kurztreten kurz treten<br />
Lapsus calami, linguae, memoriae Lapsus Calami, Linguae, Memoriae<br />
Latin-Lover Latinlover/Latin Lover<br />
linksstehend links stehend<br />
Mache-Einheit Macheeinheit<br />
Machzahl/Mach-Zahl Machzahl<br />
Maître de plaisir Maître de Plaisir<br />
Maschine geschrieben maschinegeschrieben<br />
Maschinen geschrieben maschinengeschrieben<br />
millionenmal Millionen Mal<br />
Missing Link Missinglink/Missing Link<br />
Modus procedendi, vivendi Modus Procedendi, Vivendi<br />
Mundvoll Mund voll<br />
New Yorker New Yorker/New-Yorker<br />
nicht leitend/nichtleitend nicht leitend<br />
nochmal noch mal<br />
No-Future-Generation Nofuturegeneration/No-Future-Generation<br />
56
Nutz bringend nutzbringend<br />
off line offline<br />
on line online<br />
Pidgin-Englisch Pidginenglisch<br />
Pour le mérite Pour le Mérite<br />
preziös pretiös/preziös<br />
Primus inter pares Primus inter Pares<br />
probefahren Probe fahren<br />
rechtsstehend rechts stehend<br />
reinwaschen rein waschen<br />
Sankt Galler Sankt-Galler<br />
Schenktisch, -wirt Schänktisch/Schenktisch, -wirt<br />
schaudererregend Schauder erregend<br />
schreckenerregend Schrecken erregend<br />
schwarzrotgolden schwarzrotgolden/schwarz-rot-golden<br />
selbst entzündlich selbstentzündlich<br />
soviel wie möglich so viel wie möglich<br />
soviel für heute so viel für heute<br />
noch einmal soviel noch einmal so viel<br />
ich bin soweit ich bin so weit<br />
sowenig (ich verstehe) so wenig (du gelernt hast)<br />
spinnefeind Spinnefeind<br />
Stabat mater Stabat Mater<br />
strammziehen stramm ziehen<br />
Summum bonum Summum Bonum<br />
tausend und abertausend tausend und abertausend/Tausend<br />
und Abertausend<br />
Tertium comparationis Tertium Comparationis<br />
treugesinnt treu gesinnt<br />
treusorgend treu sorgend<br />
trockensitzen trocken sitzen<br />
unverrichteterdinge/unverrichteter Dinge unverrichteter Dinge<br />
unverrichtetersache/unverrichteter Sacheunverrichteter Sache<br />
vielsagend viel sagend<br />
vielversprechend viel versprechend<br />
57
Viola d’amore, da braccio, da gamba Viola d’Amore, da Braccio, da Gamba<br />
Voltasche Säule voltasche Säule<br />
im vorstehenden im Vorstehenden<br />
wachhalten wach halten<br />
etw. warm halten, sich jdn. warmhalten warm halten (nur so)<br />
weit gehend weitgehend/weit gehend<br />
weiterbestehen, weiter bestehen weiter bestehen<br />
weit hinaus weithinaus<br />
wiederaufbauen wieder aufbauen<br />
wiederentdecken wieder entdecken<br />
wiederbeleben wieder beleben<br />
wiedererkennen wieder erkennen<br />
wiedereröffnen wieder eröffnen<br />
wiederfinden wieder finden<br />
wiedergeboren wieder geboren<br />
wiedergutmachen wieder gutmachen<br />
wiedersehen wieder sehen<br />
wiedervereinigen wieder vereinigen<br />
wiederwählen wieder wählen<br />
wie vielerlei wievielerlei<br />
wie vielmal wievielmal<br />
wohlbekannt wohl bekannt<br />
wohlgemeint wohl gemeint<br />
wohl getan wohlgetan<br />
wohltemperiert wohl temperiert<br />
wohltuend wohl tuend<br />
wohlunterrichtet wohl unterrichtet<br />
wohlverwahrt wohl verwahrt<br />
zart besaitet zart besaitet/zartbesaitet<br />
zart fühlend zart fühlend/zartfühlend<br />
die oberen Zehntausend die oberen zehntausend<br />
Zeit raubend zeitraubend<br />
Zeit sparend zeitsparend<br />
58
Anmerkungen zur Resolution der Bildungsverbände (30.6.1997)<br />
JA ZUR RECHTSCHREIBREFORM! NEIN ZU NEUEN IRRITATIONEN! 64<br />
1. Die Rechtschreibreform in der heutigen Fassung ist nach jahrelanger Diskussion<br />
und unter Einbeziehung aller gesellschaftlichen und politischen Gremien im Konsens<br />
verabschiedet worden.<br />
Die Reformer sind durch ihre politischen Auftraggeber gezwungen worden, kurzfristig<br />
einen ganz anderen Entwurf auszuarbeiten, als sie eigentlich wollten. Das beweist ein<br />
Vergleich der Fassung von 1992 (die Gegenstand der Anhörung von 1993 war) mit der<br />
endgültigen Fassung. Die Vorlage vom Sommer 1995 stimmt auch nicht mit der im<br />
November 1994 in Wien verabschiedeten, nicht veröffentlichten Fassung überein. Die<br />
heute vorliegende Fassung war niemals Gegenstand einer wissenschaftlichen oder<br />
öffentlichen Diskussion, geschweige denn einer in solchen Fällen dringend<br />
notwendigen Erprobung.<br />
2. Die Rechtschreibung wurde durch die Neuregelung behutsam weiterentwickelt.<br />
Widersprüchliches des alten Regelwerkes wurde beseitigt, ebenso unerklärliche<br />
Besonderheiten und Ausnahmen von Ausnahmen.<br />
In Ermangelung konkreter Beispiele bleibt diese Behauptung leer. Meine eigenen<br />
Analysen ergeben im Gegenteil eine ungeheure Komplizierung der Regeln. Die<br />
angeblich beseitigten „unerklärlichen Besonderheiten“ erweisen sich bei genauerem<br />
Hinsehen als größtenteils sehr wohl begründbare Differenzierungen, welche die<br />
Sprachgemeinschaft im Laufe der Jahrhunderte ausgearbeitet hat und die nun teilweise<br />
beseitigt werden sollen. Nach dem Urteil so bedeutender Experten wie Peter Eisenberg<br />
und Horst H. Munske folgt die Reform keineswegs der Entwicklungstendenz der<br />
deutschen Orthographie, sondern läuft ihr im Gegenteil in vieler Hinsicht zuwider<br />
(vermehrte Großschreibung und Getrenntschreibung, Kommasetzung).<br />
Daß Entdifferenzierung mit Komplizierung und vermehrter Unübersichtlichkeit<br />
einhergehen kann, beweisen die neuen Regeln der Kommasetzung, aber auch die Groß-<br />
und Kleinschreibung, von der sogar die Reformer Sitta und Gallmann selbst sagen,<br />
man könne hier nur durch Nachschlagen im Wörterbuch zum Ziel kommen! Unter den<br />
112 numerierten Paragraphen verbergen sich mehr als 1000 Einzelregeln.<br />
3. Die Rechtschreibreform ist pädagogisch sinnvoll:<br />
• weil durch die Straffung der Regeln Lernhindernisse abgebaut werden,<br />
• weil durch überschaubare Regeln den Schülern und Schülerinnen mehr Sicherheit<br />
beim Schreibenlernen und in der Rechtschreibung gegeben wird.<br />
Das neue Regelwerk hat mindestens denselben Umfang wie das alte, nur die<br />
Numerierung der Paragraphen täuscht eine geringere Zahl von Regeln vor. Manche<br />
Paragraphen sind 3 bis 4 DIN-A4-Seiten lang. Wichtige Ausnahmeregeln sind in<br />
64 Als Unterzeichner sind angegeben: Arbeitsgemeinschaft von Jugendbuchverlagen;<br />
Bundeselternrat; Bundesverband der Lehrer an beruflichen Schulen; Deutscher Didacta-<br />
Verband; Deutscher Philologen-Verband; Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft;<br />
Verband Bildung und Erziehung; Verband der Schulbuchverlage.<br />
59
nichtnumerierten Unterparagraphen und Beispiellisten versteckt. Das Regelwerk ist so<br />
wenig „überschaubar“, daß die professionellen Wörterbuchmacher daraus in<br />
Tausenden von Fällen keine eindeutigen Entscheidungen ableiten konnten. Die<br />
Schweizer Reformer beurteilen das Regelwerk realistischer: „Der Text ist schwer lesbar.<br />
Das hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass sich seine Formulierungen an der<br />
Gesetzessprache ausrichten. Nicht ganz ohne Einfluss ist allerdings auch, dass viele<br />
Festlegungen Ergebnis von Kompromissen zwischen verschiedenen Ansätzen sind –<br />
und auch hier verderben viele Köche den Brei.“ Anderswo werden sie noch deutlicher:<br />
„Was wir brauchen, sind Regeln, die die Menschen verstehen, die für sie gemacht sind,<br />
an denen sie sich orientieren können. Das Regelwerk ist ein juristischer Text, an dem<br />
man das nicht kann.“<br />
4. Seit dem Schuljahr 1996/97 lehren viele tausende Lehrerinnen und Lehrer und<br />
lernen Millionen Schülerinnen und Schüler nach dem reformierten Regelwerk – in<br />
Deutschland, Österreich und der Schweiz. Sie tun dies mit großer<br />
Selbstverständlichkeit und mit gutem Erfolg, wie es Schülertests beweisen.<br />
Objektive Tests liegen nicht vor, statt dessen das berüchtigte, nach seiner Entlarvung<br />
nie mehr erwähnte „Mogeldiktat“ und ähnlich trügerische Produkte. Immer mehr<br />
Lehrer schließen sich einer Protestbewegung an, weil sie merken, daß die Neuregelung<br />
nicht hält, was sie verspricht. Auch werden regelmäßig zu wenige Fehler angestrichen,<br />
weil z. B. die Tücken der neuen obligatorischen Kommasetzung nicht verstanden<br />
worden sind. Was ist im übrigen von einem „Erfolg“ zu halten, der darin besteht, daß<br />
die folgsamen Schüler objektiv falsche, weil ungrammatische Schreibungen wie<br />
Leid tun usw. reproduzieren? In der Schulwirklichkeit ist bisher kaum mehr als die<br />
neue ss-Schreibung geübt worden, die sich ebenso leicht lernen läßt wie die alte und<br />
die allein fehlerträchtige Unterscheidung von das/daß (jetzt das/dass) überhaupt nicht<br />
berührt.<br />
5. Schüler, Eltern und Verlage müssen sich auf die vor einem Jahr getroffene<br />
politische Entscheidung verlassen können. Damit sich Lehrerinnen und Lehrer sowie<br />
die Eltern wieder auf wichtige pädagogische Fragen konzentrieren können. Und<br />
damit sich die Politiker so schnell wie möglich wieder den wirklichen Problemen<br />
zuwenden.<br />
Es wäre in der Tat zu wünschen, wieder eine verläßliche einheitliche Rechtschreibung<br />
zu besitzen. Diese ist jedoch durch die voreilige Einführung einer unausgereiften<br />
Reform zerstört worden und nicht durch die Kritik daran. Das beweisen unter anderem<br />
die Wörterbücher mit ihren unzähligen Widersprüchen. (Aber selbst wo sie<br />
übereinstimmen, können sie falsch liegen, wie das bekannte Beispiel wieder sehen<br />
beweist!)<br />
Rechtschreibunterricht ist nicht das Wichtigste in der Schule, aber unwichtig ist er<br />
auch nicht, da die Gestaltung schriftlicher Texte eine der hervorragendsten<br />
Kulturtechniken ist. Die Reformer Gallmann und Sitta bemerken sehr treffend: „Das<br />
Erlernen der Rechtschreibung ist ein langer Prozess, der nicht in vier, fünf Jahren<br />
abgeschlossen ist.“<br />
Was die „wichtigen“ Fragen in der Politik betrifft, so ist es bekanntlich in einer<br />
Demokratie Sache der Bürger selbst, darüber zu befinden, was sie für wichtig halten.<br />
Das allgemeine Interesse und der breite Protest gegen die verordneten Neuschreibungen<br />
zeigen, daß einer sehr großen Zahl von Bürgern die Sprache und die Schrift<br />
60
nicht unwichtig sind. Dies haben sogar die Reformer selbst im allgemeinen als<br />
erfreulich bewertet.<br />
Vielfach ist auch ein Unbehagen darüber spürbar, daß die Politiker, die in derart<br />
„unwichtigen“ Fragen weder sachlich überzeugend noch mit offenen, demokratischen<br />
Verfahren zu operieren vermögen, auch den „wichtigen“ Reformen nicht gewachsen<br />
sein könnten.<br />
Dieser Text wurde in neuer Rechtschreibung geschrieben. Probleme?<br />
Diese provokative Schlußzeile ist ein Eigentor. Der Text ist so gehalten, daß sich durch<br />
die Neuregelung keinerlei Änderungen ergeben. Wo sich nichts ändert, ist auch keine<br />
Erleichterung möglich. Wozu dann eine Neuregelung, die solche Kosten verursacht,<br />
daß die Schulbuchverleger mit vollem Recht darauf bestehen, aus wirtschaftlichen<br />
Gründen müsse endlich wieder orthographische Verläßlichkeit einkehren?<br />
Im deutschsprachigen Raum herrschte bis vor kurzem eine geradezu einzigartige<br />
orthographische Einheitlichkeit – auf der Grundlage einer zwar nicht vollkommenen,<br />
im Kernbereich aber sehr gut strukturierten, hoch differenzierten und dennoch – etwa<br />
im Vergleich zum Englischen oder Französischen – nicht allzu schwierigen<br />
Orthographie. Das ganze Jahrhundert hindurch blieb die deutsche Orthographie<br />
erstaunlich gleich; man kann ganze Jahrgänge einer Zeitschrift etwa aus den dreißiger<br />
Jahren lesen, ohne auf irgendeine auffällige Abweichung vom heutigen Brauch zu<br />
stoßen. Sollte sich die Neuschreibung durchsetzen, würde dies zu einer künstlichen<br />
und unverdienten Veralterung der gesamten Literatur führen, eine Art Patina würde<br />
sich über die Texte des Jahrhunderts legen und eine nicht zu unterschätzende Barriere<br />
vor jungen Leuten aufrichten, die ja schon jetzt kaum noch zu bewegen sind, Texte in<br />
Fraktur zu lesen.<br />
Die „Gesellschaft für deutsche Sprache“<br />
Die Gesellschaft für deutsche Sprache (GfdS) war von Anfang an in die Ausarbeitung<br />
der Rechtschreibreform eingebunden, hatte aber wenig Einfluß. Die Einbindung sollte<br />
wohl eher den möglichen Widerstand aus dem traditionsreichen Sprachpflegeverein<br />
neutralisieren. Auch in der zwischenstaatlichen Rechtschreibkommission sitzt ein<br />
Vertreter der GfdS und fühlt sich verpflichtet, die Reform nicht nur in der<br />
Öffentlichkeit, sondern auch gegen die Mitglieder zu vertreten. Der frühere Vertreter<br />
der GfdS im Internationalen Arbeitskreis für Orthographie, Hermann Zabel, war auch<br />
innerhalb des Vereins so umstritten, daß er in der Kommission als Fehlbesetzung<br />
erschienen wäre. Diese Rolle nahm Rudolf Hoberg wahr, der inzwischen auch<br />
Vorsitzer der GfdS geworden ist. Die GfdS wird jedoch vor allem durch die<br />
Geschäftsführerin Karin Eichhoff-Cyrus (vormals Frank-Cyrus) auf striktem<br />
Reformkurs gehalten. Darüber gleich noch mehr. Ich gebe zunächst ein Schreiben an<br />
den Vorstand wieder, das ich nach Bekanntwerden der „Stellungnahme“ verfaßt hatte.<br />
Diese Stellungnahme sollte später auch dem Bundesverfassungsgericht vorgelegt<br />
werden.<br />
61
Anmerkungen zur<br />
„Stellungnahme zur Rechtschreibreform der Gesellschaft für deutsche Sprache“<br />
(18. 9. 1997)<br />
(Der Titel ist mißverständlich formuliert. In ihrer Sprachberatungspraxis würde die<br />
GfdS wahrscheinlich empfehlen, eine Umstellung vorzunehmen: „Stellungnahme der<br />
Gesellschaft für deutsche Sprache zur Rechtschreibreform“.)<br />
Daß die Reform „Ausnahmen und Ausnahmen von Ausnahmen“ weitgehend beseitige,<br />
läßt sich aus zwei Gründen bestreiten:<br />
Erstens ist es oft nur eine Frage der Darstellung, ob etwas als Regel oder als<br />
Ausnahme erscheint. So finden sich beispielsweise im Kapitel „Groß- und Kleinschreibung“<br />
weiterhin eine große Anzahl von Ausnahmen, die nicht mehr als solche<br />
erscheinen würden, wenn man die Großschreibung nicht so ausschließlich auf die<br />
Wortartmarkierung bezöge.<br />
Zweitens sind die „Ausnahmen“ des gültigen Duden in Wirklichkeit meist Differenzierungen,<br />
von denen nur einige aufgehoben werden. Zum Beispiel die Unterscheidung<br />
von aneinander hängen und aneinanderhängen, aufs schönste und aufs<br />
Schönste. (Im ersten Fall nur noch Getrenntschreibung, im zweiten beide Schreibungen<br />
unterschiedslos zu gebrauchen.) Es ist unredlich, hier von Beseitigung der Ausnahmen<br />
zu schwärmen und gleichzeitig die objektive Vergröberung, d. h. Verschlechterung der<br />
Orthographie zu verschweigen.<br />
Die Neuregelung macht das Lernen nicht einfacher, im Gegenteil, man kann sogar mit<br />
einer Erschwerung rechnen,<br />
• weil an unvorhersehbaren Stellen Varianten freigegeben werden<br />
• weil z. B. die Kommaregeln bei scheinbarer Liberalisierung unerhörte Komplikationen<br />
enthalten<br />
• weil die Regeln trotz ermüdender Explizitheit lückenhaft sind und in mehr als einem<br />
Dutzend Fällen ungenannte Zusatzregeln herangezogen werden müssen<br />
• wegen weiterer regeltechnischer Mängel, für die ich auf meinen Gesamtkommentar<br />
verweise<br />
• weil – und dies ist eigentlich das Schwerwiegendste, allerdings auch am schwersten<br />
Darstellbare – die Neuregelung in wesentlichen Teilen der wirklichen Entwicklungstendenz<br />
der deutschen Schriftsprache entgegenzuwirken versucht und daher einen<br />
ständigen Konflikt mit den seit Jahrhunderten feststellbaren Intuitionen der Sprachgemeinschaft<br />
heraufbeschwört.<br />
Nun zu den Einzelheiten:<br />
Die neue ss-Schreibung ist (bis auf die Konjugationsformen) von der Kürze und<br />
Betontheit des vorhergehenden Vokals bestimmt und kann daher nicht gleichzeitig für<br />
das Stammprinzip in Anspruch genommen werden, wie die Reformpropaganda und<br />
auch die „Stellungnahme“ es fortwährend suggerieren. Sogar die listige Einschränkung<br />
auf „dasselbe Wort“ (die das Stammprinzip zusätzlich verzerrt) hilft hier nicht weiter,<br />
man denke an § 25 E1: fließen - floss. Weiter: nummerieren ist keine „Korrektur“,<br />
sondern man verschiebt einfach die Ausgangsbasis (etwa von Numerus zu Nummer);<br />
62
überraschend und störend ist die Nichtzulassung der herkömmlichen Schreibung, bei<br />
sonstiger Variantenfreudigkeit. (Es wirkt so, als wolle man gerade den gebildeten<br />
Schreibern eins auswischen, nach dem Motto: Die Ersten werden die Letzten sein.)<br />
Daß die „Vereinfachung der Regeln für Getrennt- und Zusammenschreibung nach<br />
formalen Kriterien“ nicht gelungen ist, habe ich in verschiedenen Arbeiten gezeigt;<br />
mein umfangreicher Aufsatz zu §§ 34 und 36 der Neuregelung steht in der<br />
„Muttersprache“ 3/97. Besonders schwerwiegend ist, daß die Neuregelung die<br />
„formalen Kriterien“ der Betonung und der Nichtunterbrechbarkeit von<br />
Verbzusatzkonstruktionen nicht berücksichtigt. Wie ich gezeigt habe, sind auch<br />
spazierengehen und baden gehen grundverschieden strukturiert (baden gehen = zum<br />
Baden gehen, aber spazierengehen ≠ zum Spazieren gehen). Auf weitere Fehler hat<br />
Eisenberg schon vor Jahren hingewiesen. Die verordnete Getrenntschreibung von<br />
Infinitiv + Verb setzt sich darüber einfach hinweg, nach einem zwar formalen, aber<br />
unsachgemäßen Kriterium. – Irgendjemand und irgendetwas sollte man auch<br />
zusammen<strong>schreiben</strong> dürfen, aber die Getrenntschreibung war nicht unbegründet, da<br />
jemand und etwas im Unterschied zu welcher, wer, was usw. erststellenfähige<br />
Indefinitpronomina sind (traditionell: „größere Selbständigkeit“ bewahrt haben). (Die<br />
Behandlung von irgend in der Neuregelung ist auch nicht konsistent.)<br />
Die Großschreibung der formalen Substantivierungen in festen Wendungen wie im<br />
Allgemeinen, im Übrigen usw. greift auf eine im 19. Jahrhundert vorübergehend<br />
herrschende Gewohnheit zurück, gegen die damals von seiten der Germanistik<br />
berechtigter Einspruch erhoben wurde. Besinnt man sich darauf, daß die<br />
Großschreibung keineswegs primär der Wortartmarkierung dient, sondern der<br />
Heraushebung dessen, wovon in einem Text die Rede ist, so erscheint die Großschreibung<br />
der Floskeln als widersinnig – als Ausnahme und nicht als Bestätigung der<br />
Regel! Außerdem stellt sie wieder eine Entdifferenzierung dar, wie bereits gezeigt. Die<br />
(Wüstersche, von Gallmann neuerdings radikalisierte) Auffassung der<br />
Wortartmarkierung, die in der Schule praktisch auf die Artikelprobe hinauslaufen<br />
dürfte, ist zwar rein formal, aber primitiv und der wirklichen Entwicklung der<br />
deutschen Schriftsprache entgegengesetzt.<br />
Dasselbe gilt von der scheinbar konsequenten Kleinschreibung schwarzes Brett usw.,<br />
die in Analogie zu schwarze Liste, schneller Brüter usw., ausgeweitet wird. Wie<br />
Untersuchungen (u. a. von Petra Ewald, Horst H. Munske) gezeigt haben, macht die<br />
deutsche Sprachgemeinschaft in viel größerem Umfang von der Großschreibung<br />
sogenannter „fester Begriffe“ (Nominationsstereotype) Gebrauch, als es der Duden<br />
vorsieht: Schwarze Liste, Schneller Brüter. Auch hier stellt sich also die Neuregelung<br />
gegen die wirkliche Entwicklung der Sprache, d. h. gegen den offenkundigen Willen<br />
der Sprachgemeinschaft.<br />
Das Komma zwischen Hauptsätzen, die mit und verbunden sind, ist keineswegs so<br />
widersinnig, wie die Reformer uns einreden wollen. Das stellt sich nur aus einer<br />
verkehrten Sicht so dar, wenn man nämlich der Formel Glauben schenkt, daß und<br />
verbinde und das Komma trenne. In Wirklichkeit stellt jeder Hauptsatz einen „Schritt“<br />
im Fortgang des Textes dar, weshalb normalerweise ja auch ein Punkt – sogar<br />
zusammen mit und – zwischen ihnen steht. Das Komma trennt nicht, es verbindet<br />
vielmehr, so daß der Widerspruch zur Konjunktion nur in der Einbildung der Reformer<br />
existiert. Daß Schüler hier viele Fehler machen, ist ein pädagogisches Problem und<br />
damit nachrangig für die Beurteilung einer hochentwickelten Orthographie. Für<br />
63
professionelle Schreiber ist der Fall klar. (Übrigens bedienen sich die Reformer selbst,<br />
im Regelwerk und im ÖWB zum Beispiel, durchweg einer Kommasetzung Erster<br />
Klasse, d. h. sie machen keinen Gebrauch von den Lizenzen der Kommaweglassung<br />
und ignorieren insbesondere ihren eigenen Grundsatz, daß zwischen Hauptsätzen mit<br />
und sowie vor Infinitivgruppen im Normalfall kein Komma stehe.)<br />
Bindestriche konnte man – bei richtiger Interpretation von R 33 ff. des Duden – auch<br />
bisher schon im gleichen Umfang setzen wie nach der Neuregelung, mit der einzigen<br />
Ausnahme des ominösen schneeerhellt, das aber nie vorkam. Auf die bekannten<br />
Bedenken gegen einige neue Bindestrich-Empfehlungen (Brenn-Nessel, Still-Legung)<br />
sowie die inkonsistente Aufspaltung in Ergänzungs- und Bindestrich geht die GfdS<br />
nicht ein. Näheres in meinem Gesamtkommentar.<br />
Die Silbentrennung ist der Teil der Neuregelung, der als erster revidiert wird. Gegen<br />
eine behutsam weitergehende silbenmäßige Trennung bei Fremdwörtern ist nichts<br />
einzuwenden, sie wurde ja auch vom Duden regelmäßig weiterentwickelt. Daß<br />
neuerdings zulässige Trennungen wie Apost-roph usw. nicht in allen Wörterbüchern<br />
verzeichnet sind, spricht gegen die Zweckmäßigkeit der Neuregelung.<br />
Die Behauptung, die Nichttrennung von ck entspreche der Nichttrennung von ch, ist<br />
eine grobe Verkennung der Tatsachen. Unter den Digraphen muß man unterscheiden:<br />
• Behelfsschreibungen wie ch für den ich/ach-Laut,<br />
• Luxusschreibungen wie th, rh in Fremdwörtern,<br />
• graphische Geminaten wie ll, mm,<br />
• Ligaturen wie ck.<br />
Der systematische Ort von ck wird in § 3 der Neuregelung angegeben („Statt kk<br />
schreibt man ck“), die spätere Darstellung der Silbentrennung im Teil F desavouiert<br />
diese Angabe in unbegreiflicher Weise.<br />
Soweit zum Inhaltlichen. Den Protest der Bevölkerung als „meist unreflektiert und<br />
gefühlsmäßig“ abzutun, ist unzulässig. Es gibt unzählige Menschen, die den<br />
Intuitionen der „unreflektiert“ reagierenden Mehrheit tausendmal recht geben.<br />
Die Vorlage von 1992, die Gegenstand einer Anhörung war, unterscheidet sich sehr<br />
wesentlich von der heute vorliegenden Reform. Es ist unzulässig, die Zustimmung der<br />
GfdS-Mitglieder von damals (zumal beim heutigen Wissensstand) einfach auf die<br />
Neuregelung zu übertragen. Die Erwartung, daß die Mannheimer Kommission „die<br />
strittigen Fragen schnell klären wird“, ist völlig utopisch. Angesichts der inzwischen<br />
bekannt gewordenen Masse der „strittigen Fragen“ (um den Euphemismus einmal zu<br />
übernehmen) erscheint es vielmehr als ausgeschlossen, daß die Reform überhaupt noch<br />
zu retten ist.<br />
Die Mitglieder und die gesamte Öffentlichkeit dürfen erwarten, daß die Gesellschaft<br />
für deutsche Sprache sich nicht mit oberflächlichen Phrasen auf die Neuregelung<br />
bezieht („sicherlich insgesamt besser als die alte“), sondern sich auf eine Diskussion<br />
der objektiv vorhandenen Fehler, Lücken und Widersprüche einläßt. Die Größe der<br />
Aufgabe ist keine Entschuldigung dafür, sich mit Beschwichtigungsfloskeln aus der<br />
Affäre zu ziehen.<br />
64
Wie ich mit Betroffenheit zur Kenntnis nehmen muß, bezieht sich zum Beispiel die<br />
baden-württembergische Kultusministerin bereits auf die Stellungnahme der GfdS, um<br />
zu belegen, daß die deutsche Sprachwissenschaft die Rechtschreibreform unterstütze.<br />
Als Mitglied der GfdS protestiere ich nachdrücklich dagegen, ohne neuerliche<br />
Mitgliederbefragung gleichsam in Geiselhaft genommen zu werden für eine Reform,<br />
die von nahezu allen deutschen Sprachwissenschaftlern und der Mehrheit der<br />
Bevölkerung mit guten Gründen abgelehnt wird.<br />
Die Mitgliederversammlung der GfdS am 9./10. Mai 1998<br />
Soweit mein Brief, hier leicht gekürzt wiedergegeben. Während der Mitgliederversammlung<br />
am 10. Mai 1998 in Wiesbaden beantragte ich, folgendes zu erklären:<br />
„Die Gesellschaft für deutsche Sprache sieht sich zur Zeit außerstande, ein Votum<br />
zur Neuregelung der deutschen Rechtschreibung in der Fassung von 1996<br />
abzugeben, da unter den Mitgliedern keine eindeutige Meinung zu diesem<br />
Gegenstand festgestellt worden ist.“<br />
Der Antrag wurde mehrheitlich abgelehnt, ebenso wie zuvor der Antrag von Hildegard<br />
Krämer auf eine Mitgliederbefragung zur Reform; doch kam es während der<br />
Aussprache zu einer unschönen Szene. Die wissenschaftlichen Mitarbeiter, vertreten<br />
durch Helmut Walther (Schriftleiter des „Sprachdienstes“), Gerhard Müller<br />
(Schriftleiter der „Muttersprache“) und Uwe Förster, erklärten übereinstimmend, sie<br />
hätte in zwei Jahren tagtäglicher Sprachberatung mit der Neuregelung die Einsicht<br />
gewonnen, daß die Rechtschreibreform nichts tauge. Daraufhin wurden sie vom<br />
Vorstand (Vorsitzer Günther Pflug, Vorstandsmitglied Rudolf Hoberg, Geschäftsführerin<br />
Karin Frank-Cyrus) lautstark niedergemacht, ließen sich aber nicht<br />
einschüchtern. Bezeichnenderweise gaben sie auf die Frage, warum sie das nicht eher<br />
gesagt hätten, die Antwort, sie seien nie gefragt worden – was ein Licht auf das<br />
Betriebsklima in der Wiesbadener Geschäftsstelle warf, das besonders durch die<br />
Geschäftsführerin nachhaltig gestört sein soll und seither sicher nicht besser geworden<br />
ist. 65<br />
Für mich selbst war aber interessanter, was mir der Vorsitzer, Prof. Günther Pflug,<br />
während der Mittagspause triumphierend mitteilte: Er wisse bereits – wohlgemerkt:<br />
zwei Tage vor der Anhörung! – aus zuverlässiger Quelle, daß das Bundesverfassungsgericht<br />
im Sinne der Kultusminister entscheiden werde; nun seien nur noch die<br />
Volksbegehren zu fürchten. Ganz neu war mir das nicht, denn schon zehn Tage zuvor<br />
glaubte eine Mitarbeiterin der Deutschen Presse-Agentur dasselbe zu wissen und<br />
nannte sogar den Namen des Verfassungsrichters, der geplaudert hatte.<br />
Nach diesem Vorfall traten Prof. Helmut Glück (Zweigvorsitzer in Bamberg) und ich<br />
aus der GfdS aus.<br />
65 Die ganze Episode ist in der Niederschrift, wie sie im „Sprachdienst 4/98“ veröffentlicht<br />
ist, nicht enthalten.<br />
65
Regel und Ausnahme<br />
Auch die Neuregelung enthält zahllose Ausnahmebestimmungen. Man vergleiche die<br />
einzelnen Punkte bei der Groß- und Kleinschreibung oben! Das folgende ist nur eine<br />
Auswahl weiterer Fälle:<br />
• Die Paragraphen 4 und 5 handeln von der Verdoppelung von Konsonantenbuchstaben<br />
als Zeichen der Vokalkürze handeln. Sie enthalten 12 Gruppen von<br />
Ausnahmen. § 4 (6) wiederum stellt Ausnahmen von Ausnahmen zusammen.<br />
• Die Sätze einer Satzreihe wurden bisher auch dann durch Kommas abgetrennt, wenn<br />
zwischen ihnen Konjunktionen wie und oder oder standen. Als „Ausnahme“ kann<br />
man ansehen, daß in kurzen Sätzen wie Er grübelte und er grübelte oder nach<br />
formelhaften Aufforderungen wie Seien Sie bitte so nett und geben Sie mir das Buch<br />
kein Komma zu setzen war. In Wirklichkeit geht es hier um eine Verfeinerung, die<br />
dem Leser anzeigt, daß die fraglichen Sätze keine voneinander unabhängigen<br />
Sachverhalte oder Handlungen bezeichnen: Er grübelte und er grübelte – das sind<br />
nicht zwei Handlungen, und das Nettsein besteht gerade darin, daß man das Buch<br />
gibt, es sind nicht zwei verschiedene Dinge. Das ist durchaus nicht schwer zu<br />
verstehen, man kann es auch Schülern erklären. Die Neuregelung verringert hier die<br />
Regelungsdichte, indem sie auf eine klar definierte Unterscheidung verzichtet und<br />
statt dessen eine ganz vage Bestimmung einführt: Man könne ein Komma setzen,<br />
„um die Gliederung des Ganzsatzes deutlich zu machen“ (§ 76). Der Begriff der<br />
„Gliederung“ bleibt undefiniert, Unsicherheit ist die notwendige Folge. In den<br />
neuen Schulbüchern sind die Kommas unter genau gleichen Bedingungen völlig<br />
willkürlich einmal gesetzt und einmal nicht. Ein Schulbuchverlag antwortet auf<br />
meine Kritik an diesem verwirrenden Verfahren: „Dass unter nahezu gleichen<br />
Bedingungen einmal ein Komma steht und das andere Mal nicht, lässt sich wohl<br />
kaum vermeiden, so lange die Wahlmöglichkeit besteht.“ 66 Zugleich bestätigt der<br />
Verlag, daß auf den Druckfilmen alle Kommas, die zwar weiterhin stehen können,<br />
aber nicht mehr stehen müssen, mit dem Messer herausgekratzt worden seien (man<br />
sieht noch die Lücken), „um wenigstens an dieser Stelle einige der nahezu<br />
unkalkulierbaren Kosten für die Reform zu vermeiden“. Die Zeichensetzung wird<br />
also absichtlich auf das unterste Niveau heruntergeschraubt, das man Schülern – für<br />
deren eigene Schreibpraxis! – gerade noch abverlangen zu können glaubt. Von<br />
professioneller leserfreundlicher Kommasetzung bleiben sie unnötiger- und<br />
schädlicherweise auch als Leser verschont. Wie sollen sie je eine differenzierte<br />
Rechtschreibung lernen?<br />
• Die neue Nichttrennbarkeit von ck (Zu-cker) wird als Beseitigung einer Ausnahme<br />
eingeführt, denn ck, so heißt es, sei eine Buchstabenkombination, die wie ch für<br />
einen einzigen Konsonanten stehe. Nun bestimmt aber § 3 (1), daß ck eigentlich für<br />
kk steht, und in die Liste der Laut-Buchstaben-Entsprechungen (§ 22) ist ck mit<br />
Recht nicht aufgenommen. Das durch ck wiedergegebene k gehört nämlich (ebenso<br />
wie das m in kommen, das t in bitten usw.) zu beiden Silben gleichzeitig. Hier<br />
widerspricht sich das Regelwerk also, nur um nicht zugeben zu müssen, daß die<br />
neue Nichttrennbarkeit von ck gegen die erste Grundregel (Trennung nach<br />
Sprechsilben, § 107) verstößt. Die Neuregelung beseitigt also eine nur scheinbare<br />
66 Ernst Klett Grundschulverlag, Schreiben vom 30.9.1997.<br />
66
Ausnahme, führt aber eine wirkliche neue Ausnahme ein! (Und wenn rein<br />
phonetisch argumentiert werden soll: Auch die beiden f in Affe stehen für einen<br />
einzigen Konsonanten, werden aber dennoch getrennt! Und auch die drei f in<br />
Schifffahrt stehen für einen Konsonanten ...)<br />
• Adjektive auf -ig, -lich oder -isch sollen weder mit Verben zusammengeschrieben<br />
werden noch als Vorderglieder in Zusammensetzungen mit Adjektiven oder<br />
Partizipien eingehen. Als völlig unmotivierte Ausnahme führt das amtliche<br />
Wörterverzeichnis richtiggehend im Sinne von ,regelrecht‘ an. Zur Begründung<br />
wird nachträglich angegeben, daß hier kein Infinitiv richtig gehen zugrunde liege –<br />
ein Kriterium, das bei der abstrusen -ig/-lich/-isch-Regel überhaupt keine Rolle<br />
spielt. Als generelle Ausnahme kommen die ungeklärten Bindestrichkomposita wie<br />
römisch-katholisch hinzu.<br />
• Gewinnbringend darf nach § 36 eigentlich nur noch getrennt geschrieben werden.<br />
Ohne jede Begründung läßt das Wörterverzeichnis hier und in vier oder fünf<br />
ähnlichen Fällen (wie die Alleinstehenden) auch Zusammenschreibung zu. Dies hat<br />
große Unsicherheit hervorgerufen, weil die Vermutung aufkam, daß auch die<br />
Besserverdienenden und Hunderte von ähnlichen, durch die neuen Regeln<br />
beseitigten Wörter vielleicht via Wörterverzeichnis und Analogieschluß doch wieder<br />
möglich würden. (Aber wozu dann die Regeln, die es ausdrücklich verhindern?)<br />
• Alle Zusammensetzungen aus neu und Partizip wie neuvermählt, neubearbeitet<br />
usw. werden aufgelöst, nur neugeboren nicht. Der Grund wird zwar nicht<br />
angegeben, man darf aber vermuten, daß er im Fehlen eines entsprechenden<br />
Verbgefüges liegt (§ 36 E1 [1.2]): *Sie gebar es neu. Allerdings ist für neuvermählt<br />
auch nicht zugrunde zu legen *Sie vermählten sich neu. Denn dies würde etwas<br />
anderes bedeuten (= aufs neue).<br />
Die „Rechtschreibreform von 1901“ – eine Legende<br />
Unter Fachleuten ist bekannt, daß die um 1900 übliche Rechtschreibung nach der<br />
Zweiten Orthographischen Konferenz (1901) keineswegs „reformiert“, sondern im<br />
Gegenteil gegen willkürliche Veränderungen unter staatlichen Schutz gestellt wurde.<br />
Das hat insbesondere Wolfgang Kopke in seiner hervorragenden Dissertation (1995)<br />
noch einmal genau nachgewiesen.<br />
Trotzdem arbeiten die Reformer und ihre Freunde mit der Legende einer damals durchgeführten<br />
Reform, sei es, weil sie einen Präzedenzfall staatlicher Orthographielenkung<br />
67 benötigen, sei es, um die „staatliche Regelungsgewalt“ über die<br />
Orthographie von jenem Ereignis abzuleiten. Die verfassungsrechtliche Haltlosigkeit<br />
dieser Argumentation ist bei Kopke umfassend begründet; an dieser Stelle soll gezeigt<br />
werden, mit welchen Mitteln die Reformpropaganda arbeitet. Daß sie angesichts einer<br />
67 Der eigentliche Präzedenzfall ist, wie wir gleich sehen werden, die Reform des Reichserziehungsministers<br />
Rust. Sie wird von den Reformern totgeschwiegen.<br />
67
verbreiteten Unwissenheit 68 leichtes Spiel hat, beweist Dieter E. Zimmer, der in der<br />
„ZEIT“ mehrfach etwas behauptet hat, was sich in einer seiner Versionen so liest:<br />
„Die geltende Orthographie (...) ein Beamtenstreich von 1901.“ (ZEIT vom<br />
5.7.1996)<br />
Der Verband der Schulbuchverlage versteigt sich zu der Behauptung:<br />
„In Deutschland hat es bereits 1880 mit dem Erlass der ,Preussischen Regeln‘<br />
und 1901 zwei große Orthographiereformen gegeben.“ (Stellungnahme zur<br />
Verfassungsbeschwerde Elsner u.a. vom 10.11.1997)<br />
Der Deutschdidaktiker Wolfgang Menzel (zugleich Verfasser von Rechtschreibbüchern)<br />
will in einem Aufsatz „Vorurteile ausräumen, Fehleinschätzungen beseitigen“<br />
(in Eroms/Munske [Hg.] 1997). Nachdem er kräftig auf die Ignoranz der<br />
Reformkritiker geschimpft hat, gibt er folgendes zum besten:<br />
„Von den rund 800 Wörtern der 1809 von Johann Peter Hebel verfassten<br />
Kalendergeschichte ,Kannitverstan‘ haben sich in ihrer Schreibung mit der<br />
Reform vor fast hundert Jahren genau 40 Wörter verändert, darüber hinaus drei<br />
Kommas. Dieser Text hat also damals 43 Veränderungen erfahren (wie Armuth,<br />
Erkenntniß, gieng, nemlich, solcherley, Todtenkleid, zwey usw.).“ (S. 138)<br />
Der erfahrene Leser stutzt: Das sollen die Schreibweisen um 1900 gewesen sein? Man<br />
nimmt ein „Lesebuch für Höhere Mädchenschulen“ zur Hand, erschienen zu Nürnberg<br />
1901, also unmittelbar vor der angeblichen Rechtschreibreform, und liest:<br />
Der Mensch hat wohl täglich Gelegenheit, in Emmendingen oder Gundelfingen<br />
so gut als in Amsterdam, Betrachtungen über den Unbestand aller irdischen<br />
Dinge anzustellen, wenn er will, und zufrieden zu werden mit seinem Schicksal,<br />
wenn auch nicht viel gebratene Tauben für ihn in der Luft herumfliegen. Aber auf<br />
dem seltsamsten Umwege kam ein deutscher Handwerksbursche in Amsterdam<br />
durch den Irrtum zur Wahrheit und zu ihrer Erkenntnis. Denn als er in diese<br />
große und reiche Handelsstadt voll prächtiger Häuser, wogender Schiffe und<br />
geschäftiger Menschen gekommen war, fiel ihm sogleich ein großes und schönes<br />
Haus in die Augen, wie er auf seiner ganzen Wanderschaft von Tuttlingen bis<br />
nach Amsterdam noch keines erlebt hatte. Lange betrachtete er mit<br />
Verwunderung dies kostbare Gebäude, die sechs Kamine auf dem Dach, die<br />
schönen Gesimse und die hohen Fenster, größer als an des Vaters Haus daheim<br />
die Thür. (usw.)<br />
Einmal Thür und einmal Thräne, sonst aber genau die heute übliche Orthographie!<br />
Und sogar dieses th war schon in den siebziger Jahren in zahllosen Büchern nicht mehr<br />
zu finden gewesen und zum Beispiel aus der bayerischen Schulorthographie bis auf<br />
wenige Ausnahmen längst gestrichen.<br />
68 Während der Debatte zur Rechtschreibreform im Bayerischen Landtag am 27.10.1995 erklärte<br />
ein Abgeordneter: „Mit dieser Haltung hätten wir aber auch 1901 keine Rechtschreibreform<br />
geschafft, und viele Dinge würden noch so geschrieben wie im vorigen<br />
Jahrhundert.“<br />
68
Die heutige Reform, so Menzel weiter, ändere noch einmal 11 Schreibungen, meist<br />
wegen des ss. Drei Schreibungen würden sogar „rückerneuert“ 69 : Acht geben, den<br />
Letzten vom Zug, schwer fallen. Aber schon vor der „Reform“ hieß es in jenem Lesebuch<br />
acht geben und den letzten vom Zug, und was die Getrennt- und Zusammenschreibung<br />
angeht, so wurde sie damals bekanntlich ebenso wie die Zeichensetzung<br />
gar nicht amtlich geregelt. (In meinem Duden von 1905 ist schwer fallen bzw.<br />
schwerfallen daher überhaupt nicht verzeichnet.)<br />
Menzels „Fazit“: „Die Reform von heute wirkt sich auf die ,klassischen‘ Texte weit<br />
weniger aus als die Reform von 1901, nach deren Schreibung wir sie alle kennen und<br />
lieben.“<br />
Mein Fazit: Die „Reform von 1901“ ist ein Phantasieprodukt.<br />
Auswirkungen der Rechtschreibreform auf die Schulbücher<br />
Da die Zulassung von Schulbüchern durch die Kultusbehörden bekanntlich in einem<br />
weitgehend rechtsfreien Raum geschieht, tun die Schulbuchverlage gut daran, den<br />
wirklichen oder vermuteten Wünschen der Kultusministerien so weit wie möglich<br />
entgegenzukommen. Dies mag der Grund dafür sein, daß in den neuesten Sprach- und<br />
Lesebüchern verschiedener Verlage die Texte vieler Autoren teils postum (wie bei<br />
Thomas Mann, Robert Musil), teils ohne deren Wissen (wie bei Christa Wolf, Ilse<br />
Aichinger, Wolfgang Hilbig) der neuen Rechtschreibung angepaßt worden sind, und<br />
zwar weit über das „notwendige“ Maß hinaus. Das heißt, auch „Kann-Bestimmungen“<br />
der Neuregelung werden meist so ausgelegt, daß die veränderte Neuschreibung und<br />
nicht die ebenfalls noch zulässige Originalschreibung angewendet wird. Dadurch<br />
kommt es zu schwerwiegenden Entstellungen der Texte. Hierzu einige Beispiele:<br />
Indem ich die Feder ergreife um in völliger Muße und Zurückgezogenheit –<br />
gesund übrigens, wenn auch müde, sehr müde (sodass ich wohl nur in kleinen<br />
Etappen und unter häufigem Ausruhen werde vorwärts schreiten können), indem<br />
ich mich also anschicke meine Geständnisse in der sauberen und gefälligen<br />
Handschrift, die mir eigen ist, dem geduldigen Papier anzuvertrauen beschleicht<br />
mich das flüchtige Bedenken, ob ich diesem geistigen Unternehmen nach<br />
Vorbildung und Schule denn auch gewachsen bin.<br />
Dies ist der Anfang des „Felix Krull“ im „Sprachbuch 10“ vom Bayerischen<br />
Schulbuchverlag, Neuausgabe München 1997. Abgesehen von der Neuschreibung<br />
sodass, wo Getrenntschreibung nach wie vor zulässig wäre, und der Getrenntschreibung<br />
von vorwärts schreiten (die zufällig der ersten Ausgabe von 1922 entspricht),<br />
sind drei Kommas getilgt worden, weil sie nach der Neuregelung zwar noch stehen<br />
können, aber nicht mehr müssen. Dadurch wird aber Thomas Manns Text verfälscht,<br />
denn der Verfasser hat ja ganz bewußt mit einer usuellen Kommasetzung gearbeitet, sie<br />
ist Teil seiner Prosakunst. Die Neuschreibung versetzt ihn in die Klasse der Anfänger,<br />
denen man eine differenzierte Kommasetzung nicht zumuten möchte.<br />
69 Die (zufällige) Wiederherstellung von Schreibweisen früherer Jahrhunderte wird seltsamerweise<br />
auch vom bayerischen Kultusministerium immer wieder als Pluspunkt für die<br />
Reform angeführt.<br />
69
Schwere Eingriffe durch Kommatilgung und andere Maßnahmen muß sich auch Musil<br />
gefallen lassen, von dessen „Törleß“ das Sprachbuch einen Auszug abdruckt.<br />
Törleß seufzte unter diesen Gedanken und bei jedem Schritte, der ihn der Enge<br />
des Institutes näher trug, schnürte sich etwas immer fester in ihm zusammen.<br />
(Sprachbuch 10, S. 111, Komma nach „Gedanken“ gestrichen)<br />
Ich versprach ihm daher auch nur kurz mir noch überlegen zu wollen, was mit<br />
ihm geschehen werde. (Sprachbuch 10, S. 113, Komma nach „kurz“ gestrichen)<br />
Auch die eigentliche Wortschreibung bleibt nicht verschont. Hier ein Beispiel aus dem<br />
„Doktor Faustus“; es geht um die Beschreibung von Leverkühns Mutter, nach dem<br />
bekannten Dürerschen Bildnis:<br />
der feste, wie wir sagten: eigengemachte Rock<br />
Hier greift der Erzähler also bewußt zu einem alten, regionalen Ausdruck, der sich<br />
auch im Grimmschen Wörterbuch findet:<br />
EIGENGEMACHT, sua ipsius manu factus, selbstgemacht, eigengemachtes<br />
zeug, garn. 70<br />
Es ist ein Stilmittel zur Erzeugung des altdeutschen und bodenständigen Kolorits, das<br />
diesen Teil der Erzählung kennzeichnet. Obwohl der Erzähler ausdrücklich sagt, so<br />
habe man sich damals ausgedrückt, wissen die Bearbeiterinnen es besser: Nicht<br />
eigengemacht, sondern eigen gemacht habe man gesagt! 71 Sie wissen also nicht nur<br />
besser als Thomas Mann, wie man erzählt, sondern auch was es überhaupt zu erzählen<br />
gibt.<br />
Sehen wir uns noch kurz an, wie mit Christa Wolf umgesprungen wird 72 :<br />
Christa Wolf: Damals, im Sommer 1971, gab es den Vorschlag, doch endlich<br />
nach L., heute G., zu fahren, und du stimmtest zu.<br />
Sprachbuch 10: Damals, im Sommer 1971, gab es den Vorschlag doch endlich<br />
nach L., heute G., zu fahren und du stimmtest zu.<br />
Christa Wolf: Lenka war, wie immer, gut getroffen, nach eurer Meinung.<br />
Sprachbuch 10: Lenka war wie immer gut getroffen, nach eurer Meinung.<br />
Christa Wolf: Das Kind würde (...) die Puppe in den Arm nehmen, würde,<br />
verabredungsgemäß, in vorgeformter innerer Rede darüber staunen (...)<br />
Sprachbuch 10: Das Kind würde (...) die Puppe in den Arm nehmen, würde<br />
verabredungsgemäß in vorgeformter innerer Rede darüber staunen (...)<br />
Hier ist der zögernd-nachdenkliche Duktus von Christa Wolfs Prosa schlicht zerstört,<br />
zugunsten einer glatten Zeitungssprache. Auch diesmal bleibt die Wortschreibung nicht<br />
verschont:<br />
70 Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm, Bd. 3, Leipzig 1962, Sp. 92.<br />
71 Thomas Mann: Doktor Faustus, aus „Sprachbuch 10“. Bayerischer Schulbuch-Verlag<br />
München 1997, S. 162.<br />
72 Sprachbuch 10, S. 139f., alle Beispiele aus „Kindheitsmuster“.<br />
70
Christa Wolf: Nimm bloß den Sonnenplatz, dessen alten Namen du nicht ohne<br />
Rührung ins Polnische übersetzt auf den neuen blauen Straßenschildern<br />
wiederfandest.<br />
Sprachbuch 10: Nimm bloß den Sonnenplatz, dessen alten Namen du nicht ohne<br />
Rührung ins Polnische übersetzt auf den neuen blauen Straßenschildern wieder<br />
fandest.<br />
Bei diesem Beispiel kommt noch der allgemein verbreitete Irrtum hinzu, die<br />
„trennbaren Verben“ mit wieder würden künftig getrennt geschrieben. Das ist zwar<br />
falsch, aber der berüchtigte Paragraph 34 der Neuregelung ist so unklar formuliert, daß<br />
nach und nach fast alle neuen Wörterbücher zu dieser Fehlinterpretation gelangt sind.<br />
Aber nicht nur die Verhunzung der Literatur ist zu beklagen, auch die Lehrbuchtexte<br />
selbst zeigen die fatalen Folgen der Neuregelung. Zunächst gibt es kaum ein<br />
Schulbuch, dessen Bearbeiter die neuen Kommaregeln richtig verstanden hätten. In<br />
einem umgestellten Geschichtswerk des Cornelsen Verlags (dessen Chef als Vorsitzender<br />
des Verbandes der Schulbuchverlage besonders heftig für die Reform wirbt)<br />
fehlen Dutzende obligatorischer Kommas, etwa nach folgendem Muster:<br />
Einige meinen die Familie sei, ähnlich wie in Rom, dazu da die Kinder so zu<br />
erziehen, dass sie sich in der Gesellschaft „richtig“ bewegen können.<br />
(Geschichtsbuch 1. Neue Ausgabe, Berlin 1997, S. 229)<br />
Aber auch und gerade dort, wo die Neuregelung korrekt umgesetzt ist, zeigt sich deren<br />
Minderwertigkeit, etwa bei der Streichung der Kommas:<br />
Um weitere Bruderkriege unter den Stämmen zu vermeiden griffen Abu Bakr und<br />
sein Nachfolger Umar auf den Plan Mohammeds zurück den islamischen Staat<br />
nach Norden zu erweitern. (Ebd. S. 219)<br />
Und geradezu fatal bei der neuen Getrenntschreibung:<br />
Wie sich schon früher die Menschenaffen und die Menschenvorfahren<br />
auseinander entwickelt hatten ... (Ebd. S. 16)<br />
In Wirklichkeit hatten sich Affen und Menschen nicht auseinander entwickelt (die<br />
einen aus den anderen), sondern auseinanderentwickelt, wie denn auch wenig später<br />
von dieser Auseinanderentwicklung die Rede ist. Die Schüler sind hier in Gefahr, sich<br />
etwas Falsches einzuprägen.<br />
Diese Beispiele lassen sich mühelos vervielfachen.<br />
Das Verschwinden der Wörter aus den Wörterbüchern<br />
gezeigt an Langenscheidts Universalwörterbuch Englisch<br />
1997 1997 („Neue Rechtschreibung“)<br />
achtgeben Acht geben<br />
aufsehenerregend Aufsehen erregend<br />
auseinanderbringen auseinander bringen<br />
auseinandergehen auseinander gehen<br />
71
auseinanderhalten auseinander halten<br />
auseinandernehmen auseinander nehmen<br />
auseinandersetzen auseinander setzen<br />
bestehenbleiben bestehen bleiben<br />
bleibenlassen bleiben lassen<br />
durcheinanderbringen durcheinander bringen<br />
ebensogut ebenso gut<br />
ebensoviel ebenso viel<br />
ebensowenig ebenso wenig<br />
ekelerregend Ekel erregend<br />
erfolgversprechend Erfolg versprechend<br />
fallenlassen fallen lassen<br />
fernhalten fern halten<br />
fertigbringen fertig bringen<br />
fertigmachen fertig machen<br />
fettgedruckt fett gedruckt<br />
gefangennehmen gefangen nehmen<br />
gehenlassen gehen lassen<br />
genaugenommen genau genommen<br />
gewinnbringend Gewinn bringend<br />
glattrasiert glatt rasiert<br />
glühendheiß glühend heiß<br />
gutaussehend gut aussehend<br />
gutgehen gut gehen<br />
gutgelaunt gut gelaunt<br />
gutgemeint gut gemeint<br />
guttun gut tun<br />
haltmachen Halt machen<br />
kennenlernen kennen lernen<br />
kleinschneiden klein schneiden<br />
laufenlassen laufen lassen<br />
liegenbleiben liegen bleiben<br />
nahegehen nahe gehen<br />
naheliegen nahe liegen<br />
nahelegen nahe legen<br />
notleidend Not leidend<br />
offenlassen offen lassen<br />
offenstehen offen stehen<br />
ein paarmal ein paar Mal<br />
radfahren Rad fahren<br />
recht haben Recht haben<br />
richtigstellen richtig stellen<br />
saubermachen sauber machen<br />
schiefgehen schief gehen<br />
schwerverdaulich schwer verdaulich<br />
schwerverständlich schwer verständlich<br />
schwerverwundet schwer verwundet<br />
schwerwiegend schwer wiegend<br />
72
sitzenbleiben sitzen bleiben<br />
sogenannt so genannt<br />
soviel so viel<br />
spazierenfahren spazieren fahren<br />
spazierengehen spazieren gehen<br />
statt dessen stattdessen<br />
steckenbleiben stecken bleiben<br />
stehenlassen stehen lassen<br />
übelnehmen übel nehmen<br />
übereinanderschlagen übereinander schlagen<br />
übrigbleiben übrig bleiben<br />
übriglassen übrig lassen<br />
verlorengehen verloren gehen<br />
vielbeschäftigt viel beschäftigt<br />
vielsagend viel sagend<br />
vielversprechend viel versprechend<br />
vollfüllen voll füllen<br />
vollmachen voll machen<br />
volltanken voll tanken<br />
vorwärtskommen vorwärts kommen<br />
wieviel wie viel<br />
wiederaufnehmen wieder aufnehmen<br />
wiederbeleben wieder beleben<br />
wiedererkennen wieder erkennen<br />
wiedergutmachen wieder gutmachen<br />
wiedersehen wieder sehen<br />
wiederverwerten wieder verwerten<br />
zuwenig zu wenig<br />
zuviel zu viel<br />
zufriedenstellen zufrieden stellen<br />
zufriedenstellend zufrieden stellend<br />
Die Rechtschreibverwirrung<br />
Das erwartbare Rechtschreibchaos warf seine Schatten voraus:<br />
• Bei der Mannheimer Anhörung vom 23. Januar 1998 wurde mehrfach darauf<br />
hingewiesen, daß die Verlage wegen der Unzulänglichkeit des neuen Regelwerks<br />
inzwischen schon wieder zu Hausorthographien zurückgekehrt sind – wie im 19.<br />
Jahrhundert, vor der großen Errungenschaft der deutschen Einheitsorthographie.<br />
• Der Brockhaus-Verlag teilte Anfang 1998 seinen Autoren mit, daß er ein seit Jahren<br />
geplantes großes Projekt (ein sechsbändiges biographisches Sammelwerk<br />
„Lebensläufe“) endgültig abbreche – wegen der Diskussion um die Rechtschreibreform.<br />
• Die neue Brockhaus-Enzyklopädie erscheint jedoch seit November 1996 in neuer<br />
Rechtschreibung. Der Verlag warb dafür u. a. mit der Wiedergabe einer Doppelseite<br />
73
aus Bd. 1. Dort fanden sich mindestens 4 Verstöße gegen die Neuregelung, was<br />
40.000 orthographische Fehler für das Gesamtwerk bedeuten würde.<br />
• Der Bertelsmann-Verlag brachte sein massenhaft verbreitetes Universallexikon noch<br />
1998 in der „alten“ Rechtschreibung heraus, ebenso kurz darauf der Knaur Verlag<br />
das „Knaur Lexikon A – Z“. Erst seit 2000 forciert der Bertelsmannkonzern die<br />
Umstellung seiner Produkte, vor allem bei Übersetzungen aus Fremdsprachen und<br />
im Sachbuchbereich.<br />
• Das „Institut für deutsche Sprache“, das man wohl als eigentliche Brutstätte der<br />
Rechtschreibreform bezeichnen kann, gibt Ende 1997 eine monumentale<br />
„Grammatik der deutschen Sprache“ in drei Bänden heraus – in „alter“ Rechtschreibung!<br />
(Diese Grammatik enthält übrigens auch eine recht fehlerhafte<br />
Darstellung der geplanten Reform – was beweist, daß man die Neuregelung sogar<br />
am Ort des Geschehens nur sehr schwer verstehen kann.)<br />
• Germanistische Universitätsinstitute haben die zuständigen Kultusminister offiziell<br />
davon in Kenntnis gesetzt, daß sie keine Staatexamensaufgaben mehr stellen und<br />
keine Staatsexamensklausuren mehr korrigieren werden, wenn es bei der<br />
Einführung der neuen Rechtschreibung bleibe, die den Gegenstand des<br />
Germanistikstudiums, die deutsche Sprache, verunstalte.<br />
Was der Begriff „Hausorthographie“ bedeutet, kann man sich an der Zeitung „Die<br />
Woche“ klarmachen, die als einziges größeres Blatt am 1. Januar 1997 auf die neue<br />
Rechtschreibung umstellte (wie sie seither auf der ersten Seite jeder Ausgabe hervorhob;<br />
dennoch stieg die Auflage nicht, und 2002 mußte die Zeitung ihr Erscheinen<br />
einstellen). Die Kommasetzung beim Infinitiv ist weitgehend dem Zufall überlassen, d.<br />
h. unter genau gleichen Bedingungen steht das Komma oder auch nicht: Laut und<br />
aggressiv weigern sie sich auf den ihnen zugewiesenen Stühlen Platz zu nehmen.<br />
(9.4.1998) – Auf Schlichers Frage, wer meine, etwas gelernt zu haben, heben fast alle<br />
den Finger. (ebd.) Die neue Regel § 77(5) ist nicht verstanden, das Komma nach<br />
Vorgreifer-es fehlt also oft: weil es ihr Mann „kultig“ findet dort einzukaufen<br />
(27.3.1998), Vernünftiger als generelle Verbote wäre es die Schattenwirtschaft (...) zu<br />
legalisieren (ebd.) usw.<br />
Die Zeitung hat mehrmals einen Sonderdruck beigelegt, der die Neuregelung in<br />
vereinfachter Weise darbietet und zugleich in einem Wörterverzeichnis die von der<br />
„Woche“ selbst bevorzugten Varianten eigens kennzeichnet. Wo neben der weiterhin<br />
zulässigen bisherigen Schreibung eine neue eingeführt wird, gilt sie fast immer als<br />
Vorzugsvariante der „Woche“. Daher liest man in der bereits zitierten Ausgabe vom<br />
27.3.1998: Auf Grund des Terrors musste ein Paar schon aufgeben, eine<br />
Gesetzesinitiative zu Gunsten der Datschenpächter, wie dieser Langzeiteffekt zu<br />
Stande kommt. Hier werden also Archaismen wiederbelebt, längst übliche<br />
Univerbierungen rückgängig gemacht. Nicht nachvollziehbar ist, warum die Woche<br />
sich vornimmt, Tee-Ernte, aber Kleeernte zu <strong>schreiben</strong>. Sie schreibt auch hier zu<br />
Lande. Die Zusammenschreibung von Besserverdienende ist sinnvoll, entspricht aber<br />
nicht den neuen Regeln, die besser Verdienende verlangen; ebenso Andersdenkende<br />
statt anders Denkende, alles bisher Dagewesene statt da Gewesene (6.11.1998). Auch<br />
zu Gute kommen (18.4.1998) ist falsch und wäre ohne den Neuschreibeifer nicht<br />
passiert.<br />
74
Von der Öffentlichkeit kaum bemerkt, sind praktisch alle neuen und viele alte<br />
Kinderbücher inzwischen auf die Neuschreibung umgestellt. Dabei legen die<br />
Bearbeiter meist großen Wert darauf, auch solche Kommas zu streichen, die nach der<br />
Neuregelung ohne weiteres stehen dürften. Man will auf diese Weise wohl eine<br />
besondere Modernität oder auch Willfährigkeit beweisen und einen Platz in der<br />
Schulbücherei behalten bzw. ergattern.<br />
In Michael Endes „Wunschpunsch“ (Thienemanns Verlag) lesen wir jetzt: Sie haben<br />
einen Hohen Rat einberufen und der hat entschieden geheime Botschafter in alle<br />
Himmelsrichtungen zu schicken. Zwei Kommas sind gestrichen, der Satz liest sich<br />
entsprechend mühsam. Mit dem Lesen steht es ohnehin nicht gut bei deutschen<br />
Kindern. Nun stolpern sie auch noch ständig über Sätze wie Jakob bettelte dabei<br />
bleiben zu dürfen. Michael Ende hatte natürlich geschrieben: Jakob bettelte,<br />
dabeibleiben zu dürfen. In der Neubearbeitung von „Momo“ heißt es gar: es war Zeit<br />
sparender – eine grammatische Monstrosität, die aber den neuen Regeln entspricht.<br />
Auch die angesehene Reihe dtv-junior wird konsequent auf die Neuregelung<br />
umgestellt. Betrachten wir einige „korrekte“ (1) und anschließend einige inkorrekte (2)<br />
Umsetzungen der Reform aus dem Buch „Beschützer der Diebe“ von Andreas<br />
Steinhöfel (dtv junior 1998, „bearbeitete Neuausgabe nach den Regeln der<br />
Rechtschreibreform“):<br />
Wir treffen uns gegen fünf Uhr bei ihr um alles wegen heute Nacht zu besprechen.<br />
Tut mir Leid. (...) Tut mir echt Leid.<br />
Der Gedanke war mehr als Furcht erregend.<br />
einen besonders hoch empfindlichen Film<br />
ob sie etwas dagegen hätte nach Berlin zu ziehen<br />
dass der Glatzkopf sie wieder erkannte (gemeint ist eindeutig wiedererkannte)<br />
Es war idiotisch gewesen überhaupt mitzukommen.<br />
Seine Augen weiteten sich vor Erstaunen, als er sie wieder erkannte.<br />
weil es scheinbar unmöglich war ihm irgendwelche Informationen zu entlocken<br />
pelzigbraune Figuren<br />
Die Kundenzeitschrift eines Energieversorgungsunternehmens, das die Neuschreibung<br />
in vorauseilendem Gehorsam eingeführt hat, läßt sich ihren Kernbegriff<br />
energiesparend nicht nehmen, obwohl hier die Neuschreibung Energie sparend nach §<br />
36 obligatorisch ist. – Der Deutsche Kinderschutzbund ließ seine Mitgliederzeitschrift<br />
„Kinderschutz aktuell“ recht früh in Neuschreibung erscheinen – oder versuchte es<br />
wenigstens. Stichproben ergeben folgende Fehler:<br />
hartgesotten, verlorengegangen, tiefgehend, selbstbestimmt, weitergehend,<br />
zusammengehen (im Sinne von ,gemeinsam gehen‘), langanhaltend, kennenzulernen,<br />
ernstgenommen, schwerfällt, nahezubringen (2/1997)<br />
eine Zeitlang, alleinerziehend, überhandnehmend, ausreissen, ausser, Plazierung,<br />
13jährig, 12jährig, instandgesetzt, selbstorganisiert, selbstgewählt, sinnstiftend,<br />
im wesentlichen, sogenannt, alleinsorgeberechtigt (2/1998)<br />
75
Ein Jahr später beschränkt sich die Zeitschrift darauf, ss zu <strong>schreiben</strong> und sonst nichts!<br />
Ebenso halten es die „Zeitschrift für Semiotik“ seit Heft 1/1999, die Zeitschrift<br />
„Sprachwissenschaft“ u. a.<br />
Das bayerische Kultusministerium verfaßt offizielle Verlautbarungen seit längerem in<br />
der Neuschreibung. Trotz Nachschulung beherrschen die Mitarbeiter fast nur die s-<br />
Schreibung. Am 12.9.1997 unterzeichnete der Minister persönlich ein sehr fehlerhaftes<br />
Rund<strong>schreiben</strong> an alle Schulen (Az III/9-S4313-8/128389). In einem Papier zur Schulentwicklung<br />
vom 30.3.1998 findet man: im folgenden, des weiteren, profilgebend,<br />
hochbegabt, Drop-Outs, selbstgesteuert, auseinanderentwickeln, darüberhinaus, des<br />
einzelnen, im wesentlichen, fehlendes Komma nach hinweisendem Wort (ist es<br />
notwendig den Unterricht weiterzuentwickeln), mehrmals vor aber und sondern und in<br />
weiteren Fällen – im Durchschnitt zwei Fehler pro Seite. Solche orthographisch<br />
verwahrlosten Texte wären nicht möglich, wenn die bayerische Schulverwaltung ihrer<br />
eigenen Forderung nachkäme:<br />
„Auf die Pflege der Muttersprache, auf eine präzise, differenzierte und angemessene<br />
Ausdrucksweise, muss daher in allen Fächern und allen<br />
Unterrichtssituationen größter Wert gelegt werden.“ (A.a.O.)<br />
Verhältnismäßig korrekt setzt die vom bayerischen Kultusministerium herausgegebene<br />
Elternzeitschrift „schule aktuell“ die Neuschreibung um, doch schreckt die Redaktion<br />
vor den äußersten Härten zurück: Bisher waren seine Leistungen durchaus<br />
zufriedenstellend (2/98; „richtig“: zufrieden stellend 73 ).<br />
Das Institut für deutsche Sprache (IDS) hat dem Bundesverfassungsgericht am<br />
10.11.1997 eine Stellungnahme zugesandt, einen rhetorisch geschickt ausgearbeiteten<br />
Text in neuer Rechtschreibung. Er enthält siebzehn orthographische Fehler: des ABCs<br />
(Abcs oder Abeces), des neugefassten Regelwerks (neu gefassten), neugeregelt (neu<br />
geregelt), ebensowenig (ebenso wenig), in Folge dieser Gleichsetzung (einige Seiten<br />
später wird erklärt, warum es infolge heißen muß!), Stop (Stopp), weiter zu führen<br />
(weiterzuführen), weiter führend (weiterführend), gleichgeschrieben (gleich<br />
geschrieben), im übrigen (im Übrigen), kritisch-prüfend (kritisch prüfend), spezifischeigen<br />
(spezifisch eigen); Fälle wie weitgehend und weitreichend sind diskutabel, da<br />
sich ihre richtige Schreibung dem Regelwerk und Wörterverzeichnis nicht mit letzter<br />
Sicherheit entnehmen läßt.<br />
Als die Bundesverfassungsrichter am 12.5.1998 die Frage aufwarfen, welche Fachzeitschriften<br />
bereits auf die Neuregelung umgestellt hätten, nannte der Dudenchef nach<br />
einigem Nachdenken „Archäologie in Deutschland“. Eine Überprüfung ergab, daß<br />
diese Zeitschrift fast nur die neue s-Schreibung befolgt; im übrigen enthielt allein das<br />
Heft 3/1997 u. a. folgende Fehler: wasserführend, Brennessel, landverbrauchend,<br />
sogenannt, feinverteilt, verlorengegangen, fertiggestellt, letztere, der erste,<br />
liegengelassen, guterhalten, aufeinandergestellt, neuentdeckt, ineinandergreifen,<br />
zugrundeliegen, fernhalten, bekanntgeworden, darunterliegende, beinverarbeitend,<br />
ineinandergestapelt, bronze- und eisenverarbeitend, neugegründet, wieder entdeckt. –<br />
Dieser Befund ist durchaus repräsentativ für den Zustand neuschreiblicher<br />
Druckwerke.<br />
73 An einem oberbayerischen Gymnasium wurde eine Lehrerin vom Direktor gerügt, weil<br />
sie unter eine Schülerarbeit geschrieben hatte, die Arbeit sei zufriedenstellend. Sie hätte<br />
grammatisch falsch zufrieden stellend <strong>schreiben</strong> müssen.<br />
76
Im Bereich „Deutsch als Fremdsprache“ zeigen nicht nur die rasch umgestellten neuen<br />
Lehrwerke, sondern auch Fachzeitschriften wie „Zielsprache Deutsch“ und<br />
„Fremdsprache Deutsch“, wie schwer die neuen Regeln zu befolgen sind. Daß es<br />
Wörter wie sogenannt, auseinandersetzen, Deutschlernende, selbstgeschrieben,<br />
selbstbestimmt, fertiggestellt usw. einfach nicht mehr geben soll, will den Schriftleitern<br />
offenbar nicht einleuchten. Wer kann es ihnen verdenken? Vielleicht ist es aber auch<br />
bloß Zynismus, der sie dazu treibt, die ss-Schreibung – als minimale<br />
Unterwerfungsgeste – zu praktizieren und sonst fast nichts.<br />
Das neue Lehrwerk „Unterwegs“ vom Langenscheidt-Verlag besteht im Kern aus<br />
einem Materialienband in alter Rechtschreibung und einem Kursbuch in neuer – was<br />
an sich schon ein unhaltbarer Zustand ist. Dabei unterlaufen auch noch folgende<br />
Fehler: Ich finde es spannend auszuprobieren; zum Deutsch Sprechen, Gleichgesinnte,<br />
allein erziehend/Alleinerziehende/alleinerziehende Mütter (alles nebeneinander),<br />
zurecht kommen, kennengelernt (mehrmals), energiesparend, zu tiefst enttäuscht,<br />
weiter zu erzählen, zusammen gehören, als erste (mehrmals), es tut mir leid,<br />
zufriedenstellen (mehrmals), vorwärtskommen, stehenzubleiben, von Neuem, die<br />
untenstehende Tabelle, festgefügt, Fettgedrucktes, nochmal, hin und her spulen,<br />
drauflos reden, mit Tausend anderen, um so (mehrmals), Flüßchen (mehrmals), des<br />
sich Schlecht-Ernährens u. a. – Ebenso fehlerhaft ist das 1999 erschienene<br />
Lehrerhandbuch dazu.<br />
Im vierten Jahr nach der übereilten Einführung schreibt Peter Eisenberg:<br />
„Wie Mehltau legt sich die Neuregelung über unsere Literalität. Verdrängung und<br />
Halbherzigkeit sind angesagt, die Presse hat murrend und nur partiell umgestellt,<br />
es gibt zahlreiche Hausorthographien, die Schule lebt zu einem guten Teil mit<br />
Vermeidungsstrategien und mindestens neunzig Prozent der Schreiber verhalten<br />
sich, als sei nichts passiert.“ 74<br />
Die Rechtschreibreform von 1944<br />
Die Reformbetreiber pflegen jede vergleichende Erwähnung der Rechtschreibreform<br />
von 1944 als „Verunglimpfung“ zurückzuweisen. So reagierte auch die Vorsitzende der<br />
KMK sehr ungehalten, als der Präsident der Deutschen Akademie für Sprache und<br />
Dichtung am 12. 5. 1998 vor dem Bundesverfassungsgericht einen vergleichenden<br />
Blick auf die „Rustsche Reform“ zu werfen wagte. 75<br />
Bereits Wolfgang Kopke hat 1995 gezeigt, welche interessanten rechtlichen Aspekte<br />
sich aus der Rustschen Reform ergeben. Statt sich jedoch unvoreingenommen mit<br />
dieser Episode zu beschäftigen, tabuisiert man ihre bloße Erwähnung. Das dient weder<br />
der historischen Wahrheit noch der richtigen Einschätzung der gegenwärtigen<br />
Schwierigkeiten beispielsweise im Umgang mit vermehrten Schreibvarianten.<br />
In Wirklichkeit drängen sich die Parallelen zur heute geplanten Reform geradezu auf.<br />
Auch waren einige der sprachwissenschaftlichen Berater des Reichserziehungs-<br />
74 Linguistische Berichte 181, 2000, S. 120.<br />
75 Vgl. jetzt Birken-Bertsch/Markner: Rechtschreibreform und Nationalsozialismus.<br />
Göttingen 2000.<br />
77
ministers in den ersten Reformansätzen der Nachkriegszeit wieder aktiv, so daß es<br />
durchaus eine Kontinuität der Personen und Ideen gibt.<br />
Der wesentliche Gehalt der Rustschen Reform geht aus einem Beitrag des<br />
Mitverfassers Karl Reumuth hervor, der im Sommer 1944 in mehreren deutschen<br />
Zeitungen 76 abgedruckt war und 1953 durch den „Sprachwart“ aufs neue bekannt<br />
gemacht worden ist. Darin heißt es:<br />
„Mit behutsamer Hand hat der Gesetzgeber eine kleine Reform der Rechtschreibung<br />
durchgeführt. Er ist bei der Einführung neuer Schreibweisen dem<br />
Sprachgebrauch nachgegangen, der sich ganz unabhängig von der gesetzlichen<br />
Regelung bereits herausgebildet hat. Die neue Regelung erstreckt sich vor allem<br />
auf die Schreibung der Fremdwörter. Sie gibt den Weg zu einer eingedeutschten<br />
und vereinfachten Schreibung der Fremdwörter frei.<br />
Im praktischen Leben haben sich schon längst die Schreibungen Fotograf,<br />
Telefon, Frisör, Keks (für Cakes), Schal durchgesetzt. Diese neuen Schreibungen<br />
waren auch schon halbamtlich anerkannt. Das neue Regelbuch dehnt nunmehr die<br />
eingedeutschte Schreibweise auf alle Fremdwörter aus und ordnet folgerichtig an,<br />
daß die Buchstaben ph und th in Fremdwörtern durch f und t ersetzt werden und<br />
daß auch das h nach r wegfällt. Da der Gesetzgeber die allmähliche Anpassung an<br />
die neue Schreibung ermöglichen will, fügt er dieser Bestimmung hinzu, daß der<br />
bisherige Schreibgebrauch mit ph, th und rh weiterhin zulässig ist.<br />
Jede Rechtschreibform muß mit der Schreckwirkung rechnen, die die neuen<br />
Wortbilder im Leser und Schreiber hervorbringen. Aus diesem Grunde erlaubt der<br />
Gesetzgeber die Doppelschreibung. Es kann also nunmehr geschrieben werden:<br />
Filosof, Fosfor, Difterie, Sfäre, Sinfonie, Strofe, Rabarber, rytmisch, Teater, Tese,<br />
teoretisch. Die Endsilbe eur in Fremdwörtern nimmt die deutsche Schreibweise<br />
an, also: Frisör, Likör, Schofför. Darüber hinaus ist die Schreibung folgender<br />
Wörter eingedeutscht worden: Kautsch (Langliege), Majonnäse, Miliö, Ragu,<br />
Tambur, Träner, Tur (auf Turen bringen).<br />
Das neue Regelbuch enthält noch einige andere wichtige Bestimmungen. Es<br />
bringt eine erfreuliche Klärung in die Schreibung einiger Redewendungen: Ich<br />
fahre Rad, ich fahre Schlitten, ich schreibe Maschine. Bisher schrieb man: Ich<br />
fahre rad, aber: Ich fahre Schlitten. In diesen Fällen wird die einheitliche<br />
Großschreibung angeordnet. Es wird darüber hinaus empfohlen, die Grundform<br />
auseinanderzu<strong>schreiben</strong>, also: Rad fahren, Schlitten fahren usw. Man empfindet<br />
in diesen Redewendungen die Wörter Rad, Schlitten usw. noch ganz deutlich als<br />
Hauptwörter.<br />
Die Frage der allgemeinen Groß- und Kleinschreibung ist in dieser kleinen<br />
Reform noch nicht geregelt worden, sie bleibt für Lehrer und Schüler noch das<br />
Schulkreuz. Wir müssen weiterhin in der Schreibung unterscheiden: Er ist schuld,<br />
es ist seine Schuld; mir ist angst, ich habe Angst. Der Gesetzgeber lockert aber<br />
die Bestimmungen auf. Da sich diese Unterschiede nur schwer in Regeln fassen<br />
lassen, sollen die Abweichungen von der richtigen Schreibung nicht als<br />
Rechtschreibfehler gelten. Die Schüler werden diese Großzügigkeit des<br />
Gesetzgebers dankbar begrüßen.<br />
76 Zum Beispiel in der „Dortmunder NS-Zeitung“ vom 28.6.1944. (Ich danke H.<br />
Bodensieck, Universität Dortmund, für diesen Hinweis.)<br />
78
In den Zusammensetzungen, in denen der Mitlaut dreimal zu <strong>schreiben</strong> wäre,<br />
wird er künftig nur zweimal geschrieben, also nicht nur [in] Bettuch und<br />
Schiffahrt, sondern auch in Blattrichter, fettriefend, stickstoffrei usw. In den<br />
letzten Wörtern mußte der Mitlaut bisher dreimal geschrieben werden. Beim<br />
Abteilen erscheint der dritte Mitlaut wieder: Schiff-fahrt.<br />
Auch für das Silbentrennen bringt das Regelbuch eine Erleichterung. Die<br />
Silbentrennung erfolgt grundsätzlich nach Sprechsilben. Von Mitlautverbindungen<br />
kommt nur der letzte Mitlaut zur nächsten Silbe. Darum teilen wir<br />
nunmehr ab: wa-rum, da-rüber, aber auch Fens-ter, Rüs-tung, Karp-fen. Die<br />
Lautverbindung st wird also getrennt! Nur was deutlich als Zusammensetzung<br />
empfunden wird, ist in seine Bestandteile zu zerlegen: Himmel-angst, Gar-aus,<br />
kiel-oben.<br />
Das neue Büchlein führt in besonders eindringlicher Weise in die Regeln für die<br />
Zeichensetzung ein. Zahlreiche Beispiele veranschaulichen die Regel. Auch auf<br />
diesem Gebiet wird der Gesetzgeber dem Sprachleben gerecht. Er weist darauf<br />
hin, daß die Gliederung der Rede durch Stimmführung und Pausen nicht immer<br />
mit der Gliederung der Sätze durch Satzzeichen übereinstimmt. Abweichungen<br />
von den aufgestellten Regeln, soweit sie sich von der gesprochenen Sprache her<br />
begründen lassen, sollten nicht als Fehler der Zeichensetzung gelten. Neu ist die<br />
Regel, daß in Satzverbindungen vor 'und' und 'oder' kein Beistrich mehr gesetzt<br />
wird. Wir <strong>schreiben</strong> von nun an ohne Beistrich: Mein Bruder sucht Pilze und ich<br />
pflücke Heidelbeeren. Ich verbringe meinen Urlaub an der Ostsee oder ich fahre<br />
mit dem Rad durch Ostpreußen.“<br />
„Im ganzen gesehen, ist durch die neue Regelung die deutsche Rechtschreibung<br />
einer vereinfachten und volkstümlichen Schreibung nähergebracht worden.“<br />
Im Jahre 1953 fügt der Kommentator die Bemerkung hinzu, daß die seinerzeit<br />
zugelassenen Doppelschreibungen die Korrektoren vor neue Schwierigkeiten gestellt<br />
haben würden. Eine ähnliche Kritik findet sich bereits 1945 im Schweizer<br />
„Sprachspiegel“ 77 . Einleitend wird – wie seit 1994, allerdings mit größerem Recht als<br />
heute – betont, daß die Reform sich der tatsächlichen Entwicklung des Sprachgebrauchs<br />
anschließe.<br />
Die orthographische Eindeutschung der Fremdwörter war auch von der heutigen<br />
Refom in ähnlichem Umfang und in gleicher Richtung beabsichtigt (Rabarber,<br />
rytmisch, Strofe stehen im Regelbuch von 1995), konnte aber wegen des Widerstandes<br />
der Ministerialbürokratie nicht durchgesetzt werden. Das Dreibuchstaben-Problem<br />
wurde damals in anderer Weise gelöst: Es sollten (wie in der vormaligen bayerischen<br />
Schulorthographie) ausnahmslos nur zwei gleiche Konsonantenbuchstaben geschrieben<br />
werden. Abgesehen von dieser ganz marginalen Regel stimmt die Rustsche Reform<br />
weitestgehend mit der heute geplanten überein. Sie hat – das sei noch einmal<br />
ausdrücklich betont – nichts spezifisch Nationalsozialistisches, sondern steht in der<br />
Kontinuität der meisten Reformvorschläge seit mehr als 200 Jahren. Allenfalls die<br />
absolute Vorrangstellung, die Rust der gesprochenen Sprache vor der geschriebenen<br />
einräumte („Das gesprochene Wort ist der Ausgangspunkt für alle Spracherziehung“<br />
heißt es in einem weiteren Abschnitt über Zeichensetzung und „Aküwörter“) erinnert<br />
an entsprechende Vorgaben Hitlers, der sich in „Mein Kampf“ ähnlich geäußert hatte.<br />
77 „Eine neue Rechtschreibung?“. Sprachspiegel I, 1945, S. 24-29.<br />
79
Auf die verblüffende Ähnlichkeit der empfehlenden Vokabeln („behutsam“, „kleine<br />
Reform“ [zweimal]) wurde bereits hingewiesen.<br />
Das Totschweigen der Rustschen Reform hat Tradition. Leo Weisgerber, Wortführer<br />
der Reformer in den ersten beiden Jahrzehnten der Bundesrepublik, verspricht im Titel<br />
seines Buches von 1964 zwar, 60 Jahre Bemühungen um eine Rechtschreibreform<br />
darzustellen, spart aber die 12 Jahre aus, in denen er u. a. als<br />
„Ahnenerbe“-Wissenschaftler tätig war. Die Dokumentation von Burckhard Garbe<br />
„Die deutsche rechtschreibung und ihre reform 1722-1974“ (Tübingen 1978) weiß –<br />
auch in der Bibliographie – nichts von Rahn und Rust, sondern springt von 1931 gleich<br />
ins Jahr 1952. Ebenso hielt es Hermann Zabel in seinem Pamphlet „Widerworte“, das<br />
der Verlag 1997 an die Bundestagsabgeordneten verteilen ließ. Darin heißt es: „Im<br />
Oktober 1933 verschiebt das Reichsministerium des Inneren die Einberufung einer<br />
Rechtschreibtagung“, und dann geht es gleich weiter mit dem Jahr 1946. An einer<br />
anderen Stelle schreibt Zabel: „Das neue Regelwerk steht in der Tradition der<br />
Amtlichen Regelwerke von 1876, 1880 und 1901. Insofern war ein völliger Neuansatz<br />
weder möglich noch erforderlich.“ (S. 161) Der Leser muß den Eindruck gewinnen,<br />
daß während des Dritten Reiches in Sachen Rechtschreibreform rein gar nichts<br />
unternommen wurde. Als jedoch die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung auf<br />
ihrer Herbsttagung 2000 das von ihr herausgegebene Buch von Birken-Bertsch und<br />
Markner vorstellte, in dem die Rustsche Reform zum erstenmal genauer untersucht<br />
wurde, verkündete der eigens angereiste Zabel sehr lautstark, dies sei „eine<br />
Geschichtsklitterung in bisher unbekanntem Ausmaß“. Das Thema ist den Reformern<br />
und Reformierten so unangenehm, daß es beispielsweise im „Spiegel“, wie die<br />
Redaktion bestätigt, nicht besprochen werden durfte.<br />
Im Jahre 2000 bietet der Dudenverlag auf seiner Internetseite eine Geschichte der<br />
Reformbemühungen. Vom Jahr 1915 geht es in einem großen Sprung gleich in die<br />
Nachkriegszeit ab 1945.<br />
Im Zusammenhang mit Rust ist noch eine kuriose Episode zu erwähnen: Der<br />
Bearbeiter der außerordentlich fehlerhaften „Neuen deutschen Rechtschreibung“ von<br />
Bertelsmann, Lutz Götze, schrieb in der Einleitung (1996, S. 20):<br />
„Nach der Machtergreifung der Nazis war 1933 erst einmal Schluss mit<br />
Überlegungen zur Reform der deutschen Rechtschreibung; das amtliche Regelwerk<br />
von 1901/02 wurde bis in die vierziger Jahre unverändert aufgelegt, doch ist<br />
heute bekannt, dass Nazi-Reichsminister Bernhard Rust noch 1944 eine<br />
,Neuordnung der Rechtschreibung‘ auf den Markt bringen wollte, die eine<br />
Schreibung vorsah, ,die klar, schlicht und stark ist‘. Das Kriegsende verhinderte<br />
diesen Plan zum Glück.“<br />
Da der uneingeweihte Leser nicht darüber aufgeklärt wird, welche Veränderungen die<br />
Rustsche Reform vorsah, weiß er auch nicht, warum es ein „Glück“ gewesen sein soll,<br />
daß sie nicht verwirklicht wurde. Götze selbst hat es offenbar auch nicht gewußt. Von<br />
der Kritik darüber aufgeklärt, daß die Rustsche Reform mit der heutigen weitgehend<br />
übereinstimmte und bei der Fremdworteindeutschung Götzes eigenen Ansichten sogar<br />
noch weiter entgegenkam, strich er den ganzen Abschnitt im nächsten Nachdruck und<br />
springt nun vom Kosogschen Diktat 1912 kurzerhand ins Jahr 1947. Ungefähr eine<br />
Million Bertelsmann-Käufer weiß nichts von diesem Rückzieher. Sonderbar ist, daß<br />
sogar der Reformer Nerius, damals noch SED-Parteigenosse, das Dritte Reich nicht<br />
80
gern beim Namen nennt. Statt klipp und klar zu sagen, daß Hitler die Fraktur verbot,<br />
umschreibt er folgendermaßen: „Noch bis zum Anfang der vierziger Jahre unseres<br />
Jahrhunderts war die Fraktur die dominierende Schriftart.“ (Nerius 1989, S. 218)<br />
Götzes Ausflug in die Geschichte hatte noch ein burleskes Nachspiel, das ich dem<br />
Leser nicht vorenthalten will. Einem Hinweis aus dem Lexikographischen Institut<br />
(München) folgend, in dem das Bertelsmann-Wörterbuch entstanden war, beschwerte<br />
sich Götzes Ehefrau im Sommer 1997 bei der Leitung der Universität Erlangen-<br />
Nürnberg, ich hätte ihren Mann in die Nähe des Nationalsozialismus gerückt. Sie<br />
kündigte eine „Dienstaufsichtspflichtsbeschwerde“ an, womit die Hochschulleitung<br />
wohl wenig anfangen konnte.<br />
Hermann Zabel greift gern zu ähnlichen Methoden. So nannte er mich in einem<br />
Leserbrief an die Süddeutsche Zeitung, der allerdings nicht veröffentlicht wurde, einen<br />
„nichthabilitierten C2-Professor“, woran weniger der doppelte Irrtum als die<br />
eigentümliche Gesinnung bemerkenswert ist – als komme es für den Wert eines<br />
Arguments auf die Besoldungsgruppe des Argumentierenden an. Wie sehr Zabel auf<br />
dergleichen fixiert ist, zeigt auch ein Absatz in seinem Buch „Widerworte“, das laut<br />
Vorwort zur „Versachlichung der Diskussion“ beitragen soll:<br />
„Auch Prof. Dr. H. Glück macht aus seiner karrierebedingten Abneigung gegen<br />
die Beteiligung von Fachdidaktikern an der Erarbeitung des neuen Regelwerks<br />
kein Geheimnis. Schon im Jahre 1995 war der C 3-Professor Glück als<br />
Wadenbeißer für seine C-4-Kollegen Eisenberg, Maas und Munske<br />
vorgeprescht.“<br />
In Darmstadt versäumte Zabel nicht, die beiden Wissenschaftler Birken-Bertsch und<br />
Markner als „Debütanten“ zu bezeichnen, ein Status, der in seinen Augen offenbar<br />
automatisch entkräftet, was die jungen Gelehrten zu sagen haben.<br />
Sprachwissenschaftler<br />
Die deutschen Sprachwissenschaftler, insbesondere die Germanisten, hätten eigentlich<br />
die sogenannte Rechtschreibform sofort unter großem Hohngelächter vom Tisch<br />
wischen müssen. Davon kann jedoch keine Rede sein. Bezeichnend ist die Erklärung,<br />
die die Deutsche Gesellschaft für Sprachwissenschaft am 27. Februar 1997 abgab,<br />
nachdem kein Sprachwissenschaftler, sondern ein bayerischer Oberstudienrat den<br />
Protest losgetreten hatte:<br />
„1. Die Deutsche Gesellschaft für Sprachwissenschaft (DGfS) unterstützt Bestrebungen,<br />
die deutsche Rechtschreibung zu vereinfachen und zu vereinheitlichen. Diesen<br />
Standpunkt hat sie bereits auf ihrer Jahrestagung in Freiburg im Frühjahr 1996<br />
vertreten.<br />
2. Die vorgeschlagene Reform entspricht jedoch nicht dem Stand der sprachwissenschaftlichen<br />
Forschung.<br />
3. Die DGfS distanziert sich entschieden von gegenwärtigen populistischen und wenig<br />
sachkundigen Bestrebungen zum Stop der Reform.<br />
81
4. Die DGfS begrüßt die Einrichtung der zwischenstaatlichen Kommission am Institut<br />
für deutsche Sprache Mannheim. Diese bietet die Möglichkeit, wissenschaftlich<br />
fundiert durchaus erkennbare Mängel und Probleme der neuen Rechtschreibung zu<br />
beheben, eine neue Rechtschreibung zu pflegen und Sprachveränderungen angemessen<br />
zu berücksichtigen.“<br />
Diese schwächliche Stellungnahme konnte nichts bewirken. Zu deutlich spricht aus der<br />
nicht näher spezifizierten Kritik einerseits ein gewisser Neid auf Friedrich Denk, der<br />
unter großen persönlichen Opfern weit mehr erreicht hatte als die zaghaften<br />
Sprachwissenschaftler, andererseits hätte man wohl selbst gern eine Rechtschreibreform<br />
gemacht, wenn man es denn gekonnt hätte. Aus dieser Richtung ist zwar viel<br />
Theoretisches und manches Programmatische zu einer Orthographiereform hervorgebracht<br />
worden, aber kein diskutierbarer Entwurf.<br />
Wie wenig der Protest ernst gemeint war, zeigte sich drei Jahre später: Anfang 2000<br />
stellte die Gesellschaft ihre „Zeitschrift für Sprachwissenschaft“, ohne die Mitglieder<br />
zu befragen, auf jene Neuschreibung um, die nach ihrer eigenen Überzeugung „nicht<br />
dem Stand sprachwissenschaftlicher Forschung entspricht“.<br />
Deutsch als Fremdsprache<br />
Obwohl nicht zuletzt der Deutschunterricht für Ausländer durch die Reform stark<br />
beeinträchtigt zu werden drohte, gab es von dieser Seite so gut wie keinen Widerstand.<br />
Ich habe bereits an einigen Beispielen gezeigt, daß – und wie schlecht – die Lehrwerke<br />
auf die Neuschreibung umgestellt wurden. Der Zustand der Wörterbücher wird noch<br />
verschiedentlich zur Sprache kommen.<br />
In vielen Ländern der Erde löste schon die Nachricht von einer Rechtschreibreform bei<br />
den Deutschabteilungen Entsetzen aus, weil die notwendigen Neuanschaffungen mit<br />
den gewöhnlich sehr knappen Finanzmitteln überhaupt nicht zu leisten sind. Die<br />
Aktion fiel in eine Zeit, da reihenweise Goethe-Institute geschlossen werden mußten.<br />
Der japanische Germanist Naoji Kimura schrieb 1998:<br />
„Es scheint mir, daß bei der ganzen Debatte über die Rechtschreibreform ein<br />
folgenschwerer Gesichtspunkt übersehen wird: verhängnisvolle Auswirkungen<br />
auf den Deutschunterricht im Ausland. Seit Jahrzehnten haben sich die Deutschlehrer<br />
und Deutschstudenten in Ostasien um die richtige Orthographie in der<br />
deutschen Sprache bemüht. Sie droht aber nun auf den Haufen geworfen zu<br />
werden. Niemand weiß mehr um die richtige ,Rechtschreibung‘ in der deutschen<br />
Sprache. Wenn es so weiter geht, wird sie wahrscheinlich allenfalls in Ostasien<br />
archiviert werden.“<br />
Die Kultusminister dehnten ihren Machtanspruch zunächst ohne weiteres auf die Auslandsschulen<br />
aus:<br />
82
„Sekretariat der Ständigen Konferenz<br />
der Kultusminister der Länder<br />
in der Bundesrepublik Deutschland<br />
Az: - II C - 8503<br />
An die<br />
deutschen Auslandsschulen<br />
und die Europäischen Schulen<br />
Betr.: Neuregelung der deutschen Rechtschreibung<br />
Bonn, den 4.9.1996<br />
Für die Neuregelung der deutschen Rechtschreibung gelten entsprechend dem<br />
Beschluß der KMK vom 1.12.1995 folgende allgemeine Fristen:<br />
1. Die Neuregelung tritt am 1. August 1998 in Kraft. Sie ist von diesem Zeitpunkt an<br />
dem Unterricht in allen Jahrgangsstufen zugrundezulegen.<br />
2. Bis zum 31. Juli 2005 werden bisherige Schreibweisen nicht als falsch, sondern<br />
als überholt gekennzeichnet und bei Korrekturen durch die neuen Schreibweisen<br />
ergänzt.<br />
Für die Umsetzung der Neuregelung an den deutschen Schulen im Ausland gilt im<br />
einzelnen:<br />
1. Von Schuljahrsbeginn 1996/97 an wird den Kindern des 1. Schuljahrganges und<br />
den Schülern, die mit Deutsch als Fremdsprache beginnen, die neue Schreibweise<br />
vermittelt.<br />
2. Innerhalb der Übergangsregelung bis zum 31. Juli 1998 wird den Schulen<br />
empfohlen, die neuen Rechtschreibregelungen in allen Fächern auch bereits vor dem<br />
Inkraftsetzungsdatum (1.8.1998) einzuführen bzw. anzuwenden, sobald der<br />
Fortbildungsstand der Lehrkräfte und die Materiallage dies ermöglichen. Dazu ist<br />
nach Beratungen mit den Eltern und den Schülern ein Beschluß der<br />
Gesamtkonferenz und die Entscheidung des Schulträgers erforderlich. Unabhängig<br />
davon gilt Punkt 1.<br />
3. Es ist in jedem Fall sicherzustellen, daß vom Schuljahr 1996/97 an alle<br />
Schulabgänger über die neuen Regeln hinreichend informiert werden.<br />
Für die Umsetzung des KMK-Beschlusses beim Deutschen Sprachdiplom werden<br />
den betroffenen Schulen rechtzeitig weitere Informationen zugehen.“<br />
Das Goethe-Institut schloß sich umstandslos an, obwohl der Präsident, Hilmar<br />
Hoffmann, ebenso wie der Generalsekretär, Joachim Sartorius, privat ihre Ablehnung<br />
der Neuregelung zu Protokoll gegeben hatten.<br />
In einem Rund<strong>schreiben</strong>, das auch auf der Internetseite des Goethe-Instituts zu lesen<br />
ist, machte sich das Institut die Reformpropaganda zu eigen. Sogar das Märchen von<br />
„112 statt 212 Rechtschreibregeln, 9 statt 57 Kommaregeln“ wurde kritiklos<br />
wiederholt. Von den 12.000 Wörtern des amtlichen Wörterverzeichnisses würden nur<br />
185 geändert; in Wirklichkeit sind etwas über 1000 mit einem Sternchen als neu<br />
markiert. Natürlich fehlt auch nicht die Mahnung zur „Gelassenheit“, d. h. zur ruhigen<br />
Umsetzung der Neuregelung. (Daß das Institut die Nebenvariante „Orthografie“<br />
benutzt, ist auch ein untrügliches Zeichen besonderer Unterwerfungsbereitschaft.)<br />
83
Ich habe in der „Welt“ vom 26.7.2000 folgenden Artikel veröffentlicht:<br />
Prüfungs-Unrecht<br />
Zur Durchsetzung der sogenannten Rechtschreibreform am Goethe-Institut<br />
Daß es mit der Rechtschreibreform überhaupt so weit kommen konnte, liegt am<br />
wohlorganisierten Überrumpelungsverfahren der Reformbetreiber. Die Reform wurde<br />
bekanntlich am 1. Juli 1996 beschlossen. Einen Tag später lag die Bertelsmann-<br />
Rechtschreibung in den Buchläden, und sofort stellten die meisten deutschen Schulen<br />
auf die Neuschreibung um, obwohl sie erst über zwei Jahre später in Kraft treten und<br />
von da an eine Übergangsfrist bis Mitte 2005 gewährt werden sollte. Das war natürlich<br />
nur möglich, weil die Schulbuchverlage einander mit (ebenso schnell wie fehlerhaft)<br />
umgestellten Lehrwerken zu übertreffen suchten. Die Kultusminister und das<br />
Bundesinnenministerium taten alles, um die vorfristige Einführung mit dem Schein der<br />
Endgültigkeit zu versehen. Deshalb wurden auch alle Korrekturen der längst auch von<br />
ihren Urhebern als objektiv falsch erkannten Regeln untersagt.<br />
Wenig bekannt ist, daß mit Schreiben der Kultusminister-Konferenz (KMK) vom 4.<br />
September 1996 auch die Auslandsschulen ersucht wurden, ab sofort auf die<br />
Neuschreibung umzusteigen. Noch wichtiger war aber wohl, daß das Goethe-Institut<br />
beschloß, ebenfalls vorfristig mit der Neuschreibung zu beginnen; Zeitschriften und<br />
Lehrwerke im Bereich „Deutsch als Fremdsprache“ wurden in Windeseile umgestellt.<br />
In einem Papier des Goethe-Instituts hieß es, daß die ab sofort nicht mehr zu<br />
unterrichtende bisherige Schreibung zwar noch hinzunehmen sei, jedoch nur für die<br />
Übergangszeit. Ab 2005 soll weltweit nur noch nach der Neuschreibung korrigiert<br />
werden, zum Beispiel bei der Zentralen Mittelstufen-Prüfung. So steht es jetzt auch in<br />
neuen Lehrwerken des Langenscheidt-Verlages.<br />
Inzwischen hat das Bundesverfassungsgericht in seinem Rechtschreiburteil vom<br />
14.7.1998 unmißverständlich festgestellt, daß außerhalb der Schulen niemand<br />
gezwungen werden kann, sich der Neuschreibung anzuschließen. Die bisherige<br />
deutsche Orthographie ist wie die Sprache selbst ein gewachsenes Kulturgut und kann<br />
niemals durch staatlichen Eingriff „falsch“ werden. So ergibt sich die paradoxe Lage,<br />
daß einem deutschlernenden Ausländer verwehrt werden soll, was dem erwachsenen<br />
Deutschen erlaubt ist: auch über 2005 hinaus diejenige Schriftsprache zu benutzen, an<br />
der fast alle deutschen Schriftsteller und nahezu die gesamte seriöse Literatur<br />
festhalten. Ist es schon bedenklich genug, daß das Goethe-Institut diese bewährte und<br />
in Milliarden Texten verbreitete Orthographie nicht mehr unterrichtet, so begibt es sich<br />
auf gefährlichen Boden, wenn es die vielleicht außerhalb seiner eigenen Sprachkurse<br />
erworbenen Sprachfähigkeiten nicht mehr anerkennen, sondern mit Punktabzügen<br />
ahnden will. Kann man wirklich einem an Deutschland interessierten Ausländer, der so<br />
schreibt wie zum Beispiel der gegenwärtige Bundespräsident und seine Vorgänger, die<br />
Befähigung zur deutschen Schriftsprache aberkennen? Ein deshalb durchgefallener<br />
Kandidat dürfte die besten Erfolgsaussichten haben, wenn er gegen diese Praktiken vor<br />
Gericht zieht.<br />
84
„Angesichts der Machtverhältnisse...“<br />
Im März 1999 veröffentlichte die Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung<br />
einen „Vorschlag zur Neuregelung der Orthographie“. Ich schrieb dazu folgenden<br />
Kommentar (hier gekürzt):<br />
Die Akademie lehnt, wie ihr Präsident vor dem Bundesverfassungsgericht und zuletzt<br />
bei der Herbsttagung der Akademie im Oktober 1998 bekräftigt hat, die Reform<br />
grundsätzlich ab. In ihrem neuen Vorschlag läßt sie sich weniger aus Überzeugung als<br />
um des lieben Friedens willen auf einige – eher marginale und überdies problematische<br />
– Vorschläge der amtlichen Neuregelung ein. „Angesichts der Machtverhältnisse“, so<br />
heißt es, sieht sie von einer vollständigen Verwerfung ab. Damit widerruft sie ihre<br />
Stellungnahme vom Dezember 1997. Ist diese Kehrtwendung schlüssig begründet?<br />
Die Akademie weiß sicherlich, daß ihr neuer Kompromißvorschlag für die Kultusminister<br />
unannehmbar ist. Denn deren Stärke beruht seit Jahren gerade darauf, daß sie<br />
sich allen fachlichen Argumenten vollständig verschließen und auf dem reinen<br />
Machtanspruch bestehen. Solange sie mit eiserner Stirn behaupten, die evident<br />
mißlungene Reform sei in Wirklichkeit sehr gut; solange sie die überall zu<br />
beobachtende Vermehrung der Fehler in eine Fehlerverminderung umlügen und die<br />
nach Tausenden zählenden Unterschiede in den neuen Wörterbüchern nur zum Anlaß<br />
nehmen, die „großen“ Wörterbuchverlage (Innenminister Schily laut<br />
Bundestagsdrucksache 14/356) zu konspirativen Treffen mit der Rechtschreibkommission<br />
einzuladen – so lange sind sie unschlagbar. Die Kultusminister wissen,<br />
daß ihnen das leiseste öffentliche Eingeständnis, mit der Rechtschreibreform einen<br />
Fehler begangen zu haben, nicht nur einen allenfalls zu verschmerzenden<br />
Gesichtsverlust bereiten, sondern die ganze Institution der Kultusministerkonferenz,<br />
das berühmte „Nullum“ (Rupert Scholz), in Frage stellen würde. Denn die Macht<br />
hinter dieser Reform steht in Wirklichkeit auf töneren Füßen.<br />
Außerdem darf man die Hauptsache nicht vergessen: Schon im Dezember 1997 waren<br />
die Kultusminister bereit, die Revisionsvorschläge ihrer Kommission anzunehmen,<br />
doch dann wurden sie von den Schul- und Wörterbuchverlegern zur Ordnung gerufen,<br />
die verständlicherweise nicht auf ihrem schnell gedruckten Ramsch sitzenbleiben<br />
wollten. Die Korrekturen, obwohl „unumgänglich notwendig“ (so die Kommission<br />
selbst), wurden untersagt.<br />
Das und nichts anderes sind die „Machtverhältnisse“, denen sich die Akademie<br />
wenigstens dem äußeren Anschein nach beugen zu müssen glaubt. In Wirklichkeit hat<br />
jeder einzelne Kultusminister – ebenso wie die Bundesregierung – die Macht, das<br />
Monstrum Rechtschreibreform von heute auf morgen zur Strecke zu bringen. Es kostet<br />
gerade mal so viel Mut oder Unbefangenheit, wie das Kind angesichts des nackten<br />
Kaisers aufbrachte: „Er hat ja gar nichts an!“<br />
Ein Kompromiß, ob er nun von der Akademie stammt oder von den Nachrichtenagenturen,<br />
trägt unvermeidlicherweise zur weiteren Zerstörung der orthographischen<br />
Einheit und damit der Orthographie selbst bei. Auch dieser neue Vorschlag macht die<br />
ganze Masse des geflissentlich Umgestellten und Neugedruckten zu Altpapier. Das<br />
wird so oder so geschehen, aber warum bleibt man dann nicht gleich bei der bewährten<br />
Orthographie, wie sie noch in der gesamten Erwachsenenliteratur fast allein üblich ist?<br />
Über ihre Akzeptanz besteht ja nicht der geringste Zweifel.<br />
85
Leider ist über all dem Suchen nach Kompromissen die erste und wichtigste Frage aus<br />
dem Blick geraten: Wozu brauchen wir denn überhaupt eine „Neuregelung der<br />
Orthographie“? Waren wir denn mit der bisherigen Orthographie (die nicht mit ihrer<br />
gelegentlich etwas spitzfindigen Darstellung im Duden verwechselt werden darf)<br />
unzufrieden? Wird der Leser von ihr nicht aufs hervorragendste bedient? Funktional, d.<br />
h. in Hinsicht auf die Bedürfnisse des Lesers, um dessentwillen alles Schreiben doch<br />
geübt wird, ist die gewachsene deutsche Orthographie nahezu unübertrefflich. Und<br />
was die Lernbarkeit betrifft, die allerdings immer erst in zweiter Linie in Betracht<br />
kommen kann, so ist keiner der alternativen Entwürfe, am wenigsten die amtliche<br />
Neuregelung, leichter, im Gegenteil, die unerhörten Schwierigkeiten der Neuregelung<br />
sind geradezu sprichwörtlich, und ihre funktionalen Schwächen sind ja auch der Grund<br />
dafür, daß nun die vielen Gegenentwürfe auf dem Tisch liegen.<br />
Die Akademie gibt also vor, von der Neuregelung auszugehen, läßt aber praktisch<br />
keinen Stein auf dem anderen. Sie bescheinigt den Reformern, sie hätten Hunderte von<br />
Wörtern aus dem deutschen Wortschatz entfernt, die es nun zu retten gelte. Eine<br />
schärfere Verurteilung der Reformer ist schwerlich vorstellbar. Lohnt es sich, mit<br />
Leuten zu verhandeln, gar Kompromisse anzustreben, die mit solcher Anmaßung und<br />
Inkompetenz an die Arbeit gegangen waren? Man sollte auch nicht einfach vergessen,<br />
daß die Reformer etwas ganz anderes gewollt hatten und immer noch wollen, nämlich<br />
die Kleinschreibung der Substantive, eine weitgehende Fremdworteindeutschung, die<br />
Einheitsschreibung das (auch für daß, neu dass) und die Tilgung der Dehnungszeichen<br />
(der al im bot usw.). Erst nachdem ihnen dies untersagt worden war, brachten sie 1994<br />
Hals über Kopf den nunmehr in Kraft getretenen, offenkundig unausgegorenen<br />
Entwurf hervor, über den alle unabhängigen Fachleute ebenso wie die betroffene<br />
Bevölkerung mit höhnischem Lachen hinweggegangen wären, hätten sich die<br />
Reformer nicht rechtzeitig mit der Staatsmacht verbunden, so daß es nun eine<br />
hochpolitische Angelegenheit geworden ist, mit den schnell geschaffenen vollendeten<br />
Tatsachen irgendwie fertig zu werden.<br />
Die Akademie macht sich die Strategie des Reformkritikers Peter Eisenberg zu eigen.<br />
Schon im Januar 1996, als noch gar nichts feststand, redete er den Lehrern ein, „jetzt“<br />
komme es darauf an, mit der leider nicht besonders gelungenen Reform zu leben (Die<br />
neue Rechtschreibung. Hannover 1996, S. 3). Während der Mannheimer Anhörung im<br />
Januar 1998 malte er eine nicht näher ausgeführte „kulturpolitische Katastrophe“ an<br />
die Wand, falls die Reform kippe. (In Wirklichkeit drohte nur den Kultusministern<br />
Wernstedt usw. eine Blamage.) Als es ihm nicht gelang, auch nur ein winziges bißchen<br />
seiner Revisionsvorstellungen durchzusetzen, trat er aus der Kommission aus, behielt<br />
aber seine Strategie bei. Nach dem Karlsruher Urteil verkündete er wiederum, „jetzt“<br />
müsse man mit der Neuregelung leben, die er allerdings gleichzeitig in Grund und<br />
Boden kritisierte („Praxis Deutsch“ 153, 1998).<br />
Der Kompromißvorschlag soll den Streit beenden, „dem Konflikt ein Ende setzen“,<br />
weitere Volksbegehren überflüssig machen. Das kann aus zwei Gründen nicht<br />
gelingen.<br />
1. Die Reformbetreiber können den Vorschlag nicht akzeptieren, weil er praktisch alle<br />
wirklich wesentlichen Neuerungen aus dem Regelwerk herausbricht. Abgelehnt<br />
werden u. a.<br />
• die vermehrte Getrenntschreibung<br />
86
• die vermehrte Großschreibung<br />
• die Beseitigung der Höflichkeitsgroßschreibung Du usw.<br />
• die neue Kommasetzung<br />
• die Augstschen (volks)etymologischen Neuschreibungen (schnäuzen, Tollpatsch).<br />
2. Der Vorschlag übernimmt aber so viel Problematisches aus dem amtlichen<br />
Regelwerk, daß auch die Reformkritiker ihn nicht akzeptieren können. Die Reform<br />
enthalte „brauchbare Ansätze“; „es wäre falsch, sie nicht zu übernehmen“. Ich mustere<br />
die vorgeschlagenen Übernahmen bzw. Zugeständnisse.<br />
• Känguru „analog zu Marabu“ usw. – Geschenkt!<br />
• Anders sieht es mit rauh/rau aus. Zwar trifft zu, daß in der Aussprache kein<br />
Unterschied zwischen rauhes und blaues besteht, aber das allein wäre kein Grund,<br />
eine ganze Reihe von Wörtern wie Rauhhaardackel, Rauhnächte usw., zu ändern.<br />
Hinzu kommt zweierlei: Durch Tilgung des h geht der Zusammenhang mit Rauchwerk<br />
(,Pelzwerk‘) verloren. Außerdem gehört rauh zu den Wörtern, denen das<br />
„Blickfang-h“ abhanden käme, das solche sinntragenden Wörter haben, denen sonst<br />
jede Ober- und Unterlänge fehlen würde. Die angeblichen Analoga haben sie: blau,<br />
schlau, genau usw. Die Reformer scheinen dafür durchaus Sinn zu haben, sonst<br />
würden sie ja wohl auch zä und ro einführen, für die das Argument der gleichen<br />
Aussprache mit und ohne h ebenfalls gilt. – Kurzum: kein Handlungsbedarf bei<br />
rauh!<br />
• überschwänglich kommt schon seit geraumer Zeit in Texten vor und sollte<br />
zugelassen werden, bei As/Ass ist die Änderung dagegen nicht angebahnt und daher<br />
überflüssig.<br />
• Die grundsätzliche Zustimmung zur 1901 abgeschafften, neuerdings wiederbelebten<br />
„Heyseschen“ s-Schreibung (fließen – Fluss). Die Akademie stellt zutreffend fest,<br />
daß diese Änderung wegen ihrer Häufigkeit in laufenden Texten das „Herzstück der<br />
Reform“ sei: „Wer sie akzeptiert, gibt zu erkennen, daß er die Neuregelung<br />
nicht grundsätzlich bekämpft. Das Umgekehrte gilt ebenfalls.“ Sie ist also<br />
hochsymbolisch, sozusagen der Geßlerhut, an dem sich die Bereitschaft zur<br />
Unterwerfung unter die Staatsgewalt am deutlichsten zeigt. Einleitend hat die<br />
Akademie unmißverständlich klargestellt, „daß dem Staat die Legitimation zu<br />
tieferen Eingriffen in die Rechtschreibung fehlt“. (Wieso „tieferen“? Was geht den<br />
Staat die Orthographie überhaupt an, wo er sich doch um Aussprache und<br />
Grammatik auch nicht kümmert?) Seltsamerweise schlägt die Akademie dann aber<br />
vor, „im Interesse einer Beilegung des Streites, zugunsten einer Wiederherstellung<br />
des ,Rechtschreibfriedens‘“, just diese Änderung zu übernehmen! Wie kann man<br />
hoffen, daß gerade dies den Frieden wiederherstellt? Sollen die Reformgegner<br />
gerade hier in die Knie gehen, wo es außerdem auch nach Ansicht der Akademie<br />
überhaupt keinen Änderungsbedarf gibt, denn die „Ersetzung des ß nach<br />
Kurzvokalbuchstaben durch ss ist weder systematisch geboten noch ist sie<br />
unproblematisch.“ Für Wörter wie Missstand wird sogar noch eine Ausnahme<br />
vorgeschlagen, so daß wir hätten Missbrauch, aber Mißstand! Wie und warum<br />
überhaupt sollen Schüler das lernen? Dabei war die bisherige Schreibung so<br />
leserfreundlich wie leicht lernbar, bis auf das/daß – aber dies bleibt ja erhalten<br />
(das/dass)! Wenn schon, dann sollte eher daß als Ausnahme bestehen bleiben, denn<br />
87
dass ist nach einem früheren Urteil Peter Eisenbergs die schlechteste denkbare<br />
Lösung.<br />
• Rohheit, Jähheit – weniger als ein halbes Dutzend Wörter. Dies könne nach<br />
Meinung der Akademie hingenommen werden. Kein Widerspruch, da es einer<br />
Tendenz der Sprachgemeinschaft entspricht.<br />
• geschrien statt des bisher möglichen geschrieen, analog zu die Knie, die Seen (wie<br />
bisher). Das ist annehmbar, freilich bleibt die unschöne Folge, daß zweisilbiges und<br />
dreisilbiges geschrien nicht mehr unterschieden werden können. Eine Vereinheitlichung<br />
in umgekehrter Richtung, d. h. die ausdrückliche Freigabe wäre denkbar<br />
gewesen. Die Fälle sind so selten, daß es sich nicht lohnt, darauf einzugehen.<br />
• Trennbarkeit von st. Hier gibt es zwar eine Reihe unangenehme Nebenfolgen, aber<br />
aus systematischer Sicht ist dagegen wenig einzuwenden. Nur: besteht<br />
Änderungsbedarf? Der PC trennt längst richtig.<br />
• die Nichttrennung von ck. Sie verstößt gegen die Trennung nach Sprechsilben (hier<br />
Silbengelenk) und gegen den § 3 der Neuregelung, wonach ck nur eine typographische<br />
Variante von kk ist. Die Änderung ist daher ein doppelter Verstoß gegen<br />
die inhärente Systematik und abzulehnen.<br />
• sodass bzw. sodaß kann zugelassen werden, da es der Entwicklung zur<br />
Univerbierung entspricht, in anderen deutschsprachigen Ländern bereits üblich und<br />
auch in Deutschland oft anzutreffen ist. Hierher gehört noch einiges andere, was der<br />
Vorschlag der Akademie nicht erwähnt (z. B. umso).<br />
• Bei irgendwer usw. ist ein Irrtum unterlaufen. Es geht in Wirklichkeit nur darum,<br />
irgendetwas und irgendjemand zusammenzu<strong>schreiben</strong>, also ebenso wie bisher<br />
irgendwer, irgendwo usw. Der Unterschied, daß etwas und jemand erststellenfähige<br />
Indefinitpronomina sind und daher tatsächlich, wie der Duden immer gesagt hat,<br />
„größere Selbständigkeit“ besitzen, wird übergangen. Daß die Neuregelung<br />
„radikal, aber übersichtlich“ sei, kann man auch nicht behaupten, denn irgend so ein<br />
wird ja weiterhin getrennt geschrieben, d. h. irgend bleibt ein freies Wort! Man<br />
sollte die Schreibweise freigeben, wie sie es ja in Wirklichkeit auch ist.<br />
• Die Ausführungen zu goethesches Gedicht sind nicht richtig, da der Duden bisher<br />
zwischen goethesches Gedicht (Gedicht nach Art Goethes) und Goethesches<br />
Gedicht (Gedicht von Goethe) unterschied, was freilich in der Praxis nicht strikt<br />
befolgt wurde. Die Unterscheidungsmöglichkeit sollte beibehalten werden, die<br />
nähere Begründung kann hier nicht gegeben werden (s. meinen „Kritischen<br />
Kommentar“).<br />
Die Akademie hofft, mit ihren Neuerungen „sowohl dem Grundanliegen einer Reform<br />
wie den Interessen der Leser und Schreiber, aber auch denen der Verlage und nicht<br />
zuletzt der Steuerzahler gerecht zu werden.“<br />
Was ist aber das Grundanliegen einer Reform? Die Beseitigung einiger Dudenspitzfindigkeiten<br />
kann es wohl nicht sein. Eine Reform kann entweder eine funktionale<br />
Verbesserung der Orthographie oder ihre leichtere Erlernung durch die Schüler zum<br />
Ziel haben. Es ist nicht zu erkennen, was die vorgeschlagenen Veränderungen zu<br />
beiden Zielen beitragen.<br />
88
Warum sollte die Bevölkerung sich diesen Vorschlägen anschließen, die keinesfalls<br />
besser sind als die bisher übliche Regelung und zum Teil ja auch mit der zweifelhaften<br />
Empfehlung antreten, nicht ganz so schlimm zu sein wie andere neue Regeln? Auch<br />
diese ausgewählten, minder schlimmen Regeln sind zu diskutieren, und zwar<br />
öffentlich. Dann wird allerdings ihre Blöße zutage treten. Überhaupt eröffnet, wer neue<br />
Vorschläge macht, eine neue Diskussion und beendet nicht etwa den „Streit“, wie es<br />
mit unangebrachter Abschätzigkeit heißt.<br />
Der Entwurf hat zwar keine Aussicht auf Verwirklichung, ist aber dennoch zu<br />
begrüßen. Denn je mehr Alternativvorschläge von einigem Gewicht es gibt, desto<br />
geringer sind die Erfolgsaussichten der wirklich besonders schlechten amtlichen<br />
Neuregelung.<br />
Der Streit wird also weitergehen, und das muß er auch – bis der Reformunfug vorbei<br />
ist.<br />
Rückbau der Reform im Jahre 2000<br />
Kommentar zum zweiten Bericht der Rechtschreibkommission 78<br />
Unbemerkt von der Öffentlichkeit hat die Rechtschreibkommission ihren zweiten<br />
Bericht vorgelegt. Umfaßte der erste Bericht vom Dezember 1997 fast 70 Seiten, auf<br />
denen durchgreifende Korrekturen der mißlungenen Reform als „unumgänglich<br />
notwendig“ vorgeschlagen wurden, so begnügt sich der neue mit knapp vier Seiten.<br />
Die Kommission bringt mehrmals ihren Ärger darüber zum Ausdruck, daß die<br />
Kultusminister damals keine noch so geringfügige Veränderung genehmigten, die<br />
mühsame Arbeit also ganz umsonst gewesen war und die Reformer mitansehen<br />
mußten, wie das unkorrigierte Regelwerk in Kraft trat – mit den fatalen Folgen, die<br />
man heute tagtäglich in den zwangsweise umgestellten Zeitungen besichtigen kann.<br />
Der Bericht erinnert nicht ohne Bitterkeit daran, daß wegen der Uneinsichtigkeit der<br />
Kultusminister nach Professor Munske auch der zweite namhafte Sprachwissenschaftler,<br />
Professor Eisenberg, aus der Kommission austrat. Beide wurden durch<br />
gefügige Personen ersetzt. Was blieb unter diesen Umständen noch zu tun? Die<br />
Kommission habe sich darauf beschränken müssen, für die einheitliche Umsetzung der<br />
– wenn auch teilweise als falsch erkannten - neuen Regeln durch die Wörterbücher zu<br />
sorgen. Außer Beratungsrunden mit den Wörterbuchverlagen, Softwareherstellern und<br />
Nachrichtenagenturen werden sechs mehrtägige Arbeitssitzungen der gesamten<br />
Kommission sowie eine nicht genannte Zahl von Gruppensitzungen erwähnt. Leider<br />
erfährt man nicht, was auf all diesen Tagungen beraten wurde und was dabei<br />
herausgekommen ist. Dies wurde nur den befreundeten Wörterbuchverlagen (es sind<br />
zugleich Geschäftspartner einiger Kommissionsmitglieder) mitgeteilt. Auch die<br />
Kultusminister als eigentliche Auftraggeber erfahren es nicht; daß sie gleichwohl, wie<br />
der Geschäftsführer der Kommission mitteilt, einen so unvollständigen Bericht<br />
„zustimmend zur Kenntnis genommen“ haben, ist erstaunlich und läßt sich wohl nur<br />
damit erklären, daß sie es gar nicht wissen wollen.<br />
78 Rhein-Neckar-Zeitung 27.4.2000<br />
89
Ihre besondere Verbundenheit mit dem Bertelsmann-Verlag bringt die Kommission<br />
durch ausdrückliche und ausschließliche Nennung des überarbeiteten Bertelsmann-<br />
Rechtschreibwörterbuchs (April 1999) zum Ausdruck. „Die anderen Wörterbücher<br />
werden so bald als möglich folgen.“ Um so auffälliger ist übrigens das Zögern des<br />
Hauses Duden, das bisher keine korrigierte Neufassung seines marktführenden<br />
Leitwörterbuchs, des eigentlichen Rechtschreibdudens, herausbrachte, obwohl die<br />
Ausgabe von 1996 den kapitalen Fehler der Getrenntschreibung von wiedersehen und<br />
zwanzig ähnlichen Verben enthält – die einzige Fehlinterpretation, die der Bericht, mit<br />
einem weiteren Seitenhieb gegen Duden, ausdrücklich für erwähnenswert hält. 79<br />
Für die Öffentlichkeit ist folgendes am wichtigsten: Die Kommission hat die seinerzeit<br />
untersagten, jedoch tatsächlich „unumgänglichen“ Korrekturen an den Kultusministern<br />
vorbei in die neuesten Wörterbücher hineingeschleust. Die Neuauflage der „Deutschen<br />
Rechtschreibung“ von Bertelsmann, der zehnbändige Duden (Rhein-Neckar-Zeitung<br />
vom 12.2.2000) und der einbändige Bertelsmann-Wahrig stellen mehr oder weniger<br />
konsequent, auf jeden Fall aber gegen den eindeutigen Wortlaut der amtlichen<br />
Neuregelung, die angemahnten Zusammenschreibungen in Fällen wie<br />
aufsehenerregend, nichtssagend, schwerbehindert und vielen anderen wieder her. Den<br />
Kultusministern wird hier etwas vorgemogelt: „Im Bereich der Getrennt- und<br />
Zusammenschreibung sowie im Bereich der Groß- und Kleinschreibung wurde Wert<br />
darauf gelegt, das Regelwerk konsequent anzuwenden und ihm zuwiderlaufende,<br />
lediglich als Zugeständnis an das Hergebrachte, Altgewohnte zu verstehende<br />
Schreibungen nicht zuzulassen.“ In Wirklichkeit kann von konsequenter Anwendung<br />
der Regeln keine Rede sein; an den genannten Stellen wird das genaue Gegenteil der<br />
amtlichen Regeln verkündet. Die Kommission hat über die Medien und brieflich<br />
versichert, die genannten Wörterbücher seien nunmehr „zuverlässig“ und es bestünden<br />
„keine Einwände“. 80<br />
Interessant sind die Bemerkungen zur Silbentrennung, die sich ja entgegen den<br />
eigentlichen Vorsätzen zu einem Hauptproblem der Neuregelung entwickelt hat. Es<br />
sollen nicht mehr alle Trennungen, „obschon prinzipiell möglich“, in den<br />
79 Dieser Fehler hat sich über die gesamte reformierte Rechtschreibliteratur ausgedehnt.<br />
Typisch sind Einträge wie der folgende: wieder sehen *, hat wiedergesehen; wieder<br />
finden *, hat wiedergefunden. (Fehlerfrei <strong>schreiben</strong>. Bearb. v. Diethard Lübke. Mit<br />
freundlicher Beratung von Dr. Klaus Heller, Institut für deutsche Sprache. Cornelsen<br />
Verlag 1997)<br />
80 „Presseerklärung der Kommission für die deutsche Rechtschreibung vom 17. August<br />
2000: Die Zwischenstaatliche Kommission für deutsche Rechtschreibung erklärt: Die<br />
führenden deutschen Rechtschreibwörterbücher entsprechen der amtlichen Regelung.<br />
Einige Gegner der neuen Rechtschreibung haben in verschiedenen Stellungnahmen<br />
behauptet, dass die Zwischenstaatliche Kommission hinter dem Rücken der<br />
Kultusminister eine heimliche Reform der Reform über die Wörterbücher durchführt.<br />
Diese Behauptung ist falsch. Vielmehr verhält es sich so, dass die Wörterbücher, die<br />
unmittelbar nach Unterzeichnung der Wiener Absichtserklärung (1996) erschienen waren,<br />
eine Reihe von Differenzen enthielten. Auf Betreiben und unter Mithilfe der<br />
Zwischenstaatlichen Kommission einigten sich die großen Wörterbuchverlage seither auf<br />
eine einheitliche Auslegung der amtlichen Regeln. Sie haben dies in den jeweils neuesten<br />
Auflagen ihrer Rechtschreibwörterbücher umgesetzt: Bertelsmann im März 1999, Duden<br />
im August 2000. Beide Nachschlagewerke sind damit zuverlässige Ratgeber in<br />
orthografischen Fragen.“ (Der Umfang der Änderungen wird weiter unten<br />
nachgewiesen.)<br />
90
Wörterbüchern vorgeführt werden. Man erinnere sich: Im Jahre 1996 prangerte der<br />
Reformer und Bertelsmannautor Hermann Zabel den reformierten Duden gerade<br />
deshalb an, weil er nicht alle neuerdings möglichen Wortrennungen anführte. Wenig<br />
später mahnte der Geschäftsführer der Kommission, Klaus Heller (ebenfalls<br />
Bertelsmannautor), Trennungen wie Hämog-lobin an, was zufällig im Bertelsmann,<br />
aber nicht im Duden verzeichnet war. Die Neubearbeitung des Bertelsmann enthält<br />
diese und andere Absurditäten nicht mehr. Auch die Trennung vol-lenden ist aus den<br />
neuesten Wörterbüchern verschwunden, obwohl sie ausdrücklich im amtlichen<br />
Regelwerk (§ 112) vorgeschlagen wird. Um so rührender die Anhänglichkeit an<br />
Trennungen wie Res-triktion und Rest-riktion, nach denen nun wirklich im Zeitalter<br />
der automatischen Silbentrennung niemand gerufen hat. Der Bericht erwähnt Elemente<br />
wie das griechische -klast; sie sollen bei der Worttrennung erhalten bleiben – was<br />
immerhin eine bemerkenswerte Bildung bei Ratsuchenden voraussetzt, denen<br />
andererseits nicht zugetraut wird, einander oder herab morphologisch korrekt zu<br />
trennen. Man kann auch lange nachdenken über den Sinn von Trennungen, die<br />
„prinzipiell möglich“, aber so abwegig sind, daß sie nicht in die Wörterbücher<br />
aufgenommen werden sollten. Was ist das für eine Rechtschreibregelung, die vor ihren<br />
eigenen Konsequenzen zurückschreckt?<br />
Die Ankündigung, man wolle überall auf „progressive“ Schreibweisen hinwirken, ist<br />
wohl ernst zu nehmen. Der Bericht selbst verwendet zum Beispiel die hybride Nebenvariante<br />
Orthografie, gegen die sich einzelne Kommissionsmitglieder entschieden<br />
verwahrt haben.<br />
Der Bericht geht auch kurz auf die Neuschreibung der Nachrichtenagenturen ein,<br />
verschweigt aber die erheblichen Abweichungen dieser gemeinsamen Hausorthographie<br />
von der amtlichen Regelung. Der Sachverhalt, der die Kommission sehr<br />
verärgert hat, läßt sich nur indirekt erschließen, wenn über die Hausorthographie der<br />
„Zeit“ gesagt wird, sie gehe einen Mittelweg zwischen amtlicher Regelung und<br />
Agenturschreibung. Die Wiederkehr der Hausorthographien, im vorigen Jahrhundert<br />
das Hauptmotiv der Einigungsbemühungen, stellt der Neuregelung ein vernichtendes<br />
Zeugnis aus.<br />
Abschließend wird vage in Aussicht gestellt, daß die Kommission weiter an den<br />
seinerzeit abgelehnten Korrekturen arbeitet und nach der Übergangszeit, also im Jahre<br />
2005, eine neue Chance zu „Optimierung der Neuregelung“ zu bekommen hofft. Daß<br />
eine Reform der Reform bevorsteht, verrät auch der dreimalige Gebrauch des Wortes<br />
„zunächst“ auf der ersten Seite. Von dem Beirat, der die Arbeit der Kommission<br />
begleiten soll, ist gar nicht die Rede, folglich auch nicht von der bemerkenswerten<br />
Tatsache, daß dieser Beirat nur von Deutschland getragen wird und die<br />
Renationalisierung der Orthographie damit bereits begonnen hat.<br />
Inzwischen mehren sich die Anzeichen, daß die Rechtschreibreform das Jahr 2005<br />
nicht erleben wird. Nachrichtenagenturen und Zeitungen arbeiten am weiteren<br />
Rückbau, so daß sich die Frage stellt, wie lange die deutschen Schulen noch auf ihrer<br />
orthographischen Insel ausharren können, ohne ihrem Bildungsauftrag in nicht mehr<br />
verantwortbarer Weise zuwiderzuhandeln.<br />
Obwohl es offiziell nie zugegeben wurde, arbeitete die Kommission weiter an den<br />
vorgeschlagenen Änderungen. Da sie den Regeltext nicht antasten durfte, ohne das<br />
ganze Reformprojekt zu gefährden, wies sie die beiden Wörterbuchredaktionen an, die<br />
91
Änderungen stillschweigend in die Wörterbuch-Neuauflagen zu übernehmen. Den<br />
Umfang dieser Änderungen bis zum Sommer 2000 läßt am besten die 22. Auflage des<br />
Duden erkennen, die ich weiter unten genauer analysiere. Zum Verfahren sind die<br />
beiden folgenden Mitteilungen besonders aufschlußreich.<br />
Ein Duden-Redakteur gibt Auskunft<br />
Werner Scholze-Stubenrecht, der stellvertretende Leiter der Dudenredaktion, schreibt<br />
unter dem Titel „Das morphematische Prinzip in der Umsetzung der Reform“<br />
(Sprachwissenschaft 2/2000, Hervorhebungen hinzugefügt):<br />
„Die Dudenredaktion versucht seit 1996, bei der Umsetzung der Reform drei<br />
Grundsätzen gerecht zu werden:<br />
1. Die amtliche Regelung ist strikt zu befolgen, und zwar ihrem Wortlaut nach.<br />
(...)<br />
Die Dudenredaktion ist nur wenig geneigt, in den Dudenwerken etwas zu<br />
verwirklichen, was im Gespräch mit einzelnen Mitgliedern der Kommission von<br />
diesen als das in den Regeln eigentlich Gemeinte beschrieben wurde, solange das<br />
sich aus dem Wortlaut der Regeln nicht ablesen lässt. Wir sind der Meinung, dass<br />
das Regelwerk in seiner vorliegenden Ausformulierung maßgebend sein muss,<br />
denn nur auf einer solchen Grundlage lassen sich zum Beispiel über Schulnoten<br />
entscheidende Fragen mit der nötigen Verbindlichkeit klären.<br />
2. In Zweifelsfällen ist den Empfehlungen der Zwischenstaatlichen Kommission<br />
für Rechtschreibung zu folgen, soweit solche vorliegen.<br />
Dieses Prinzip konnte naturgemäß erst seit dem 25. März 1997 befolgt werden,<br />
da es die Kommission vorher (also auch in der Zeit, als die 21. Auflage der<br />
Dudenrechtschreibung bearbeitet wurde) noch nicht gab. Auch heute kann die<br />
Kommission nicht als beliebig abfragbare Auskunftsstelle für das<br />
lexikographische Tagesgeschäft angesehen werden, da sie nur in mehrmonatigen<br />
Abständen zusammentritt und dabei auch nicht ad hoc die verschiedensten<br />
Problemfälle abarbeiten kann. Deshalb berät sich die Dudenredaktion sporadisch<br />
mit einzelnen Kommissionsmitgliedern oder anderen Linguisten, natürlich unter<br />
dem Vorbehalt, dass in grundsätzlichen Fragen der Gesamtkommission nicht<br />
vorgegriffen, deren Entscheidung nicht vorweggenommen werden kann. Was<br />
hingegen von der Kommission selbst als verbindlich oder als Empfehlung<br />
verabschiedet wurde, wird von der Dudenredaktion als ebenso maßgeblich<br />
wie das amtliche Regelwerk angesehen.<br />
3. Der Umgang mit Schreibvarianten wird werkspezifisch geregelt.“<br />
Hier folgen Ausführungen über den Schülerduden und das „Praxiswörterbuch“.<br />
Scholze-Stubenrecht führt dann eine Reihe von unklaren oder gar widersprüchlichen<br />
Regeln an, ferner Widersprüchliches aus dem amtlichen Wörterverzeichnis. Er weist<br />
zum Beispiel nach, daß gewinnbringend, das im Wörterverzeichnis steht, dem<br />
92
Paragraphen 36 eindeutig nicht entspricht usw. Unklar bleibe, was „Zitatwörter“ sind<br />
und was als „fachsprachlich“ von der Reform ausgenommen ist. Er beklagt die<br />
unscharfe Formulierung über Wörter, „die sich aufeinander beziehen lassen“ und fährt<br />
dann fort:<br />
„So kann man allein dem amtlichen Wörterverzeichnis entnehmen, dass die<br />
Beziehungskette Nummer – nummerieren nicht weitergeführt werden soll zu<br />
Numero und Numerale, die von vielen Sprachteilhabern sicher als nicht allzu weit<br />
entfernt von Nummer angesehen werden dürften. Es zeigt sich an diesem<br />
Beispiel, dass es für die lexikographische Umsetzung der Reform unbedingt<br />
ratsam ist, zunächst das amtliche Wörterverzeichnis vollständig abzuarbeiten und<br />
erst bei den hier nicht verzeichneten Stichwörtern mit Regelanwendungen zu<br />
arbeiten.“<br />
Zur Worttrennung führt er u. a. aus:<br />
„Um eine gewisse Einheitlichkeit in den Wörterbüchern vorzubereiten,<br />
wurde vor zwei Jahren in Zusammenarbeit mit Vertretern der<br />
Zwischenstaatlichen Kommission für Rechtschreibung eine inoffizielle Liste<br />
von ca. 60 Seiten Umfang erstellt, in der die wichtigsten in diesem Punkt<br />
zweifelhaften Wörter mit vereinbarten Trennstellen gesammelt sind.<br />
Schlussbemerkung:<br />
(...)<br />
Es hat sich gezeigt, dass sowohl die Schwächung des morphematischen Prinzips,<br />
etwa zugunsten der Fremdwortintegration oder der syllabierungsgerechten<br />
Worttrennung, zu neuer Schreibunsicherheit führen kann, als auch seine<br />
Stärkung, etwa bei der Schreibung stammverwandter Wörter oder bei der<br />
Unterscheidung zwischen Wortgruppe und Zusammensetzung.“<br />
Ergänzendes von Bertelsmann<br />
Der Bertelsmann-Verlag teilt am 24. Oktober 2000 brieflich mit:<br />
„Wir können nur immer wieder betonen, dass wir uns bei der Erstellung unserer<br />
Wörterbücher strikt an die Vorgaben aus Mannheim halten und nicht versuchen,<br />
eigenmächtig Normen zu setzen. Einzelne Verlage sollten ja, so das Ziel der<br />
Reform, nicht mehr für die Festsetzung orthografischer Konventionen zuständig<br />
sein. (...) Dass wir für nächstes Jahr eine Neuausgabe planen 81 , ist nicht<br />
zutreffend. Da die Kommission bislang keine Änderung des Regelwerks<br />
vorgenommen hat und diverse Zweifelsfälle in den letzten Jahren abschließend<br />
geklärt wurden, besteht dazu kein Anlass. Der "Bertelsmann" verzeichnet ja<br />
bereits seit 1999 vollständig alle Präzisierungen, die andere Wörterbücher erst<br />
jetzt eingearbeitet haben.“<br />
Es gibt also unveröffentlichte, nur den beiden Wörterbuchredaktionen von Duden und<br />
Bertelsmann mitgeteilte, über das amtliche Regelwerk hinausgehende und von ihm<br />
81 Dies bezieht sich auf eine offenbar irrige Meldung der F.A.Z. Die Neubearbeitung der<br />
Bertelsmann-Rechtschreibung ist nunmehr für 2002 angekündigt.<br />
93
teilweise auch abweichende Empfehlungen der Rechtschreibkommission. Es gibt<br />
außerdem eine unveröffentlichte, nur den Redaktionen von Duden und Bertelsmann<br />
bekannte 60seitige Liste von mit der Kommission „vereinbarten Trennstellen“. Dies<br />
erklärt hinreichend, daß die führenden Wörterbücher jetzt zwar untereinander stärker<br />
übereinstimmen, um so mehr aber von früheren Ausgaben und auch von der amtlichen<br />
Regelung abweichen. Die umgestellten Wörterbücher, Schulbücher usw. der ersten drei<br />
Jahre seit 1996 sind daher schon wieder überholt. Es ist zu überlegen, ob in dieser<br />
Situation nicht auch das „Toleranzedikt“ zu erneuern und zu erweitern wäre, das die<br />
Kultusminister angesichts der katastrophalen Entwicklung ihres übereilten Reformunternehmens<br />
schon einmal erlassen haben. In einer seiner Fassungen sei es hier<br />
wiedergegeben 82 :<br />
An alle<br />
Schulleiterinnen und Schulleiter<br />
der Schulen in Rheinland-Pfalz<br />
An die Schulelternbeiräte<br />
An die Schülervertretungen<br />
Betrifft: Neuregelung der deutschen Rechtschreibung<br />
hier: Informationsblatt<br />
Bezug: Mein Schreiben vom 26. Februar 1997 - 51301/30<br />
Anlagen<br />
Sehr geehrte Damen und Herren,<br />
nach einem Sommer voller widersprüchlicher Nachrichten und Gerichtsurteile zur<br />
Rechtschreibreform sende ich Ihnen heute, zur weiteren Verteilung an Eltern oder<br />
Schulabgänger, ein Faltblatt mit kurzgefaßten Informationen zur Neuregelung zu.<br />
Gleichzeitig möchte ich mich bei Ihnen bedanken, daß Sie sich auf dem<br />
eingeschlagenen Wege nicht haben beirren lassen. Für die Umsetzung in Rheinland-<br />
Pfalz gilt nach wie vor die Verwaltungssvorschrift vom 10. Juli 1996 (Amtsblatt<br />
1996, S. 381ff).<br />
Noch ein Wort zu der immer wieder genannten Zahl von 8000 Abweichungen<br />
zwischen den auf dem Markt befindlichen Wörterbüchern. Diese Zahl ist nirgends<br />
belegt. Die Zahl der Abweichungen, die es im übrigen auch vor der Neuregelung<br />
zwischen Wörterbüchern gab, ist weit geringer als behauptet wird. Der Eindruck<br />
einer großen Zahl von Abweichungen entsteht u.a. dadurch, daß die Wörterbücher<br />
Fremdwortvarianten, Trennungsvarianten und andere Varianten unterschiedlich<br />
darstellen. Einige wenige Problemfälle werden zur Zeit in der zwischenstaatlichen<br />
Kommission in Absprache mit den Wörterbuchverlagen geklärt. Sie können also<br />
getrost alle großen, derzeit auf dem Markt befindlichen Wörterbücher für Ihre<br />
Korrektur zugrunde legen. Sollten sich Abweichungen ergeben, so ist in jedem Falle<br />
zugunsten der Schülerin oder des Schülers zu entscheiden.<br />
Wenn sich in der Schulpraxis Probleme ergeben, bitte ich Sie, mich darüber zu<br />
informieren, ich werde gerne versuchen, zur Lösung beizutragen. Im übrigen bitte<br />
ich Sie für die Übergangszeit um Gelassenheit. Wichtig ist es, den Kindern und<br />
82 Es handelt sich um einen Aushang an den Schulen in Rheinland-Pfalz im ersten Quartal<br />
1998.<br />
94
Jugendlichen eine möglichst sichere Handhabung der Rechtschreibung zu<br />
vermitteln, hierzu kann der Abbau von Sonderregeln durch die Neuregelung<br />
beitragen.<br />
Mit freundlichen Grüßen<br />
Prof. Dr. E. Jürgen Zöllner<br />
Der „Beirat für die deutsche Rechtschreibung“<br />
Ab Herbst 2000 sollte die Rechtschreibkommission unter Aufsicht des erwähnten<br />
„Beirates“ arbeiten, der die jeweiligen Berichte mit ihr vorbesprechen und beurteilen<br />
soll. Ein solcher Beirat war schon nach der Mannheimer Anhörung angekündigt<br />
worden, doch bestand offenbar unter den Politikern keine Einigkeit. Österreich und die<br />
Schweiz lehnten ihn ab und tragen ihn nicht mit. Der Beirat wird also von der Hälfte<br />
der Kommissionsmitglieder nicht anerkannt. Das dürfte seine Tätigkeit nicht eben<br />
erleichtern.<br />
Zur Mitarbeit in diesem Beirat eingeladen sind: PEN-Zentrum Bundesrepublik<br />
Deutschland, Verband deutscher Schriftsteller in der IG Medien, Deutscher Journalistenverband,<br />
Bundesverband deutscher Zeitungsverleger e.V., Verband deutscher<br />
Zeitschriftenverleger e.V., Arbeitsgemeinschaft der deutschsprachigen Nachrichtenagenturen,<br />
Börsenverein des Deutschen Buchhandels, VdS Bildungsmedien e.V.,<br />
Bundeselternrat, Deutscher Gewerkschaftsbund (Lehrerorganisationen), Deutscher<br />
Beamtenbund (Lehrerorganisationen), Deutsches Institut für Normung, Dudenredaktion,<br />
Bertelsmann-Lexikonverlag, Wahrig-Wörterbuchredaktion.<br />
Kritiker der Reform, zum Beispiel die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung,<br />
wurden nicht zur Mitarbeit eingeladen.<br />
Die Einladung zur konstituierenden Sitzung ist vom Vorsitzenden der Kommission,<br />
Gerhard Augst, verfaßt und auf den 28.11.2000 datiert; sie lautet:<br />
Sehr geehrte Damen und Herren!<br />
Im Einvernehmen mit dem Generalsekretär der Kultusministerkonferenz und dem<br />
Staatsminister beim Bundeskanzler lade ich zu ersten, konstituierenden Sitzung des Beirats<br />
für deutsche Rechtschreibung<br />
ein. Als Tagesordnung schlage ich vor:<br />
am 8. Februar 2001<br />
in das Institut für Deutsche Sprache (IDS)<br />
1. Eröffnung der Sitzung durch den Einladenden<br />
2. Begrüßung durch den Hausherrn, den Direktor des Instituts für Deutsche Sprache, Herrn<br />
Prof. Dr. Gerhard Stickel<br />
3. Ansprachen des/der Beauftragten des Präsidenten der KMK und des/der Beauftragten<br />
des Staatsministers beim Bundeskanzler<br />
95
4. Bericht der bundesrepublikanischen Mitglieder der Zwischenstaatlichen Kommission<br />
für deutsche Rechtschreibung zum Stand der Arbeit und zum inhaltlichen und zeitlichen<br />
Arbeitsplan bis zum Ende der Übergangszeit 1.8.2005<br />
5. Beratung über Aufgabe, Funktion und Arbeitsform des Beirats – weiteres Vorgehen<br />
6. Verschiedenes<br />
Besonders auffällig ist, daß das Bundesinnenministerium nicht mehr in Erscheinung<br />
tritt, statt dessen aber der Kulturstaatsminister. Hintergrund dürfte sein, daß die<br />
entscheidende Person, Ministerialrätin Dr. Monika Palmen-Schrübbers, inzwischen aus<br />
dem Bundesinnenministerium zur neuen Behörde des Kulturbeauftragten beim<br />
Bundeskanzler versetzt worden ist. Von der Sache her ist die Kompetenzverlagerung<br />
nicht gerechtfertigt. Da es neben der Schulorthographie vor allem um die Amtssprache<br />
geht, war zu allen Zeiten neben den Kultusministern der Innenminister für die<br />
Rechtschreibreform zuständig. 83 Palmen-Schrübbers hat jedoch laut Insiderberichten<br />
jederzeit und besonders in kritischen Situationen unnachgiebig auf der Durchführung<br />
der Reform bestanden und dürfte den Reformern auch weiterhin als verläßlichste<br />
Stütze erscheinen.<br />
Das Bundeskanzleramt teilt am 15.2.2001 auf Anfrage mit, die Zuständigkeit für die<br />
Rechtschreibung sei mit Organisationserlaß des Bundeskanzlers vom 27.10.1998 auf<br />
den Kulturstaatsminister übergangen; die Zuständigkeit für die Rechtssprache sei<br />
jedoch beim Bundesinnenministerium verblieben „im Rahmen seiner Zuständigkeit für<br />
Verwaltungsorganisation“. Deshalb habe auch das BMI die Bundesdienststellen am<br />
7.6.1999 durch Rund<strong>schreiben</strong> angewiesen, die Neuregelung umzusetzen. – Angesichts<br />
des engen Zusammenhangs von Rechts- und Verwaltungssprache ist diese Aufspaltung<br />
kaum nachzuvollziehen.<br />
83 Die Chronik der Reform auf der Internet-Seite des Bertelsmannkonzerns nennt Palmen-<br />
Schrübbers bereits für das Jahr 1988 als offenbar wichtige Mitspielerin.<br />
96
III. Ablenkungsmanöver<br />
97
Replik auf<br />
Gerhard Augst/Burkhard Schaeder: Rechtschreibreform - Eine Antwort an die<br />
Kritiker. Stuttgart 1997 84<br />
Die an den Schulen vieler Bundesländer vorzeitig eingeführte „Neuregelung der<br />
deutschen Rechtschreibung“ konnte vor dem Urteil der Sprachwissenschaft nicht<br />
bestehen; sie gehört nach Ansicht eines berufenen Kritikers und Mitgliedes der neuen<br />
Rechtschreibkommission „sprachwissenschaftlich auf den Müll“ (Peter Eisenberg).<br />
Auch die meisten Schriftsteller und die Mehrheit der Bevölkerung lehnen die Reform<br />
ab. Dennoch beharren die deutschen Kultusminister auf der ohnehin überstürzten,<br />
darüber hinaus auch rechtlich fragwürdigen Durchführung der verfehlten Neuregelung.<br />
Um ihnen zu Hilfe zu kommen, veröffentlichte der Vorsitzende der neuen Reformkommission<br />
zusammen mit einem früheren Mitglied des für die Reform<br />
verantwortlichen Arbeitskreises im Sommer 1997 eine Verteidigungsschrift.<br />
Obwohl ich diese Broschüre bereits Anfang September 1997 einer umfassenden Kritik<br />
unterzogen habe, die auch vielen verantwortlichen Politikern zur Kenntnis gebracht<br />
wurde, haben die Kultusminister sie noch Monate später als „Widerlegung“ der<br />
Reformgegner empfohlen und verbreitet. Das bayerische Kultusministerium beispielsweise<br />
erwarb 5500 Exemplare 85 und verschickte sie am 6.10.1997 mit einem<br />
entsprechenden Begleit<strong>schreiben</strong> an alle bayerischen Schulen. In Hessen erhielt Ende<br />
November jede Schule zwei Exemplare. 86 Auch das Institut für deutsche Sprache (IDS)<br />
bezeichnet sie in seiner Stellungnahme für das Bundesverfassungsgericht vom<br />
10.11.1997 als eine überzeugende Widerlegung der „Hauptvorwürfe von Ickler und<br />
anderen Kritikern“.<br />
Zur Beurteilung der Broschüre ist vorab interessant, was einer der besten Kenner der<br />
Orthographie und ihrer Reform, Horst H. Munske, dazu sagt:<br />
„Während eine Arbeitsgruppe der Kommission an einer Revision arbeitet, wird<br />
an allen bayerischen Schulen eine Werbeschrift des Kommissionsvorsitzenden<br />
verteilt, in der sämtliche Groteskheiten (sc. der Getrennt- und<br />
Zusammenschreibung) wortreich verteidigt werden. Hier wird der verbiesterte<br />
Wille offenbar, nichts Wesentliches zu ändern, sondern allenfalls ein paar<br />
besonders anstößige Fehler wegzuinterpretieren.“ 87<br />
Munske trat aus der Kommission aus, da er eine weitere Mitarbeit unter derart<br />
verzerrten Bedingungen nicht für sinnvoll hielt. Eisenberg folgte ihm einige Monate<br />
später.<br />
84 Dieser Text wurde im September 1997 verfaßt und dem Bundesverfassungsgericht<br />
vorgelegt. Er ist hier etwas gekürzt; Seitenzahlen bei Verweisen sind weggelassen.<br />
85 Süddeutsche Zeitung 31.10.1997.<br />
86 Vermerk von Ministerialrat Christoph Stillemunkes (Az VI A 3 - 601/83 - 252).<br />
87 Süddeutsche Zeitung 4.12.1997.<br />
99
Die „Bayerische Staatszeitung“ stellt zutreffend fest, die Schrift von Augst und<br />
Schaeder sei<br />
„eines ganz gewiß nicht: eine ,Antwort an die Kritiker‘. Denn auf keines der<br />
Kernargumente der Kritik läßt sie sich ernstlich ein (...). Das macht aber nicht<br />
viel, denn die Lehrer sind gescheit und werden sich schon ihren eigenen Reim<br />
machen. Aus der Tatsache, daß ihnen die ,Antwort an die Kritiker‘ auf dem<br />
Dienstweg zugestellt wurde, wird man ja gewiß doch folgern dürfen, daß sie auf<br />
dem gleichen Weg auch mit den Argumenten der Reformkritiker bekannt gemacht<br />
worden sind.“ (31.10.1997)<br />
Das ist natürlich nicht geschehen.<br />
Augst und Schaeder (im folgenden A&S) bedienen sich – um es zusammenfassend zu<br />
sagen – einer bewährten eristischen Technik:<br />
• Man beweist umständlich etwas, was niemand bestritten hat.<br />
• Man zitiert den Gegner so, daß er das Gegenteil von dem gesagt zu haben scheint,<br />
was er wirklich gesagt hat.<br />
• Man redet wortreich über Nebensachen, bis der Leser vergessen hat, was eigentlich<br />
die Hauptsache war – die man tunlichst gar nicht erst erwähnt.<br />
• Man übergeht die wesentlichen Gegenargumente mit Stillschweigen – in der<br />
Hoffnung, daß der unbefangene Leser sie nicht kennt.<br />
• Man schiebt kleinere Versehen ohne näheren Nachweis pauschal „den Kritikern“ in<br />
die Schuhe und hat dann leichtes Spiel mit ihrer „Widerlegung“.<br />
Die folgende Replik schließt sich der Gliederung und den Überschriften des Pamphlets<br />
an.<br />
I. Allgemeine Argumente für die Reform und<br />
Gegenargumente<br />
1. Gründe für die Reform<br />
„Die heutige deutsche Rechtschreibung fußt auf einem Regelwerk, das 1901 erarbeitet<br />
wurde.“<br />
Diese Behauptung verschleiert die entscheidende Tatsache, daß 1901 keinerlei<br />
Neuerungen eingeführt, sondern lediglich einige wenige Varianten beseitigt und die<br />
leicht unterschiedlichen Schulorthographien (Preußens, Bayerns, Württembergs usw.)<br />
vereinheitlicht wurden. Augst selbst hatte dazu geschrieben:<br />
„Es ist allgemein bekannt, daß diese Konferenz [von 1901] keine inhaltliche<br />
Reform zuwege bringt (bis auf die Auslassung des h, z.B. in Rath, That, theilen,<br />
Thon, Thor, Thür).“ 88<br />
Inhaltlich ist die geltende Rechtschreibung also wesentlich älter und keineswegs das<br />
Produkt von Interventionen des Staates. Diese Feststellung ist darum von Bedeutung,<br />
weil aus Reformerkreisen oft argumentiert wird, was der Staat geschaffen habe, könne<br />
auch nur der Staat wieder ändern. Hieraus leitet man die „Regelungskompetenz“ des<br />
88 Muttersprache 1989, S. 231.<br />
100
Staates ab, die von Kritikern der Reform jedoch unter Hinweis auf die Geschichte und<br />
auf die Praxis anderer Länder bestritten wird.<br />
Mit dem Beschluß der Kultusminister von 1955, in Zweifelsfällen sei der Duden<br />
maßgeblich, „wurde die Spezialorthographie der Drucker, Setzer und Korrektoren zur<br />
verbindlichen Schreibung in den Schulen.“ – Diese suggestive Behauptung bezieht<br />
sich auf die Tatsache, daß der heutigen Duden auf die Vereinigung der Schulorthographie<br />
mit dem noch von Konrad Duden selbst entwickelten „Buchdruckerduden“ zurückgeht,<br />
sie läßt aber die Möglichkeit außer acht, daß eine solche Verfeinerung und<br />
Verdichtung des Regelwerks sowie die sehr weit gehende Beseitigung weiterer Varianten<br />
durchaus auf die Ansprüche der gesamten Sprachgemeinschaft geantwortet haben<br />
könnte. So „spezial“ ist die geltende Orthographie nämlich nicht. Der massenhafte<br />
Umgang mit dem geschriebenen und gedruckten Wort hat die Bedürfnisse des<br />
Druckgewerbes weithin zu allgemeinen Anforderungen an die Standardisierung der<br />
Schriftsprache werden lassen. Die gewiß ärgerliche Überbewertung der<br />
Rechtschreibleistung in der Schule steht auf einem anderen Blatt.<br />
Die geltende Rechtschreibung ist ohne Zweifel kompliziert und läßt sich nicht im<br />
Handumdrehen erlernen. Das ist aber an sich noch kein Einwand; denn es könnte sich<br />
erweisen, daß die Regeln sowie Einzelwortschreibungen überwiegend ihren guten Sinn<br />
haben. Dann würde es sich um ein besonders fein ausgearbeitetes Instrument oder,<br />
anders ausgedrückt, um eine hochentwickelte Technik handeln, deren Beherrschung<br />
zwar nicht jedermann und schon gar nicht jedem Kind zugemutet werden kann, die<br />
aber auch nicht um der Anfänger willen aufgegeben werden darf. Die Ansprüche<br />
festzusetzen, die man an Schüler der verschiedenen Stufen zu stellen habe, ist eine<br />
pädagogische Aufgabe, und hier – aber nur hier – haben die Kultusminister<br />
mitzureden. Die Neuregelung jedoch ist nicht nur für die Schulen bestimmt, sondern<br />
soll – abgesehen vom Schriftverkehr der Behörden – ausdrücklich „Vorbildcharakter“<br />
für jedermann haben. Auch die Gerichte haben erkannt, daß es bei der Reform um die<br />
zukünftige Schreibweise der ganzen Sprachgemeinschaft geht. Fehlerpädagogische<br />
oder bildungspolitische Gesichtspunkte dürfen bei der Diskussion um die bestmögliche<br />
Gestaltung schriftlicher Texte keine Rolle spielen. Didaktik ist nachrangig, wie bei<br />
jeder Wissenschaft, Technik oder Kunst.<br />
Die Autoren vertuschen diesen Zusammenhang, wenn sie <strong>schreiben</strong>:<br />
„Wenn der Staat jedoch durch einen Erlass die richtige Schreibung für die<br />
Schulen festlegt, dann muss diese Regelung so gestaltet sein, dass Schreibende<br />
nach dem Ende der allgemeinen Schulpflicht in der Lage sind, diese Norm<br />
befolgen zu können.“<br />
Die Voraussetzung trifft eben nicht zu: Es handelt sich keineswegs um eine<br />
Rechtschreibung „für die Schulen“, sondern ebenso um eine Rechtschreibung für den<br />
amtlichen Schriftverkehr, für Gesetzestexte usw. und – wie im Regelwerk ausdrücklich<br />
beansprucht – für jedermann, auch wenn der Staat nicht jedermann zwingen kann, sie<br />
zu befolgen. Daran ist sie zu messen, nicht an der Lernbarkeit für Schüler. Die geltende<br />
Rechtschreibung mag gewisse Schwächen haben, wo sie sich willkürliche Einzelfestlegungen<br />
und auch ein paar allzu fein gesponnene Regeln und Ausnahmen erlaubt.<br />
Über deren Umfang und über Möglichkeiten einer Bereinigung läßt sich reden. Oft<br />
steht auch weniger der Gehalt der Regeln als ihre Darbietungsweise sowie die Selbstinterpretation<br />
des Duden zur Diskussion. In diesem Zusammenhang muß jedoch<br />
101
zweierlei gesagt werden:<br />
Erstens genügt es nicht, an ein verbreitetes Vorurteil über die angeblich auch von<br />
Gebildeten nicht beherrschbare Dudenorthographie zu appellieren. Man „beherrscht“<br />
die Rechtschreibung nicht erst dann, wenn man jedes gehörte Wort ohne Nachschlagen<br />
dudenkonform <strong>schreiben</strong> kann. Das wäre allenfalls bei einer reinen Lautschrift<br />
möglich, nicht aber in einer ganz anders gearteten Schreibtechnik wie der deutschen,<br />
englischen und französischen. Diese Orthographien sind nicht nur Techniken, die man<br />
können, sondern auch Arsenale, die man kennen muß.<br />
Zweitens ändert die Reform an den allermeisten Schwierigkeiten der deutschen<br />
Rechtschreibung gar nichts; sie berührt schon vom Umfang her nur einen winzigen<br />
Teil der Wortschreibungen. 89 Ein Blick in Schüleraufsätze zeigt, daß die unendlich<br />
vielen Möglichkeiten, Fehler zu machen, größtenteils erhalten bleiben und sogar neue<br />
eröffnet werden. Wo es jedoch neuerdings „nicht mehr darauf ankommt“, wie beim<br />
Komma in gewissen – keineswegs allen! – Zusammenhängen, da tritt eine<br />
Vergröberung und Verschlechterung auf Kosten des Lesers ein, die dennoch nicht<br />
einmal dem Schreibenden eine Erleichterung bringt, da er wiederum lernen muß, an<br />
welchen Stellen er jetzt mehr „Freiheit“ genießt und an welchen nicht.<br />
Der Traum von einer „Rechtschreibung für alle“ ist auf der Grundlage der im<br />
Deutschen akzeptierten, von der Reform grundsätzlich auch nicht angetasteten<br />
prinzipiellen Orientierung nicht erfüllbar. A&S <strong>schreiben</strong> zwar: „Rechtschreibung ist<br />
keine Kunstübung.“ Aber genau dies ist sie und soll sie nach der Reform auch bleiben.<br />
Durch ständiges Anprangern der komplizierten Dudennorm bei gleichzeitigem<br />
Anpreisen der Neuregelung wird suggeriert, die Neuregelung sei einfacher. Das ist<br />
nachweislich nicht der Fall. Die „Grundregeln“ sind auch bei der bisherigen Regelung<br />
einfach zu verstehen und zu erlernen, und am Detail und den Randbereichen ändert<br />
sich, was die Kompliziertheit angeht, überhaupt nichts. Ein Blick in das neue<br />
Paragraphendickicht genügt, um sich davon zu überzeugen. Leider geben die<br />
vereinfachten Popularisierungen, die A&S selbst sowie andere Reformer ausgearbeitet<br />
und massenhaft verbreitet haben, ein völlig falsches Bild. Die Reformer Gallmann und<br />
Sitta stellen mit Recht fest, daß auch die neue Rechtschreibung nicht in wenigen Jahren<br />
zu erlernen, sondern ein Pensum für die gesamte Schulzeit sei. Sie haben auch offen<br />
ausgesprochen, daß zahllose Ausnahmen und Ausnahmen von Ausnahmen nunmehr als<br />
„Erläuterungen“ getarnt auftreten.<br />
Mit der vielgerühmten Einfachheit der ursprünglichen Dudenregeln von 1902 ist es<br />
auch nicht weit her. Sie beruht zum Teil darauf, daß gewisse notorisch komplizierte<br />
Bereiche wie die Getrennt- und Zusammenschreibung und die Zeichensetzung kaum<br />
oder gar nicht geregelt wurden, während gerade die Neuregelung darauf<br />
außerordentlich detailliert eingeht.<br />
Um die staatliche Regelungskompetenz zu untermauern, stellen A&S fest:<br />
„Aufbauend auf Spontanschreibungen wird die Rechtschreibung bewusst und<br />
systematisch in der Schule gelernt.“<br />
Das ist bestenfalls die halbe Wahrheit. Wie in allen seinen übrigen Schriften vergißt<br />
89 Diese Eigenschaft der Reform wird, wenn es gerade paßt, als ihre „Behutsamkeit“<br />
gerühmt. Ein zweischneidiges Lob, denn woher soll die Fehlerverminderung um 30, 50<br />
oder mehr Prozent kommen, wenn sich an einem Normaltext fast nichts ändert?<br />
102
Augst das Lesen als wichtigste Quelle von Rechtschreibkompetenz. Beim Lesen wird<br />
das Regelhafte der Orthographie intuitiv erfaßt. Das ist nur möglich, wenn die Orthographie<br />
den tatsächlichen Intuitionen der Sprachgemeinschaft folgt. Die Neureglung<br />
verstößt in zentralen Bereichen gegen diese Intuitionen, weshalb manche neue Regel<br />
zwar leicht vermittelt, aber nur schwer befolgt werden kann.<br />
Es trifft zu, daß der Staat bei uns in die Rechtschreibung „regulierend eingreift“,<br />
nämlich durch die „Beleihung“ des Duden mit dem bekannten Privileg. 90 A&S können<br />
aber nicht begründen, daß das für alle Ewigkeit so bleiben muß. Auch das von den<br />
Reformern immer wieder hergestellte Junktim zwischen Aufhebung des<br />
Dudenprivilegs und Rechtschreibreform plus Verstaatlichung der Orthographie besteht<br />
in Wirklichkeit nicht. Heute mehren sich die Stimmen, die eine Entstaatlichung der<br />
Orthographie und den ersatzlosen Wegfall der „Kommission für Rechtschreibung“<br />
fordern. Die gerade durch die Reform ramponierte Einheit der deutschen<br />
Rechtschreibung wäre dadurch nicht gefährdet, im Gegenteil.<br />
2. Zum Verhältnis zwischen Schreibenden und Lesenden<br />
Die deutsche Rechtschreibung hat sich, wie besonders Horst H. Munske betont, im<br />
Laufe der Jahrhunderte zu immer größerer Leserfreundlichkeit entwickelt. Dies<br />
anzuerkennen bedeutet entgegen A&S nicht, „jede bislang gültige Regel oder<br />
Ausnahme“ zu rechtfertigen. Die Leserfreundlichkeit besteht ja nicht darin, sämtlichen<br />
Gewohnheiten des Lesers um ihrer selbst willen entgegenzukommen, sondern darin,<br />
das Geschriebene so zu gestalten, daß der Inhalt einer Mitteilung möglichst direkt zu<br />
erkennen ist. Gerade das von der Reform so hoch gehaltene „Stammprinzip“ ist das<br />
beste Beispiel für diese Leserorientierung. Man schreibt nie um des Aufzeichnens<br />
willen, sondern immer, um gelesen zu werden. Schreiben und Lesen sind daher nicht<br />
symmetrisch zu gewichten. Das ist der Sinn der Parole „Alles für den Leser!“ Auch der<br />
Rechtschreibunterricht fährt am besten, wenn man den Lernenden stets darauf<br />
hinweist, wie das Geschriebene beim Lesen wirkt.<br />
Daß die Maxime „Alles für den Leser“ zu einer konsequenten Unterscheidungsschreibung<br />
gleichlautender Wörter führen müsse, ist eine allzu billige Unterstellung.<br />
Vielleicht würde man auf diese – sozusagen „chinesische“ – Lösung verfallen, wenn es<br />
darum ginge, eine Schreibung des Deutschen allererst zu entwerfen. In Wirklichkeit<br />
besitzen wir aber doch seit langem eine allgemein anerkannte Rechtschreibung, und<br />
der bloße Bestand hat in solchen Dingen sein Eigengewicht, da die Kontinuität der<br />
Überlieferung zu den wesentlichsten Zielen einer jeden Schrift gehört. Das bezweifeln<br />
auch die Reformer weder theoretisch noch durch ihre Reformpraxis, die<br />
erklärtermaßen das gewohnte Schriftbild nicht zu sehr verändern soll (Stichwort<br />
„Behutsamkeit“). Die Änderungen müssen gerechtfertigt werden, nicht das allgemein<br />
Übliche. Es ist absurd, daraus den Vorwurf abzuleiten, die Kritiker verteidigten „fast<br />
jede Nuance, die in der deutschen Rechtschreibung existiert“. Der Bestand der<br />
sogenannten „Konvention“ braucht an sich überhaupt nicht verteidigt zu werden, da er<br />
den Willen von Millionen Menschen verkörpert, die in Jahrhunderten gerade diese und<br />
keine andere Lösung von Problemen der schriftlichen Kommunikation gefunden<br />
haben. Die Reformer müßten jede Neuerung sorgfältig begründen. Da sie das nicht<br />
können, schieben sie kurzerhand die Beweislast den Verteidigern des Bestehenden zu:<br />
90 Nachtrag: Während der Anhörung vor dem Bundesverfassungsgericht am 12.5.1998<br />
waren sich alle Beteiligten darüber einig, daß es sich mangels gesetzlicher Grundlage um<br />
keine wirkliche Beleihung handelte.<br />
103
„Bei jeder Konvention der Rechtschreibung (ist) danach zu fragen, was sie vom<br />
Schreibenden verlangt und was sie dem Lesenden bringt.“<br />
Darin klingt der konstruktivistische Geist der frühen siebziger Jahre nach, als mancher<br />
glaubte, man könne alles und jedes hinterfragen und die Gesellschaft gleichsam von<br />
Grund auf neu entwerfen. Das Pathos des radikalen Neubeginns wird freilich an der<br />
unübersehbaren Kümmerlichkeit der übriggebliebenen Reformreste zuschanden.<br />
3. Das Regelwerk als Kompromiss<br />
„Viele Kritiker müssen sich den Vorwurf gefallen lassen, dass ihre Kritik<br />
reichlich spät kommt.“<br />
Dazu ist zu sagen: Selbst diejenige Kritik, die erst 1996, nach dem Erscheinen der<br />
endgültigen Fassung des Regelwerks und der ersten Wörterbücher einsetzte, kam nicht<br />
zu spät, wenn doch das Inkrafttreten erst für den 1.8.1998 angekündigt war. 91 Vielmehr<br />
sollten durch die sofortige und damit um volle zwei Jahre vorgezogene Einführung<br />
der Reform vollendete Tatsachen geschaffen werden: neue Gewohnheiten, zahllose<br />
neue Bücher, riesige finanzielle Aufwendungen, hinter die zurückzugehen als<br />
untunlich erscheinen sollte. Auch Horst H. Munske, seinerzeit Mitglied des<br />
Arbeitskreises, beklagt, daß anstelle einer Erprobung während der Vorlaufphase<br />
sogleich mit dem „unvermittelten Praxistest“ begonnen wurde. Aus der Sicht des<br />
Jahres 1997 spricht er von einer „Überrumpelungsaktion“. 92<br />
Der Reformentwurf von 1992 – nur dieser war Gegenstand einer Anhörung – ist<br />
keineswegs „fast identisch“ mit dem jetzt diskutierten von 1996, sondern weicht in<br />
einer großen Zahl von Fällen davon ab, wie inzwischen in Synopsen von Christian<br />
Stetter und von mir selbst 93 gezeigt worden ist. Bei der Anhörung im Jahre 1993 haben<br />
Sprachwissenschaftler auch bemängelt, daß das Reformwerk noch ohne das<br />
angekündigte Wörterverzeichnis zur Diskussion gestellt wurde. Von einem „vollständigen<br />
Vorschlag“, der laut A&S im Jahre 1992 veröffentlicht worden sei, kann also<br />
keine Rede sein, denn eine Neuregelung ohne Wörterverzeichnis ist nicht vollständig.<br />
Es gibt gute Gründe für die These, daß das Wörterverzeichnis der Kern der<br />
Orthographie ist. Das Regelwerk ist gewissermaßen die nie abschließbare Theorie<br />
dazu.<br />
Wenn die linguistische Kritik sich lange Zeit eher zurückgehalten hat, so liegt das auch<br />
daran, daß nach jahrzehntelanger Bastelei kaum noch jemand an eine Reform glaubte.<br />
Auch war der Kreis der Orthographiespezialisten stets klein und zu einem großen Teil<br />
selbst in die Reformvorbereitungen verstrickt, also befangen. Allerdings trifft zu, daß<br />
große Teile der deutschen Sprachwissenschaft auf die Neuregelung mit betretenem<br />
91 Wolfgang Kopkes Arbeit, in der keineswegs nur rechtliche Gesichtspunkte behandelt<br />
sind, lag den Kultusministern im Sommer 1995 vor. – A&S <strong>schreiben</strong> im Vorwort (das<br />
auf Juli 1997 datiert ist): „Seit letztem Jahr läuft die (Vorbereitung zur) Einführung der<br />
Rechtschreibreform in dem vereinbarten Zeitraum.“ Es lief eben nicht nur die<br />
Vorbereitung, sondern die Einführung selbst, und zwar gerade deshalb nicht im<br />
vereinbarten Zeitraum, sondern vorzeitig und voreilig.<br />
92 Vgl. jetzt seinen aufschlußreichen Rückblick in „Kunst & Kultur“ 1/1998.<br />
93 Meine auf der Grundlage von Stetters Vorarbeiten erstellte Synopse lag dem<br />
Rechtsausschuß des Deutschen Bundestages am 2. Juni 1997 vor und ist seitdem auch<br />
A&S bekannt. – Im Bayerischen Landtag war am 27.10.1995 zu hören: „Das Ergebnis<br />
der Kommission liegt seit 1993 vor.“ (MdL Radermacher)<br />
104
Schweigen und rücksichtsvollem Wegsehen reagiert haben.<br />
Die millionenfach verbreiteten Kurzdarstellungen geben ein ganz unvollständiges Bild<br />
der geplanten Neuregelungen. Sie dienen der Werbung, nicht der Information. Wer die<br />
Kurzfassung von K. Heller im „Sprachreport“ oder die Dudenbroschüre vom<br />
Dezember 1994 liest, kann nicht im entferntesten ahnen, welche Komplikationen<br />
beispielsweise die neue Kommasetzung bereithält. Seit wir über eine genaue Analyse<br />
der Regeln verfügen, muten jene Kurzfassungen wie bewußte Irreführungen an.<br />
Ferner ist darauf hinzuweisen, daß die wissenschaftliche Kritik, die etwa 1995 von<br />
Peter Eisenberg, Wolfgang Kopke oder mir selbst vorgetragen wurde, keinerlei<br />
Berücksichtigung gefunden hat. 94<br />
4. Die neue „Kommission für Rechtschreibung“<br />
„In Wien wurde vereinbart, eine neue Kommission für alle deutschsprachigen<br />
Staaten einzurichten, welche die Aufgaben übernehmen soll, die von 1955 bis<br />
1996 der Duden hatte.“<br />
Wenn dies die Aufgabe sein sollte, die der Kommission in Wien zugewiesen wurde,<br />
dann muß es in einem geheimen Zusatzprotokoll geschehen sein, denn in der Wiener<br />
Absichtserklärung vom 1. Juli 1996 steht etwas ganz anderes:<br />
„Die zuständigen staatlichen Stellen Deutschlands, Österreichs und der Schweiz<br />
werden Experten in eine Kommission für die deutsche Rechtschreibung<br />
entsenden, deren Geschäftsstelle beim Institut für deutsche Sprache in Mannheim<br />
eingerichtet wird.<br />
Die Kommission wirkt auf die Wahrung einer einheitlichen Rechtschreibung im<br />
deutschen Sprachraum hin. Sie begleitet die Einführung der Neuregelung und beobachtet<br />
die künftige Sprachentwicklung. Soweit erforderlich erarbeitet sie Vorschläge<br />
zur Anpassung des Regelwerks.“<br />
Die Dudenredaktion hat bekanntlich in erster Linie ein Rechtschreibwörterbuch<br />
herausgegeben. Sollte dies die Aufgabe der neuen Kommission sein, eines nur<br />
gelegentlich tagenden Gremiums überwiegend von Hochschullehrern, die gar keine<br />
praktischen Lexikographen sind?<br />
Es ist interessant, wie die Aufgaben der Kommission von A&S weiterhin beschrieben<br />
werden. Sie solle, wie es heute heißt, in der Wiener Absichtserklärung aber<br />
keineswegs geheißen hatte, „falls erforderlich, auch Korrekturen“ am Regelwerk<br />
vornehmen. Aus dem Wortlaut der Absichtserklärung ergibt sich jedoch, daß<br />
Anpassungen an die künftige Sprachentwicklung ins Auge gefaßt sind, nicht aber<br />
Korrekturen unter dem Eindruck der Kritik. 95 Daß Kritik nicht mehr erwünscht, der<br />
94 Auf meine kritischen Eingaben zur neuen Getrennt- und Zusammenschreibung wurden<br />
mir mehrfach Antworten des dafür hauptverantwortlichen Reformers angekündigt. Sie<br />
blieben aus. Im Juni 1997 richtete ich an die Kommission eine Anfrage wegen der<br />
Kommasetzung; die angekündigte Auskunft ist nie eingetroffen. Kollegen berichten<br />
ähnliches.<br />
95 Der Reformer Sitta erklärt im Anschluß an die zitierte Stelle aus der Absichtserklärung:<br />
„Mir ist dieser Wortlaut wichtig: Die Kommission soll ihrem Aufrag nach nicht – wie<br />
seitens der Reformgegner behauptet wird – das angeblich schlechte Reformwerk<br />
optimieren. Sie soll auf der Grundlage des beschlossenen Regelwerks die Einführung der<br />
Neuregelung begleiten.“ (in Eroms/Munske [Hg.]: Die Rechtschreibreform – Pro und<br />
105
„Entscheidungsprozeß“ vielmehr abgeschlossen sei, ist seither von den Reformern und<br />
ihren politischen Auftraggebern vielfach betont worden. (Vgl. etwa die „Dresdner<br />
Erklärung“ der Kultusminister vom 25. Oktober 1996, eine wütende Antwort auf die<br />
„Frankfurter Erklärung“. Sie stammt der ganzen Diktion nach offenbar aus dem Institut<br />
für deutsche Sprache.)<br />
Im übrigen erscheint die Beerbung der Dudenredaktion durch eine staatlich beauftragte<br />
Kommission, in der die Reformer selbst den Ton angeben, mehr und mehr als Hauptzweck<br />
der gesamten neueren Reformbewegung. A&S fassen nun tatsächlich als<br />
nächste (in der Wiener Absichtserklärung noch nicht erwogene und auch danach lange<br />
Zeit nie erwähnte) Aufgabe der Kommission die Abfassung eines<br />
Rechtschreibwörterbuchs ins Auge.<br />
5. Die Anwendung des Regelwerks in den Wörterbüchern<br />
Die Zahl der Abweichungen zwischen den Wörterbüchern läßt sich nicht objektiv<br />
bestimmen, da unterschiedliche Zählweisen möglich sind. Fest steht, daß es sehr viele<br />
Abweichungen gibt. Zum Teil liegen sie an der außerordentlichen Fehlerhaftigkeit des<br />
Bertelsmann-Wörterbuchs. Die Zahl von 8000 Abweichungen ist aus dem Kreise der<br />
Reformkommission selbst genannt und mehrfach bestätigt worden. 96 Augst selbst gab<br />
bekannt, daß eine Stichprobe beim Buchstaben F rund 35 Zweifelsfälle ergeben habe.<br />
Das bedeutet rund 1000 klärungsbedürftige Zweifelsfälle im gesamten Wörterbuch.<br />
Die Abweichungen und die fehlerhaften Auslegungen auch dort, wo die Wörterbücher<br />
inzwischen übereinstimmen (z. B. bei getrennt geschriebenem wieder sehen) deuten<br />
zumindest darauf hin, daß das Regelwerk es an Eindeutigkeit fehlen läßt. Das ist<br />
bedenklich genug und verweist noch einmal auf die Notwendigkeit eines Probelaufs<br />
und einer gründlichen Diskussion vor der Einführung in die Schulen.<br />
Selbstverständlich gab es auch bisher Abweichungen zwischen den Rechtschreibwörterbüchern.<br />
Allerdings war nur der Duden verbindlich; alles andere, soweit<br />
substantiell abweichend, war schlicht falsch. Das ist jetzt grundsätzlich anders. A&S<br />
übergehen diesen entscheidenden Unterschied.<br />
6. Die Dichter/Schriftsteller und die neue Rechtschreibung<br />
A&S begrüßen zunächst die zu erwartende Vielfalt der nebeneinander bestehenden<br />
Rechtschreibungen. Die Schüler könnten daran lernen, daß Rechtschreibung nichts Un-<br />
Kontra, Berlin 1997, S. 222) – In einem oben bereits angeführten Standardbrief der<br />
Mannheimer Kommission heißt es: „Wir möchten Sie darauf aufmerksam machen, dass<br />
nach der Unterzeichnung der Gemeinsamen Erklärung in Wien weitere Änderungen<br />
vorerst grundsätzlich nicht mehr möglich sind.“ – Am 23.1.1997 gaben Zeitungen eine<br />
Mitteilung des IDS wieder, wonach die Aufgabe der Kommission „keineswegs die<br />
Korrektur des beschlossenen Reformwerks“ sei. „Die ‚von Reformgegnern erzeugte<br />
Sorge‘, die Rechtschreibreform werde schon vor der endgültigen Umsetzung ‚repariert<br />
oder korrigiert‘, sei gegenstandslos.“ (Fränkischer Tag vom 23.1.1997) Übrigens ist nie<br />
erklärt worden, wer das IDS überhaupt ermächtigt hat, derartige Interpretationen und<br />
Proklamationen hervorzubringen. Es betätigte sich bis zur Konstituierung der<br />
zwischenstaatlichen Kommission am 25.3.1997 als Agitationszentrale für die Reform –<br />
ohne Auftrag und Befugnis. Auch später noch gab das Institut offiziöse Stellungnahmen<br />
ab, so etwa im August 2000, als wiederum gemeldet wurde, daß die Reform im Rückbau<br />
begriffen sei, und das IDS dies dementierte.<br />
96 Saarbrücker Zeitung vom 14.7.1997.<br />
106
veränderliches sei. Die pädagogische Bewertung dieses Lobes der Vielfalt überlasse<br />
ich anderen. Der Glaube an die heilsame Kraft des Chaos wird sicher nicht von jedermann<br />
geteilt. Bisher galt die Einheitlichkeit der Rechtschreibung als hoher Wert und<br />
die Beseitigung von Varianten geradezu als Gütesiegel. Sie war der eigentliche Inhalt<br />
der sogenannten „Reform“ zu Beginn des Jahrhunderts (die eben deshalb auch keine<br />
wirkliche Reform war).<br />
Daß die Schriftsteller ohnehin <strong>schreiben</strong>, wie sie wollen, ist natürlich in dieser<br />
Allgemeinheit unzutreffend. Manche Erzähler kennzeichnen die wörtliche Rede nicht<br />
durch Anführungszeichen, andere haben spezielle Normen, z. B. radikale<br />
Kleinschreibung entwickelt, aber im großen und ganzen ist die Schreibweise der<br />
meisten Schriftsteller entweder dudenkonform oder weicht nur in Einzelzügen<br />
systematisch davon ab, setzt also die Norm gerade voraus. Das Bild reiner Willkür, das<br />
manche Kultusminister vom Schreiben der Schriftsteller entwerfen, entspricht<br />
vielleicht dem ebenfalls gern beschworenen Begriff dichterischer Narrenfreiheit, aber<br />
nicht der Wirklichkeit.<br />
II. Die einzelnen Gebiete der deutschen Rechtschreibung<br />
1. Allgemeines<br />
Die Feststellung, daß die deutsche Schreibung keine Lautschrift sei, sondern<br />
„wesentlich mehr Informationen an die Lesenden“ liefere, war gerade der<br />
Ausgangspunkt meiner Kritik. Leider ziehen A&S daraus keine weiteren Konsequenzen<br />
außer bei der zweifelhaften Ausweitung des sog. „Stammprinzips“.<br />
2. Das Stammprinzip<br />
„Die Reform schafft den Wechsel von ss - ß beim selben Wort ab zugunsten des<br />
Stammprinzips.“<br />
Die ss-Schreibung ist nach der Neuregelung grundsätzlich durch die Kürze und<br />
Betontheit des vorhergehenden Vokals bestimmt. Daß dabei oft zugleich der Stamm<br />
optisch bewahrt bleibt, ist eine zufällige Begleiterscheinung. Die naheliegenden<br />
Gegenbeispiele tun A&S mit der seltsamen Phrase ab:<br />
„Natürlich (!) bleibt der Wechsel von ss und ß dann erhalten, wenn die<br />
Vokallänge in einem Wort wechselt, z. B. schließen - schloss - geschlossen.“<br />
Aber das Stammprinzip besteht gerade darin, daß trotz einer lautlichen Alternation<br />
die Schreibweise gleich bleibt (wie zum Beispiel bei der Auslautverhärtung: Kind -<br />
Kinder)! So aber drücken A&S nur das noch einmal aus, was die Kritik eingewandt<br />
hat: daß nämlich die s-Schreibung nicht vom Stammprinzip, sondern vom Lautstand<br />
determiniert ist. 97 Allenfalls für die Schreibweise der Konjugationsformen hasst, musst<br />
97 Dies haben viele Reformbefürworter nicht verstanden, zum Beispiel der hessische<br />
Kultusminister Holzapfel, der die falsche Interpretation u. a. in einem Brief an die<br />
hessischen Bundestagsabgeordneten vom 25. September 1997 (Aktenzeichen VI A -<br />
601/83) verbreiten ließ. Vorbild sind sicher die „Informationen“ der KMK vom<br />
1.12.1995, die dem Fehler die Würde eines offiziellen Dokuments verliehen. Dort steht in<br />
aller Unschuld, die neue ss-Schreibung erhöhe die Wirksamkeit des Stammprinzips, aber<br />
nach langem Vokal schreibe man weiterhin ß! Das ist so, als verkünde ein Mathematiker<br />
die Entdeckung, daß alle ganzen Zahlen ungerade sind – ausgenommen „natürlich“ die<br />
107
usw. könnte man das Stammprinzip verantwortlich machen, jedoch nur im Sinne der<br />
oberflächlichen Gestaltgleichheit; denn hier war auch bisher schon – wenn man ß als<br />
positionsbedingte Ligatur ansieht – das Stammprinzip berücksichtigt, sonst hätte man<br />
gemäß der Grundregel hast, must <strong>schreiben</strong> müssen. Dabei wäre die Kürze des Vokals<br />
nicht gesichert, denn das t gehört ja nicht zum Wortstamm im Sinne von 1.2 der<br />
Neuregelung.<br />
Denselben Fehler mit umgekehrtem Vorzeichen begehen A&S, wenn sie meinen,<br />
plazieren verstoße wegen des kurzen Vokals gegen die reguläre Verschriftung, die<br />
platzieren erwarten lasse. Da der Vokal zwar kurz, aber nicht betont ist, stellt vielmehr<br />
gerade platzieren einen Verstoß dar, der nur durch das Stammprinzip, d. h. durch<br />
Ableitung (hier: Neuableitung) vom regulär geschriebenen Wort Platz gerechtfertigt<br />
werden kann. Gleich im nächsten Absatz, bei nummerieren, erkennen sie diesen<br />
Einwand an. (Zu kritisieren ist wiederum, daß numerieren trotz Numerus usw.<br />
anscheinend überhaupt nicht mehr zulässig sein soll. Das vom Duden längst<br />
anerkannte nummerisch wird laut Wörterverzeichnis nicht mehr zugelassen, hier ist die<br />
Relatinisierung numerisch verbindlich! Der neue Duden hat allerdings die<br />
Eindeutschung auf eigene Faust gerettet.)<br />
Die langatmige Begründung, warum nunmehr platzieren zu <strong>schreiben</strong> sei, ist auch<br />
darum deplaciert bzw. deplaziert, weil es ebendieses Wort gibt: Das Fremdpräfix de-<br />
wird üblicherweise nicht mit deutschen Verbstämmen verbunden. Außerdem sprechen<br />
viele Menschen, wie die Wörterbücher mit Recht vermerken, deplaciert immer noch<br />
mit stimmlosem s und nicht mit z aus; folglich muß es deplacieren, deplaciert<br />
weiterhin geben. – Die Reformer haben, wie so oft, die Folgen ihrer punktuellen<br />
Eingriffe für den gesamten übrigen Wortschatz übersehen.<br />
Die gültige s-Schreibung war bei richtiger Didaktik nicht schwer zu erlernen. Die<br />
wirkliche Schwierigkeit liegt, zumindest für einige Schüler, bei der grammatischen<br />
Unterscheidung von das und daß. Den überaus gewichtigen Einwand, daß diese<br />
Fehlerquelle in Gestalt von das und dass erhalten bleibt, tun A&S mit dem Hinweis auf<br />
die Nichtdurchsetzbarkeit ihres Vorschlages von 1992 ab, die Unterscheidungsschreibung<br />
überhaupt zugunsten der Einheitsschreibung das aufzugeben. Munske<br />
(1997) hat gezeigt, wie tief diese Unterscheidung in der deutschen Sprachgeschichte<br />
und im intuitiv geschaffenen System der deutschen Rechtschreibung verwurzelt ist.<br />
Im Folgenden verteidigt Augst die vor allem von ihm selbst durchgesetzte etymologische<br />
und pseudoetymologische Neuschreibung einiger weniger Wörter. Die Kritik<br />
hat nicht nur die objektive Unrichtigkeit der volksetymologischen Schreibungen<br />
bemängelt, sondern vor allem das Unternehmen, solche Volksetymologien nicht dem<br />
„Volk“ abzulauschen, sondern am akademischen Schreibtisch zu erfinden und dann<br />
als einzig zulässige vorzu<strong>schreiben</strong>, zum Beispiel einbläuen, Quäntchen oder Zierrat.<br />
A&S zitieren das etymologische Wörterbuch: Vor allem das Partizip belemmert werde<br />
„häufig“ an Lamm angeschlossen und dann belämmert geschrieben. Das ist richtig,<br />
aber warum wollen die sonst so variantenfreudigen Reformer die traditionelle<br />
Schreibweise überhaupt nicht mehr zulassen? Warum soll auch derjenige, der in Zierat<br />
keineswegs einen „Rat“ sieht, dennoch gezwungen werden, Zierrat zu <strong>schreiben</strong>?<br />
Außerdem ist kritisiert worden, daß diese eigentlich nur punktuell (an einem halben<br />
108<br />
geraden. Im Regelwerk selbst ist die folgenreiche Ausnahme als „Erläuterung“ getarnt (§<br />
25 E1). – S. jetzt auch Nerius (Hg.) 2000, S. 146.
Dutzend Stämmen) durchgeführten Neuschreibungen als neue Regel verkleidet<br />
auftreten. Derselbe Einwand gilt für die sprachgeschichtlich „richtigen“, aber ohne<br />
Notwendigkeit wiederbelebten etymologischen Beziehungen etwa im Falle von<br />
Stängel oder behände. Handelte es sich wirklich um eine produktive Regel, so könnte<br />
niemand daran gehindert werden, in Zukunft Spängler zu <strong>schreiben</strong> (wegen Spange),<br />
denn diese Schreibweise genügt § 13 („Für kurzes [e] schreibt man ä statt e, wenn es<br />
eine Grundform mit a gibt.“). Natürlich gehen die Reformer auch nicht auf die Frage<br />
ein, wie der undefinierte Begriff der „Grundform“ zu verstehen sei und warum es –<br />
gerade für den vielbeschworenen „normalen Sprachteilhaber“ – nicht zulässig sein<br />
sollte, märken (wegen Marke), sätzen (wegen Satz), käntern (wegen Kante) usw. zu<br />
<strong>schreiben</strong>.<br />
Die Erwägung, wie „die normalen Sprachteilhaber heute die Wörter zu Wortfamilien<br />
zusammenstellen“, führt grundsätzlich ins Uferlose, da man solche Verknüpfungen<br />
kaum durch Umfragen ermitteln und dann die Rechtschreibung nach den jeweiligen<br />
Mehrheitsverhältnissen einrichten kann. Es gab und gibt keinen Handlungsbedarf, die<br />
Schreibweise einiger weniger, noch dazu äußerst selten geschriebener Wörter wie<br />
behende oder Zierat abzuändern.<br />
„Die Etymologie als sprachlich und kulturell spannendes Phänomen verkommt<br />
zur Bildungsdemonstration, wenn sie dazu herhalten muss, Ausnahmen in der<br />
Rechtschreibung zu legitimieren.“<br />
Dasselbe läßt sich aber sagen, wenn sie dazu herhalten muß, tote Zusammenhänge<br />
künstlich wiederzubeleben wie bei behände, Stängel oder Wechte.<br />
Von den „drei Buchstaben an der Wortfuge“ hat besonders Augst viel Aufhebens gemacht.<br />
Die 10 Regeln, die er dazu im Duden gefunden haben will, beruhen auf<br />
Zählkunststücken, denen man nicht folgen muß. Hielte man sich nach diesem Vorbild<br />
bei der Untersuchung des gesamten neuen Regelwerks nicht an die offene<br />
Numerierung, sondern an die tatsächlich darin versteckten Regeln, so käme man auf<br />
mehr als tausend. Das ist weitgehend eine bloße Frage der Darbietungsform. Da, wie<br />
A&S selbst vermerken, „nur wenige Wörter mit drei gleichen Buchstaben“ vorkommen,<br />
weiß man nicht, warum sich die Autoren so sehr über die große Zahl der darauf<br />
bezüglichen Dudenregeln ereifern. Regeln, die praktisch keinen nennenswerten<br />
Anwendungsbereich haben, könnte man doch auf sich beruhen bzw. eine<br />
Angelegenheit des Druckgewerbes bleiben lassen. Der Duden sorgt eben, da er nicht<br />
nur die Schule im Blick hat, für alles vor; die Auswahl ist Sache der Pädagogen. In der<br />
Praxis genügt es bekanntlich, sich das Beispiel Schiffahrt/Sauerstoffflasche zu merken.<br />
Kein <strong>vernünftig</strong>er Lehrer verlangt von seinen Schülern mehr.<br />
Da sich an der Fremdwortschreibung entgegen den ursprünglichen Plänen kaum etwas<br />
ändert, braucht hier nicht tiefer darauf eingegangen zu werden. Die langatmige<br />
Beweisführung, daß schon immer Eindeutschungen stattfanden, ist überflüssig;<br />
niemand hat es bezweifelt. Zu kritisieren bleibt die Willkür, mit der die Integration<br />
fremder Bestandteile vorgenommen und einmal die fremde, einmal die eingedeutschte<br />
Form als Hauptvariante vorgeschlagen wird. A&S gehen darauf nicht ein. Statt, wie sie<br />
es zu tun behaupten, der tatsächlichen Sprachentwicklung zu folgen, erfinden die<br />
Reformer Neuschreibungen, die noch nie jemand gebraucht hat, z. B. Tunfisch,<br />
Spagetti, passee. Abbé und Attaché hingegen lassen sie unverändert, obwohl nun<br />
Abbee, Attachee geschrieben werden sollte (wie Lamee). – Willkür, wohin man blickt!<br />
109
Es ist darauf hingewiesen worden, daß die neue Großschreibung von substantivischen<br />
Bestandteilen entlehnter mehrteiliger Ausdrücke (Alma Mater, Venia Legendi, Angina<br />
Pectoris, Herpes Zoster) eine Fremdsprachenkenntnis voraussetzt, von der die<br />
Reformer zum Beispiel bei der Silbentrennung gerade nichts wissen wollen. Obwohl<br />
hier auch die neuen Wörterbücher offenkundig ihre Probleme haben, gehen A&S<br />
darauf nicht ein.<br />
Warum wird das Adjektiv in englischen Wortverbindungen wie Black Box groß<br />
geschrieben, in deutschen wie schwarzes Brett aber neuerdings nur noch klein? Die<br />
wirkliche Sprachentwicklung geht hier ja, wie gerade die Forschungen zur Vorbereitung<br />
der Reform überzeugend nachgewiesen haben, zu vermehrter Großschreibung:<br />
Schneller Brüter usw., entgegen der Dudenregelung. A&S lassen diesen Einwand ihrer<br />
Kollegen außer acht.<br />
3. Getrennt- und Zusammenschreibung<br />
A&S stellen mit Recht fest, daß Verstöße gegen die geltende Getrennt- und<br />
Zusammenschreibung oft nicht einmal bemerkt werden. Dann behaupten sie: „Durch<br />
die neuerliche Diskussion werden im Bereich der Getrennt- und Zusammenschreibung<br />
Probleme heraufbeschworen, die es in der alltäglichen Schreib- und Lesepraxis nicht<br />
gibt.“ – Aber wenn es keine praktischen Probleme gab, dann ist unverständlich, warum<br />
die Reform gerade auf diesem Gebiet die durchgreifendsten Veränderungen<br />
vorgenommen hat! Fälle wie händchenhaltend, staatenbildend usw. sollen auf einmal<br />
keine Rolle mehr spielen, weil sie selten vorkommen, und doch wurden Rat suchend,<br />
Eisen verarbeitend usw. ständig als Prunkstücke einer besonders „konsequenten“<br />
Reform vorgeführt. Und außerdem: Mögen „problematische Fälle“ wie das bei weitem<br />
tief Schürfendste (so die Neuschreibung) in Texten auch eher selten vorkommen, so<br />
sind sie doch als solche ein vernichtendes Zeugnis der reformerischen Inkompetenz.<br />
Davon möchte Schaeder offenbar ablenken, indem er die Problemfälle herunterspielt.<br />
(Der „Bericht“ vom Dezember 1997 gibt hier auf der ganzen Linie nach, erkennt also<br />
die Bedenken als berechtigt an.)<br />
A&S stellen fest, daß „die weit überwiegende Mehrzahl der Fälle keine Probleme<br />
bereitet: eine fremde Sprache – eine Fremdsprache“ (usw.). – Was sind das überhaupt<br />
für „Fälle“, und warum werden sie trotz ihrer offenkundigen Irrelevanz für die<br />
„Schwierigkeiten der Getrennt- und Zusammenschreibung“ erwähnt? Schon im<br />
amtlichen Regelwerk werden seitenlang „Fälle“ behandelt, die noch nie ein<br />
orthographisches Problem aufgeworfen haben: sonnenarm, Feuerstein usw.<br />
Die Auflistung „fälschlicher“ Zusammen- und Getrenntschreibungen gibt Anlaß zu folgender<br />
Bemerkung: Der Duden hat hier – vielleicht, um sich unentbehrlich zu machen<br />
– oft den Eindruck zu erwecken versucht, es sei alles falsch, was nicht ausdrücklich im<br />
Wörterbuch steht. Die Dudenregeln selbst sind jedoch zu einem großen Teil als Kann-<br />
Bestimmungen bzw. als vage statistische Aussagen über den Sprachgebrauch zu lesen.<br />
(„Man schreibt ...“, „gewöhnlich“, „in der Regel“ sind ungemein häufige Floskeln.) Es<br />
ist bisher nicht gelungen, das Prinzip (oder die Prinzipien) der Zusammenschreibung<br />
von Verben mit gewissen Verbzusätzen befriedigend zu erfassen. 98 In vielen Fällen hat<br />
der Duden ersatzweise die Unterscheidung von wörtlicher und übertragener Bedeutung<br />
98 Es stimmt nicht, daß die „Ungereimtheiten (des Duden) von den Reformkritikern<br />
unterschlagen werden“. Wer die Reform kritisiert, ist nicht verpflichtet, zugleich den<br />
Duden umfassend zu analysieren oder gar zu verteidigen.<br />
110
herangezogen. Das ist mit Recht kritisiert worden, nicht nur von den Reformern.<br />
Allerdings nimmt das Duden-Regelwerk anders als das Wörterverzeichnis und im<br />
Widerspruch zu der Darstellung bei A&S gerade nicht auf die übertragene Bedeutung<br />
Bezug, sondern auf das Entstehen eines „neuen Begriffs, den die bloße Nebeneinanderstellung<br />
nicht ausdrückt“ (R 205). Das ist eine viel weitere und besser deutbare<br />
Perspektive. Bei frei sprechen/freisprechen, sauber halten/sauberhalten usw. kommt es<br />
meist auf die Unterscheidung zwischen freiem Adverbial und Verbzusatz an – eine tief<br />
in der deutschen Sprachstruktur angelegte Unterscheidung, deren visuelle<br />
Entsprechung sehr sinnvoll ist.<br />
So erklärt es sich auch, daß der Duden „eine beträchtliche Anzahl zulässiger alternativer<br />
Schreibungen“ wie eng befreundet/engbefreundet zuließ, wie A&S bemerken.<br />
Es geht nicht darum, daß „manche Kritiker [das] nicht wahrhaben wollen“; es geht<br />
überhaupt nicht um eine Schwäche der gültigen Regelung, sondern um eine notwendige<br />
Folge des Zusammenspiels von Grammatik und Phraseologisierung bzw.<br />
Wortbildung. Man muß die Natur der Sprache schon sehr verkennen, um der geltenden<br />
Orthographie hieraus einen Vorwurf zu machen.<br />
Die Reformer schließen sich grundsätzlich der rigidesten möglichen Auslegung des<br />
Dudens an und stellen dieser ultraorthodoxen Deutung dann ihre „liberale“ Neuregelung<br />
entgegen, die – wie anderswo gezeigt worden ist – das Kind mit dem Bade<br />
ausschüttet. Ich habe im Gegenteil vorgeschlagen, den Duden in der liberalsten<br />
möglichen Weise auszulegen und erst dann nach substantiellen Verbesserungsmöglichkeiten<br />
zu fragen. Dabei verschwindet allerdings fast jeder Handlungsbedarf,<br />
eine Reform erweist sich als überflüssig.<br />
A&S führen Paare wie wieder kommen (‚noch einmal‘) und wiederkommen (,zurückkommen‘)<br />
an, schweigen sich aber darüber aus, daß es gerade auf der Grundlage<br />
solcher Paraphrasen zu der offenbar falschen Schlußfolgerung aller neuen Wörterbücher<br />
kommen mußte, wiedersehen sei nunmehr getrennt zu <strong>schreiben</strong>. 99 Die<br />
Paraphrase noch einmal vs. zurück scheint den Irrtum aufs neue zu rechtfertigen, denn<br />
wiedersehen liegt immerhin näher bei „noch einmal sehen“ als bei „zurücksehen“. Statt<br />
dessen sagen A&S hier so zutreffend wie überraschend, die Wortpaare seien „durch<br />
Betonung zu unterscheiden“. Im amtlichen Regelwerk ist die Betonung bekanntlich<br />
kein Kriterium, ihre Heranziehung wird sogar in geradezu auffälliger Weise<br />
99 Der Stellvertretende Vorsitzende der KMK, Hans Joachim Meyer (Philologe von Beruf<br />
und derzeit sächsischer Kultusminister) erwies sich in seiner Rede vor dem Deutschen<br />
Bundestag am 26.3.1998 als der letzte, der noch die Fehlinterpretation der ersten Stunde<br />
vertritt: Die Neuregelung räume mit der „Marotte“ auf, „daß Begriffe und Vorstellungen,<br />
die durch mehr als ein Wort ausgedrückt werden, zusammengeschrieben werden müssen“<br />
(was in dieser Form natürlich gar nicht zutrifft). „Dafür gibt es überhaupt keinen<br />
zwingenden Grund. Ob ich nun sage ,Wir müssen uns bald wiedersehen‘ oder ,Wir sehen<br />
uns bald wieder‘: In beiden Fällen drücken die beiden Wörter ,wieder‘ und ,sehen‘ die<br />
gleiche Vorstellung aus. Aber nur in einem Fall, nämlich wenn die beiden Wörter<br />
unmittelbar nebeneinander stehen, muß man sie zusammen<strong>schreiben</strong>. Dafür gibt es<br />
überhaupt keinen Grund.“ – Diese und die weiteren Ausführungen lassen eine solche<br />
Unkenntnis sowohl der deutschen Grammatik als auch der Neuregelung erkennen, daß<br />
sich jeder Kommentar erübrigt. – Das Wort „Marotte“ scheint Meyer aus dem<br />
Zeitungsartikel Hermann Unterstögers zur Wiener Abschlußkonferenz (SZ vom<br />
25.11.1994) entnommen zu haben.<br />
111
vermieden. 100 Erst im „Bericht“ der Kommission vom Dezember 1997 wird die<br />
Betonung zum entscheidenden Kriterium.<br />
Schwer erklärbar sind die Pseudozitate von A&S, mit denen sie belegen wollen, daß im<br />
Duden von 1991 „gleiche Fälle unterschiedlich geregelt“ seien. Sie führen an:<br />
„Duden-Rechtschreibung (1991):<br />
wiederaufsuchen (,erneut besuchen‘) (,Auch Getrenntschreibung ist möglich:<br />
wieder aufsuchen‘); wiederherrichten (,etwas erneut in Ordnung bringen‘) (,Auch<br />
Getrenntschreibung ist möglich: wieder herrichten‘); wiedertun (,wiederholen‘)<br />
(,Auch Getrenntschreibung ist möglich: wieder tun‘).“<br />
Der Leser muß hier annehmen, daß der in Anführungszeichen gesetzte Vermerk „Auch<br />
Getrenntschreibung ist möglich“ aus dem Duden übernommen sei. Dort ist aber nichts<br />
dergleichen zu finden, und zwar weder im Regelwerk noch unter den angeführten<br />
Stichwörtern. Im übrigen läßt der Duden in allen Fällen zwar verschiedene<br />
Schreibweisen zu, jedoch mit verschiedener Bedeutung und unter entsprechend<br />
verschiedener Betonung. Es kann also keine Rede davon sein, daß „gleiche Fälle<br />
unterschiedlich geregelt sind“!<br />
Einer der wichtigsten Einwände war, daß die neuerdings untersagte Zusammenschreibung<br />
dazu diente, klassifizierende von be<strong>schreiben</strong>den Begriffen zu unterscheiden:<br />
schwerbehindert ist eben etwas anderes als schwer behindert, allgemeinbildend etwas<br />
anderes als allgemein bildend. A&S ignorieren dieses Argument.<br />
Die Liste der „Ungereimtheiten“ bei A&S ist ihrerseits fehlerhaft. Das kann hier nur in<br />
Auswahl gezeigt werden. So stimmt es nicht, daß bisher sitzenbleiben, aber stehen<br />
bleiben zu <strong>schreiben</strong> gewesen sei. Vielmehr war in beiden Fällen sowohl Zusammen-<br />
wie Getrenntschreibung vorgesehen – mit unterscheidbarer Bedeutung. Erhalten<br />
bleiben und bestehenbleiben sind schon deshalb nicht vergleichbar, weil im ersten Fall<br />
– was Schaeder tatsächlich zu verkennen scheint – ein Partizip II, hier als Adjektiv, im<br />
zweiten ein Infinitiv mit dem Verb verbunden ist. Bestehen gehört aber außerdem zu<br />
jener interessanten kleinen Gruppe von Verben (hauptsächlich Positionsverben wie<br />
stehen, sitzen, hängen, kleben), deren Infinitiv mit bleiben verbunden wird und im<br />
Ansatz eine aktionsartliche Unterscheidung ermöglicht (stehen bleiben = ,weiterhin<br />
stehen‘ vs. stehenbleiben = ,zum Stehen kommen‘). – A&S behaupten, in den Duden-<br />
„Zweifelsfällen“ von 1972 werde noch zugelassen eine schwerverständliche oder<br />
schwer verständliche Sprache, im Duden von 1991 nur noch schwerverständlich. Das<br />
ist eindeutig falsch, vgl. R 209. 101 – Seligpreisen wird anders als selig machen<br />
(fakultativ! s. o.) zusammengeschrieben, weil es in der Bibel die Seligpreisungen gibt,<br />
wogegen Seligmachungen und Glücklichpreisungen (ein weiteres Paradebeispiel der<br />
Reformer) keine solche Stütze haben. – Bummeln gehen heißt „zum Bummeln gehen“,<br />
100 Nur in § 33 wird sie einmal erwähnt – überflüssigerweise, denn die untrennbaren Verben<br />
sind anderweitig hinreichend abgegrenzt.<br />
101 Übrigens sind weder die „Zweifelsfälle“ von 1972 noch die anderen zitierten Schriften<br />
von Mentrup oder Herberg/Baudusch geeignet, die These zu beweisen, daß es „in der bisher<br />
geltenden Regelung ... eine beträchtliche Anzahl zulässiger alternativer Schreibungen“<br />
gab. Alle genannten Schriften sind Kommentarliteratur ohne Verbindlichkeit.<br />
Die von A&S aufgelisteten (zum Teil auch nur scheinbaren) „Widersprüche“ zwischen<br />
den „Zweifelsfällen“ von 1972 und dem Rechtschreibduden von 1991 sind ohne jede<br />
Relevanz für die gegenwärtige Diskussion.<br />
112
aber spazierengehen heißt nicht „zum Spazieren gehen“, spazierenreiten nicht „zum<br />
Spazieren reiten“ usw.<br />
Die Reformer A&S bekennen sich aufs neue zu dem Vorsatz; „dem Trend zu<br />
vermehrter Zusammenschreibung (...) behutsam entgegenzuwirken“. Ob behutsam<br />
oder nicht – dieser Vorsatz ist und bleibt grundsätzlich fragwürdig, denn der „Trend“<br />
ist ja keine böse Macht, die man bekämpfen müßte, sondern der Wille der<br />
Sprachgemeinschaft selbst. Man kann sich die Argumentationsweise der Reformer am<br />
Beispiel blankbohnern klarmachen: Die Zusammenschreibung kommt, wie A&S<br />
triumphierend aufzeigen, sogar in der Dudengrammatik vor, ist aber laut Duden-<br />
Rechtschreibung (immer im Sinne der oben als „orthodox“ bezeichneten Auslegung)<br />
falsch. Nach der Neuregelung ist sie zwar immer noch und erst recht falsch, aber die<br />
Neuregelung soll und wird nach Ansicht der Reformer alle Sprachteilhaber allmählich<br />
dazu erziehen, solche Gefüge grundsätzlich getrennt zu <strong>schreiben</strong> (wenn der erste<br />
Bestandteil steigerbar ist). Sollte diese Umerziehung tatsächlich gelingen, werden sie<br />
also einen Fehler weniger machen. Aber damit setzen sich die Reformer gänzlich über<br />
die Frage hinweg, warum die Sprachgemeinschaft darauf verfallen ist, solche Gefüge<br />
zusammenzu<strong>schreiben</strong> – und zwar, wie man sieht, noch weit über das vom<br />
Rechtschreibduden vorgesehene Maß hinaus. Um der „Fehlervermeidung“ willen<br />
beseitigt man eine in den letzten 300 Jahren intuitiv und spontan von Millionen<br />
Menschen entwickelte Technik der Notierung semantischer und struktureller Unterschiede.<br />
Aber nicht einmal dieses Ausschütten des Kindes mit dem Bade geschieht<br />
konsequent! Denn im Prinzip bleibt die Möglichkeit der Zusammenschreibung von<br />
Kausativ- und Resultativkonstruktionen ja erhalten, nur wird sie mit sachfremden<br />
Bedingungen verknüpft: Steigerbarkeit des ersten Gliedes; Ausschluß bei Suffigierung<br />
des ersten Bestandteiles mit -ig, -isch oder -lich (daher bereitstellen, aber fertig<br />
stellen!).<br />
„Die Neuregelung möchte auch in der Schreibung deutlich machen, dass ein<br />
Motor sehr wohl heißlaufen, ein Mädchen aber nicht heißgeliebt werden kann.<br />
Also: ein heißgelaufener Motor, aber: ein heiß geliebtes Mädchen.“<br />
Da ein Motor auch sehr heiß laufen kann, müßte hier nach der Neuregelung getrennt<br />
geschrieben werden; und die bisherige Dudenregelung wußte noch, daß es zweierlei<br />
ist, heiß geliebt zu werden oder eine heißgeliebte Person zu sein. Anders gesagt:<br />
heißgeliebt ist so wenig von heiß lieben abgeleitet wie vielgeliebt von viel lieben. Das<br />
haben die Reformer leider nie verstanden und auch aus der Kritik nicht gelernt. Der<br />
Unterschied zwischen attributivem und prädikativem Gebrauch, der für die geltende<br />
Rechtschreibung grundlegend ist, wird weder in der Neuregelung noch in der bisher<br />
vorliegenden Kommentarliteratur berücksichtigt. (Nachtrag: Erst der „Bericht“ vom<br />
Dezember 1997 räumt mit dem Unfug auf und nimmt das umständlich Verteidigte auf<br />
der ganze Linie zurück: blankbohnern soll jetzt wieder Standardform werden, heißgeliebt<br />
ist wieder völlig normal. Wozu dann der ganze Aufwand? – Das mögen sich<br />
auch die Kultusbürokraten gefragt haben und entschieden sich kurzerhand für das von<br />
der Kommission als falsch Erkannte!)<br />
Die Kritik hat auch daran erinnert, daß das Partizip des Präsens im Deutschen nur dann<br />
prädikativ gebraucht wird, wenn es bereits Adjektiv geworden ist. Daher: Sie ist entzückend,<br />
aber nicht: *Sie ist mich entzückend. Folglich auch: Diese Waschmaschine ist<br />
wassersparend, aber nicht: *Die Maschine ist Wasser sparend, *das Tier ist Fleisch<br />
fressend usw. Das ist eine grammatische Selbstverständlichkeit, aber die Reformer<br />
113
gehen mit keinem Wort darauf ein, sondern verlangen ungerührt die grammatisch<br />
falschen Neuschreibungen. 102<br />
Gegen die neue Getrenntschreibung muß aber vor allem der folgende Einwand erhoben<br />
werden: Wenn nur noch Getrenntschreibungen wie Aufsehen erregend, tief schürfend<br />
usw. zugelassen sein sollen, dann ergeben sich ungrammatische Steigerungsformen:<br />
am Aufsehen erregendsten, das bei weitem tief schürfendste Ereignis, das nichts<br />
Sagendste usw. Die gesamthafte Steigerbarkeit beweist also, daß es sich hier um echte<br />
Zusammensetzungen handelt, die keinesfalls durch Getrenntschreibung aufgelöst und<br />
damit vernichtet werden dürfen. Dies bedeutet für eine Unzahl neuer Schreibungen das<br />
Todesurteil.<br />
Mit diesen Folgen der Neuregelung konfrontiert, hat Schaeder (z. B. in Augst et al.<br />
[Hg.] 1997) Argumente nachgeschoben, die den Schaden gering halten sollen. Zum<br />
Beispiel soll im Zuge der Substantivierung (das nichts Sagende) automatisch<br />
Zusammenschreibung eintreten wie bei das Autofahren usw. Die Fälle sind nicht<br />
vergleichbar, da zwar das Partizip I, nicht aber der Infinitiv Ergänzungen und<br />
Adverbialien syntaktisch regieren kann. Es gibt daher auch keine Regel, die solche<br />
halsbrecherischen Operationen legitimierte. Zum Glück haben zwei Schweizer<br />
Mitglieder der Reformkommission schon im voraus das Selbstverständliche<br />
ausgesprochen:<br />
„Bei Adjektiv- und Partizipgruppen wird nur das Adjektiv selbst substantiviert,<br />
die Getrennt- und Zusammenschreibung entspricht also derjenigen beim attributiven<br />
Gebrauch (Stellung vor einem Substantiv). Es entsteht also keine<br />
substantivische Zusammensetzung.“ 103<br />
In der vorliegenden Schrift stellen A&S gleichsam nebenbei die Behauptung auf:<br />
„Schreibungen wie der Dienst tuende Beamte, der Dienst Habende, die Dienst tuende<br />
Ärztin, der Dienst Tuende, das nichts Sagendste, Vertrauen erweckenste“<br />
(sic) „usw. sind nach dem amtlichen Regelwerk unzulässig, weil der zweite Bestandteil<br />
(z. B. das Sagendste) in dieser Form nicht selbständig vorkommt.“<br />
Damit soll offenbar auf § 36 (2) angespielt werden, wo jedoch Verbindungen mit dem<br />
Partizip des Präsens aus gutem Grund nicht erwähnt sind. Aber auch aus anderen Gründen<br />
verschlägt das Argument dem Linguisten die Sprache. Zunächst einmal gibt es sehr<br />
wohl Partizipien, die auch in Steigerungsformen selbständig vorkommen: das<br />
erregendste Ereignis, das Erregendste – folglich müßte das Aufsehen Erregendste<br />
zulässig sein. Es ist aber nicht zulässig, nur weiß Schaeder den wahren Grund nicht:<br />
Das Partizip I ist einerseits Verbform und regiert Ergänzungen, kann aber nicht<br />
gesteigert werden. Andererseits ist es Adjektiv und kann – wenn der Sinn es zuläßt –<br />
gesteigert werden, aber keine Ergänzungen regieren. Neben der jederzeit<br />
konstruierbaren Verb-Objekt-Verbindung Aufsehen erregend muß daher auch das echte<br />
Kompositum aufsehenerregend zugelassen werden. Entsprechend bei Adverbialien:<br />
tief schürfend und tiefschürfend (wegen tiefschürfender, am tiefschürfendsten usw.).<br />
102 In seiner Einladung zur 34. Jahrestagung schreibt das Institut für deutsche Sprache, am<br />
15.10.1997: Öffentliches Interesse an Sprache und öffentliche Meinung über Sprache<br />
sind nahe liegend.<br />
103 Gallmann/Sitta: Handbuch Recht<strong>schreiben</strong>. Zürich 1996, S. 130; vgl.: Die Neuregelung<br />
der deutschen Rechtschreibung. Mannheim 1996, S. 102.<br />
114
Auf dieses zentrale Argument, das die ganze neue Getrenntschreibung als von Grund<br />
auf verfehlt erweist, gehen A&S nicht ein. Statt dessen verrennen sie sich in die<br />
groteske Behauptung, die Dienst tuende Ärztin sei unzulässig, weil das Partizip nicht<br />
selbständig vorkomme. 104 Wie steht es denn mit die ihren Dienst tuende Ärztin, der nur<br />
seine Pflicht tuende Beamte? Daß tuend oder habend „nicht selbständig vorkommen“,<br />
bedeutet etwas ganz anderes als die scheinbar gleiche Aussage über sagendste usw. –<br />
Tuend, habend, sagend und viele andere Verbformen kommen sehr wohl selbständig,<br />
d. h. als eigene Wortformen vor, sie kommen aber nicht allein vor, weil nämlich die betreffenden<br />
Verben eine obligatorische Ergänzung fordern! (Dienst habend steht<br />
übrigens auf dem Einband des neuen Rechtschreibdudens als werbendes Beispiel für<br />
die geplante Neuschreibung. Ob sich der Duden dies nun ausreden läßt? 105 )<br />
Der Vorwurf der „Vernichtung“ von Wörtern ist, anders als A&S behaupten, keineswegs<br />
unsinnig, denn die gewaltsame Getrenntschreibung echter Zusammensetzungen<br />
ist ein Versuch, sie als Wörter zu vernichten.<br />
Horst H. Munske, der über Listen der erwartbaren Änderungen in den Wörterbüchern<br />
von Duden verfügt, schätzte anläßlich seines Austritts aus der Kommission, daß durch<br />
die gewaltsame Getrenntschreibung rund 800 bis 1000 Wörter aus dem Duden und<br />
rund 4000 Wörter aus der Dudenkartei praktisch getilgt werden. Der Anfang dieser<br />
Wortvernichtung ist bereits gemacht. Peter Eisenbergs Kommentar sei nochmals zitiert:<br />
„Mindestens 500 bis 800 Wörter des normalen Rechtschreibwortschatzes sind ganz<br />
getilgt worden. (...) Aus der Geschichte des Deutschen ist kein vergleichbarer Angriff<br />
auf das Sprachsystem bekannt.“ 106<br />
Daß getrennt geschriebene Gefüge dasselbe bedeuteten wie die aufgelösten Komposita<br />
und somit in Wirklichkeit nichts verlorengehe, trifft nicht zu. Das gilt nicht nur für die<br />
genannten Verbindungen mit Partizipien des Präsens, sondern auch für die Auflösung<br />
von sogenannt (neu: so genannt), für die gewaltsame Großschreibung von jdm. Feind<br />
sein u.v.a.<br />
4. Groß- und Kleinschreibung<br />
Die Reformer waren noch 1993 für die „gemäßigte Kleinschreibung“, deren<br />
Einführung ursprünglich sogar das eigentliche Hauptziel der Reformbemühungen darstellte.<br />
Gegen ihren Willen haben sie auf politischen Druck die vermehrte Großschreibung<br />
ausarbeiten müssen. Wie sehr sie hinter der geltenden Regelung zurückbleibt, hat<br />
inzwischen Horst H. Munske ausführlich dargestellt.<br />
A&S behaupten ohne Namensnennung, „die Kritiker“ schlössen sich der Auffassung<br />
von Utz Maas an, groß geschrieben würde der Kopf eines nominalen Satzteils. Wer<br />
mag damit gemeint sein? Der von den Reformern favorisierte, in der Tat „noch<br />
jüngere“ Ansatz des Reformers Peter Gallmann führt zu einer radikalen Vermehrung<br />
der Großschreibung; Gallmann will sogar noch über die Neuregelung hinausgehen und<br />
104 Die KMK, die sich stets nur von den Reformern beraten läßt, hat sich diesen Unsinn<br />
sofort zu eigen gemacht und führt die eigentümliche Schaedersche Grammatik gegen<br />
reformkritische Bürger ins Feld.<br />
105 Nachtrag: In der zweiten Auflage des Reformduden (2000) bleibt es bei Dienst habend;<br />
da auch Bertelsmann (1999) jetzt so schreibt, scheint die Kommission nachgegeben zu<br />
haben.<br />
106 Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 4/1997, S. 129.<br />
115
legt nahe, auch bei Weitem 107 , der Andere usw. groß zu <strong>schreiben</strong>, damit keinerlei<br />
„Ausnahmen“ (wie er sie versteht) mehr auftreten. Wann immer das geringste Indiz<br />
von „Nominalität“ zu beobachten ist, soll groß geschrieben werden. All dies wiederholt<br />
eine längst erledigt geglaubte Diskussion des vorigen Jahrhunderts. Denn damals gab<br />
es eine Zeitlang diese vermehrte Großschreibung, bis sie auf ein <strong>vernünftig</strong>es und zugleich<br />
raffinierteres Maß zurückgeführt wurde – bei großzügig bemessenen<br />
Freiräumen bis zum heutigen Tag.<br />
Mein Hauptargument gegen die vermehrte Großschreibung wird überhaupt nicht<br />
beachtet: Groß zu <strong>schreiben</strong>de Wörter müssen die Minimalbedingung erfüllen, etwas<br />
zu bezeichnen, wovon im Text die Rede ist. Daher ist es widersinnig, substantivierte<br />
Adjektive in bloßen Phraseologismen groß zu <strong>schreiben</strong>: nicht im Geringsten, aufs<br />
Schönste, des Öfteren usw. – Munske hat im gleichen Sinne die Großschreibung<br />
grammatikalisierter Lexeme kritisiert, die das Paradigma der Pronomina und<br />
Numeralia ergänzen: der Einzelne, der Erste.<br />
Die Ausführungen zu heute Abend usw. sind irrelevant. Von Gallmanns Kriterien<br />
spricht nur das ärmlichste für die Großschreibung von Abend: daß es nämlich im<br />
deutschen Wortschatz auch ein Substantiv Abend gibt. Gallmann selbst hat aber 1991<br />
gezeigt, daß es sich in der Verbindung heute abend nicht um ein Substantiv handeln<br />
kann, weil es nicht kasusbestimmt ist (eine Bedingung, die nach § 55 der Neuregelung<br />
weiterhin gültig bleibt). Der Vergleich der Paradigmen spricht für sich selbst: Auf die<br />
Frage Wann kommst du? war die Antwort bisher: heute abend, morgen früh, Dienstag<br />
mittag. Neu: heute Abend, morgen früh 108 , Dienstagmittag. – Was soll daran einfacher<br />
sein?<br />
Zu angst, gram usw. glauben A&S meine Beobachtung zurückweisen zu müssen, daß<br />
es sich hier teilweise um „alte Adjektive“ handelt. Natürlich spielt die Sprachgeschichte<br />
keine Rolle für die Begründung heutiger Klein- oder Großschreibung. Mein<br />
Hinweis war jedoch berechtigt, weil das Regelwerk selbst in § 56 eine sprachgeschichtliche<br />
Behauptung aufstellt, und zwar eine falsche: Die betreffenden Wörter<br />
sollen „ihre substantivischen Merkmale eingebüßt und die Funktion anderer Wortarten<br />
übernommen haben“. Das trifft auf die Hälfte der angeführten Beispiele nachweislich<br />
nicht zu.<br />
Das Argument, angst, pleite usw. könnten keine Adjektive sein, weil es *der angste<br />
Mann, *der pleite Mann nicht gebe, ist von umwerfender Naivität. Nicht alle Adjektive<br />
sind ja attributiv verwendbar, und pleite soll sogar auch nach der Neuregelung Adjektiv<br />
sein, nur eben nicht in Pleite gehen. (Vgl. jedoch kaputtgehen, bankrott gehen; hier<br />
verlangt die Neuschreibung Bankrott gehen – nach Bankrott machen, nicht nach<br />
bankrott sein, wie es richtig wäre!)<br />
Bei Er ist ihm Feind erkennen A&S bis zum heutigen Tage nicht, daß es semantisch einen<br />
Unterschied macht, ob man jemandem feind bzw. freund (= feindlich, freundlich<br />
107 Die „Informationen“ der KMK vom 1.12.1995 nahmen irrigerweise an, daß die am<br />
selben Tage beschlossene Neuregelung bereits die Großschreibung bei von Weitem, vor<br />
Kurzem usw. vorsehe. Der Fehler deutet darauf hin, daß es auf diesem Gebiet ein<br />
ständiges Hin und Her gab, bis niemand mehr so recht wußte, welchen mehr oder<br />
weniger zufälligen Stand die Diskussion am Ende erreicht hatte.<br />
108 Nachtrag: Die Rechtschreibkommission beschloß später, auch morgen Früh (!) zuzulassen;<br />
so steht es in den Neuauflagen von Bertelsmann (1999) und Duden (2000).<br />
116
gesinnt) ist oder der Feind bzw. Freund von jemandem Der „normale Schreiber“ sehe<br />
hier in allen Fällen Substantive – eine völlig unbewiesene Behauptung, zumal die<br />
Adjektive einem verhältnismäßig gewählten Wortschatz zugehören, d. h. von eher<br />
gebildeten Schreibern gebraucht werden, denen die platte Verwechslung mit den<br />
Substantiven nicht so leicht unterlaufen dürfte. Für den vielbelachten Spinnefeind<br />
gestehen A&S neuerdings auch Kleinschreibung zu. Ein winziger Schritt in Richtung<br />
Vernunft, immerhin ... Allerdings kein konsequenter, denn für das Simplex Feind und<br />
für Todfeind soll die Kleinschreibung nicht zulässig sein, also: jemandem Todfeind<br />
sein, aber jemandem spinnefeind sein! Andernorts berufen sich A&S wieder auf die<br />
Unmöglichkeit, *der feinde Mann zu sagen, und wieder weisen wir darauf hin, daß<br />
nicht alle Adjektive attributiv gebraucht werden; sonst müßte man ja auch von *quitten<br />
Partnern sprechen können.<br />
Sehr zu bedauern ist, daß A&S auf die durchschlagende Kritik nicht eingehen, die<br />
gegen die Großschreibung von Leid tun, Not tun und Recht haben vorgebracht worden<br />
ist: so Leid es mir tut; Sie wissen gar nicht, wie Recht Sie haben sind eindeutig<br />
ungrammatische, gleichwohl von der Neuregelung erzwungene Gebilde. Die<br />
Neuschreibung Schifffahrt ist Not ist und bleibt Unsinn. 109<br />
5. Zeichensetzung<br />
A&S stellen fest:<br />
„Der Satz der Kritiker Er sah den Spazierstock in der Hand tatenlos zu wird ein<br />
stilistisches Doppelkomma erfordern, da es (...) eine Leseirritation vermeidet:<br />
Er sah, den Spazierstock in der Hand, tatenlos zu.“<br />
Aber es handelt sich nicht um einen „Satz der Kritiker“ 110 , sondern um ein Paradebeispiel<br />
aus dem Regelwerk selbst (§78[3]), und es wird dort gerade vorgeführt, um zu<br />
zeigen, daß kein Komma erforderlich ist! Wieder zeigt sich, daß die Reformer sich in<br />
ihrem eigenen Regelwerk nicht auskennen.<br />
Auf die horrenden Schwierigkeiten der neuen Kommaregelung gehen A&S nicht ein –<br />
was nicht sehr verwunderlich ist, finden wir doch nicht nur in dem offiziösen<br />
„Handbuch Recht<strong>schreiben</strong>“ der Reformer Gallmann und Sitta eine falsche Deutung<br />
der neuen Regeln, sondern auch in Schaeders eigenhändiger Korrektur seines<br />
berüchtigten „Mogeldiktats“.<br />
Ich deute die Probleme kurz an, die sich aus § 77(5) ergeben. Die Neuregelung sieht<br />
vor:<br />
Er hat es satt, zu arbeiten.<br />
(Komma erforderlich, weil der Infinitiv durch ein hinweisendes es angekündigt ist)<br />
Es gilt einen klaren Kopf zu behalten.<br />
109 Der führende Reformer Dieter Nerius hat bereits 1989 behauptet, in recht tun, leid tun<br />
und weh tun steckten ehemalige Substantive! Kein Wunder, daß auf dem Boden dieses<br />
dreifachen Irrtums die völlig inkonsequenten Neuschreibungen recht tun, Leid tun und<br />
wehtun wachsen konnten.<br />
110 In einem für den KMK-Vorsitzenden ausgearbeiteten Papier „Stellungnahme zu Th.<br />
Icklers Die Rechtschreibreform auf dem Prüfstand“ vom Frühjahr 1997 wird der inkriminierte<br />
Satz gar als „Icklers Satz“ bezeichnet!<br />
117
(Kein Komma nötig, weil das es kein hinweisendes ist)<br />
Obwohl rechtzeitig auf ihren Fehler aufmerksam gemacht verbesserten sie ihn nicht.<br />
(Kein Komma erforderlich, obwohl die Satzwertigkeit der Partizipialkonstruktion<br />
durch die Konjunktion sehr deutlich gekennzeichnet ist)<br />
Es war nicht selten, dass er sie besuchte, und dass sie bis spät in die Nacht zusammensaßen.<br />
(Komma vor und möglich, obwohl dazu von der Grammatik der Aufzählungen her kein<br />
Grund besteht. Ist wirklich beabsichtigt, daß Schüler unbeanstandet <strong>schreiben</strong> sollen:<br />
Ich weiß, dass es kalt ist, und dass es schneit? – Hierzu äußert sich das Regelwerk<br />
nicht sehr deutlich, die Beispiele sprechen jedoch dafür.)<br />
Auf das völlig überflüssige Komma als drittes Satzzeichen nach wörtlicher Rede<br />
(„So?“, fragte sie) gehen A&S nicht ein, obwohl es sogar aus dem Kreise der<br />
Reformer selbst (Renate Baudusch) als pädagogische Zumutung kritisiert worden ist.<br />
Auch in umgestellten Schulbüchern fehlt es oft.<br />
6. Worttrennung<br />
Ich habe Trennungen wie alla-bendlich, beo-bachten, E-cke usw. beiläufig als<br />
„schauderhafte Gebilde“ bezeichnet, hauptsächlich aber das Sinnstörende solcher<br />
Trennungen beanstandet. A&S erwidern, wer es ästhetisch nicht möge, könne ja anders<br />
trennen. Daß „Die Woche“, die als einzige größere Zeitung die neue Rechtschreibung<br />
übernommen hat, ihren Lesern nach eigenem Bekunden „Scheußlichkeiten“ wie Abend<br />
ersparen will, zitieren A&S hingegen ohne erkennbaren Unwillen. Im übrigen<br />
geht es nicht um die Ästhetik des Schreibens, sondern um die Psychologie und<br />
Ökonomie des Lesens.<br />
III. Schlussbetrachtung<br />
Hier wird hauptsächlich mit den Dissidenten abgerechnet. Ohne namentliche<br />
Erwähnung ist Horst H. Munske die wichtigste Zielscheibe, weil dieser sich freimütig<br />
dazu bekennt, die Reform aus seiner heutigen besseren Einsicht heraus abzulehnen.<br />
Die Aufforderung an die anderen Kritiker, es besser zu machen, geht ins Leere, da die<br />
meisten Kritiker ja überhaupt keine Reform für nötig halten. Eine Fortschreibung der<br />
Dudenpraxis und ein verbesserter Rechtschreibunterricht reichen vollkommen aus.<br />
118
IV. Die Mannheimer Anhörung im Januar 1998<br />
119
120
Nachdem die deutschen Kultusminister ebenso wie die zwischenstaatliche Kommission<br />
lange Zeit auf dem Standpunkt beharrt hatten, das 1996 beschlossene Regelwerk<br />
solle vor seinem geplanten Inkrafttreten nicht mehr verändert werden, überraschte<br />
die Kommission im Dezember 1997 mit folgender Pressemitteilung:<br />
Pressemitteilung Mannheim, 18. Dezember 1997<br />
Zwischenstaatliche Kommission<br />
für deutsche Rechtschreibung<br />
legt ihren Bericht vor<br />
Die von Deutschland, Österreich und der Schweiz eingesetzte Zwischenstaatliche<br />
Kommission für deutsche Rechtschreibung legt noch vor Weihnachten ihren ersten Bericht<br />
vor. Sie hofft dadurch die Diskussion zu versachlichen und die Akzeptanz gegenüber der<br />
Neuregelung zu erhöhen. In einer Reihe von Fällen schlägt sie vor, neben der neuen auch<br />
die alte Schreibung beizubehalten. So können die Schreibenden selbst entscheiden. Auch<br />
bleiben alle neu gedruckten Rechtschreibwörterbücher gültig, da die neuen Schreibungen<br />
weiterhin gelten. Darüber hinaus hat die Kommission Gespräche mit den großen<br />
Wörterbuchverlagen geführt, um die Darstellung der neuen Schreibung zu optimieren.<br />
Der Entwurf des Berichts wird etwa 30 Verbänden in Deutschland (darunter der Deutschen<br />
Akademie für Sprache und Dichtung, dem Wissenschaftlichen Dienst des Deutschen<br />
Bundestags, der Studiengruppe Geschriebene Sprache usw.), Liechtenstein, Österreich und<br />
der Schweiz mit der Bitte um Stellungnahmen zugeschickt. Die Kommission hat darüber<br />
hinaus die Verbände nach Mannheim zu einem Gespräch im Januar 1998 eingeladen. Erst<br />
danach wird die Kommission die endgültige Fassung ihres Berichtes anfertigen und an die<br />
zuständigen Stellen in den deutschsprachigen Ländern schicken.<br />
Die Kommission hat alle konstruktive Kritik ernsthaft geprüft. Rein emotionale<br />
Äußerungen konnten daher nicht berücksichtigt werden. Neben Klarstellungen und<br />
ergänzenden Beispielen schlägt die Zwischenstaatliche Kommission vor, sowohl bei den<br />
bereits vorhandenen als auch bei den neu eingeführten Variantenschreibungen den<br />
Schreibgebrauch zu beobachten. So können die Schreibenden in einigen wenigen<br />
umstrittenen Fallgruppen wählen, z. B. zwischen Quentchen und Quäntchen, verbleuen<br />
und verbläuen, zwischen kalt stellen und kaltstellen, nahegehen und nahe gehen, zwischen<br />
ratsuchend und Rat suchend sowie zwischen Alma mater und Alma Mater, Chewing-gum<br />
und Chewing-Gum. Zwei Schreibungen empfiehlt die Kommission auch für die besonders<br />
kontrovers diskutierten Fälle Leid tun und leid tun, Not tun und not tun, Pleite gehen und<br />
pleite gehen, Feind sein und feind sein. Im Bereich der Worttrennungen wurde mit den<br />
großen Wörterbuchverlagen vereinbart, in den weiteren Auflagen alle durch die Regeln<br />
erlaubten Trennungen im Wörterverzeichnis anzugeben.<br />
Der Bericht, dem die Mannheimer Anhörung gelten sollte, war noch Anfang Januar<br />
1998 nicht an alle Teilnehmer verschickt, auch die Einladung selbst hatten wenige<br />
Tage vor dem Termin nicht alle Einzuladenden bekommen. (Ich selbst mußte mir den<br />
Text unter abenteuerlichen Umständen in Mannheim besorgen.) Überhaupt wurde die<br />
Anhörung von der Kommission mit spürbarer Unlust betrieben, war sie doch, wie<br />
Kommissionsmitglied Karl Blüml im Dezember 1997 dem „Standard“ (Wien)<br />
anvertraute, von den Kultusministern dazu gezwungen worden.<br />
121
Eingeladen waren fast ausschließlich die bekannten Befürworter der Reform. Das<br />
angekündigte Gespräch fand am 23. Januar 1998 in den Räumen des IDS in Mannheim<br />
statt. Es zeigte sich, daß der Bertelsmann-Konzern direkt oder indirekt mehrfach<br />
vertreten war. 111 Außerdem befanden sich im Saal einige Personen, die weder auf der<br />
Einladungsliste standen noch vorgestellt wurden. Identifiziert werden konnten u. a. die<br />
Ministerialrätin Monika Palmen-Schrübbers vom Bundesinnenministerium,<br />
Ministerialrat Christoph Stillemunkes vom hessischen Kultusministerium, Tobias Funk<br />
von der Kultusministerkonferenz sowie Frohmut Menze, der Inhaber des mit Bertelsmann<br />
kooperierenden AOL-Verlags, der neben seiner die GEW vertretenden Gattin<br />
saß. Ein Protokoll wurde nicht geführt.<br />
Obwohl durch die Einladungspolitik der Kommission eine überwältigende Mehrheit<br />
zugunsten der Reformpläne sichergestellt war, kann weder die Anhörung selbst noch<br />
ihre Echo in den Medien als Erfolg der Reformer verbucht werden. Dafür war zunächst<br />
schon der Ausschluß der Öffentlichkeit verantwortlich. (Die dennoch erschienenen<br />
Journalisten wurden aus dem Saal gewiesen.) Von den wenigen Reformkritikern, die –<br />
zum Teil erst nach umständlichen eigenen Bemühungen und wenige Tage vor der<br />
Veranstaltung – zugelassen worden waren, lehnten der „Verein für deutsche<br />
Rechtschreibung und Sprachpflege“ (vertreten durch Hans Krieger) sowie die Initiative<br />
„Wir Lehrer gegen die Rechtschreibreform“ (die ich vertrat) die Korrekturvorschläge<br />
ab; die „Studiengruppe geschriebene Sprache“ (Helmut Glück) begrüßte sie als Schritt<br />
in die richtige Richtung, erneuerte aber ihre Kritik an der Reform und an der<br />
Zusammensetzung der Kommission.<br />
Bei der abendlichen Pressekonferenz machte die Kommission einen derangierten<br />
Eindruck. Sie konnte einfache Fragen der Journalisten nicht beantworten und schob<br />
den Politikern die Verantwortung für alle Schwierigkeiten zu.<br />
Das ganze Ereignis wurde wenig später in ein seltsames Licht gerückt, als zunächst die<br />
Fachbeamten der Kultusministerien, dann die Amtschefskommission und schließlich<br />
die KMK selbst erklärten, die Korrekturvorschläge ihrer eigenen Expertenkommission<br />
nicht annehmen, sondern die Reform unverändert am 1.8.1998 in Kraft setzen zu<br />
wollen. – So geschah es dann auch.<br />
111 Der Bertelsmann-Konzern verbirgt durchaus nicht, welchen Anteil er an der Durchsetzung<br />
der Reform hatte. Auf seiner Internetseite gibt er eine Chronik der Reform, in der<br />
es u. a. heißt:<br />
„April 1996: Die beiden Verlage AOL und Rowohlt schicken an alle 40.000 allgemeinbildenden<br />
(sic!) und berufsbildenden Schulen das Taschenbuch: Die neue deutsche<br />
Rechtschreibung. Wörter und Regeln leicht gelernt (Rowohlt Sachbuch 60171, 9,90<br />
DM). Durch diese Privatinitiative werden alle Schulen rechtzeitig über die neuen<br />
Schreibweisen und das geänderte Regelwerk informiert.<br />
September 1996: In einer gemeinsamen Aktion von bbv und Bertelsmann werden 40.000<br />
Exemplare des neuen Wörterbuchs von Bertelsmann Lexikon: Die neue deutsche<br />
Rechtschreibung an alle allgemeinbildenden (sic!) und berufsbildenden Schulen<br />
geschickt. In der Folge wird Bertelsmann neben Duden der zweite deutsche Wörterbuchverlag.<br />
September 1997: In einer gemeinsamen Aktion von bbv und Bertelsmann werden 19.000<br />
Exemplare des neuen Schüler-Bertelsmann an alle weiterführenden Schulen geschickt.<br />
Damit steht den Schülern das erste Werk zur Verfügung, das alle Wörter nur in der neuen<br />
Rechtschreibung enthält.“<br />
122
Die Mannheimer Anhörung ist den Reformern so peinlich, daß sie nicht einmal in einer<br />
Reformchronik auf der Internetseite der Kommission erwähnt wird. Dennoch ist sie<br />
von großer Bedeutung. Sie brachte das erste öffentliche Eingeständnis der Reformer,<br />
daß ihr Werk in zentralen Bereichen mißlungen und korrekturbedürftig sei. Die<br />
vorgelegten Reparaturvorschläge blieben, wie wir sehen werden, trotz heftiger Abwehr<br />
auf seiten der verantwortlichen Politiker aktuell. Die Zusammenarbeit zwischen<br />
Kommission und Kultusbürokratie erwies sich als dauerhaft zerrüttet – das zeigte vor<br />
allem der zweite Bericht vom März 2000 mit aller Deutlichkeit. Nur der<br />
Selbsterhaltungstrieb der Reformer einerseits und der Politiker andererseits ließ beide<br />
Seiten weiterhin unnachgiebig auf ihrer Position gegenüber der Öffentlichkeit<br />
verharren.<br />
Es folgt – mit einigen Kürzungen – der von mir schriftlich eingereichte und in Kurzfassung<br />
auch mündlich vorgetragene Kommentar zum „Bericht der Zwischenstaatlichen<br />
Kommission für deutsche Rechtschreibung“. 112<br />
Zusammenfassende Beurteilung:<br />
Der „Bericht“ ist eigentlich kein solcher, sondern ein unter dem Eindruck der Kritik<br />
entstandener, mit Rechtfertigungsversuchen durchsetzter Vorschlag, die Rechtschreibreform<br />
in wesentlichen Punkten zu korrigieren. Dies wird jedoch nicht deutlich<br />
gesagt; statt dessen ist die Rede von „Präzisierung“, „Weiterentwicklung“, „Neu-“ und<br />
„Umformulierung“, „Erläuterungen“, „Ergänzungen“, „Kommentaren“, allenfalls von<br />
„kleinen inhaltlichen Modifikationen“, „kleineren inhaltlichen Veränderungen“ „an<br />
einigen Stellen“. Hinter dem Begriff „Neuformulierung von Regelteilen [im Bereich<br />
der Getrennt- und Zusammenschreibung]“ verbirgt sich in Wirklichkeit ein totaler<br />
Umsturz.<br />
Diese Verharmlosungstendenz ist verständlich genug, hat aber auch eine ganz besondere<br />
Begründung: Die Verfasser betonen auffallend oft, daß ihre neuen Vorschläge<br />
„keine unmittelbaren Auswirkungen auf die Wörterbücher“ haben. Damit wollen sie<br />
offenbar nicht nur die großen Verlage beruhigen, die schon jetzt über einen nahezu<br />
vollständigen Einbruch auf dem Wörterbuchmarkt klagen, sondern vor allem die<br />
Kultusministerien, die in der rechtzeitigen Bereitstellung benutzbarer und leidlich<br />
einheitlicher Wörterbücher eine Voraussetzung für das Gelingen ihrer um zwei Jahre<br />
vorgezogenen Einführung der Reform in die Schulen sahen. In Wirklichkeit greift die<br />
Änderung tief in die Neuregelung ein und macht sämtliche neuen Wörterbücher zu<br />
Makulatur.<br />
Hier ist auch eine Problematik zu erwähnen, die von der breiten Öffentlichkeit kaum<br />
wahrgenommen wird: Wenn der Bericht vorschlägt, abweichend von den Zumutungen<br />
der „Neuregelung“ bestimmte herkömmliche Schreibweisen als Varianten weiterhin<br />
gelten zu lassen, so scheint dies auf einen gefälligen Kompromiß hinauszulaufen, mit<br />
dem der eine oder andere Kritiker sich wohl zufrieden geben könnte. In Wirklichkeit<br />
liegen die Dinge viel komplizierter: An die Stelle einer herkömmlichen<br />
Unterscheidungsschreibung tritt nunmehr eine Variantenschreibung ohne<br />
Unterscheidungsfunktion.<br />
Sichtlich in die Knochen gefahren sind den Reformern die Tausende von Abweichungen<br />
zwischen den Wörterbüchern. Daher versucht die Kommission mit allen<br />
Mitteln, wenigstens die größeren Wörterbücher auf eine gemeinsame Linie zu<br />
112 Ausführlicher dazu mein „Kritischer Kommentar“ (2. Auflage 1999).<br />
123
verpflichten. Schon seit dem Erscheinen der ersten Ausgabe hat sich das Bertelsmann-<br />
Wörterbuch schrittweise an den Duden angeglichen, wodurch der verheerende<br />
Eindruck vom Sommer 1996 etwas gemildert wurde. Allerdings darf die vielleicht<br />
erreichbare und von der Kommission angestrebte Einheitlichkeit der Wörterbücher<br />
nicht mit der Einheitlichkeit der Rechtschreibung verwechselt werden; diese ist<br />
durch die zahllosen, nunmehr noch um weitere 1000 vermehrten Varianten in<br />
leichtfertigster Weise zerstört worden. An mehreren Stellen betonen die Verfasser, daß<br />
sie mit den „großen Wörterbuchverlagen“ Absprachen getroffen hätten oder noch zu<br />
treffen beabsichtigten. Ein gutes Regelwerk müßte auch ohne solche konspirativen<br />
Spezialvereinbarungen anwendbar sein – von jedermann und nicht nur von den in<br />
bedenklicher Weise bevorzugten „großen Wörterbuchverlagen“, die außerdem private<br />
Geschäftspartner einiger Kommissionsmitglieder sind.<br />
Die Vorschläge versuchen der Kritik hauptsächlich durch die Zulassung weiterer<br />
Varianten entgegenzukommen. Dabei wird meist eine Wiederzulassung der bisherigen<br />
und immer noch amtlich gültigen Duden-Orthographie von 1991 vorgeschlagen. Die<br />
gesamte Neuregelung erweist sich also mehr und mehr als die Schaffung Tausender<br />
von Varianten, nach denen niemand gerufen hat. Dieser Schritt „befreit“, wie die<br />
Verfasser sagen, die Schreibenden „vom Entscheidungszwang“. Ein Teil der Varianten<br />
– und zwar der sachlich begründete – war bei sinnvoller Auslegung des Duden auch<br />
ohne Reform jederzeit zulässig. Der Rest ist durchweg als minderwertig anzusehen, da<br />
er gegen grammatische Regeln des Deutschen verstößt oder nützliche<br />
Differenzierungen beseitigt. Der Bericht verstärkt das längst nicht mehr überschaubare<br />
Durcheinander von Soll- und Kann-Bestimmungen sowie den neuerdings<br />
hinzutretenden „Empfehlungen“ so sehr, daß bald niemand mehr wissen wird, welchen<br />
Regeln er – außer der schon jetzt alles überspielenden ss-Schreibung – überhaupt<br />
folgen soll.<br />
Korrekturen im Bereich der Zeichensetzung und am Wörterverzeichnis sind vertagt<br />
worden. Bezüglich der Zeichensetzung wird behauptet, daß die Neuregelung hier „fast<br />
ausschließlich nur neue Freiräume“ geschaffen habe, weshalb die Revision nicht so<br />
dringlich sei. Das ist doppelt falsch, denn gerade die sogenannten Freiräume haben<br />
sich als äußerst kritikwürdige Vergröberung erwiesen, und andererseits gibt es an zwei<br />
Stellen neue, gänzlich überflüssige, aber obligatorische Kommas (vor dem Infinitiv<br />
gemäß § 77[5] und als drittes Satzzeichen nach angeführter Rede im Sinne von § 93),<br />
die mit Recht heftig kritisiert worden sind, und zwar gerade auch von pädagogischer<br />
Seite. Der eigentliche Grund ihrer Nichtbehandlung besteht wiederum darin, daß die<br />
Zeichensetzung für die Wörterbücher unproblematisch ist.<br />
An vielen Stellen schlägt der Bericht eine Rückkehr zur gültigen Dudennorm vor, will<br />
aber um der neuen Wörterbücher willen zugleich an den Neuschreibungen festhalten,<br />
mögen sie noch so überflüssig, willkürlich und sogar ungrammatisch sein. Das kann<br />
nicht das letzte Wort sein. Neben dem Richtigen hat das Falsche kein Daseinsrecht: so<br />
Leid es mir tut, Pleite gehen, die Maschine ist Wasser sparend – so etwas darf es<br />
einfach nicht geben! Ganz zu schweigen von jenen eindeutig falschen Schreibweisen<br />
(wie Recht Sie haben, Hilfe ist Not usw.), bei denen sich die Reformer noch nicht<br />
entschließen konnten, die einzig richtigen Schreibungen wiederzuzulassen. –<br />
Rücksichtnahme auf die voreilig gedruckten Wörterbücher und auf die daran<br />
geknüpften Hoffungen irregeleiteter Kultusminister kann nicht der höchste Maßstab<br />
einer Orthographie sein, die „Vorbildcharakter“ für alle haben soll.<br />
124
Zur Kritik im einzelnen:<br />
Einleitung<br />
Um den Vorwurf abzuwehren, die neue Rechtschreibkommission sei im Grunde die<br />
alte und daher kaum in der Lage, ihr Werk angemessen zu korrigieren, legen die<br />
Verfasser auf die Feststellung Wert, die Kommission sei mit dem Internationalen<br />
Arbeitskreis „nicht identisch“. Das ist nur die halbe Wahrheit; die andere Hälfte besteht<br />
darin, daß sieben der elf Kommissionsmitglieder (zunächst: acht von zwölf) bereits<br />
dem Internationalen Arbeitskreis angehörten, der das Reformwerk geschaffen hat. Es<br />
gibt also eine überwältigende personelle Identität, und diese ist es, die – neben den<br />
schlechten Erfahrungen mit der Neuregelung – Zweifel an der Eignung der<br />
Kommission aufkommen läßt.<br />
Dreißig (in Wirklichkeit 36) Verbände und Institutionen „sind eingeladen“, am 23.<br />
Januar 1998 an einer Anhörung teilzunehmen und vorher schon Kurzfassungen ihrer<br />
Stellungnahmen einzureichen. Tatsache ist, daß noch Anfang Januar 1998 nicht alle<br />
Institutionen die Einladung erhalten hatten und der hier kommentierte „Bericht“<br />
überhaupt noch nicht verschickt worden war. Die Studiengruppe Geschriebene Sprache<br />
und die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung sind gar bereits zu Gesprächen<br />
am 17. bzw. 19. Januar eingeladen und hatten den Bericht am 5. Januar noch nicht<br />
erhalten! 113 Im Rückblick auf die Anhörung vom 4. Mai 1993 bemängelt der Reformer<br />
Hermann Zabel, daß die meisten Teilnehmer ihre Stellungnahmen abgaben, ohne die<br />
Mitglieder ihrer Verbände befragt zu haben. 114 Im Gegensatz zu damals gibt es heute<br />
schon aus Termingründen nicht die geringste Möglichkeit, eine solche<br />
Mitgliederbefragung durchzuführen.<br />
Sowohl im Bericht als auch in einer vorbereitenden „Pressemitteilung“ vom 18.<br />
Dezember 1997 und in der Einladung zur Anhörung sagt die Kommission, sie habe<br />
„ernst zu nehmende“ und „sachliche“ Kritik an der Neuregelung geprüft; dies schränkt<br />
sie jedoch sogleich auf „konstruktive“ Kritik ein und stellt sie der „emotionalen“<br />
gegenüber (Pressemitteilung und Bericht). Mit der Möglichkeit einer sowohl<br />
sachlichen als auch destruktiven Kritik rechnet sie offenbar nicht. Das erklärte Ziel<br />
von Bericht und Anhörung ist es denn auch, die „Akzeptanz der neuen<br />
Rechtschreibung“ (Einladung und Bericht) oder gar die „Akzeptanz gegenüber [!] der<br />
Neuregelung“ (Pressemitteilung) zu erhöhen.<br />
Die unermüdlich (auch von den Kultusministern) wiederholte Beteuerung, man wolle<br />
zur „Versachlichung“ der Diskussion beitragen, erweist sich als Versuch, jedermann<br />
auf eine positive Einstellung zur Reform festzulegen. Die seit langem vorliegenden<br />
sprachwissenschaftlichen Argumente und Analysen werden großenteils übergangen,<br />
weil sie gerade wegen ihrer wirklichen Sachlichkeit zu vernichtenden Bewertungen der<br />
gesamten Reform gelangen und daher in den Augen der Reformwilligen eo ipso<br />
„emotional“ sein müssen. Leider nennt die Kommission keine Namen, so daß man<br />
nicht erkennt, welche „hochemotionalen Reaktionen“ in „manchen Broschüren“ sie mit<br />
ihren ironischen Bemerkungen in die pathologische Ecke zu schieben versucht.<br />
Die Ausführungen über Usus und Norm sind problematisch. Es wird nicht begründet,<br />
113 Die Akademie sagte ihre Teilnahme an dieser Runde ab.<br />
114 Zabel 1996, S. 66.<br />
125
warum die Beschreibung des Usus nicht genügen soll, warum also daneben noch eine<br />
staatlich verordnete Norm gesetzt werden muß, von der mit Recht gesagt wird, daß sie<br />
sich nie mit dem Usus decken kann – sonst wäre sie ja offensichtlich überflüssig, weil<br />
man nicht vor<strong>schreiben</strong> muß, was ohnehin geschieht. Die Norm, so heißt es, sei starr<br />
und bleibe daher immer wieder hinter dem dynamischen Usus zurück. Sie müsse<br />
angepaßt werden, und eben dies sei Aufgabe der Kommission. Durch solche<br />
Anpassungen und Neuregelungen werde die Norm wieder stärker an den tatsächlichen<br />
Sprachgebrauch herangeführt. – Allerdings verstößt die Neuregelung in wesentlichen<br />
Teilen gegen diesen Grundsatz, vor allem im Bereich der Groß- und Kleinschreibung,<br />
wo sie der Entwicklung zur Großschreibung von festen Begriffen<br />
(Nominationsstereotypen) wie Erste Hilfe, Schneller Brüter usw. ausdrücklich<br />
„entgegenwirken“ will, und bei der forcierten Getrenntschreibung (s. mit etwas<br />
auseinander setzen, so genannt usw.). Aber auch die Neuschreibungen Tunfisch,<br />
Spagetti usw. entsprechen keiner Veränderung des tatsächlichen Gebrauchs, sondern<br />
sind frei erfunden. Mit welchem Recht der Staat die Bevölkerung überhaupt zu<br />
anderen als den gewohnten Schreibweisen nötigen könnte, bleibt unerörtert.<br />
„Zwingend notwendig in der Rechtschreibung ist überhaupt kein Detail, weil vieles<br />
arbiträr ist; etwas zu ändern ist jedoch immer schwierig, weil die Rechtschreibung<br />
konventionell ist.“ – Mit dieser Aussage setzen sich die Verfasser über die Einsicht<br />
hinweg, die sie in den Jahrzehnten der Vorbereitung gewonnen haben. Der Vorsitzende<br />
der Kommission sprach selbst mehrfach von dem „Irrglauben, die deutsche<br />
Rechtschreibung sei ein einziges Chaos“ (Augst et al. [Hg.]: Zur Neuregelung der<br />
deutschen Orthographie. Tübingen 1997, S. 126 u. ö.). Die wenigen tatsächlich<br />
arbiträren, aus heutiger Sicht durch bloße Konvention geregelten „Details“ (z. B. die<br />
Verteilung mancher Dehnungszeichen oder die Schreibung des Diphthongs ai) sind<br />
jedenfalls kein Freibrief für willkürliche Eingriffe. Was gegen solche Eingriffe spricht<br />
und den Widerstand der Sprachgemeinschaft wachruft, ist daher auch nicht die bloße<br />
Gewohnheit, sondern in den meisten Fällen die intuitive Einsicht in einen<br />
systematischen Zusammenhang, der durch willkürliche Eingriffe zerstört wird. So ist<br />
es zwar in einem banalen Sinn „arbiträr“, daß im Deutschen die sogenannten<br />
Verbzusatz-Konstruktionen (aufgeben, zusammenspielen, freisprechen usw.)<br />
zusammengeschrieben werden; aber da diese Technik nun einmal existiert, steht es<br />
niemandem mehr frei, für heiligsprechen plötzlich Getrenntschreibung zu verordnen,<br />
wie es die Neuregelung will. 115 Die überraschende Bestimmung, Adjektive auf -ig,<br />
-isch oder -lich sollten nicht mehr mit Verben zusammengeschrieben werden und daher<br />
müsse es künftig heilig sprechen (aber weiterhin freisprechen) heißen, ist ihrerseits<br />
völlig willkürlich; sie hat nicht die geringste Unterstützung durch das System der<br />
Sprache und der Orthographie. (Diesen Eingriff nehmen die Reformer in ihrem Bericht<br />
zurück.)<br />
Übrigens sprechen die Verfasser gleich im nächsten Absatz vom „Schriftsystem“, in<br />
das durch die Neuregelung nicht nachhaltig eingegriffen werden solle. Ein System aus<br />
lauter „arbiträren Details“ ist aber ein Widerspruch in sich.<br />
115 Zulässig sollte die Getrenntschreibung – bis auf eine kleine Gruppe von Verbzusätzen,<br />
die praktisch nie getrennt geschrieben werden – allerdings sein, dann aber natürlich<br />
unabhängig von der -ig-Bildung.<br />
126
„Zur Laut-Buchstaben-Zuordnung“<br />
Die Aussage, die Neuregelung habe einige Ausnahmeschreibungen „korrigiert“, läßt<br />
eine seltsame Auffassung von Sprache und Schrift erkennen. Geltende Konventionen<br />
„korrigiert“ man nicht, und Känguru ist nicht „korrekter“ als Känguruh.<br />
Die Kommission behauptet, „wichtige Einwände bzw. Anfragen“ hätten darauf gezielt,<br />
auch bei Drittel, Mittag und dennoch konsequenterweise drei gleiche Konsonantenbuchstaben<br />
zu <strong>schreiben</strong>. In der öffentlichen Diskussion ist mir dieses Argument nie<br />
begegnet, so daß ich die Behandlung dieser Frage eher als Ablenkung von der viel<br />
wichtigeren Problematik der Dreifachschreibung überhaupt ansehen möchte. Auf die<br />
Bedenken, die gegen die außerordentliche Vermehrung von Dreifachschreibungen<br />
geäußert worden sind (helllicht usw., mit Bindestrich nach § 45 Flächenstill-Legung<br />
usw.; vgl. meinen „Kritischen Kommentar“), geht die Kommission leider nicht ein.<br />
Auch die Kritik an der laut Neuregelung einzig zulässigen Schreibweise Tollpatsch<br />
richtet sich nicht gegen die Kennzeichnung des Kurzvokals, sondern gegen die konzessionslose<br />
Verordnung volksetymologischer Schreibungen. Auch im Bericht<br />
dekretieren die Reformer schlicht, „der heutige Sprachteilnehmer“ stelle Tollpatsch zu<br />
toll. Selbst wenn den meisten Menschen die ins Ungarische weisende korrekte<br />
Etymologie nicht bekannt sein dürfte, brauchen sie nicht an toll zu denken; viele<br />
dürften sich gar nichts dabei denken, sondern das Wort einfach hinnehmen. Es sei auch<br />
noch einmal auf die Randständigkeit dieses und anderer von der Reform erfaßter<br />
Wörter hingewiesen; man kann doch die Schreibung von Tolpatsch nicht im Ernst für<br />
eine schulrelevante Fehlerquelle halten!<br />
nummerieren steht nur dann „im Einklang mit der Grundregel“, wenn man von<br />
Nummer ausgeht und darauf das Stammprinzip anwendet. Gerade dies wird aber von<br />
der Kritik angefochten. Wiederum behaupten die Reformer ohne Beweis, nummerieren<br />
werde „vom weitaus größten Teil der heutigen Sprachteilhaber zu Nummer gestellt“.<br />
Woher wissen sie das? Und warum muß man auch alle anderen Sprachteilhaber, die<br />
das Wort lieber wie Numerus, numerisch usw. <strong>schreiben</strong> möchten, zur „neumotivierten“<br />
Schreibweise zwingen? Wahrscheinlich handelt es sich bei der obligatorischen<br />
Neuschreibung um eine Spielmarke für die Verhandlungen bei der geplanten Anhörung;<br />
danach wird dann freigegeben wie bei den anderen umstrittenen Fällen. Aus<br />
unerfindlichen Gründen geben die Reformer bei Tollpatsch, einbläuen, belämmert und<br />
Quäntchen schon jetzt nach, nicht aber bei den historisierenden Schreibungen behände,<br />
Stängel, Gämse. Stets behaupten sie ohne jeden Beweis, genau zu wissen, woran die<br />
heutigen Sprecher bei den einzelnen Wörtern denken oder nicht denken. In<br />
Wirklichkeit läßt sich belegen, daß viele Sprecher zum Beispiel bei behende<br />
keineswegs an die Hände denken: Behende klettern sie (die Ziegen!) gleich<br />
gruppenweise in den Baumkronen herum (F.A.Z. 13.6.1996). 116 Die Reformer geben<br />
nun zu, daß der etymologische Zusammenhang hier „nicht mehr immer als zwingend<br />
empfunden“ wird. Gleichwohl behaupten sie, die historisierende Schreibung bringe<br />
„durch die Angleichung an die Stammschreibung Vereinfachung“. Das ist eine Petitio<br />
principii, denn nur soweit der Zusammenhang noch empfunden wird, kann ja<br />
überhaupt von Stammschreibung die Rede sein. Sonst hat die Grundregel § 13 Vorrang,<br />
wonach kurzes [E] als e wiederzugeben ist; behende ist also zunächst einmal –<br />
116 Stefan George schrieb: Die grauen Wolken sammeln sich behende. – Soll das in<br />
deutschen Lesebüchern wirklich in behände abgeändert werden und damit völlig falsche<br />
Vorstellungen wecken?<br />
127
d. h. vor jeder etymologischen Motivierung – einfacher als behände. Dasselbe gilt<br />
übrigens für die Schreibung verbleuen gegenüber verbläuen. Die Reformer wollen hier<br />
beobachten, ob „die Schreibenden an der alten, etymologischen Schreibung verbleuen<br />
festhalten oder ob sie die durch die sekundäre Motiviertheit begründete neue<br />
Schreibung verbläuen mehr und mehr verwenden.“ Auch hier wird vergessen, daß vor<br />
jeder Motiviertheit eu nach § 16 die Normalschreibung des Diphthongs und nicht nur<br />
eine „etymologische“ ist.<br />
Im übrigen vermeiden es die Reformer, über die Einzelbeispiele behände, überschwänglich<br />
usw. hinaus auf die zentrale Kritik einzugehen, die sich ja nicht an Einzelwörtern<br />
entzündet, sondern am höchst selektiv verwirklichten Prinzip des<br />
etymologisierenden Schreibens überhaupt. Warum ausgerechnet behände, aber nicht<br />
Spängler, käntern, ja sogar märken, sätzen usw.? – Hunderte von ebensogut<br />
begründbaren etymologischen Schreibungen warten auf ihre Aktivierung. Aber die<br />
Verfasser tun so, als hätten sie dieses schlagende Gegenargument überhaupt nicht zur<br />
Kenntnis genommen.<br />
Von allen Einwänden, die gegen die neue s-Schreibung vorgebracht worden sind, wird<br />
nur der unwichtigste aufgegriffen, nämlich die „landschaftlich abweichende<br />
Aussprache in einigen wenigen Wörtern (zum Beispiel Spaß mit Kurzvokal)“. Damit<br />
haben die Reformer natürlich keine Schwierigkeiten, da der Orthographie die<br />
Standardsprache zugrunde zu legen ist. – Der Hinweis, daß die ss-Schreibung „ohnehin<br />
vielfach als ,Ersatzschreibung‘ gebraucht wird (Computer!) und in der Schweiz seit<br />
Jahrzehnten allgemein üblich ist“, muß als bewußte Irreführung bezeichnet werden,<br />
denn die Verfasser wissen ganz genau, daß die vollständige Abschaffung des ß etwas<br />
grundsätzlich anderes ist als die stellungsbedingte halbe Ersetzung, wie sie von der<br />
Neuregelung vorgesehen ist.<br />
In einem Abschnitt über die Fremdwortschreibung mokieren sich die Reformer über<br />
gelegentlich in der Presse angeführte falsche Beispiele wie Katastrofe und Apoteke,<br />
verschweigen aber geflissentlich, daß genau diese Schreibungen noch in der Vorlage<br />
vom Sommer 1995 enthalten waren und zu ihrem großen Bedauern von den<br />
Kultusministern herausgestrichen worden sind (vgl. Zabel 1996, S. 341ff.).<br />
„Zur Getrennt- und Zusammenschreibung“<br />
Die Verfasser behaupten:<br />
„Die Beratungen haben zu einigen Vorschlägen für Neuformulierungen in den<br />
amtlichen Regeln geführt, wobei sich an der grundsätzlichen Richtung der<br />
Neuregelung nichts geändert hat.“<br />
Nichts könnte irreführender sein. Erstens werden die Regeln nicht nur neu formuliert,<br />
sondern es werden gänzlich neue Regeln formuliert. Und diese Regeln sind nicht nur<br />
inhaltlich verschieden und führen zu ganz anderen Schreibweisen als den durch die<br />
Neuregelung vorgeschriebenen, sondern es sind Regeln von grundsätzlich anderer<br />
Orientierung:<br />
• Als neues Kriterium wird die Betonung eingeführt.<br />
• Die geschlossenen Listen werden durch offene ersetzt.<br />
128
Dadurch werden – abgesehen von den großen Mengen veränderter Schreibungen –<br />
zahlreiche Gruppen, die bisher einfach nebeneinanderstanden, nunmehr zu<br />
Ausnahmen. Wenn die Reformer behaupten, die „grundsätzliche Richtung der<br />
Neuregelung“ ändere sich nicht, so bekunden sie damit allenfalls ihren unveränderten<br />
Willen, etwas gegen die von der Sprachgemeinschaft für richtig gehaltene<br />
Zusammenschreibung zu unternehmen. Mit diesem Eingriff sind sie jedoch gründlich<br />
gescheitert.<br />
Die Einleitung zu diesem Teil des Berichts ist ein so bemerkenswertes Stück deutscher<br />
Prosa, daß die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ es sich nicht nehmen ließ, ein kurzes<br />
Zitat daraus als „Fundsache“ zu präsentieren (15.1.1998):<br />
„Bei der Getrennt- und Zusammenschreibung handelt es sich darum, zwei (oder<br />
mehr) nebeneinander gestellte sprachliche Einheiten als lexikalisch eigenständige<br />
Formen oder als gemeinsame Einheit grafisch zu markieren. Übergeordnete<br />
Einheiten können entweder als kontextfreie oder als kontextsensitive<br />
Wortgruppen erscheinen. Die Selbständigkeit von Wörtern bzw. Lexemen kann<br />
durch diachrone Prozesse (Lexikalisierung mit daraus folgender Univerbierung)<br />
und synchrone Prozesse (Inkorporation) aufgehoben werden. Auch bei<br />
Inkorporation wird der Wortgruppenstatus erst durch Lexikalisierung<br />
(Phraseologisierung) erreicht, sodass sich letztlich auch hier diachrone Prozesse<br />
auswirken. Diese Prozesse machen sich auch in der Betonung bemerkbar<br />
(Unbetontheit von autosemantischen Elementen).“<br />
Was mag das alles bedeuten? 117 Was sind „lexikalisch eigenständige Formen“? Wieso<br />
wird der Wortgruppenstatus – was immer das sein mag – erst durch „Lexikalisierung<br />
(Phraseologisierung)“ und damit historisch erreicht? (In der Neuregelung ist ständig<br />
von „Wortgruppen“ die Rede, die keineswegs lexikalisiert oder phraseologisiert sind.)<br />
Ist blaustreichen/blau streichen (s. u.) eine „Wortgruppe“, ist es „diachronisch“<br />
„lexikalisiert“, „phraseologisiert“, „univerbiert“, „inkorporiert“, „autosemantisch“,<br />
„kontextfrei“, „kontextsensitiv“ – und wird es darum nun nach Belieben getrennt oder<br />
zusammengeschrieben?<br />
Der Text fährt fort:<br />
„Für die Normierung der Rechtschreibung muss die Frage entschieden werden,<br />
ob sich die Rechtschreibnorm an der morphologischen Form der Wörter<br />
orientiert, die man aus einem Wörterbuch entnehmen kann (tendenzielle<br />
Getrenntschreibung), oder ob semantische Verschiebungen aus der Funktion<br />
innerhalb von Wortgruppen und aus metaphorischen Gebrauchsweisen (tendenzielle<br />
Zusammenschreibung) berücksichtigt werden.<br />
In der Geschichte der deutschen Rechtschreibung gab es verschiedene Versuche,<br />
Wortgruppenphänomene durch Zusammenschreibung zu bezeichnen. Wegen der<br />
Tatsache, dass diachrone Prozesse grundsätzlich nicht abgeschlossen sind, wenn<br />
sie auf universellen Gegebenheiten des Sprachwandels beruhen, ist ein unklarer<br />
und zum Teil widersprüchlicher Schreibgebrauch entstanden, der zu einem<br />
großen Teil nur im Wörterbuch als Einzelfestlegung normiert wurde.“<br />
117 Später wird die KMK die „Erläuterungen zur einheitlichen Auslegung und Anwendung<br />
des neuen Regelwerks sehr hilfreich“ finden und insbesondere die Kommentare loben,<br />
„die dazu dienen, die dem Regelwerk zugrunde liegenden Prinzipien einer breiteren<br />
Öffentlichkeit verständlich zu machen“!<br />
129
Aus einem Wörterbuch kann man nur entnehmen, was zuvor hineingeschrieben wurde,<br />
so daß auch die Frage, ob es sich um eine Wortgruppe oder um ein Wort handelt, vom<br />
Wörterbuchmacher entschieden werden muß, bevor er seinen Wörterbucheintrag<br />
macht. Was „semantische Verschiebungen aus (!) der Funktion innerhalb von<br />
Wortgruppen und aus (!) metaphorischen Gebrauchsweisen“ sein sollen, ist leider auch<br />
nicht zu erkennen. Im nächsten Absatz sind die „diachronischen Prozesse“ offenbar<br />
dasselbe wie der gleich darauf erwähnte „Sprachwandel“, so daß die gewagte These<br />
lautet: Sprachwandel ist grundsätzlich nicht abgeschlossen, wenn er auf universalen<br />
Gegebenheiten beruht. Wieso denn nicht? Es gibt viele Beispiele für Sprachwandel,<br />
zum Beispiel Assimilationen, die abgeschlossen sind, obwohl sie auf universalen<br />
Gegebenheiten beruhen. Welche „Wortgruppenphänomene“ es sind, die man früher<br />
durch Zusammenschreibung zu „bezeichnen“ versuchte, ist unklar.<br />
Die Verfasser sprechen davon, daß bei der Getrennt- und Zusammenschreibung „ein<br />
unklarer und zum Teil widersprüchlicher Schreibgebrauch entstanden“ sei; einige<br />
Zeilen weiter wird nochmals festgestellt, es sei zu „widersprüchlichen Festlegungen<br />
von einzelnen Schreibungen“ gekommen. Nun kann aber weder der Schreibgebrauch<br />
noch gar die Festlegung von Einzelschreibungen „widersprüchlich“ sein. Daß nach<br />
Duden zum Beispiel radfahren zusammengeschrieben werden darf, Auto fahren aber<br />
nicht, ist kein „Widerspruch“. Widersprüchlich wäre es, wenn einzelne Regeln<br />
einander entgegengesetzte Anweisungen gäben. Ein solcher Fehler wird aber dem<br />
Duden nicht unterstellt.<br />
Die Behauptung, durch die Neuregelung werde „das schon bisher geltende Prinzip,<br />
wonach in nicht eindeutig geregelten Bereichen getrennt geschrieben werden soll,<br />
verstärkt“, trifft nicht zu. Am Prinzip ändert sich gar nichts, sondern es werden<br />
zahlreiche durchaus eindeutig geregelte Fälle, für die bisher Zusammenschreibung<br />
galt, nunmehr der Getrenntschreibung zugeteilt. Genau diese Verschiebung der Grenze<br />
ist es, die sich nun als verfehlt herausstellt. Darum werden schätzungsweise 1000 neue<br />
Getrenntschreibungen durch Hinzufügung zusammengeschriebener Varianten<br />
entschärft (bezogen auf den Gesamtwortschatz der Dudenkartei sind es ungefähr<br />
viermal so viele!). Dieser Rückzug von einer unhaltbaren Position wird als<br />
Erweiterung von „Freiräumen“ und immer noch als Verstärkung des Grundprinzips<br />
ausgegeben. Daß die willkürlichen, auf eingestandenermaßen unzulänglichen Kriterien<br />
beruhenden Neuschreibungen nicht kurzerhand zurückgenommen werden, hat den<br />
Grund, daß „die in den neuen Wörterbüchern angegebenen Schreibungen richtig<br />
bleiben sollen“.<br />
Die Kommission bemüht sich, die tatsächliche Umorientierung der Regeln in diesem<br />
Bereich zu vertuschen:<br />
„Die Änderungsvorschläge der Kommission verstärken das genannte Grundprinzip<br />
dadurch, dass die formalen Proben genauer erläutert und zusätzliche<br />
Kriterien als Entscheidungshilfe eingeführt werden. Sie erweitern die Freiräume<br />
der Schreibenden dort, wo sowohl die Getrennt- als auch die Zusammenschreibung<br />
linguistisch gut begründbar ist, durch das Zulassen beider Schreibungen.“<br />
Das Hauptkriterium war bekanntlich die formale Probe der Steiger- und Erweiterbarkeit.<br />
Diese Probe wird aber keineswegs „genauer erläutert“, sondern durch das<br />
„zusätzliche Kriterium“ der Betonung weitgehend ersetzt. Die neuen Freiräume<br />
130
entsprechen keinem Bedürfnis der Schreibenden, sondern entspringen der Unfähigkeit<br />
der Reformer, eindeutige Kriterien zu finden, es sind Varianten aus Verlegenheit,<br />
nicht aus einer Tendenz der Sprachentwicklung heraus.<br />
Die Getrennt- und Zusammenschreibung wird grundlegend geändert, vor allem also<br />
die Paragraphen 34 und 36. Das Kriterium der Steiger- und Erweiterbarkeit hat<br />
nämlich die Erwartungen nicht erfüllt (erster Haupteinwand und erste Antwort). Als<br />
entscheidender Fortschritt wird nun die Einführung der Betonung als Hauptkriterium<br />
vorgestellt. Tatsächlich hat die Kritik die Nichtbeachtung der Betonungsunterschiede<br />
von Anfang an als Hauptmangel gerügt. Konsequenterweise hätte auch<br />
das dritte von mir vorgeschlagene Kriterium, die Nichtunterbrechbarkeit der Verbzusatzkonstruktion,<br />
eingeführt werden sollen. Alle diese formalen Merkmale sind<br />
allerdings bloß Auswirkungen der grundlegenden, von den Verfassern auch diesmal<br />
nicht direkt genannten, geschweige denn in den Mittelpunkt gestellten grammatischen<br />
Unterscheidung zwischen freiem Adverbial und Verbzusatz. Die neuen Vorschläge wirken<br />
daher wie unbeholfenes Herumbasteln an einem nach wie vor nicht durchschauten<br />
grammatischen Sachverhalt. Immerhin sind die Veränderungen in ihrem Ausmaß kaum<br />
zu verkennen.<br />
Zur besseren Übersicht habe ich den Paragraphen 34 so rekonstruiert, wie er nach dem<br />
„Bericht“ nunmehr aussehen würde:<br />
§ 34 (neu)<br />
Präpositionen, Adverbien, Adjektive und Substantive können als Verbzusätze<br />
trennbare Zusammensetzungen mit Verben bilden. Man schreibt sie nur im Infinitiv,<br />
im Partizip I und im Partizip II sowie im Nebensatz bei Endstellung des Verbs<br />
zusammen.<br />
Ausnahme: Verbindungen mit dem Verb sein, siehe § 35.<br />
Dies betrifft<br />
(1) präpositionale und adverbiale Verbzusätze. Die Zusammensetzung wird auf dem<br />
ersten Bestandteil, dem Verbzusatz, betont, zum Beispiel:<br />
ab- (Beispiele: abändern, abbauen, abbeißen, abbestellen, abbiegen), an-, auf-,<br />
aus-, bei-, da-, dar-, d(a)ran-, d(a)rein-, da(r)nieder-, davon-, drauf-, drauflos-, drin-,<br />
durch-, ein-, einher-, empor-, entgegen-, entlang-, entzwei-, fort-, gegen-, her-,<br />
herab-, heran-, herauf-, heraus-, herbei-, herein-, hernieder-, herüber-, herum-,<br />
herunter-, hervor-, herzu-, hin-, hinab-, hinan-, hinauf-, hinaus-, hindurch-, hinein-,<br />
hintan-, hinüber-, hinweg-, hinzu-, los-, nach-, nieder-, über-, überein-, um-, umher-,<br />
umhin-, unter-, vor-, voran-, vorauf-, voraus-, vorbei-, vorher-, vorüber-, vorweg-,<br />
weg-, wider-, zurück-, zuvor-, zuwider-, zwischen-<br />
Auch: auf- und abspringen, ein- und ausführen, hin- und hergehen usw.<br />
Zur Unterscheidung von Adverb und adverbialem Verbzusatz siehe § 34 E1(1)<br />
(2) Zusammensetzungen aus Adjektiv + Verb: In solchen Verbindungen ist nur der<br />
erste Bestandteil betont und im Allgemeinen nicht sinnvoll steigerbar, zum Beispiel:<br />
fehlgehen, fehlschlagen, feilbieten, kundgeben, kundmachen, kundtun, weismachen;<br />
bloßstellen, fernsehen, fertigstellen, freisprechen (= für nicht schuldig erklären),<br />
131
gut<strong>schreiben</strong> (= anrechnen), heiligsprechen, hochrechnen, innehaben, innehalten,<br />
innewohnen, wahrsagen (= prophezeien)<br />
Zu wahlweiser Getrenntschreibung bei Adjektiv + Verb siehe § 34 E1(2)<br />
(3) die folgenden Wörter:<br />
heimbringen, heimfahren, heimführen, heimgehen, heimkehren, heimleuchten, heimreisen,<br />
heimsuchen, heimzahlen<br />
irreführen, irreleiten<br />
preisgeben<br />
standhalten<br />
stattfinden, stattgeben, statthaben<br />
teilhaben, teilnehmen<br />
wettmachen<br />
wundernehmen<br />
Vgl. aber § 55(4), Groß- und Kleinschreibung.<br />
E1: In einigen Fallgruppen ist unter bestimmten Bedingungen sowohl Getrennt- als<br />
auch Zusammenschreibung möglich:<br />
(1) Bestimmte Adverbien werden gleichlautend als Verbzusätze verwendet, zum<br />
Beispiel:<br />
beisammen, da, dabei, dafür, dagegen, daher, darum, davor, dazu, dazwischen,<br />
gegenüber, hinterher, mit, weiter, wieder, zu, zusammen<br />
Wenn die Betonung nur auf dem ersten Bestandteil liegt, wird zusammengeschrieben,<br />
wenn zwei betonte Bestandteile vorliegen, wird getrennt geschrieben,<br />
zum Beispiel:<br />
dabei (bei einer Tätigkeit) sitzen / dabeisitzen (während die anderen Karten spielen);<br />
daher (aus dem genannten Grund) kommen / daherkommen (des Wegs kommen);<br />
wieder (erneut) sehen / wiedersehen (ein Wiedersehen erleben), 118 zusammen<br />
(gemeinsam) spielen / zusammenspielen (harmonieren)<br />
(2) Verbindungen aus Adjektiv/Adverb + Verb:<br />
– Wenn beide Bestandteile betont sind, wird getrennt geschrieben, siehe auch § 34<br />
E2(2), zum Beispiel: frei sprechen (ohne Manuskript), schnell laufen<br />
– Wenn nur der erste Bestandteil betont ist, kann sowohl getrennt als auch<br />
zusammengeschrieben werden, zum Beispiel:<br />
blaustreichen / blau streichen, glatthobeln / glatt hobeln, hartkochen / hart<br />
kochen, kaltstellen / kalt stellen, irrewerden / irre werden, klarmachen / klar<br />
machen, nahebringen / nahe bringen, schwerfallen / schwer fallen<br />
E2: In den Fällen, die nicht durch § 34(1) bis (3) sowie § 34 E1(1) und (2) geregelt<br />
sind, schreibt man getrennt.<br />
Dies betrifft:<br />
(1) Präposition, Adverb, Adjektiv oder Substantiv + Verb in finiter Form am<br />
Satzanfang, zum Beispiel:<br />
118 Hier müßte ein Semikolon stehen.<br />
132
Hinzu kommt, dass ...<br />
Fehl ging er in der Annahme, dass ...<br />
Bereit hält sie sich für den Fall, dass ...<br />
Wunder nimmt nur, dass ...<br />
(2) Adverb + Verb, zum Beispiel:<br />
abhanden kommen, anheim fallen [geben, stellen], beiseite legen [stellen, schieben],<br />
fürlieb nehmen, überhand nehmen, vonstatten gehen, vorlieb nehmen, zugute halten<br />
[kommen, tun], zunichte machen, zupass kommen, zustatten kommen, zuteil werden<br />
Zu Fällen wie zu Hilfe [kommen] siehe § 39 E2(2.1); zu Fällen wie infrage [stellen] /<br />
in Frage [stellen] siehe § 39 E3(1).<br />
aneinander denken [grenzen, legen]), aufeinander achten [hören, stapeln], auseinander<br />
gehen [laufen, setzen], beieinander bleiben [stehen], durcheinander<br />
bringen [reden]<br />
auswendig lernen, barfuß laufen, daheim bleiben<br />
abseits stehen, diesseits/jenseits liegen; abwärts gehen, aufwärtsstreben, rückwärts<br />
fallen, seitwärts treten, vorwärts blicken<br />
(3) Partizip + Verb, zum Beispiel:<br />
gefangen nehmen [halten], geschenkt bekommen, getrennt <strong>schreiben</strong>, verloren<br />
gehen<br />
(4) Verb (Infinitiv) + Verb, zum Beispiel:<br />
liegen lassen, sitzen bleiben, spazieren gehen<br />
Ausnahme: kennen lernen kann auch in einem Wort geschrieben werden:<br />
kennenlernen.<br />
(5) Substantiv + Verb, zum Beispiel:<br />
Angst haben, Auto fahren, Diät halten, Eis laufen, Feuer fangen, Fuß fassen, Kopf<br />
stehen, Maß halten, Posten stehen, Rad fahren, Rat suchen, Schlange stehen,<br />
Schuld tragen, Ski laufen, Walzer tanzen<br />
Kommentar:<br />
Zunächst wird der Begriff der „Partikel“ beseitigt (dritter Haupteinwand und dritte<br />
Antwort) und die umstrittene Partikelliste § 34(1) um mehr als zwanzig Elemente<br />
erleichtert (ein Teil taucht unter E1(1) wieder auf). Aber nicht das ist das<br />
Entscheidende, sondern die auf den ersten Blick ganz unscheinbare Tatsache, daß diese<br />
Liste nunmehr als offene Liste dargeboten wird. Das ist von der Sache her<br />
angemessen, stellt aber einen ungemein folgenreichen Einschnitt dar, denn seit Jahren<br />
soll gerade an dieser Stelle eine geschlossene Liste den mißliebigen Zusammenschreibungen<br />
Einhalt gebieten. Natürlich führt die Öffnung der Listen zu<br />
neuen Zweifelsfällen. Zum Beispiel sind potentielle Verbzusätze wie vornüber und<br />
hintenüber, von denen bisher fehlerhafterweise nur der zweite in der Liste stand, nun<br />
überhaupt nicht mehr erwähnt, so daß Lexikographen und Schreibende in Zweifel<br />
geraten, wie es sich hier mit der Getrennt- und Zusammenschreibung verhalten mag.<br />
Nach welchen Kriterien einige Verbzusätze unter 34(1), andere unter 34 E1(1)<br />
subsumiert werden, ist nicht zu erkennen. Nicht nur die Adverbien unter E1(1) werden<br />
133
ja adverbial gebraucht, sondern auch manche unter 34(1): davon, davor, vorher,<br />
vorweg usw. Andererseits ist der adverbiale Gebrauch von zu zweifelhaft.<br />
Die umformulierte Unterregel § 34(2) besagt nun, daß zusammengeschrieben werden:<br />
„Zusammensetzungen aus Adjektiv + Verb: In solchen Verbindungen ist nur der erste<br />
Bestandteil betont und im Allgemeinen nicht sinnvoll steigerbar, zum Beispiel:<br />
fehlgehen, fehlschlagen, feilbieten, kundgeben, kundmachen, kundtun, weismachen;<br />
bloßstellen, fernsehen, fertigstellen, freisprechen (= für nicht schuldig erklären),<br />
gut<strong>schreiben</strong> (= anrechnen), heiligsprechen, hochrechnen, innehaben, innehalten,<br />
innewohnen, wahrsagen (= prophezeien)“<br />
Zur ersten Gruppe hatte es in der Neuregelung geheißen: „Zusammensetzungen aus<br />
Adverb oder Adjektiv + Verb, bei denen der erste, einfache Bestandteil in dieser Form<br />
als selbständiges Wort nicht vorkommt“ – und die Kritik hatte natürlich sofort gefragt,<br />
wie man die Wortart („Adverb oder Adjektiv“) eines Elements bestimmen kann, das als<br />
selbständiges Wort überhaupt nicht vorkommt. Nun müssen wir zur Kenntnis nehmen,<br />
daß es sich nach Ansicht der Reformer bei fehl schlicht um ein „Adjektiv“ handele.<br />
Nach den Kriterien der Reformer selbst müßte man also sagen können eine fehle<br />
Reform usw. (vgl. Augst/Schaeder über das abende Ereignis in ihrer Schrift<br />
„Rechtschreibreform: eine Antwort an die Kritiker“. Stuttgart 1997).<br />
Noch bemerkenswerter ist womöglich die zweite Gruppe, die sich sehr von der<br />
entsprechenden Liste der Neuregelung (§ 34 E2 [2.2.]) unterscheidet und solche<br />
„Adjektive“ wie inne enthält!<br />
Die wegen ihrer Willkür kritisierte Sonderregel für Gefüge mit einem auf -ig, -lich<br />
oder -isch auslautenden Adjektiv entfällt, und zwar sowohl unter § 34 wie unter § 36.<br />
Damit werden Zusammenschreibungen wie heiligsprechen, übrigbleiben usw. wieder<br />
möglich. Die absurde „Analogie“ von artig grüßen und übrig bleiben ist also endlich –<br />
nach drei Jahren unablässiger Kritik – als Irrtum erkannt.<br />
Damit ist ein wesentlicher Stein des Anstoßes beseitigt und der alte Zustand –<br />
oberflächlich gesehen – wiederhergestellt; aber dieser Fortschritt bleibt natürlich nicht<br />
ohne Folgen für die Wörterbücher, die allesamt gewissenhaft verzeichnen, daß zum<br />
Beispiel heilig sprechen getrennt, freisprechen aber zusammengeschrieben wird.<br />
Die einzige Bezugnahme auf das einst ausschlaggebende Kriterium der Steigerbarkeit<br />
(die „Erweiterbarkeit“ spielt daneben überhaupt keine Rolle mehr) ist so formuliert,<br />
daß sie eher wie eine ausschmückende Charakterisierung wirkt und nicht wie das<br />
vertraute „Steigerbarkeitskriterium“, als das sie immer noch bezeichnet wird. Als<br />
Kriterium hätte es in der Form eines Konditionalsatzes oder restriktiven Relativsatzes<br />
eingeführt werden müssen. Übrigens ist das Betonungskriterium, auf dessen<br />
Berücksichtigung die Kritik mit guten Gründen bestanden hat, so eindeutig nun auch<br />
wieder nicht, vor allem in konkreten Texten, wo die thematische Struktur oft<br />
Betonungsverhältnisse erzeugt, die den normalen Sprachteilhaber zu falschen<br />
Schlüssen verleiten können. Man wird auf die Dauer eben nicht darum herumkommen,<br />
grammatische Sachverhalte beim Namen zu nennen, statt sich auf heuristische<br />
Hinweise für den Laien – so nützlich sie sein mögen – zu beschränken.<br />
Der Abschnitt § 34(2) wird so dargeboten, als füge er sich bis auf die genannten<br />
inhaltlichen Veränderungen an genau derselben Stelle in das Regelwerk ein, an der er<br />
134
isher seinen Platz hatte. In Wirklichkeit bedeutet die in kleinerem Druck hinzugefügte<br />
Anmerkung „Zu wahlweiser Getrenntschreibung bei Adjektiv + Verb siehe § 34 E2<br />
(2)“ einen totalen Umsturz.<br />
Die fortgesetzte Redeweise von „Zusammensetzungen“ ist teils tautologisch; denn<br />
Zusammensetzungen werden immer zusammengeschrieben, so daß die Aufbietung des<br />
Betonungskriteriums überflüssig ist; teils ist sie widersprüchlich, denn bei<br />
Zusammensetzungen gibt es keine „wahlweise Getrenntschreibung“, wie die<br />
Anmerkung suggeriert. E1(2) spricht daher vorsichtigerweise von „Verbindungen“.<br />
blaustreichen wäre demnach eine Zusammensetzung, blau streichen eine Wortgruppe.<br />
In Wirklichkeit handelt es sich um ein und dieselbe Verbzusatzkonstruktion mit<br />
neuerdings fakultativer Zusammenschreibung; obligatorisch – d. h. ausnahmslos<br />
durchgeführt – ist Zusammenschreibung nur bei ein paar Dutzend listenmäßig<br />
erfaßbaren Fällen (Partikelverben im engeren Sinne). Davon streng zu unterscheiden<br />
ist jeweils die adverbiale Konstruktion – wobei sich „adverbial“ nicht auf die Wortart,<br />
sondern auf die syntaktische Funktion bezieht, was die Reformer leider überhaupt nicht<br />
auseinanderhalten.<br />
Die Einführung zu [E1](2) stellt die Zusammenschreibung bei blaustreichen usw.<br />
(„meist Resultativa“) als Nebenmöglichkeit dar („kann auch zusammengeschrieben<br />
werden“), während sie nach § 34(2) (neu) gerade der Normalfall ist.<br />
Zwischen § 34 E1(1) und E1(2) scheint ein kompliziertes Wechselverhältnis zu<br />
bestehen, das allerdings undurchsichtig genug formuliert ist. Wenn ich recht verstehe,<br />
geht es um folgendes:<br />
(1) Bestimmte Adverbien werden sowohl als Adverbiale als auch als Verbzusätze<br />
gebraucht („Differenzschreibung“). In diesem Fall tritt bei Verbzusatzgebrauch, der<br />
durch Betonung auf dem ersten Bestandteil gekennzeichnet ist, obligatorisch Zusammenschreibung<br />
ein:<br />
dabei (bei einer Tätigkeit) sitzen / dabeisitzen (während die anderen Karten spielen)<br />
(2) Bestimmte Adjektive und Adverbien können in Verbindung mit einem Verb „ohne<br />
Differenzschreibung“ in verschiedener Weise betont werden. Ist der erste Teil betont,<br />
wird getrennt oder zusammengeschrieben. Ist der zweite Teil (ebenfalls) betont, wird<br />
getrennt geschrieben:<br />
frei sprechen (ohne Manuskript) / freisprechen (nach § 34[2]) oder frei sprechen (von<br />
einer Anklage)<br />
schwer fallen (einen schweren Sturz tun) / schwerfallen oder schwer fallen (Mühe<br />
verursachen)<br />
Diese Deutung ist allerdings unsicher, denn erstens widerspricht das Beispiel der<br />
Angabe, daß es sich um „Verbindungen ohne Differenzschreibungen“ handele.<br />
Zweitens wird unter (2) entgegen der Ankündigung kein einziges Beispiel für ein<br />
Adverb gegeben, es sind nur Adjektive angeführt. Andernfalls wäre auch der<br />
Unterschied zu (1) nicht zu erkennen.<br />
Vielleicht sind hier mehrere Versehen unterlaufen, sei es in der Regelformulierung, sei<br />
es bei der Wahl der Beispiele. Die außerordentliche Fehlerhaftigkeit, die wir unter § 36<br />
finden werden, spricht – zusammen mit der Verworrenheit der einleitenden Abschnitte<br />
zu diesem Kapitel – für diese Annahme.<br />
135
E 2 führt in sehr ähnlicher Form wie bisher die Fälle der Getrenntschreibung auf,<br />
berücksichtigt aber zu wenig, daß durch die Neugestaltung der Hauptregel das meiste<br />
keine Berechtigung mehr hat, anders gesagt: Dieser Abschnitt geht irrigerweise davon<br />
aus, daß vieles „nicht durch § 34(1) bis (3) sowie § 34 E1(1) und (2) geregelt“ ist, was<br />
bei sinngemäßer Auslegung sehr wohl geregelt ist, zumal nach dem Übergang von der<br />
extensionalen zur intensionalen Definition (offene Listen anstelle geschlossener). Die<br />
weiterhin vorgeschriebenen, vom Usus abweichenden Getrenntschreibungen sind<br />
daher unbegründet, es sind neue Ausnahmen.<br />
Wie bereits in der „Neuregelung“ werden strukturell völlig verschiedene Verbindungen<br />
zusammengeordnet: Präpositionalobjekte (aneinander denken) und Verbzusätze<br />
(aneinander legen). Für letztere wird Getrenntschreibung gefordert, weil sie angeblich<br />
nicht durch die vorhergehenden Unternummern geregelt sind. Das ist nicht<br />
nachprüfbar, da wir nicht erfahren, wohin die mit einander zusammengesetzten Wörter<br />
gehören; wir sehen nur, daß sie in keiner der allerdings offenen Listen genannt sind.<br />
Das Betonungskriterium legt nahe, Präpositionalobjekte getrennt und die<br />
gleichlautenden Verbzusätze wahlweise getrennt oder zusammenzu<strong>schreiben</strong>. So haben<br />
wir nun den kaum begründbaren, der Sprachpraxis widersprechenden Unterschied<br />
zusammenrücken, aber aneinander rücken. Ebenso wegfallen, aber anheim fallen;<br />
vorwegnehmen, aber vorlieb nehmen usw. (Der Usus neigt hier bekanntlich über den<br />
geltenden Duden hinaus zu vermehrter Zusammenschreibung.)<br />
Gänzlich überraschend kommt die einzige zugelassene „Ausnahme“ bei der<br />
Zusammenschreibung mit Infinitiven: kennenlernen wird wiederhergestellt. Warum<br />
dies für schätzenlernen, spazierengehen usw. nicht gelten soll, für deren Zusammenschreibung<br />
sich genau dieselben Argumente anführen lassen, bleibt unklar. Vielleicht<br />
wirkt hier die frühe Kritik nach, die das Kommissionsmitglied Peter Eisenberg gerade<br />
am Beispiel kennenlernen geübt hat (Praxis Deutsch 1/1995).<br />
Es folgt meine Rekonstruktion von § 36:<br />
§ 36 (neu)<br />
Substantive, Adjektive, Verbstämme, Adverbien oder Pronomen können als<br />
Wortbestandteile mit Adjektiven oder Partizipien Zusammensetzungen bilden. Man<br />
schreibt sie zusammen.<br />
Dies betrifft<br />
(1) Zusammensetzungen, bei denen die entsprechende Wortgruppe eine<br />
Erweiterung hat, zum Beispiel:<br />
angsterfüllt (aber: von Angst erfüllt), bahnbrechend (aber: sich eine Bahn brechend),<br />
butterweich (aber: weich wie Butter), fingerbreit (aber: einen Finger breit),<br />
freudestrahlend (aber: vor Freude strahlend), herzerquickend (aber: das Herz<br />
erquickend), hitzebeständig (aber: gegen Hitze beständig), jahrelang (aber: mehrere<br />
Jahre lang), knielang (aber: lang bis zum Knie), meterhoch (aber: einen oder<br />
mehrere Meter hoch), milieubedingt (aber: durch das Milieu bedingt)<br />
denkfaul, fernsehmüde, lernbegierig, röstfrisch, schreibgewandt, tropfnass;<br />
selbstbewusst, selbstsicher<br />
Mit Fugenelement, zum Beispiel: altersschwach, anlehnungsbedürftig, geschlechtsreif,<br />
lebensfremd, sonnenarm, werbewirksam<br />
136
Zu wahlweiser Getrenntschreibung bei Substantiv + Partizip siehe § 36 E1(1)<br />
(2) Zusammensetzungen, bei denen der erste oder - häufiger - der zweite<br />
Bestandteil in dieser Form nicht selbständig vorkommt, zum Beispiel:<br />
einfach, zweifach; letztmalig, redselig, saumselig, schwerstbehindert, schwindsüchtig;<br />
blauäugig, großspurig, kleinmütig, vieldeutig<br />
(3) Zusammensetzungen, bei denen das dem Partizip zugrunde liegende Verb<br />
entsprechend § 33 bzw. § 34 mit dem ersten Bestandteil zusammengeschrieben<br />
wird, zum Beispiel:<br />
wehklagend (wegen wehklagen); herunterfallend, heruntergefallen; irreführend, irregeführt;<br />
teilnehmend, teilgenommen<br />
(4) Zusammensetzungen, deren zweiter Bestandteil gesteigert ist und damit die<br />
ganze Verbindung steigert, zum Beispiel:<br />
dieser Schluck Bier war wohltuender als eine Stunde Schlaf; die gewinnbringendste<br />
Anlageform; dein Fehler ist schwerwiegender als meiner<br />
(5) Zusammensetzungen aus gleichrangigen (nebengeordneten) Adjektiven, zum<br />
Beispiel:<br />
blaugrau, dummdreist, feuchtwarm, grünblau, nasskalt, taubstumm<br />
Zur Schreibung mit Bindestrich siehe § 45(2).<br />
(6) Zusammensetzungen mit bedeutungsverstärkenden oder bedeutungsmindernden<br />
ersten Bestandteilen, die zum Teil lange Reihen bilden, zum Beispiel:<br />
bitter- (bitterböse, bitterernst, bitterkalt), brand-, dunkel-, erz-, extra-, gemein-, grund-<br />
, hyper-, lau-, minder-, stock-, super-, tod-, ultra-, ur-, voll-<br />
(7) mehrteilige Kardinalzahlen unter einer Million sowie alle mehrteiligen<br />
Ordinalzahlen, zum Beispiel:<br />
dreizehn, siebenhundert, neunzehnhundertneunundachtzig; der siebzehnte Oktober,<br />
der einhundertste Geburtstag, der funfhunderttausendste Fall, der zweimillionste<br />
Besucher<br />
Beachte aber Substantive wie Dutzend, Million, Milliarde, Billion, zum Beispiel: zwei<br />
Dutzend Hühner, eine Million Teilnehmer, zwei Milliarden fünfhunderttausend<br />
Menschen<br />
E1: In einigen Fällen ist sowohl Getrennt- als auch Zusammenschreibung möglich.<br />
Dies betrifft:<br />
(1) Verbindungen aus Substantiv + adjektivisches Partizip, die auch als Wortgruppen<br />
vorkommen, d. h. wenn ein Akkusativobjekt aus einem bloßen Substantiv besteht,<br />
das in dieser Verbindung keinen Artikel hat, zum Beispiel:<br />
energiesparende Maßnahmen / Energie sparende Maßnahmen (man spart Energie),<br />
ratsuchend / Rat suchend (ich suche Rat), notleidend / Not leidend (er leidet Not)<br />
(2) Verbindungen aus Adjektiv + Partizip, die auch als Wortgruppen vorkommen.<br />
Dazu gehören auch einige bedeutungsverändernde Adjektive und Adverbien, die als<br />
erste Bestandteile in Zusammensetzungen mit Adjektiv/Partizip vorkommen, aber<br />
auch in getrennter Stellung das nachfolgende Wort modifizieren können.<br />
Die Wortgruppe wird meist auf beiden Bestandteilen betont, die Zusammensetzung<br />
meist auf dem ersten Bestandteil, zum Beispiel:<br />
137
zwei engbefreundete / eng befreundete Frauen – die beiden Frauen sind eng<br />
befreundet / engbefreundet; zwei gleichlautende / gleich lautende Aussagen – beide<br />
Aussagen sind gleich lautend / gleichlautend; eine gutbezahlte / gut bezahlte Arbeit –<br />
die Arbeit wird gut bezahlt / gutbezahlt; der hochgebildete / hoch gebildete Mann –<br />
dieser Mann ist hochgebildet / hoch gebildet; weitreichende / weit reichende<br />
Änderungen – die Änderungen sind weit reichend / weitreichend<br />
Zu Fügungen mit Partizip als erstem Bestandteil siehe E2(2)<br />
(3): Lässt sich in einzelnen Fällen der Gruppen aus Adjektiv, Adverb oder Pronomen<br />
+ Adjektiv/Partizip keine klare Entscheidung für Getrennt- oder Zusammenschreibung<br />
treffen, so bleibt es den Schreibenden überlassen, ob sie sie als<br />
Wortgruppe oder als Zusammensetzung verstanden wissen wollen, zum Beispiel<br />
nicht öffentlich (Wortgruppe)/nichtöffentlich (Zusammensetzung).<br />
E2: In den Fällen, die nicht durch § 36(1) bis (7) sowie durch § 36 E1(1) und (2)<br />
geregelt sind sowie in Zweifelsfällen schreibt man getrennt.<br />
Dies betrifft<br />
(1) Fälle, bei denen das dem Partizip zugrunde liegende Verb vom ersten Bestandteil<br />
getrennt geschrieben wird, und zwar<br />
(1.1) entsprechend § 35, zum Beispiel:<br />
beisammen gewesen (wegen beisammen sein), zurück gewesen (wegen zurück<br />
sein)<br />
(1.2) entsprechend § 34E2: abhanden gekommen, auseinander gegangen,<br />
rückwärts blickend<br />
entsprechend § 34 E2(3): verloren gegangen; lebend gebärend<br />
In fachsprachlichen Bezeichnungen von zum Beispiel botanischen oder<br />
zoologischen Klassen können Partizipien auch zusammengeschrieben werden, zum<br />
Beispiel lebendgebärende Zahnkarpfen.<br />
entsprechend § 34 E2(4): liegen gelassen; <strong>schreiben</strong> lernend<br />
(2) Fälle, bei denen der erste Bestandteil ein (adjektivisches) Partizip ist, zum<br />
Beispiel:<br />
abschreckend hässlich, blendend weiß, gestochen scharf, kochend heiß, leuchtend<br />
rot, strahlend hell<br />
(3) Fälle, bei denen der erste Bestandteil erweitert ist, zum Beispiel:<br />
vor Freude strahlend, drei Meter hoch, sehr ernst gemeint<br />
Zur Schreibung mit Bindestrich in Fällen wie wissenschaftlich-technisch siehe §<br />
45(2).<br />
Kommentar:<br />
§ 36 ist in sonderbarer Weise umformuliert: „Substantive“ usw. „können als Wortbestandteile<br />
mit Adjektiven oder Partizipien Zusammensetzungen bilden.“ – Was sind<br />
„Wortbestandteile“ hier anderes als Kompositionsglieder? Dann läuft es aber auf die<br />
reine Tautologie hinaus, daß es sich eben um Zusammensetzungen handelt.<br />
Ebenso vage wie bisher bleibt der Begriff der „entsprechenden Wortgruppe“, womit<br />
offenbar eine Art Paraphrase gemeint ist, durch die man ein Kompositum erklären<br />
kann, ohne daß aber eine linguistisch definierbare Beziehung zwischen dem Kom-<br />
138
positum und seiner Paraphrase bestünde. Die Paraphrasen sind stets willkürlich und<br />
bleiben ebenso linkisch wie bisher. Erfreulicherweise wird der Fachausdruck<br />
schwerbehindert ebenso wie Hunderte von ähnlichen Zusammensetzungen<br />
wiederhergestellt, jedenfall ist die neue Regel § 36 E1 (2) in diesem Sinne<br />
interpretierbar. Da die Wörterbücher davon noch nichts wissen, enthalten sie allesamt<br />
hier empfindliche Lücken, die auch nicht durch den Hinweis verharmlost werden<br />
können, daß jemand, der bei der neuen Getrenntschreibung bleibt, auf jeden Fall auch<br />
richtig schreibe. 119<br />
Wenn man § 36 (4) in der Neufassung des Berichts liest, könnte man meinen,<br />
Steigerbarkeit eines Gesamtgefüges wie wohltuender, schwerwiegender, gewinnbringender<br />
sei Kriterium der Zusammengesetztheit und damit Zusammenschreibung,<br />
aber der Positiv werde im Sinne der Neuregelung getrennt geschrieben. Dies war<br />
bekanntlich eine der absurdesten Bestimmungen überhaupt. Die Folgerung, daß dem<br />
zusammengesetzten Komparativ und Superlativ auch ein zusammengesetzter Positiv<br />
gegenüberstehen muß, wird auch jetzt nicht ausdrücklich gezogen, ja der neue<br />
Unterparagraph verleugnet einen solchen Zusammenhang geradezu. Aber aus einer<br />
anderen neuen Bestimmung (§ 36 E1 [2]) geht hervor, daß nach dem neuen<br />
Betonungskriterium Zusammensetzungen wie gutbezahlt, weitreichend usw. ohnehin<br />
wieder zulässig sein sollen. Damit steht auch schwerwiegend usw. nichts mehr im<br />
Wege. Dutzende von guten Wörtern werden wiederhergestellt – als zumindest auch<br />
richtig. Das dürfte auch für heißgeliebt gelten, obwohl der Reformer Schaeder kurz<br />
zuvor erklärt hatte, warum es nicht zusammengeschrieben werden dürfe (s. o.).<br />
Überrascht nimmt man zur Kennntnis, daß ein Prunkstück der Reform, die als<br />
besonders „konsequent“ gerühmte obligatorische Getrenntschreibung bei Aufsehen<br />
erregend, Eisen verarbeitend, Fleisch fressend usw., zurückgenommen wird. Daß in<br />
einer „entsprechenden Wortgruppe“ das Substantiv hier keinen Artikel hat, gilt nun<br />
(mit Recht!) nicht mehr als hinreichender Grund für Getrenntschreibung. Dadurch<br />
werden zahllose inzwischen aus den Wörterbüchern getilgte Zusammensetzungen<br />
wieder möglich: energiesparend, ratsuchend, notleidend usw. Der Hinweis, in diesen<br />
Fällen sei sowohl Getrennt- als auch Zusammenschreibung möglich, soll offenbar die<br />
Wörterbuchmisere entschärfen, geht aber an den weiteren Einwänden vorbei, die<br />
(außer der gesamthaften Steigerbarkeit in einigen Fällen) gegen die obligatorische<br />
Auflösung der Komposita vorgetragen worden sind. Vor allem wird verkannt, daß der<br />
prädikative Gebrauch der getrennten Wortgefüge ungrammatisch ist: *der Kredit<br />
wurde Not leidend, *diese Waschmaschine ist Wasser sparend usw.<br />
Dasselbe gilt für die folgende Gruppe (2), deren Definition allerdings kaum verständlich<br />
ist. „Bedeutungsverändernde“ Adjektive und Adverbien sind möglicherweise<br />
ein Rest der „bedeutungsverstärkenden und bedeutungsmindernden“ Adjektive aus der<br />
Neuregelung und ebenso ungreifbar wie dort; jedenfalls kann diese Funktion und die<br />
im folgenden erwähnte, daß diese Adjektive und Adverbien „auch in getrennter<br />
Stellung das nachfolgende Wort modifizieren können“, kein unterscheidendes<br />
Merkmal sein, denn das Modifizieren ist schließlich die Wirkung der meisten Wörter<br />
und der Grund, warum wir sie überhaupt verwenden. Lassen wir diese Unklarheiten<br />
auf sich beruhen, so stoßen wir in der Liste der Beispiele zunächst auf denselben<br />
119 In der Neuauflage des Duden (2000) ist schwerbehindert ohne Wenn und Aber und<br />
Rotdruck wiederhergestellt.<br />
139
grammatischen Schnitzer wie in der vorhergehenden Gruppe: *beide Aussagen sind<br />
gleich lautend und *die Änderungen sind weit reichend.<br />
Womöglich noch ärger ist der reziproke Fehler beim Partizip II: die Arbeit wird<br />
gutbezahlt. Dies setzt eine Verbzusatzkonstruktion gutbezahlen voraus, mit der aber<br />
selbst die Neuregelung wohl kaum rechnen dürfte. Stilistisch markiert ist die ohne<br />
Kommentar angebotene Möglichkeit die beiden Frauen sind engbefreundet. Der<br />
Duden pflegte hier seit langem den Hinweis anzubringen, daß bei prädikativem<br />
Gebrauch Getrenntschreibung (und entsprechende Betonung) vorherrscht: die beiden<br />
Frauen sind eng befreundet. Ohne hier den Gründen nachzugehen, darf man sagen,<br />
daß die Dudendarstellung den Tatsachen gerecht wurde.<br />
Die Bestimmung, daß Partizipien nicht Erstglieder von Zusammensetzungen sein<br />
können, wird zwar beibehalten, so daß kochend heiß im Gegensatz zu lauwarm nur<br />
getrennt geschrieben werden darf. Aber bei lebendgebärend machen die Verfasser eine<br />
Ausnahme: „Fachsprachlich“ könne auch zusammengeschrieben werden.<br />
Einige Fehler (wird gutbezahlt usw.) erwecken den Eindruck, als sei dieser Paragraph<br />
unter dem Eindruck der Kritik in panikartiger Eile neugefaßt worden.<br />
„Zur Schreibung mit Bindestrich“<br />
Der Bindestrich wurde bisher dazu benutzt, Zusammensetzungen und Ableitungen mit<br />
Buchstaben und Formelzeichen gegen Fehllesungen zu schützen: I-Punkt (nicht<br />
Ipunkt), Fugen-s (nicht Fugens) usw.; bei Ziffern war das nicht nötig, daher 8fach,<br />
17jährig usw. – eine sehr einfache und geradezu elegante Lösung. Die Neuregelung<br />
hat hier aus bloßer Prinzipienreiterei den Gebrauch des Bindestrichs ausgeweitet,<br />
allerdings nur halbherzig, so daß er nur bei Zusammensetzungen, nicht aber bei Ableitungen<br />
stehen soll: 17-jährig, aber 8fach. Die Grenze zwischen Zusammensetzung und<br />
Ableitung ist aber notorisch fließend. Die Kritik hat eingewandt, daß -jährig in der Allgemeinsprache<br />
ebenso unselbständig ist wie -fach. Der Bericht schlägt daher vor, daß<br />
bei -fach künftig beide Schreibweisen zulässig sein sollen: 8fach oder 8-fach. Man<br />
sieht hier, wie sich die Kommission durch Erzeugung immer neuer Varianten aus der<br />
Affäre zieht, obwohl die dadurch zu bewältigende Unstimmigkeit in einer zuvor völlig<br />
klar und zufriedenstellend geregelten Angelegenheit überhaupt erst durch die<br />
Neuregelung erzeugt worden ist. Es bleibt übrigens bei der oft kritisierten<br />
Notwendigkeit, bei 17-jährig/die 17-Jährige usw. ständig auf die Groß- und<br />
Kleinschreibung des zweiten Bestandteils zu achten, was bei der Häufigkeit solcher<br />
Ausdrücke in der Zeitungssprache eine unnötige neue Schwierigkeit mit sich bringt.<br />
Abschließend sei darauf hingewiesen, daß für 8mal usw. keine fakultative Bindestrichschreibung<br />
vorgesehen ist, obwohl das Element -mal laut § 39(1) als nicht klar<br />
erkennbarer Bestandteil von einmal usw. angesehen und aus diesem Grunde zusammengeschrieben<br />
werden soll. (Allerdings scheint jedesmal zugunsten von jedes Mal<br />
getilgt werden zu sollen.)<br />
Beim Zusammentreffen von drei gleichen Buchstaben führen die Reformer wahre<br />
Eiertänze vor, um aus der selbstgeschaffenen Notlage wieder herauszukommen. Wörter<br />
wie genußsüchtig boten bisher keinerlei Schwierigkeiten. Durch die Neuregelung wird<br />
daraus genusssüchtig. Wegen der erschwerten Lesbarkeit und wohl auch wegen ästhetischer<br />
Bedenken schlägt die Neuregelung den Bindestrich vor, der allerdings hier mit<br />
Großschreibung des substantivischen Vorderglieds einhergeht (Genuss-süchtig). Dies<br />
140
wiederum wirkt, da es ja bloß um die Entzerrung der drei gleichen Buchstaben innerhalb<br />
eines nach wie vor adjektivischen Wortes geht, unangemessen, so daß nun die<br />
„Empfehlung“ gegeben wird, vom Bindestrich doch lieber keinen Gebrauch zu<br />
machen! Das sind die unerwünschten Folgen des vielgerühmten Wegfalls der alten<br />
Dreibuchstabenregel, die anscheinend gar nicht so dumm war – und übrigens auch<br />
keine praktischen Schwierigkeiten im normalen Schreiballtag verursachte. Der<br />
Hinweis der Kritik, daß drei gleiche Buchstaben, wenn sie in den Sprachen der Welt<br />
überhaupt vorkommen, jedenfalls eine Rarität sind und auch in der bisherigen<br />
deutschen Orthographie äußerst selten auftraten, wird nicht beachtet.<br />
Nach dem Doppelpunkt wird auch die Kleinschreibung in bestimmten Fällen wieder<br />
zugelassen, aber es gelingt den Verfassern nicht, diese Fälle angemessen abzugrenzen.<br />
Statt sich – mit welchen Ausdrücken auch immer – den eingebürgerten Begriff des<br />
„Freien Themas“ zu eigen zu machen, um<strong>schreiben</strong> sie den Sachverhalt in ganz<br />
unprofessioneller, geradezu kindlicher Weise:<br />
„Wenn statt des Doppelpunktes auch ein Komma oder ein Gedankenstrich stehen<br />
kann, ist am Beginn eines Satzes nach dem Doppelpunkt Groß- oder Kleinschreibung<br />
möglich.“<br />
Ist es denn so einfach zu erkennen, ob ein Komma oder ein Gedankenstrich stehen<br />
kann?<br />
Der letzte Beispielsatz ist kaum akzeptabel:<br />
„Glücklich betrachtete sie ihr Werk: Die/die Arbeit war vortrefflich gelungen.<br />
(Auch: Glücklich betrachtete sie ihr Werk, die Arbeit war vortrefflich gelungen.)“<br />
Falls hier ein Komma stehen kann, ist es gewiß nicht das Äquivalent eines<br />
Doppelpunkts, der typischerweise zwischen Thema und Kommentar steht.<br />
„Zur Groß- und Kleinschreibung“<br />
Bei der Groß- und Kleinschreibung legen die Verfasser wiederum besonderen Wert<br />
darauf, daß die neuen Wörterbücher „nicht unmittelbar geändert werden“ müssen.<br />
Dabei unterläuft ihnen allerdings ein schwerer Fehler. Sie behaupten nämlich, in<br />
„mehrteiligen Substantiven“ aus fremden Sprachen könne laut Regelwerk ein<br />
nichterster Bestandteil „theoretisch“ groß oder klein geschrieben werden, „je nachdem,<br />
wie stark der Charakter eines Zitatwortes noch empfunden wird, zum Beispiel: die<br />
Artificial intelligence / die Artificial Intelligence (...)“ Das ist jedoch falsch. Wenn es<br />
sich um ein Zitatwort handelt, wird auch der erste Bestandteil nicht groß geschrieben:<br />
artificial intelligence, common sense usw. Ist es aber kein Zitatwort, so wird laut<br />
Regelwerk nicht nur der erste Bestandteil, sondern jeder substantivische Bestandteil<br />
groß geschrieben: Artificial Intelligence, Alma Mater usw. Die Verfasser behaupten zu<br />
Unrecht, die Wörterbücher hätten sich „im Allgemeinen dafür entschieden,<br />
substantivische Bestandteile fremdsprachiger Fügungen in nichterster Position generell<br />
großzu<strong>schreiben</strong>“. Sie durften gar nicht anders. Varianten wie Alma mater waren daher<br />
auch im amtlichen Wörterverzeichnis korrekterweise nicht angeführt, die neue Großschreibung<br />
war vielmehr als allein zulässig vermerkt. Die neue Formulierung „können<br />
... großgeschrieben werden“ ist daher keineswegs, wie die Verfasser glauben machen<br />
wollen, eine Verdeutlichung der neuen Regel, sondern eine substantielle Änderung<br />
141
mit außerordentlich weitreichenden Folgen. Die neuen Wörterbücher wären hier<br />
nunmehr in großem Umfang lückenhaft.<br />
Die Beweisführung, warum Tageszeiten wie in heute Abend groß geschrieben werden<br />
sollen, ist sprachwissenschaftlich nicht zu halten. Zwar trifft es zu, daß dem Wort<br />
abend hier keine der herkömmlichen Wortarten problemlos zugewiesen werden kann,<br />
aber daraus folgt keineswegs, daß man „Rekurs auf das Lexikon“ nehmen müsse, als<br />
sei das „Lexikon“ eine neben dem Sprachgebrauch existierende Größe, bei der man<br />
sich über Wortartzugehörigkeiten wie über ewige, vom Gebrauch unabhängige<br />
Eigenschaften der Wörter vergewissern könnte. In einer früheren Schrift haben die<br />
Reformer so argumentiert: Abend sei kein Adjektiv (was allerdings auch niemand<br />
behauptet hatte), weil man nicht sagen könne: das abende Ereignis. Deshalb müsse es<br />
groß geschrieben werden. Diese lächerliche Beweisführung greifen sie zum Glück<br />
nicht wieder auf, aber die neue ist um keinen Deut besser. Der Reformer Peter<br />
Gallmann, der heute in der Kommission am entschiedensten für radikale<br />
Großschreibung plädiert, hat vor Jahren gezeigt, warum abend in heute abend kein<br />
Substantiv sein kann (Augst/Schaeder [Hg.]: Rechtschreibwörterbücher in der<br />
Diskussion, Frankfurt 1991, S. 270), und noch in der am weitesten verbreiteten<br />
Kurzfassung der Neuregelung sagt der Geschäftsführer der Kommission mit Recht,<br />
hier handele es sich um den „nichtsubstantivischen“ Gebrauch ursprünglicher<br />
Substantive. Das soll nun alles nicht mehr gelten, und die Verfasser vergessen zugleich,<br />
was sie sonst über „Desubstantivierung“ ins Regelwerk geschrieben haben. Sie<br />
hinterlassen einen Nebel gelehrt klingender Begriffe: „eine determinative Juxtaposition<br />
(...) die Tageszeitbezeichnung folgt dem Adverb als determinierender,<br />
nichtprojizierender Kern“, und anschließend führen sie Juxtapositionen zu Substantiven<br />
vor wie Universität Rostock, Bettenhaus West, Platz drei und Forelle blau vor,<br />
die hier nicht analysiert werden sollen, weil sie, bei großer Verschiedenheit untereinander,<br />
mit der Wortart von abend überhaupt nichts zu tun haben. Der abschließende<br />
Hinweis auf die sprachgeschichtliche Herkunft ist irrelevant, wie die Reformer sonst<br />
bei jeder Gelegenheit (zum Beispiel gleich beim folgenden leid tun) selbst<br />
hervorheben.<br />
Bei den Neuschreibungen Leid tun, Not tun, Pleite gehen, Feind sein kommen die Reformer<br />
den Kritikern auf halbem Weg entgegen, indem sie für die erwähnten Fälle<br />
auch Kleinschreibung wiederzulassen. Das wird aber dem Problem nicht gerecht. Für<br />
leid tun ergibt sich ja die obligatorische Kleinschreibung zwingend aus so leid es mir<br />
tut usw. Bei pleite gehen ist Kleinschreibung das einzig Richtige, weil gehen nicht mit<br />
Substantiven verbunden wird: kaputtgehen, verschütt gehen, verlorengehen, entzwei<br />
gehen usw. (die Zusammenschreibung ist hier unterschiedlich geregelt und der<br />
tatsächliche Usus wieder ein wenig anders) – eine Reihenbildung, die auch zur<br />
Wiederzulassung von bankrott gehen führen müßte, aber hier scheinen die Reformer<br />
bei der absurden Neuschreibung Bankrott gehen bleiben zu wollen, weil sie es aus in<br />
den Bankrott gehen ableiten zu müssen glauben. – Gar nicht behandelt wird die<br />
ungrammatische Großschreibung von Recht haben.<br />
Der vielbelachte „Spinnefeind“ war der Anlaß, die Kleinschreibung für spinnefeind<br />
wiedereinzuführen und bei feind sein als Option zuzulassen. Das ist unbefriedigend,<br />
weil feind sein nun einmal nicht dasselbe wie Feind sein bedeutet. Außerdem haben die<br />
Verfasser aber für die Neuschreibung Freund sein keinen Änderungsbedarf erkennen<br />
können.<br />
142
Die Großschreibung von Substantivierungen in Floskeln wie im Allgemeinen, nicht im<br />
Geringsten usw. sowie im pronominalen Verweisapparat (der erste, das folgende usw.)<br />
ist von der Kritik als Rückfall in die vorübergehende Ausweitung der Großschreibung<br />
vor allem im 19. Jahrhundert kritisiert worden. Dieser Irrweg veranlaßte zum Beispiel<br />
Horst H. Munske zu frühzeitig vorgetragener, außerordentlich detailliert begründeter<br />
Kritik. Sie läuft auf ein der wirklichen Sprachentwicklung angemessenes Umdenken<br />
bei der Groß- und Kleinschreibung hinaus. Es muß daher als gezielte Brüskierung des<br />
ehemaligen Mitgliedes der Kommission angesehen werden, wenn es im Bericht heißt:<br />
„Die Intensität der Kritik und auch die linguistische Motivation dafür sind aber nicht<br />
so stark, dass eine solche Änderung notwendig wäre.“ In Wirklichkeit stellt sich die<br />
Neuregelung gegen eine oft nachgewiesene überwältigende Entwicklungstendenz des<br />
Deutschen, und wenige Kritikpunkte sind linguistisch so stark motiviert wie der<br />
Einspruch gegen die Neuregelung gerade dieses Bereichs.<br />
Die vorgeschlagene Umformulierung von § 58 (5) E4 bringt keinerlei Gewinn: „Wenn<br />
die substantivische Geltung dieser Wörter hervorgehoben werden soll (...)“ – „Die<br />
substantivische Geltung hervorzuheben“ ist gar nichts vom Schreibenden<br />
Intendierbares, da dessen kommunikative Absichten normalerweise auf den Sinn und<br />
nicht auf die Wortartendifferenzierung gerichtet sind. Die Umformulierung hat<br />
offenbar nur den Zweck, dem Wunsch einiger Kommissionsmitglieder nach noch<br />
weiter ausgedehnter Großschreibung entgegenzukommen. Die deutsche Rechtschreibung<br />
würde damit freilich noch tiefer ins 19. Jahrhundert zurückgeführt werden.<br />
Auch bei der forcierten Kleinschreibung der sogenannten Nominationsstereotype<br />
(erste Hilfe, hohes Haus) sehen die Reformer keinen Änderungsbedarf. Das ist<br />
befremdlich, weil nicht nur die Kritik hier besonders einhellig auf Rückkehr zum alten<br />
Zustand dringt, sondern von den Reformern selbst unumwunden zugegeben wird, daß<br />
sie mit ihrer Neuregelung gegen die „deutliche Tendenz zur Großschreibung der<br />
Eingangsadjektive in terminologischen und phraseologischen nominalen<br />
Wortverbindungen“ angehen wollen. Mit welchem Recht? Verbindungen wie<br />
schwarzes Brett usw. seien „normale Wortgruppen aus Adjektiv und Substantiv“. Daß<br />
sie so „normal“ nicht sind, belegt aber die Überschrift: „feste nominale Wortgruppen<br />
terminologischer und phraseologischer Art“! In ihrer „Analyse“ fassen die Autoren<br />
übrigens eine „großzügige Interpretation“ ins Auge und führen ausdrücklich das Hohe<br />
Haus als Beispiel an, obwohl im Wörterverzeichnis just hierfür Kleinschreibung<br />
zwingend vorgeschrieben ist, so daß es da überhaupt nichts mehr zu interpretieren gibt.<br />
Auch ist nicht zu erkennen, nach welchem Paragraphen die Großschreibung sich<br />
allenfalls rechtfertigen ließe. Wie die Verfasser trotz dieser Neuerung behaupten<br />
können, es sei „keine Änderung der Neuregelung erforderlich“, bleibt rätselhaft.<br />
„Zur Worttrennung am Zeilenende“<br />
Bei der Silbentrennung sind offenbar ausgedehnte Verhandlungen mit den Wörterbuchverlagen<br />
geführt worden, nicht aber mit den Software-Herstellern, die es am meisten<br />
betrifft. Denn beinahe alle wichtigen Texte werden heute auf dem Computer<br />
geschrieben, und es gibt längst Trennprogramme, die zufriedenstellend arbeiten. Die<br />
ungeheure Menge von Trennstellen, die sich aus der Neuregelung ergibt, kann zwar<br />
durch Geschmack und Verstand <strong>schreiben</strong>der Menschen auf ein <strong>vernünftig</strong>es Maß<br />
reduziert werden. Genau hier liegt aber das Problem für die automatische<br />
Silbentrennung. Wenn nun, wie beabsichtigt, die Menge der Trennstellen nicht<br />
reduziert, sondern im Gegenteil nach Absprache mit den Wörterbuchverlagen<br />
143
unverkürzt in die Wörterbücher aufgenommen werden soll, kann der Schreiber, der<br />
nicht jede Verunzierung seiner Texte zulassen will, mit den Trennprogrammen um so<br />
weniger arbeiten, je getreuer sie die Neuregelung umsetzen.<br />
Überraschenderweise soll die Trennregel für das „stumme“ (d. h. silbentrennende) h<br />
auch auf das stumme w ausgedehnt werden, so daß nicht mehr wie bisher Teltow-er<br />
(Rübchen) getrennt wird, sondern Telto-wer. 120 Ebenso überraschend ist das Argument,<br />
für eine solche Trennung spreche auch, daß manche Menschen h und w<br />
„(hyperkorrekt) tatsächlich sprechen“. Im Vorwort zur Neuregelung (2.1) heißt es ja<br />
ebenso wie nun im Bericht, daß das Regelwerk sich an der Standardaussprache<br />
orientiere. Hyperkorrekte, also falsche Aussprache nach der Schrift, wie man sie bei<br />
Unwissenden findet, ist folglich ohne jede Bedeutung. „Analog“ sei auch bei<br />
Fremdwörtern zu verfahren: Po-wer, To-wer usw. – lauter neuartige Trennungen, die<br />
besonders widersinnig erscheinen, denn hier geht es ja gar nicht um „stumme<br />
Konsonantenbuchstaben“ (ebd.) im gleichen Sinne wie beim silbentrennenden h,<br />
sondern um Bestandteile der Schreibung des Diphthongs. Die bisherige Trennung<br />
Pow-er, Tow-er usw. war also durchaus sinnvoll. Man trennt eben engl. Show-er<br />
ebenso wie dt. Schau-er. Gleichwohl erfährt man: „Der Duden hat zugesagt, diese<br />
Trennung auch beim ,stummen‘ w zu übernehmen.“ Nur der Duden? Bertelsmann hat<br />
Po-wer, aber Tow-er und folglich ebenfalls etwas nachzuholen im Sinne der<br />
Verschlimmbesserung. Die „Entscheidung der Kommission“ lautet: „Die Fallgruppe<br />
muss im amtlichen Regelwerk nicht explizit geregelt werden. Die Kommission<br />
empfiehlt die Aufnahme des Beispiels Telto-wer in § 108.“ Aber selbst damit ist die<br />
neuartige Trennung von Power usw. noch nicht gesichert; denn die meisten Benutzer<br />
dürften die angeführte „Analogie“ nicht nachvollziehen können. Es läuft also auf eine<br />
Reihe neuer Einzeleinträge nach Absprache mit den Wörterbüchern hinaus – kein<br />
sehr durchsichtiges Verfahren. 121<br />
Nicht von ungefähr zeigen die Verfasser bei der Erörterung der Fremdworttrennung<br />
eine auffallende Unschlüssigkeit, die sich in rhetorischen Fragen äußert. Deshalb sei<br />
mit einer Gegenfrage geantwortet: Glauben die Verfasser im Ernst, daß jemand, der so<br />
gelehrte Wörter wie inkrementell verwendet, das Element in- nicht zu erkennen vermag<br />
und daher versucht sein könnte, ink-rementell zu trennen? Der Widersinn besteht darin,<br />
daß der Schreibende sich bei behände, Stängel, Wechte und Ständelwurz (!) als<br />
ausgekochter Etymologe bewähren soll, während er vor exaltiert, Hämoglobin und<br />
Demokratie als reiner Tor steht und daher mit Trennungen wie e-xaltiert, Hämog-lobin<br />
und Demok-ratie beschenkt werden muß. Mehr denn je wird die neue Silbentrennung<br />
den Bildungsgrad des Schreibenden erkennen lassen – was doch gerade vermieden<br />
werden sollte. Bedenken dieser Art tun die Verfasser mit der flapsigen Bemerkung ab,<br />
morphologisch falsche Trennungen nach dem Lautprinzip seien „kein Unglück“. Das<br />
zeigt noch einmal den Unernst des ganzen Unternehmens.<br />
Bemerkenswert ist immerhin, daß die Kommission mit den Wörterbuchverlagen<br />
aushandelt, die „Variantenführung in den verschiedenen Wörterbüchern gleich oder<br />
zumindest ähnlich“ zu handhaben. „Die Vertreter der Wörterbuchredaktionen haben<br />
120 Dieser Vorschlag geht sicher auf Gallmann zurück, der schon 1985 Telto-wer Rübchen<br />
trennen wollte, wobei vielleicht seine schweizerdeutsche Unvertrautheit mit diesem<br />
Gemüse eine Rolle spielte.<br />
121 Wie sehr diese Befürchtung sich bestätigte, wird unten an der zweiten Auflage des Duden<br />
gezeigt.<br />
144
zugesagt, ihre Bemühungen untereinander und mit der Kommission zu koordinieren.“<br />
Ist ein solches Kartell besser als die vielgescholtene Alleinherrschaft der<br />
Dudenredaktion? Nebenbei erreicht die Kommission durch eine solche, auf privater<br />
Absprache mit ausgewählten Wörterbuchverlagen beruhende Sonder-Rechtschreibung<br />
unterhalb der amtlichen Norm, daß selbst solche Schreibweisen, die es auf reguläre<br />
Weise nicht zu Hauptvarianten gebracht haben, doch noch zum neuen Standard<br />
werden.<br />
Angesichts der Breite und Heftigkeit der Kritik, mit der die Bevölkerung gerade auf<br />
die Neuregelung der Silbentrennung reagiert hat, überrascht die Leugnung jeglichen<br />
Änderungsbedarfs. Zur gänzlich überflüssigen und störenden Abtrennung einzelner<br />
Vokalbuchstaben fällt den Reformern weiterhin nichts anderes ein als der schnodderige<br />
Bescheid: „Jeder kann eine Trennung unterlassen, wenn sie ihm nicht zusagt (zum<br />
Beispiel Abtrennung eines Vokals: A-bend).“ (S. 45) Natürlich kann „jeder<br />
Einzelschreiber, aber auch jedes Kollektiv“ (hier wird der Einfluß der DDR-<br />
Orthographen erkennbar) „für sich Einschränkungen formulieren, zum Beispiel:<br />
Trenne nie einen einzelnen Vokal ab“ – aber das wird dem Problem nicht gerecht, das,<br />
wie gesagt, heute im wesentlichen ein Problem der Software-Herstellung ist. Diese<br />
Tatsache läßt es auch ratsam erscheinen, die überdimensionierten Ausführungen über<br />
die Worttrennung am Zeilenende nicht allzu ernst zu nehmen, weil sich<br />
höchstwahrscheinlich von der technischen Seite her bald eine Rückkehr zur Vernunft<br />
anbahnen wird.<br />
Der Bericht enthält kein Literaturverzeichnis. Die Verfasser versichern, „alle<br />
konstruktive inhaltliche Kritik ernsthaft geprüft“ zu haben, „vor allem soweit sie in<br />
Büchern und Aufsätzen veröffentlicht ist.“ Namentlich erwähnt werden nur ein von<br />
den Reformern selbst herausgegebener Sammelband und der von Eroms/Munske. Die<br />
Reformer gehen aber nur auf wenige Kritikpunkte ein, so daß sich nicht feststellen<br />
läßt, welche Einwände sie für unbegründet halten und welche sie gar nicht zur<br />
Kenntnis genommen haben.<br />
Wie es weiterging<br />
Schon wenige Tage nach der Anhörung muß die Kommission die endgültige Fassung<br />
ihres Berichts fertiggestellt haben, denn bereits am 4. Februar beschäftigte sich in<br />
Mainz eine Fachkonferenz der Kultusministerien damit. Teilnehmer dieser Konferenz<br />
waren u. a. die Ministerialbeamten Besch, Krimm, Lipowski, Niehl, Pohle sowie die<br />
Reformer Augst und Gallmann.<br />
Die endgültige Fassung des Berichts ist auf „Januar 1998“ datiert. Der folgende<br />
Nachtrag unterzieht die Endfassung einem Vergleich mit der Entwurfsfassung:<br />
Die Veränderungen gegenüber dem Entwurf sind überwiegend geringfügig, teils sogar<br />
nur redaktioneller Art. Anstelle der „Entscheidungen der Kommission“ findet man z.<br />
B. nun durchgehend „Vorschläge“.<br />
In der Einleitung ist der Satz gestrichen: „Die Kommission hat also zu Recht die<br />
Aufgabe, die weitere Entwicklung zu verfolgen und entsprechend zu handeln.“<br />
Das Beispiel verbleuen/verbläuen ist durch Tolpatsch/Tollpatsch ersetzt.<br />
145
Die Behauptung: „Stattdessen stellt der heutige Sprachteilnehmer Tollpatsch zu toll“<br />
ist abgeschwächt zu: „Stattdessen liegt es nahe, Tollpatsch zu toll zu stellen.“<br />
Die Liste der Verbzusätze ist in folgender Weise verändert:<br />
Dez. 1997:<br />
ab- (Beispiele: abändern, abbauen, abbeißen, abbestellen, abbiegen), an-, auf-<br />
, aus-, bei-, da-, dar-, d(a)ran-, d(a)rein-, da(r)nieder-, davon-, drauf-, drauflos-,<br />
drin-, durch-, ein-, einher-, empor-, entgegen-, entlang-, entzwei-, fort-, gegen-,<br />
her-, herab-, heran-, herauf-, heraus-, herbei-, herein-, hernieder-, herüber-,<br />
herum-, herunter-, hervor-, herzu-, hin-, hinab-, hinan-, hinauf-, hinaus-,<br />
hindurch-, hinein-, hintan-, hinüber-, hinweg-, hinzu-, los-, nach-, nieder-, über-,<br />
überein-, um-, umher-, umhin-, unter-, vor-, voran-, vorauf-, voraus-, vorbei-,<br />
vorher-, vorüber-, vorweg-, weg-, wider-, zurück-, zuvor-, zuwider-, zwischen-<br />
Januar 1998:<br />
ab- (Beispiele: abändern, abbauen, abbeißen, abbestellen, abbiegen), an-, auf,<br />
aus-, bei-, beisammen-, da-, dabei-, dafür-, dagegen-, daher-, dahin-,<br />
dahinter-, daneben-, danieder-, dar-, daran-, darauf-, darein-, darin-, darnieder-,<br />
darüber-, darum-, davon-, davor-, dawider-, dazu-, dazwischen-, dran-, drauf-,<br />
drauflos-, drein-, drin-, durch-, ein-, einher-, empor-, entgegen-, entlang-,<br />
entzwei-, fort-, gegen-, gegenüber-, her-, herab-, heran-, herauf-, heraus-,<br />
herbei-, herein-, hernieder-, herüber-, herum-, herunter-, hervor-, herzu-, hin-,<br />
hinab-, hinan-, hinauf-, hinaus-, hindurch-, hinein-, hintan-, hintenüber-,<br />
hinterher-, hinüber-, hinunter-, hinweg-, hinzu-, inne-, los-, mit-, nach-, nieder-,<br />
über-, überein-, um-, umher-, umhin-, unter-, vor-, voran-, vorauf-, voraus-,<br />
vorbei-, vorher-, vornüber-, vorüber-, vorweg-, weg-, weiter-, wider-, wieder-, zu-<br />
, zurecht-, zurück-, zusammen-, zuvor-, zuwider-, zwischen-<br />
Die unterstrichenen Wörter sind im Entwurf vom Dezember 1997 weder in der VZ-<br />
Liste noch unter den Beispielen aus § 34 E1 (1) enthalten, die – wie von mir angeregt –<br />
vollständig in die neue Liste übernommen worden ist. Inne ist aus § 34(2) des<br />
Entwurfs in die Liste überführt worden, offenbar weil es, wie ich kritisiert hatte, kein<br />
Adjektiv ist. Die Sonderliste E1 ist in der Endfassung insofern verändert, als darein<br />
und hinüber hinzugekommen sind, zu dagegen weggefallen ist.<br />
§ 34 [E1] (2) ist verändert. Es heißt jetzt zum zweiten Punkt: „Wenn nur der erste<br />
Bestandteil betont und häufig auch steigerbar ist“ ... – Dabei ist aber nicht klar, welche<br />
Rolle das neu hinzugekommene Kriterium „häufig (!) auch steigerbar“ eigentlich<br />
spielen soll.<br />
Unter § 34 E2 (2) heißt es statt „Adverb + Verb“ jetzt „(zusammengesetztes) Adverb +<br />
Verb“ – also wieder wie in der ursprünglichen Neuregelung.<br />
Der grobe Schnitzer die Arbeit wird gutbezahlt ist korrigiert zu ist gutbezahlt. Der<br />
ebenso schwere Fehler beide Aussagen sind gleich lautend ist dagegen<br />
stehengeblieben, weil die Kommission als ganze nicht einsieht, was ihre Mitglieder<br />
Gallmann und Sitta längst mit hinreichender Klarheit dargestellt haben.<br />
Bei der Bindestrichschreibung wollte der Entwurf eine Erläuterung hinzufügen, in der<br />
empfohlen werden sollte, bei fetttriefend, schusssicher usw. von der Bindestrich-<br />
146
schreibung abzusehen. Dieser Vorschlag ist aufgegeben worden, vielleicht weil es nach<br />
einer Regeländerung ausgesehen hätte. Die Empfehlung bleibt aber bestehen, ohne daß<br />
nun ihr Rang und die Form ihrer Verankerung im Regelwerk näher präzisiert würde.<br />
Bei der „Großschreibung substantivischer Bestandteile im Innern mehrteiliger<br />
Fügungen aus fremden Sprachen“ wird zunächst der Satz eingefügt: „Hierzu bedarf<br />
vor allem die Möglichkeit der Schreibung als Zitatwort einer näheren Erläuterung.“ Im<br />
Folgenden wird dann der Vorwurf an die Wörterbücher, sie hätten die Regel<br />
eigenmächtig zugunsten der Großschreibung ausgelegt, nicht mehr aufrechterhalten.<br />
Statt dessen wird der Begriff des „partiellen Zitatwortes“ eingeführt, der im Regelwerk<br />
keine Grundlage hat. In Wirklichkeit beschreibt die neue „Analyse“ den bisher<br />
üblichen Schreibbrauch: Black box, Captatio benevolentiae usw., und der Kommentar<br />
„Es handelt sich hier gewissermaßen um partielle Zitatwörter“ trifft ausschließlich auf<br />
die bisherige Norm zu. Die Verfasser behaupten jedoch irrigerweise:<br />
„Mit der Neuregelung wird die Möglichkeit der Eingliederung solcher Fügungen<br />
in die deutsche Sprache durch die Anpassung an die orthographische Regelung<br />
der Substantivgroßschreibung deutlich ausgebaut. Daneben besteht aber natürlich<br />
(!) weiterhin die Möglichkeit der Schreibung als Zitatwort oder partielles<br />
Zitatwort.“<br />
Die Möglichkeit des „partiellen Zitatwortes“ besteht nach der Neuregelung<br />
keineswegs! Diese kennt vielmehr nur das Zitatwort und das eingedeutschte Wort.<br />
[Nachtrag: So sieht es auch das Bundesverfassungsgericht (s. u.).]<br />
Zur Zeichensetzung wird angekündigt: „Im Wesentlichen wird es um eine<br />
Interpretation der stilistischen Freiräume gehen, die die Paragraphen 76 bis 78<br />
einräumen.“ Es bleibt bei der falschen Behauptung, daß „die Neuregelung der Zeichensetzung<br />
fast ausschließlich nur neue Freiräume schafft“. In diesem „fast“ stecken<br />
bekanntlich die beiden neuen obligatorischen Kommas nach Vorgreifer-s und nach<br />
wörtlicher Rede, die sehr große neue Schwierigkeiten verursachen.<br />
Der Vorschlag zweier neuer Erläuterungen zu § 107 ist gestrichen, doch bleibt die<br />
Andeutung, daß ein Kommentar für nötig gehalten wird.<br />
Die Zeile zur Trennung von Po-wer, To-wer, Intervie-wer ist gestrichen. Der Satz „Die<br />
Kommission empfiehlt die Aufnahme des Beispiels Telto-wer in § 108“ ist<br />
gestrichen. 122<br />
Die „Entscheidung“, in § 112 die Beispiele ano-nym / an-onym, Res-pekt / Re-spekt,<br />
Ini-tial / In-itial aufzunehmen, ist ersetzt durch den allgemein gehaltenen Vorschlag,<br />
weitere Beispiele aufzunehmen.<br />
Soweit der ergänzende (hier gekürzte) Kommentar, der u. a. der Kommission und dem<br />
Sekretariat der KMK zugeleitet wurde. Die weitere Entwicklung verlief<br />
überraschend 123 .<br />
Die Amtschefskonferenz der Kultusministerien usw. beriet am 6. Februar 1998 unter<br />
Vorsitz von Staatsekretär Besch (NRW) und Ministerialdirektor Hoderlein (Bayern)<br />
über die Änderungsvorschläge und empfahl anschließend den Kultusministern, die<br />
122 Zwei Jahre später wird dies dennoch zur einzig zugelassenen Trennung werden.<br />
123 Natürlich nur für Außenstehende. Es ist anzunehmen, daß der Kommissionsvorsitzende<br />
und seine engsten Verbündeten von Anfang an wußten, wie ihre Alibiveranstaltung<br />
„Bericht + Anhörung“ ausgehen würde.<br />
147
Korrekturvorschläge der Kommission nicht zu übernehmen, sondern die unkorrigierte<br />
Neuregelung von 1996 am 1. August 1998 in Kraft treten zu lassen. Treibende Kraft<br />
war dem Vernehmen nach das Bundesinnenministerium, vertreten durch Ministerialrätin<br />
Dr. Palmen-Schrübbers (dies bestätigte ein Mitglied der SPD im Rechtsausschuß<br />
des Bundestages in einem Telefongespräch am 24.2.1998). Den Beratungen lag ein<br />
Papier zugrunde, das am 4.2.1998 von den Fachbeamten der Kultusministerien<br />
(Krimm, Lipowski, Niehl, Besch u. a.) sowie Augst und Gallmann in Mainz 124 erarbeitet<br />
worden war.<br />
Die Kultusminister selbst beschlossen bei ihrer Jubiläums-Plenarsitzung am 26./27. 2.<br />
1998, sich dem Rat der Amtschefs anzuschließen. In der KMK-Pressemitteilung heißt<br />
es, die Neuregelung halte einer kritischen Überprüfung bzw. kritischen Einwendungen<br />
stand. Sie hält nach Ansicht der Politiker also auch der Kritik durch die Kommission<br />
stand, die überwiegend mit den Verfassern der Neuregelung selbst besetzt ist. Übrigens<br />
hatte die Kommission ihre Änderungsvorschläge einstimmig gefaßt (Mitteilung eines<br />
Mitglieds).<br />
Das Kommissionsmitglied Eisenberg sprach daraufhin im „Focus“ (8/1998) von<br />
Rücktrittsabsichten, Kommissionsmitglied Blüml fühlte sich ohnehin „verheizt“ (so<br />
schon im „Standard“ vom 31.1.1998). Anläßlich einer vorgezogenen Sitzung der<br />
Kommission am 13.3.1998 trat Eisenberg tatsächlich zurück; er begründete seinen<br />
Schritt ausführlich in der F.A.Z. vom 18.3.1998.<br />
Die Pressemitteilung der KMK vom 12.2.1998 hat folgenden Wortlaut:<br />
Amtschefskommission rät:<br />
Regelwerk für die neue Rechtschreibung nicht ändern<br />
Nach dem einvernehmlichen Ergebnis einer Beratung der Amtschefskommission der<br />
KMK zur neuen Rechtschreibung gemeinsam mit Vertretern aus Österreich der<br />
Schweiz und Liechtenstein sowie dem Bundesministerium des Innern soll das neue<br />
Regelwerk derzeit nicht geändert werden, weil es einer kritischen Überprüfung<br />
standhält.<br />
Die Amtschefskommission hat Vorschläge einer internationalen Wissenschaftlerkommission<br />
beraten, die das Regelwerk im Auftrag der KMK kritisch überprüft hatte.<br />
Die Präsidentin der KMK, Ministerin Anke Brunn (Nordrhein-Westfalen), hat ihre<br />
Kolleginnen und Kollegen in der KMK über das Ergebnis der Beratungen informiert.<br />
Der Wortlaut des in der Amtschefskommission zusammen mit Österreich,<br />
Liechtenstein und der Schweiz erzielten Beratungsergebnisses ist zu Ihrer<br />
Information beigefügt.<br />
Keine Änderung der beschlossenen Regeln zum jetzigen Zeitpunkt<br />
124 Das rheinland-pfälzische Kultusministerium war schon immer eine treibende Kraft bei<br />
der Rechtschreibreform gewesen. Der führende Reformer Augst konnte der<br />
Unterstützung durch Ministerialrätin Helene Lipowski jederzeit sicher sein.<br />
148
Vertreter Österreichs, des Fürstentums Liechtenstein, der Schweiz, des Bundesministers<br />
des Innern und der Kultusministerkonferenz haben am 06.02.1998 unter<br />
Vorsitz von Staatssekretär Dr. Besch (NRW) und Ministerialdirektor Hoderlein<br />
(Bayern) den „Bericht der Zwischenstaatlichen Kommission für die deutsche<br />
Rechtschreibung“ beraten.<br />
Die Beratungen führten zu folgendem einvernehmlichen Ergebnis:<br />
• Die Kommission erfüllt ihre Aufgaben im Zusammenhang mit der Einführung der<br />
Neuregelung mit großer Sorgfalt. Sie hat sich mit der Kritik am Regelwerk<br />
gründlich auseinandergesetzt. Ihre Erläuterungen zur einheitlichen Auslegung<br />
und Anwendung des neuen Regelwerks sind sehr hilfreich; dies gilt insbesondere<br />
für die Kommentare, die dazu dienen, die dem Regelwerk zugrunde liegenden<br />
Prinzipien einer breiteren Öffentlichkeit verständlich zu machen. Nachdrücklich<br />
begrüßt werden die Absprachen der Kommission mit den einschlägigen<br />
Wörterbuchverlagen, bei denen u.a. eine stärkere Vereinheitlichung der<br />
Wörterbucheinträge besprochen wurde.<br />
• Die Beratungen der Kommission haben ergeben, dass das neue Regelwerk den<br />
kritischen Einwendungen standhält. Sie erachtet in Übereinstimmung mit der weit<br />
überwiegenden Mehrheit der an der Anhörung vom 23.01.1998 beteiligten<br />
Verbände und Institutionen die Neuregelung vom 01.12.1995 für wesentlich<br />
besser als die vorherige. Nach dieser Anhörung schlägt die Kommission nur noch<br />
drei Änderungen vor:<br />
a) Eine Neufassung von zwei Paragrafen zur Getrennt- und Zusammenschreibung<br />
(§ 34 bei Zusammensetzungen mit Verben; § 36 bei<br />
Zusammensetzungen mit Adjektiven und Partizipien). Im Kern schlägt sie vor,<br />
als zusätzliches Kriterium für Getrennt- und Zusammenschreibung neben<br />
„Erweiterbarkeit“ und „Steigerbarkeit“ die „Betonung“ aufzunehmen.<br />
Der Änderungsvorschlag der Kommission stellt einen Kompromissversuch dar,<br />
der einen Teil der jetzt diskutierten Streitfälle lösen, andererseits aber zu durch<br />
Bedeutungsunterschiede nicht gerechtfertigten Varianten führen und dadurch<br />
möglicherweise neue Unsicherheiten schaffen würde.<br />
Das liegt daran, dass die Getrennt- und Zusammenschreibung einer der<br />
schwierigsten Bereiche der deutschen Rechtschreibung ist. Im Regelwerk von<br />
1901 wurde daher auf ihre Normierung sogar ganz verzichtet.<br />
In der Schreibwirklichkeit dagegen hat die Getrennt- und Zusammenschreibung<br />
nur eine geringe Bedeutung; die Schulen kommen mit der Neuregelung gut<br />
zurecht.<br />
Bei der Anhörung durch die Kommission wurde deutlich, dass die schärfsten<br />
Kritiker der Rechtschreibreform in dem jetzt unterbreiteten<br />
Kommissionsvorschlag keine Kompromisslinie sehen.<br />
Die Mehrzahl der Fachleute aus Schulen und Wörterbuchredaktionen hat vor<br />
übereilten Änderungen der Neuregelung gewarnt. („Die Zusammen- und<br />
Getrenntschreibung ist so komplex, dass die Dudenredaktion davor warnt, auf<br />
die Schnelle Regeln zu ändern oder zu modifizieren.“) Dem sollte gefolgt<br />
werden. Allerdings ist es notwendig, den Bereich der Getrennt- und<br />
Zusammenschreibung in den kommenden Jahren sorgfältig zu beobachten. Ob<br />
149
und welche Änderungen sinnvoll sind, kann rechtzeitig vor Ende der<br />
Übergangszeit (im Jahr 2005) entschieden werden.<br />
b) Die zweite von der Kommission vorgeschlagene Änderung betrifft die Regel,<br />
nach einem Doppelpunkt das erste Wort eines Ganzsatzes großzu<strong>schreiben</strong> (§<br />
54). Die vorgeschlagene Änderung hat jedoch so marginale Bedeutung, dass<br />
sie keine förmliche Änderung des Regelwerks rechtfertigt. Das Problem ist im<br />
übrigen bereits an anderer Stelle des Regelwerks hinreichend deutlich gelöst (§<br />
81).<br />
c) Die Kommission schlägt drittens vor, bei einigen Wörtern Schreibvarianten<br />
zuzulassen (z. B. Quäntchen / Quentchen, Tollpatsch / Tolpatsch, belämmert /<br />
belämmert, einbläuen / einbleuen, Pleite gehen / pleite gehen). Dieser<br />
Vorschlag betrifft nur einige wenige selten geschriebene Wörter. Eine förmliche<br />
Änderung des Regelwerks in diesem Punkt ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt<br />
schon deswegen entbehrlich, weil die meisten dieser Variantenschreibungen<br />
bis zum Ende der Übergangszeit ohnehin möglich sind.<br />
3. Sofortige Änderungen des Regelwerks sind aus den dargestellten Gründen nicht<br />
erforderlich. Von daher steht dem allgemeinen Inkrafttreten des beschlossenen<br />
Regelwerks am 1. August 1998 in Schule und Verwaltung nichts entgegen; einer<br />
erneuten Beschlussfassung bedarf es nicht. Dies ist auch die nachdrücklich<br />
vorgetragene Auffassung der Vertreter Österreichs, des Fürstentum Liechtensteins<br />
und der Schweiz.<br />
Die gründliche Auseinandersetzung mit der Kritik an der Neuregelung hat deutlich<br />
gemacht, dass das beschlossene Regelwerk besser durchdacht und solider<br />
gearbeitet ist, als das in der öffentlichen Diskussion oft dargestellt wird. Tausende<br />
von Schulbüchern, aber auch Presseorgane, die die neue Schreibung anwenden<br />
und ohne die geringsten Probleme gelesen werden, sind der Beweis dafür, dass<br />
die Neuregelung praktikabel ist.<br />
4. Die Kommission wird gebeten, die Klärung von Zweifelsfällen fortzuführen und die<br />
Umsetzung der Neuregelung weiterhin zu beobachten.<br />
Sie wird ermuntert, die Ergebnisse ihrer Beratungen in einem Kommentar zusammenzufassen<br />
und der interessierten Öffentlichkeit zugänglich zu machen.<br />
5. Die Vertreter der deutschsprachigen Länder sind der Auffassung, dass die Arbeit<br />
der Kommission in Zukunft durch einen Beirat begleitet werden sollte, in dem z. B.<br />
Schriftsteller, Journalisten, Publizisten u. ä. vertreten sein könnten.<br />
Das Sekretariat der KMK wird gebeten, mit den Partnern der Wiener<br />
Absichtserklärung vom 01.07.1996 in dieser Frage Kontakt aufzunehmen und der<br />
Kultusministerkonferenz zu gegebener Zeit einen Entscheidungsvorschlag<br />
vorzulegen. 125<br />
125 Heinz-Peter Meidinger, der in Mannheim den Deutschen Philologenverband vertrat,<br />
behauptete später: „Der Kompromissvorschlag scheiterte an der juristischen Drohung der<br />
Totalgegner, die durch eine vorzeitige Änderung die sachliche Grundlage der Wiener<br />
Absichtserklärung in Frage gestellt sahen, – und der daraus folgenden Abwehrreaktion<br />
der Kultusminister.“ (Das Gymnasium in Bayern 8/9/2000, S. 44) – Das ist völlig aus der<br />
Luft gegriffen, es dient nur dazu, den Kritikern die Schuld in die Schuhe zu schieben. In<br />
Wirklichkeit hatten sie keinerlei Einfluß auf die Entscheidungsprozesse.<br />
150
Ich habe daraufhin der KMK den folgenden Kommentar zugesandt:<br />
Kommentar zur Pressemitteilung der KMK vom 12.2.1998<br />
Wie das Sekretariat der KMK mitteilt, haben die Kultusminister in ihrer Plenarsitzung<br />
vom 26./27.2.1998 das Beratungsergebnis der Amtschefskommission vom 6.2.1998<br />
bestätigt.<br />
Hatte die KMK, voran die neue Vorsitzende Anke Brunn, noch wenige Wochen zuvor<br />
die Korrekturvorschläge der Zwischenstaatlichen Kommission ausdrücklich begrüßt,<br />
so bekennt sie sich nun zu der unkorrigierten Neuregelung. Dieser Sinneswandel ist in<br />
der Öffentlichkeit mit Überraschung zur Kenntnis genommen worden.<br />
Der Text des Beratungsergebnisses ist in neuer Rechtschreibung gehalten. Er enthält<br />
fünf orthographische Fehler. Auf der ersten Seite (nach Österreich) fehlt ein<br />
Komma. Die Großschreibung des ersten Wortes von Absatz 2.a) ist falsch, da auf den<br />
Doppelpunkt kein Ganzsatz folgt. In Absatz 1 steht auseinandergesetzt. Das ist nach<br />
der Neuregelung getrennt zu <strong>schreiben</strong>. Bei im übrigen (Abs. 2.b)) ist neuerdings<br />
Großschreibung vorgeschrieben. Die Abkürzung u. ä. im 5. Absatz ist ebenfalls nicht<br />
mehr zulässig; laut amtl. Wörterverzeichnis muß es heißen u. Ä. – Da die Zeichensetzung<br />
vollkommen konservativ ist, kann man feststellen, daß die Verfasser<br />
(abgesehen von Paragraf, was übrigens die Nebenvariante ist) von der Neuregelung<br />
offenbar nur die ss-Schreibung verstanden haben. Der Text zeigt also in durchaus<br />
typischer Weise, wie schwer die Neuregelung zu befolgen ist. Mir ist überhaupt kein<br />
längerer Text – sei es ein Schulbuch, ein Kinderbuch oder ein Periodikum – bekannt,<br />
der die Neuschreibung wirklich korrekt umsetzte. Beim vorliegenden Text ist die<br />
Fehlerhaftigkeit aber besonders bemerkenswert, weil er nach der Fachkonferenz am<br />
4.2.1998 auch die Amtschefskonferenz am 6.2.1998 und die Jubiläumskonferenz der<br />
Kultusminister am 26./27. 2. unbeanstandet passiert haben muß.<br />
Eine „übereilte“ Änderung der Neuregelung kann selbstverständlich niemand befürworten,<br />
das verbietet sich schon aus begrifflichen Gründen. Es fragt sich nur, ob<br />
Änderungen, die von der Kommission selbst in monatelanger Arbeit und gewissermaßen<br />
unter Zähneknirschen (da gegen den Auftrag und gegen die eigenen Intentionen<br />
gerichtet) für unumgänglich befunden worden sind, als „übereilt“ bezeichnet werden<br />
können. „Übereilt“ im strengsten Sinne des Wortes war die vorgezogene Einführung<br />
der neuen Rechtschreibung an den Schulen – ein Fehler, dessen Korrektur gar nicht<br />
eilig genug vorgenommen werden kann. „Übereilt“ scheint auch die Herstellung der<br />
endgültigen Fassung des Kommissionsberichts verlaufen zu sein.<br />
Das Lob der Kommissionsarbeit steht im Widerspruch zur faktischen Zurückweisung<br />
ihrer Ergebnisse. Der Bericht wird im wesentlichen auf die Kommentarfunktion<br />
reduziert. In der Öffentlichkeit ist jedoch hauptsächlich der kaum noch für möglich<br />
gehaltene Schritt der Regeländerung wahrgenommen worden; das gilt auch für die<br />
Mannheimer Anhörung. Immerhin hatten KMK, IDS und Kommission ständig<br />
behauptet, eine Regeländerung sei vorerst nicht möglich (vgl. z. B. „Informationen zur<br />
Neuregelung der deutschen Rechtschreibung“, hg. vom Sekretariat der KMK, Stand<br />
28.8.1997); die Kommission war bei ihrer konstituierenden Sitzung vom damaligen<br />
KMK-Vorsitzenden Wernstedt geradezu darauf eingeschworen worden, die Regeln<br />
nicht anzutasten. Die Behauptung, es sei gelungen, „die dem Regelwerk zugrunde<br />
151
liegenden Prinzipien einer breiteren Öffentlichkeit verständlich zu machen“, ist<br />
lächerlich, da der Bericht nur wenigen Personen zugestellt worden ist. Nicht einmal<br />
alle Teilnehmer der Anhörung haben ihn bisher erhalten. Auch sollte man das<br />
bombastische Gerede von den „Prinzipien“ der Neuregelung allmählich aufgeben, da<br />
die „haarsträubende Unsystematik“ der Neuregelung – wie Werner H. Veith es nennt 126<br />
– inzwischen hinreichend bekannt ist.<br />
Zum 2. Absatz: Die Betonung wird nicht als „zusätzliches“ Kriterium vorgeschlagen,<br />
sondern als nunmehr entscheidendes; dagegen ist die Rolle der Erweiter- und<br />
Steigerbarkeit nicht mehr genau zu erkennen. Näheres in meiner ausführlichen<br />
Stellungnahme zum Bericht der Kommission. Es fällt auf, daß auch „Bedeutungsunterschiede“<br />
zur Rechtfertigung unterschiedlicher Schreibungen herangezogen<br />
werden sollen. Die Neuregelung selbst sieht bekanntlich von Bedeutungsunterschieden<br />
weitestgehend ab.<br />
Wenn die Getrennt- und Zusammenschreibung in der Schreibwirklichkeit nur „eine<br />
geringe Bedeutung“ hat – weshalb mußte sie dann überhaupt geändert werden? Nach<br />
übereinstimmendem Urteil aller Sprachwissenschaftler ist die Neuregelung dieses<br />
Bereichs das eigentliche „Kuckucksei“ der Reform, der am deutlichsten mißlungene<br />
Teil, bei dem daher auch nach dem Urteil der Zwischenstaatlichen Kommission „die<br />
Notwendigkeit eines Eingriffs ... unumgänglich“ ist (Entwurf des Berichts, S. III; in<br />
der Endfassung weggefallen, doch die Stilblüte ist noch in frischer Erinnerung). Es<br />
überrascht daher, daß die KMK nunmehr die Einwände ihrer eigenen Kommission als<br />
unbeachtlich beiseite wischt. Die Fachbeamten und Amtschefs scheinen sich selbst für<br />
die kompetenteren Experten zu halten, sonst würden sie sich nicht über das Urteil der<br />
eigens berufenen Fachleute hinwegsetzen. (Nach Auskunft von Insidern haben sie das<br />
allerdings schon immer getan.)<br />
Die Neuregelung führt bei der forcierten, erklärtermaßen gegen eine Entwicklungstendenz<br />
des Deutschen gerichteten Getrenntschreibung teils zu ungrammatischen<br />
Schreibweisen, teils zur Beseitigung von mehreren hundert, wahrscheinlich sogar<br />
einigen tausend Komposita aus dem deutschen Wortschatz. Das ist selbst für eine<br />
Übergangszeit nicht hinnehmbar. Das geschäftliche Interesse des ausdrücklich zitierten<br />
Hauses Duden an einer Beibehaltung der unkorrigierten Neuregelung kann<br />
demgegenüber nur als nachrangig gelten.<br />
Die KMK meint feststellen zu können, „dass die schärfsten Kritiker der Rechtschreibreform<br />
in dem jetzt unterbreiteten Kommissionsvorschlag keine Kompromisslinie“<br />
sehen (Hervorhebung im Original). Dies soll offenbar – freilich in sehr verkürzter<br />
Form – als weitere Begründung dafür dienen, die Regeln vorerst nicht zu korrigieren.<br />
Die KMK geht ebenso wie die Verfasser der Neuregelung seit langem davon aus, daß<br />
die Rechtschreibreform – scheinbar gut „demokratisch“ – auf dem Wege eines<br />
„Kompromisses“ zustande kommen müsse, und zwar auf den verschiedensten Ebenen:<br />
• Einerseits mußten die beteiligten Wissenschaftler, wie sie oft beklagt haben,<br />
„Kompromisse“ mit den Kultusbeamten und -bürokraten eingehen. Das ging bis zur<br />
Selbstverleugnung, denn gerade die zentralen Zielvorstellungen der Reformer, also<br />
die Kleinschreibung der Substantive, die orthographische Fremdworteindeutschung<br />
und die Beseitigung der Dehnungszeichen, mußten im Zuge dieses Kompromisses<br />
aufgegeben werden.<br />
126 Eroms/Munske [Hg.], 1997, S. 246.<br />
152
• Dann wurden unter den Mitgliedern des Internationalen Arbeitskreises „Kompromisse“<br />
geschlossen; Heller, Gallmann, Sitta, Zabel u. a. haben es oft betont und<br />
eine Reihe Unstimmigkeiten und Mängel der Reform darauf zurückgeführt. Ihre<br />
„Abstimmungen“ untereinander wurden auch als Kennzeichen des „demokratischen“<br />
Charakters der Neuregelung gepriesen, obwohl Mehrheitsentscheidungen<br />
innerhalb irgendwelcher Gremien nur wenig über die demokratische Legitimation<br />
des gesamten Unternehmens aussagen.<br />
• Seit der Verabschiedung der Reform werden den externen Kritikern „Kompromisse“<br />
angeboten, es werden ausdrücklich auch „Angebote“ unterbreitet (so zum Beispiel<br />
die Zurücknahme der Großschreibung von Spinnefeind). Man reagiert enttäuscht,<br />
wenn die Kritiker sich nicht darauf einlassen, und wirft ihnen Starrsinn und<br />
fanatische Verbohrtheit vor. Es wird offenbar nicht verstanden, daß es hier gar nicht<br />
um Kompromisse gehen kann. Entweder die bisherige Norm ist defekt, dann muß<br />
sie repariert werden. Oder sie ist es nicht, dann ist auch keine Reform nötig. Jeder<br />
Kompromiß kann hier nur ein fauler sein; jede mühsam ausgehandelte halbe Reform<br />
kostet materiell und ideell ebensoviel wie eine ganze und ist daher zu verwerfen.<br />
(Die meisten Kritiker – und gerade die „schärfsten“ – sehen ja überhaupt keinen<br />
Handlungsbedarf und setzen mehr auf verbesserte Rechtschreibdidaktik und natürlichen<br />
Wandel der Orthographie als auf eine Reform.) Auch steht der Ruf nach<br />
einem Kompromiß im Widerspruch zu der oft betonten Wissenschaftlichkeit des<br />
ganzen Reformunternehmens. Über das grammatisch falsche Leid tun, wie Recht du<br />
hast, das Aufsehen Erregendste usw. ist so wenig ein Verhandeln möglich wie über<br />
eine falsche Quadratwurzel.<br />
Das Problem der Großschreibung nach einem Doppelpunkt ist in der Tat so marginal,<br />
daß seine ausführliche Behandlung im Bericht der Kommission kaum verständlich ist;<br />
soweit ich weiß, hatte die Kritik hierzu auch nichts Wesentliches gesagt. Dieser Punkt<br />
scheint mehr der Ablenkung von den wirklich wichtigen, im Bericht aber kaum oder<br />
gar nicht behandelten Einwänden zu dienen, zum Beispiel zur Groß- und Kleinschreibung.<br />
Außerdem trifft es nicht zu, daß die Frage der Großschreibung nach<br />
Doppelpunkt in § 81 „hinreichend deutlich gelöst“ sei. Dort wird vielmehr lediglich<br />
auf den fraglichen § 54 zurückverwiesen und im übrigen eine Reihe weiterer Beispiele<br />
geboten, die das Problem aber eher komplizieren, da sie (vor allem unter 3) den Begriff<br />
des „Ganzsatzes“ noch verschwommener machen, als er ohnehin ist.<br />
Was die Varianten betrifft, die der etymologisierenden und volksetymologisierenden<br />
Neuschreibung die Spitze nehmen sollen, so ist es zweierlei, ob die Neuregelung selbst<br />
Varianten freistellt oder ob sie lediglich wegen der vorgesehenen Übergangszeit noch<br />
keinen Zwang auszuüben vermag. Die Vorzüge der bisherigen Rechtschreibung sollen<br />
offenbar dazu herhalten, die Mängel der geplanten zu entschärfen. Wiederum ist auch<br />
zu fragen, warum „einige wenige selten geschriebene Wörter“ überhaupt geändert<br />
werden mußten. Dadurch war es zwar notwendig, Wörter- und Schulbücher neu zu<br />
drucken, eine nennenswerte Erleichterung für Schüler kann sich so aber nicht ergeben.<br />
Die Neuregelung insgesamt scheint sich vorzugsweise mit marginalen Erscheinungen<br />
der deutschen Orthographie beschäftigt zu haben. Dieses Eingeständnis ist<br />
bemerkenswert.<br />
Das allgemeine Lob der Neuregelung und der Kommission ist schon deshalb unbeachtlich,<br />
weil es weitgehend Eigenlob ist, denn die Kommission besteht überwiegend aus<br />
153
den Urhebern des Reformwerks, und die urteilenden und lobenden Kultusbeamten<br />
waren ebenfalls zum Teil an der Ausarbeitung der Reform beteiligt. Daher klingt es<br />
seltsam, wenn von einer „kritischen Überprüfung“ der Neuregelung gesprochen wird –<br />
sind es doch weitestgehend die Verfasser selbst (sieben von elf Mitgliedern, laut<br />
Auskunft des Vorsitzenden), die ihr eigenes Werk kritisch überprüfen und die Kritik<br />
Außenstehender würdigen. Daß sie externe Kritik unerheblich finden, ist unter solchen<br />
Voraussetzungen kein Wunder. Im übrigen handelt es sich um bloße Behauptungen. In<br />
Wirklichkeit ist keiner der Einwände, die zum Beispiel in meinem „Kritischen<br />
Kommentar“ vorgetragen werden, widerlegt worden.<br />
Zwischen der Mannheimer Anhörung am 23. Januar 1998 und der Vorlage der endgültigen,<br />
ebenfalls auf „Januar 1998“ datierten Fassung des Kommissionsberichts lagen<br />
nur wenige Tage. Bedenkt man, daß allein die von mir am Tag der Anhörung<br />
vorgelegte Stellungnahme mehrere hundert Seiten umfaßt, so scheint es undenkbar,<br />
daß die Kommission sich mit der Kritik so gründlich auseinandergesetzt haben sollte,<br />
wie die KMK behauptet. Die Endfassung des Berichts zeigt denn auch – bis auf die<br />
Ausbesserung von einigen Versehen, auf die ich die Kommission bereits vorab<br />
schriftlich hingewiesen hatte – keine spezifische Auswirkung der Anhörung auf die<br />
Kommissionsarbeit. Auch aus diesem Grunde und nicht nur wegen der gezielt<br />
selektiven Einladung einer überwältigenden Mehrheit von Reformbefürwortern<br />
erscheint die Anhörung nachträglich als gänzlich überflüssige Alibi-Veranstaltung. (Da<br />
schon vor der Mannheimer Veranstaltung die empörend einseitige Einladungspolitik<br />
der Kommission zu kritisieren war, hätten die Kultusminister sich keinesfalls auf eine<br />
„weit überwiegende Mehrheit der an der Anhörung beteiligten Verbände“ berufen<br />
dürfen.)<br />
Der Kommentar, zu dessen Ausarbeitung die Kommission ermuntert wird, ist schon<br />
seit Jahren angekündigt, seit einem Jahr auch eine Liste der Zweifelsfälle. Die von der<br />
KMK ausdrücklich gewürdigten „Absprachen der Kommission mit den einschlägigen<br />
Wörterbuchverlagen“ sind auch rechtlich bedenklich. An die Stelle des rechtlich<br />
immerhin noch einigermaßen abgesicherten Dudenprivilegs tritt hier offenbar die<br />
informelle Privilegierung einer kleinen Gruppe von Wörterbuchverlagen.<br />
Wozu ist die Einrichtung eines „Beirates“ erforderlich, wenn die Kommission so<br />
vorzügliche Arbeit leistet, wie es behauptet wird? Wer wird ihn berufen – wenn nicht<br />
die auf jeden Fall zur Reform der Orthographie entschlossenen Kultusminister? Warum<br />
ist nicht an eine Prüfung der Reform durch unabhängige Sprachwissenschaftler<br />
gedacht? Schon die Arbeitskreise, die sich seinerzeit „den politischen Auftrag holten“,<br />
die Rechtschreibung zu reformieren, bestanden ja ausschließlich aus unbedingt<br />
Reformwilligen – ein oft beklagter Geburtsfehler des gegenwärtigen Unternehmens,<br />
den man als die Ursache der meisten gegenwärtigen Schwierigkeiten bezeichnen kann.<br />
Abschließend sei einer der besten Kenner der Materie zitiert:<br />
154<br />
Die Repräsentanten der Kultusministerkonferenz „schrecken auch nicht vor der<br />
Unverfrorenheit zurück, die mühsam erarbeiteten Korrekturvorschläge der eigens<br />
eingesetzten zwischenstaatlichen Rechtschreibkommission schlichtweg zu verwerfen<br />
und frech zu behaupten, die Rechtschreibreform halte allen Einwendungen<br />
stand. Mit dieser Auffassung steht sie allein.“ (Horst H. Munske, F.A.Z. vom<br />
4.3.1998)
155
156<br />
V. Zum Rechtschreib-Urteil des Bundesverfassungsgerichts
157
Am 12. Mai 1998 verhandelte das Bundesverfassungsgericht über die Beschwerde<br />
eines Lübecker Elternpaares gegen den Beschluß des schleswig-holsteinischen<br />
Oberverwaltungsgerichts vom 13.8.1997 und den Beschluß des schleswigholsteinischen<br />
Verwaltungsgerichts vom 12.3.1997. Das BVerfG hatte zu dieser<br />
Anhörung im Vorjahr schriftliche Stellungnahmen verschiedener Institutionen erbeten<br />
und schließlich dreizehn Verbände und Institutionen eingeladen. Zehn davon waren als<br />
Reformbetreiber und -befürworter bekannt:<br />
• Kultusministerkonferenz (KMK)<br />
• Gesellschaft für deutsche Sprache (GfdS)<br />
• Institut für deutsche Sprache (IDS)<br />
• Dudenredaktion<br />
• Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW)<br />
• Verband der Schulbuchverlage<br />
• Deutscher Philologenverband (DPhV)<br />
• Deutscher Beamtenbund (DBB)<br />
• Bundeselternrat (BER)<br />
• Börsenverein des deutschen Buchhandels<br />
Als Reformkritiker waren eingeladen:<br />
• Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung<br />
• Verein für deutsche Rechtschreibung und Sprachpflege (VRS)<br />
Außerdem war der<br />
• Bundesverband Deutscher Zeitungsverleger (BDZV)<br />
eingeladen, der jedoch nur einen kurzen Brief schickte, worin er darlegte, daß ihm an<br />
der Durchsetzung der Reform nicht gelegen sei, die Kosten sich jedoch in Grenzen<br />
halten würden und eine Teilnahme an der Verhandlung nicht sinnvoll erscheine. 127<br />
Den beiden Kritikern (es waren Christian Meier für die Akademie und ich für den<br />
VRS) saßen bei der Verhandlung etwa 50 Personen von der Reformerseite gegenüber,<br />
darunter die Kultusministerinnen Böhrk und Brunn. Die Presse schien dieses<br />
Mißverhältnis nicht erwähnenswert zu finden.<br />
Schon einige Zeit vor der Verhandlung gab es Hinweise, daß das Urteil im Sinne der<br />
Kultusminister ausfallen werde. Dies hat sich mit überraschender Eindeutigkeit bestätigt.<br />
Nach dem Eindruck mancher Beobachter (vgl. Bayerische Staatszeitung vom<br />
18.7.1998) könnte das Urteil geradewegs von der KMK verfaßt sein.<br />
Zur Erklärung der argumentativen Lage während der Verhandlung könnte zunächst der<br />
127 Am Ende waren es aber gerade die Zeitungsverleger, die der gesamten Presse die<br />
Neuschreibung aufzwangen und damit mehr als jeder andere zur Zerstörung der<br />
deutschen Einheitsorthographie beitrugen. Dazu Näheres im Kapitel VI.<br />
158
folgende Kommentar von Nutzen sein. Er gilt einem Text, den der Jurist Wolfgang<br />
Löwer in einer anderen Sache (Gernot Holstein gegen Land Berlin) vorgelegt hatte,<br />
seltsamerweise aber in Karlsruhe nochmals einreichte.<br />
Stellungnahme zu Wolfgang Löwers<br />
Revisionsbegründung in der Verwaltungsstreitsache Holstein/Land Berlin 128<br />
Zu den sprachphilosophischen Fragen, die Löwer eingangs erörtert, werden die verschiedensten<br />
Meinungen vertreten; ich möchte darauf nicht eingehen. Auch bedarf es<br />
keiner Klassikerzitate, um sich ein zutreffendes Bild von der Bedeutung der<br />
Schriftsprache für den heutigen Menschen zu machen. Die Schriftsprache ist eine zwar<br />
nicht gleichursprüngliche, heute aber gleichrangige Erscheinungsform der Sprache<br />
neben der gesprochenen. Die starke, auch gefühlsmäßige Bindung an das<br />
herkömmliche Schriftbild beruht einerseits natürlich auf Gewöhnung, andererseits aber<br />
auch auf einer intuitiven Kenntnis systematischer Zusammenhänge. Dies wird gerade<br />
von den reformorientierten Orthographieforschern immer wieder hervorgehoben. Die<br />
Rechtschreibung ist ungeachtet historischer Relikte in hohem Maße systematisch, und<br />
die individuelle Rechtschreibkompetenz ist ebenfalls wohlorganisiert und keineswegs<br />
chaotisch (Augst/Stock in Augst et al. [Hg.] 1997).<br />
Dazu ein Beispiel: Die sogenannte „Substantivgroßschreibung“ 129 ist an sich nur<br />
eine Konvention, aber nachdem sie einmal Geltung gewonnen hat, ist die Großschreibung<br />
einzelner Substantive ebensowenig konventionell wie die Kleinschreibung<br />
von leid tun und recht haben (so leid es mir tut, du hast sehr recht). Dies<br />
„weiß“ der Sprachteilhaber, auch wenn er es vielleicht nicht formulieren kann.<br />
Die Reform verstößt mit ihrer willkürlich erfundenen und auf falsche Argumente<br />
gestützten Großschreibung Leid tun, Recht haben gegen einen systematischen<br />
Zusammenhang und wird daher sogar schon von Kindern mit Sprachgefühl<br />
abgelehnt. 130<br />
Die Geschichte der Einheitsorthographie bis 1901/2 ist vor allem die Geschichte ihrer<br />
Vereinheitlichung. Das heißt, es wird in keinem Falle eine neuartige Schreibweise<br />
erfunden und verordnet (kein novum et inauditum, wie Wilmanns 131 1880 von der<br />
128 Mein Text wurde dem Bundesverfassungsgericht am 30.4.1998 zugeleitet. Hier ist er<br />
leicht gekürzt.<br />
129 Zur Problematik dieses Begriff vgl. meinen „Kritischen Kommentar zur Neuregelung der<br />
deutschen Rechtschreibung“.<br />
130 Die Reformer hätten sich an Konrad Duden halten sollen, den sie sonst so gern zitieren:<br />
„Bei Ausdrücken wie leid tun, not tun, weh tun, schuld sein, gram sein; mir ist angst,<br />
wol, wehe, not ist von selbst klar, daß das zum einfachen Verbum hinzugetretene Element<br />
nicht als Substantivum fungiert; (man erkennt) die nicht substantivische Natur jenes<br />
Zusatzes am besten durch Hinzufügung einer nähern Bestimmung. Man sagt er (...) hat<br />
ganz recht, hat vollständig unrecht u. dgl. Die Anwendung von Adverbien, nicht von<br />
Adjektiven, zeigt, daß man einen verbalen Ausdruck, nicht ein Verb mit einem<br />
substantivischen Objekt vor sich hat.“ (Die Zukunftsorthographie (usw.). Leipzig 1876,<br />
S. 70)<br />
131 „Über die preußische Schulorthographie“ (1880). In: Burckhard Garbe (Hg.): Die<br />
deutsche rechtschreibung und ihre reform 1722-1974. Tübingen 1978, S. 114.<br />
159
ayerischen Schulorthographie sagte, an die sich die preußische anschloß), sondern<br />
lediglich zwischen den schon vorhandenen, im vorstaatlichen Raum aufgekommenen<br />
und weithin bekannten Schreibvarianten ausgewählt. Besonders nach der<br />
Reichsgründung konvergierten die regionalen Schreibweisen in erstaunlichem Maße<br />
und mit großer Schnelligkeit. Man könnte dies am Verschwinden des th in deutschen<br />
Wörtern zeigen. Schon in den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts war das th in<br />
zahllosen Büchern sogar im Anlaut (That > Tat) nicht mehr zu finden. Ich besitze<br />
Bücher aus dieser Zeit vom Max Niemeyer Verlag, Halle, die überhaupt kein th mehr<br />
haben, und Konrad Duden weist in seiner Schrift „Zukunftsorthographie“ (1876, S. 41)<br />
darauf hin, daß die endgültige Tilgung des h „hinreichend vorbereitet“ sei. Dieselben<br />
Schulbücher durften lange vor der „Reform“ von 1901/2 in allen Bundesstaaten<br />
nebeneinander benutzt werden (Mentrup 1985). Die Schreibweisen der einzelnen<br />
Bundesstaaten, Verlagshäuser usw. waren zumindest den Lesern im ganzen deutschen<br />
Sprachgebiet bekannt. Diese Konvergenz wurde selbstverständlich dadurch unterstützt<br />
und beschleunigt, daß die auf Ausgleich zielenden Schulorthographien durch die<br />
Erziehungsbehörden seit etwa 1855 amtlich reglementiert wurden. Der Staat stellte die<br />
allgemein üblichen Schreibweisen unter Schutz – gegen die Reformvorhaben der<br />
beiden theoretischen Richtungen: der historisierenden und der phonetischen (so auch<br />
Löwer). Beide wurden als künstlich und einheitgefährdend wahrgenommen, durchaus<br />
mit Recht. Man kann auch sagen: Die große Einheitlichkeit der vorhandenen<br />
Schulorthographien beruhte darauf, daß sie sich im Geiste des pragmatischen Erlanger<br />
Germanisten Rudolf v. Raumer getroffen hatten. Die Zusammenführung der<br />
preußischen mit der bayerischen (um nur die wichtigsten zu nennen) machte daher<br />
keine Schwierigkeiten.<br />
Löwer bemüht sich, die unzweifelhaft stabilisierende Wirkung der Schulorthographien<br />
als staatliche Eingriffe darzustellen, die man gewissermaßen als Präzedenzfälle der<br />
heutigen Reform ansehen könnte. Er übersieht also, daß die staatlichen Erlasse nur die<br />
Varianz beschnitten und keinerlei ungewohnte Neuerungen aufbrachten, also nichts<br />
„initiierten“, nie kreativ tätig waren. Folglich wurden auch die Kinder nie angehalten,<br />
anders zu <strong>schreiben</strong> als ihre Eltern. Übrigens sperrt sich eine moderne Sprache auch<br />
ohne staatliche Stützung des Gewohnten gegen Veränderungen, und zwar durch die<br />
bereits genannte Dichte der Kommunikation, die zwar einen raschen Wandel des<br />
Wortschatzes fördert, im Lautlichen jedoch wegen der Ausgleichswirkung des Rundfunks<br />
und der modernen Mobilität veränderungsfeindlich wirkt.<br />
Der Staat wählte also aus und vereinheitlichte, das ist alles, und die suggestive Rede<br />
von „neuen preußischen Regeln“, von „neuer Orthographie“, „neuen Regeln“, von<br />
„Neuschreibung“ muß in diesem Sinne relativiert werden. Das „Neue“, gegen das sich<br />
Bismarck wehrte, war nicht neu, sondern anderswo (Bayern) längst üblich und im<br />
ganzen Reich bekannt. Hermann Scheuringer, den Löwer gern zitiert, sagt völlig<br />
zutreffend:<br />
160<br />
„Daß sie (die Orthographie von 1902) so schnell und ohne irgendwelche<br />
Übergangszeiten eingeführt werden konnte, liegt natürlich daran, daß sie<br />
durchgehend bei den Schulen, mehrheitlich bei den Behörden und ganz<br />
überwiegend auch im übrigen Schreibgebrauch de facto schon eingeführt war –<br />
dies doch ein bedeutender Unterschied zur neuen Orthographie ab 1998.“<br />
(Scheuringer 1996, S. 87)
Schulorthographien waren es, die zum Beispiel von den beiden möglichen und bereits<br />
beschrittenen Wegen der Substantivgroßschreibung schließlich den einen bevorzugten<br />
und ihm zu einem – allerdings noch lange unentschiedenen – Sieg verhalfen. Es gibt<br />
nämlich seit je den grammatischen, wortartbezogenen Weg, der seit Jahrhunderten zur<br />
Artikelprobe führt und daher beispielsweise der Einzelne, der Andere, im Übrigen, des<br />
Öfteren, nicht im Geringsten, aufs Schönste usw. schreibt. Er ist im ersten Drittel des<br />
19. Jahrhunderts durch Heyses Grammatik gefördert worden. Es gibt ferner den<br />
textbezogenen Standpunkt, der nur das groß <strong>schreiben</strong> möchte, wovon in einem Text<br />
wirklich die Rede ist, also nicht das pronominale (textverweisende) Flechtwerk und<br />
auch nicht die adverbialen Phraseologismen. Daher die Kleinschreibung in allen<br />
genannten Fällen: der einzelne, nicht im geringsten, aufs schönste usw. In einem<br />
komplizierten Entscheidungsprozeß hat sich der zweite Standpunkt durchgesetzt. Er<br />
ist, wie sich zeigen ließe, der fortschrittlichere (im Sinne jener zunehmenden Leserfreundlichkeit,<br />
die zum Beispiel Horst Haider Munske als Entwicklungskonstante der<br />
deutschen Orthographie nachgewiesen hat). Er ist allerdings auch der etwas<br />
kompliziertere, weil er sich nicht auf mechanische Proben stützen kann. 132<br />
Als zweites Beispiel kann die in der Revisionsbegründung gleich zu Beginn angeführte<br />
Kommasetzung erwähnt werden. Hier wird Goethe gegen die Frankfurter Erklärung<br />
ausgespielt. Dem liegt ein grundsätzliches Mißverständnis zugrunde. Das Komma ist<br />
erst im 19. und 20. Jahrhundert nahezu vollständig „syntaktifiziert“ worden. 133 Die<br />
geplante Rechtschreibreform rühmt sich, das „stilistische“ Komma (wieder) zu stärken.<br />
Sie dreht also ebenso wie bei der Groß- und Kleinschreibung das Rad der Entwicklung<br />
vorsätzlich zurück. Löwer findet dafür den hübschen Euphemismus: „Das Komma<br />
wird in seiner voluntativ-textgestaltenden Funktion gestärkt.“ Die fatalen Folgen sind<br />
andernorts dargestellt, an dieser Stelle kommt es nur darauf an, die grundsätzliche<br />
Unvergleichbarkeit der sprachgeschichtlichen Umstände aufzudecken, unter denen<br />
Goethe (wie Löwer vermutet) vielleicht die Frankfurter Erklärung tatsächlich nicht<br />
unterschrieben haben würde – das Reformvorhaben allerdings auch nicht. Das<br />
Gedankenspiel ist für die gegenwärtige Diskussion ohne Belang.<br />
Alles in allem ist anzunehmen, daß in einer großen Sprachgemeinschaft mit so dichten<br />
kommunikativen Beziehungen, wie sie im Deutschen Reich bestanden, nach<br />
Einführung der allgemeinen Schulpflicht und nach vollzogener staatlicher Einheit die<br />
Schreibweisen „von selbst“ zu ebenso großer Einheitlichkeit gefunden hätten, wie es in<br />
England aufgrund anderer Bedingungen schon viel früher der Fall gewesen war. Das<br />
entspricht jedenfalls den Erfahrungen mit der Sprachentwicklung unter den<br />
Bedingungen zunehmender kommunikativer Dichte, etwa mit den Sprachausgleichsbewegungen<br />
im Mittelalter, aber auch später. Dabei wirkt die bloße Existenz<br />
orthographischer Regelwerke und weit mehr noch orthographischer Wörterbücher<br />
132 Nähere Erläuterung in meinem „Kritischen Kommentar“, wo auch die Gallmannsche<br />
Auffassung von der „lexem“-bezogenen Wortartbestimmung zurückgewiesen wird, die zu<br />
heute Abend geführt hat und demnächst zu bei Weitem führen soll. – Instruktiv zur<br />
Systematisierung der Groß- und Kleinschreibung die von Prof. Munske betreute<br />
Staatsexamensarbeit von Karin Rädle: „Die Entwicklung der Groß- und Kleinschreibung<br />
im Deutschen vor dem Hintergrund der Orthographiereformdiskussion des 19.<br />
Jahrhunderts“. Erlangen 1998.<br />
133 Zum heutigen Zustand vgl. Ulrike Behrens: Wenn nicht alle Zeichen trügen.<br />
Interpunktion als Markierung syntaktischer Konstruktionen. Frankfurt 1989; Peter<br />
Gallmann: Graphische Elemente der geschriebenen Sprache. Tübingen 1985.<br />
161
ungemein einheitsfördernd. Das gilt zum Beispiel von Adelungs Wörterbuch, an das<br />
sich, bloß weil es da war, auch jene hielten, die sonst darüber spotteten (wie manche<br />
unserer Klassiker). Es gilt ebenso für Dudens Wörterbuch von 1880 und seinen<br />
phänomenalen Erfolg im ganzen deutschen Sprachraum.<br />
So ist selbstverständlich richtig, was Michael Schlaefer in seinem oft zitierten<br />
Überblick abschließend feststellt:<br />
„Die Herstellung einer einheitlichen deutschen Schul- und Amtsorthographie ist<br />
als Resultat von Verwaltungsakten, nicht als Resultat sprachgeschichtlichen Ausgleichs<br />
zu betrachten.“ 134<br />
Ebenso richtig ist aber die Fortsetzung:<br />
„Es sollte jedoch bei allen Vorbehalten gegen die Setzung sprachlicher Normen<br />
auf diese Weise nicht übersehen werden, daß diese Einheitsorthographie kein<br />
beliebiges Regelsystem, kein Minimalkonsens und auch kein Produkt<br />
ministerieller Willkür ist. Diese Orthographie repräsentiert im wesentlichen<br />
den historisch gewachsenen Schreibgebrauch des frühen 19. Jahrhunderts.<br />
Insofern stellt sich die gesamte Entwicklung der amtlichen Schulorthographien in<br />
die Tradition der deutschen Orthographiegeschichte des 16. bis 18. Jahrhunderts.<br />
Als eigenständige Periode innerhalb dieser Kontinuität erscheint das 19.<br />
Jahrhundert dadurch, daß der Schreibgebrauch auf dem Verwaltungsweg für den<br />
Schulbereich gegen Reformbestrebungen unterschiedlicher Art gesichert<br />
wird.“ 135<br />
Der Staat hat also gerade nicht reformiert, sondern Reformen abgewehrt, um den in<br />
vollem Gang befindlichen Ausgleichsprozessen zum endgültigen Erfolg zu verhelfen.<br />
Die Schulorthographien befanden sich niemals in einem Gegensatz zur allgemein<br />
gebräuchlichen außerschulischen Schreibpraxis, und als die Gefahr eines solchen<br />
Auseinanderklaffens sich von ferne abzeichnete (nämlich 1876), war dies der<br />
Hauptgrund für den Verzicht der Behörden auf die Einführung der Reformorthographie.<br />
– Auch später und insbesondere 1955 war es offenbar die Absicht der<br />
Schulbehörden, bis zu einer wirklichen Reform den jeweils allgemein üblichen<br />
Sprachgebrauch zur Grundlage des Unterrichts zu machen – eigentlich eine Selbstverständlichkeit,<br />
die sich auch in jenem von Kopke ans Licht gezogenen Satz des<br />
Abgeordneten Stephani aus der Reichstagsdebatte vom 7. April 1880 ausdrückt:<br />
„Die Schule soll den Schülern das, was in den gebildeten Kreisen des Volkes zur<br />
festen Gewohnheit in Bezug auf Rechtschreibung geworden ist, als Regel beibringen;<br />
nicht aber soll die Schule selbst vorangehen, indem die Schulen das Volk<br />
zwingen wollen, eine neue Gewohnheit der Rechtschreibung anzunehmen.“<br />
Wie anders demgegenüber die heutige Reform:<br />
„Die Schule macht den Vorreiter.“ (Der Vorsitzende der Rechtschreibkommission<br />
bei einer Pressekonferenz in Mannheim am 12.9.1997)<br />
134 Sprachwissenschaft 6 (1981), S. 438.<br />
135 Ebd. (Hervorhebung hinzugefügt). Auch Konrad Duden war der Meinung, daß sich ohne<br />
„Einmischung der Regierungen“ das Richtige von selbst Bahn bricht, jedoch erwartete er<br />
von einer solchen Einmischung, daß sie „gewisse, im Geiste der Entwicklung unsrer<br />
Schrift liegende Forderungen mit einemmale erfüllt und dadurch für lange Zeit hinaus<br />
wirklich dem leidigen Schwanken ein Ende macht.“ (a.a.O. S. VIII)<br />
162
Daß die genannten Ausgleichsprozesse „von selbst“ geschehen, als Ergebnisse der „unsichtbaren<br />
Hand“, daß sie „vom Volk“ ausgehen usw. – das sind an sich unverfängliche<br />
Redeweisen, die etwa in der Sozialphilosophie und Nationalökonomie (schottische<br />
Schule, F. A. v. Hayek) einen präzisen Sinn haben und keinerlei Mystifikation<br />
darstellen. Es versteht sich von selbst, daß mit dem „Volk“, das die Schreibweisen<br />
entwickelt, nicht das schreibunkundige Volk gemeint ist, sondern die Intelligenz<br />
einschließlich Lehrer und Drucker. „Volk“ (oder „Gesellschaft“, wenn man so will) ist<br />
hier als Gegenpol zum Staat zu verstehen. Es ist daher nur Wortklauberei, wenn dem<br />
„Volk“ die Fachwelt der Buchdrucker gegenübergestellt wird. Die „Fachorthographie<br />
eines Berufsstandes“, also der Buchdrucker, ist nichts Esoterisches, sondern die von<br />
den Lesern, auch wenn sie selbst keine Schreibvirtuosen sind, erwartete, gewünschte<br />
und dankbar genossene Orthographie. Maßstab der Schreibkunst ist, wie anderswo<br />
auch, nicht der Stümper, sondern der Könner. Anders gesagt: Es gibt nicht nur eine<br />
Standardsprache, sondern auch eine Standardschreibe. Ausländern zum Beispiel<br />
bringen wir ohne Zögern die Grammatik der Standardsprache bei: Genitiv bei wegen,<br />
Komparativpartikel als (nicht wie) usw. So auch die Standardrechtschreibung. Der<br />
Begriff „Fachorthographie“ ist irreführend. Daß nicht von jedem Schulpflichtigen die<br />
aktive Beherrschung dieser Orthographie, auf die er als Leser gleichwohl Anspruch hat<br />
und auch Anspruch erhebt, verlangt werden kann, steht auf einem anderen Blatt, dem<br />
pädagogischen nämlich.<br />
Die Ausführungen über die „Beschränkung“ der Reform auf die Schule sind<br />
erstaunlich weltfremd. Ausgrenzung von „Altschreibern“ ist schon jetzt belegbar und<br />
wird nach dem Inkrafttreten der Neuregelung der Normalfall werden. Die „Blamage“<br />
ist nur eines von mehreren Druckmitteln, und sie ist real genug. Als der bayerische<br />
Kultusminister sich unfähig zeigte, die selbstgewählte neue Rechtschreibung korrekt<br />
zu praktizieren, brachte die „Welt am Sonntag“ (26.4.1998; vgl. auch „Abendzeitung“<br />
vom 27.4.1998) den Fall nebst Textprobe auf die erste Seite, selbstverständlich um den<br />
Minister bloßzustellen. Der von Löwer erwähnte Fall eines konsequenten Kleinschreibers<br />
ist nicht vergleichbar, da eine bewußt gewählte und konsequent<br />
durchgehaltene Normabweichung <strong>vernünftig</strong>erweise nicht als fehlerhaft angesehen<br />
wird, sondern als Bekenntnis zu einer anderen „orthographischen Weltanschauung“,<br />
und folglich kein Grund zur Blamage ist, sondern allenfalls zur Mißbilligung durch<br />
Andersgesinnte. Wenn alle Schulen und alle Behörden umgestellt haben, wenn die<br />
deutsche Amtssprache, die nach einem Wort des Grünen-Abgeordneten Beck (im<br />
Bundestag am 26.3.1998), dem sich das Bundesinnenministerium anschloß, der<br />
Schulsprache folgen muß (!), zur Neuregelung übergegangen sein wird, dann gibt es<br />
für den normalen Sterblichen keine Möglichkeit mehr, sich der Reform zu entziehen.<br />
Mögen Bundespräsident und Bundeskanzler auch beteuern, sie würden weiterhin<br />
<strong>schreiben</strong>, wie sie es gelernt haben – es ist schlechterdings nicht vorstellbar, daß diese<br />
Männer Tag für Tag hundert Schriftstücke in neuer Orthographie unterzeichnen, um<br />
dann „privat“ einen Brief in herkömmlicher Schreibweise zu verfassen. Auch ist von<br />
der Vorbildwirkung der Neuregelung nicht nur „in mancher Erklärung der beteiligten<br />
Stellen“ die Rede, wie Löwer meint, sondern im amtlichen Regeltext selbst.<br />
Löwer erwähnt auch mehrfach die in der Tat interessante Neuregelung der Anredeform<br />
in Privatbriefen und mokiert sich in einer nicht recht nachvollziehbaren Weise über die<br />
Kritik daran. Bedauerlicherweise äußert er sich nicht zu der entscheidenden Frage, was<br />
den Staat die Schreibweise in Privatbriefen überhaupt angeht. Seine rhetorische Frage<br />
163
„Wer weiß, in wie vielen Briefen das ,du‘ schon bislang kleingeschrieben wurde?“ ist<br />
schlicht irrelevant.<br />
Das englische Beispiel einer staatsfreien Einheitsorthographie mag „eher die<br />
Ausnahme“ sein (vergleichende Untersuchungen sind mir nicht bekannt). Es ist<br />
immerhin bemerkenswert, daß die wichtigste Weltsprache ohne direkten Staatseingriff<br />
(so auch Löwer) orthographisch außerordentlich gleichförmig geworden ist und daß in<br />
angelsächsischen Schulen ein intensiver Rechtschreibunterricht ohne große Zweifel an<br />
der jeweils gültigen Schreibweise stattfindet. Warum das in Deutschland nach der<br />
Herstellung einer Einheitsorthographie nicht auch möglich sein soll, wird nicht<br />
erörtert. Aus der unbestrittenen Tatsache, daß die Vereinheitlichung der deutschen<br />
Orthographie unter Mitwirkung der staatlichen Schulorthographien zustande kam, darf<br />
nicht einmal gefolgert werden, daß es ohne diese staatlichen Maßnahmen überhaupt<br />
nicht gegangen oder auch nur wesentlich anders abgelaufen wäre, so daß wir heute<br />
entweder ein orthographisches Durcheinander oder eine gänzlich andere<br />
Rechtschreibung hätten. Allerdings erfordert es einen beträchtlichen Aufwand, wenn<br />
man zeigen will, daß die Normierung durchaus den immanenten Gesetzmäßigkeiten<br />
der Sprachentwicklung folgte. Man wird dann oft sagen können, was Munske am<br />
Beispiel der Vokalquantitätsbezeichnung nachgewiesen hat:<br />
„Die jahrhundertelange Systematisierungsarbeit von Druckern und Grammatikern<br />
ist den komplexen sprachlichen Gegebenheiten ziemlich angemessen gerecht<br />
geworden.“ 136<br />
Die heutige Orthographie erweist sich bei genauerer Untersuchung als erstaunlich<br />
konsequente Anwendung von Grundsatzentscheidungen, die lange vor der Welle<br />
staatlicher Eingriffe getroffen worden sind. Dem stellt Löwer die auffallend vage<br />
Behauptung entgegen:<br />
„Allein die Tatsache der staatlichen Intervention für diesen Bereich hat die<br />
,Eigengesetzlichkeit‘ der Sprachentwicklung maßgeblich konditioniert, hat ihr<br />
neue Gesetzmäßigkeiten hinzugefügt. Selbst eine rein aus dem Schreibbrauch<br />
entlehnte Norm (die so mangels natürlicher Einheitlichkeit ohnehin eine Fiktion<br />
ist), hat immer eine präskriptive Dimension, indem sie den Entwicklungsprozess<br />
der Sprache hemmt.“ (vgl. auch: „Die Schulorthographien des 19. Jahrhunderts<br />
haben die ,Eigengesetzlichkeit‘ der deutschen Orthographie-Entwicklung<br />
begründet.“)<br />
Worin sollen die „neuen Gesetzmäßigkeiten“ bestehen? Etwa in der Hemmung selbst?<br />
Warum soll die Uneinheitlichkeit des Schreibbrauchs eine Normableitung zur Fiktion<br />
machen? Was bedeutet der hervorgehobene Ausdruck „natürlich“ hier? Etwas mehr<br />
Deutlichkeit wäre an dieser entscheidenden Stelle wünschenswert gewesen. Das gilt<br />
auch für die „staatlich beförderte Zurückdrängung abweichender gesellschaftlicher<br />
Vorstellungen“. Sollten mit den „gesellschaftlichen Vorstellungen“ die Konstruktionen<br />
Weinholds oder der Radikalphonetiker gemeint sein? Oder hat der Staat via<br />
Schulorthographie auch nur in einem einzigen Fall die von Löwer ja zugestandene<br />
Eigengesetzlichkeit der Sprachenentwicklung vergewaltigt?<br />
Im übrigen wird hier wie an vielen anderen Stellen zwar ganz plausibel behauptet, daß<br />
die Schulorthographie sich der „Entwicklung“, der „Veränderbarkeit“ usw. entgegenstelle,<br />
aber auch das muß relativiert werden. Ungeachtet aller Fixierung in staatlichen<br />
136 Eroms/Munske [Hg.] 1997, S. 55, verfaßt 1985.<br />
164
Regelwerken und Wörterverzeichnissen entwickelt sich die Sprache weiter. Der<br />
führende, als besonders staatsgläubig bekannte Rostocker Reformer Nerius hat zwar<br />
seit 1975 unzählige Male die These wiederholt, Schreibwandel sei nach der expliziten<br />
Fixierung nur noch durch explizite Reform möglich, nach der staatlichen Fixierung<br />
also durch ebenfalls staatliche Reform, weil sonst schon der kleinste Ansatz einer<br />
Veränderung als falsch bewertet und bestraft werde. Das ist jedoch unrealistisch und<br />
bei Nerius vielleicht nur vor dem Hintergrund des wenig kreativen Sprach- und<br />
Schriftgebrauchs unter der SED-Herrschaft verständlich. Es gibt jedoch einen Sprachgebrauch<br />
außerhalb des staatlichen Zugriffsbereichs – gerade die Reformer betonen<br />
dies ja unentwegt, um den staatlichen Zugriff zu verharmlosen (so auch Löwer<br />
passim). In diesem Bereich werden Fremdwörter integriert und manchmal auch wieder<br />
desintegriert, und hier kamen zum Beispiel auch die Binnengroßbuchstaben auf, deren<br />
sich feministische Reformer bedienen, ohne sich um ihr eigenes Regelwerk zu<br />
kümmern. Eine Zeitlang wurde viel in gemäßigter Kleinschreibung publiziert – alles an<br />
der staatlichen Norm vorbei. Die Kleinschreibung hat nicht der Staat verhindert,<br />
sondern der Unwille der übrigen Gesellschaft, die an kleinschriftlichen Texten das<br />
Stigma einer emanzipatorischen Pädagogik wahrnahm und mehrheitlich mißbilligte,<br />
vielleicht auch aus intuitiver Einsicht in den Wert der Großschreibung. Andernfalls<br />
wäre die Kleinschreibung durchgedrungen.<br />
Löwers Resümee der Entwicklung bis 1901 ist zutreffend:<br />
„Die Leitlinie liegt in der vorsichtigen Vereinfachung, aufbauend auf dem<br />
bestehenden Sprachgebrauch.“<br />
– wobei nur anzumerken ist, daß auch die Vereinfachung bereits im Schreibgebrauch<br />
stattgefunden hatte und nicht von der staatlichen Schulorthographie geschaffen wurde.<br />
(Gedacht ist wohl vor allem an th > t in deutschen Wörtern.)<br />
Nicht richtig ist der nächste Satz:<br />
„Das entspricht dem heutigen Ansatz der Reform.“<br />
Das Gegenteil trifft zu: Der heutige Reformansatz sieht sowohl bei Einzelwortschreibungen<br />
als auch – und viel bedeutsamer – bei Grundsatzentscheidungen<br />
völlig unübliche, zum Teil (pseudo)historisierende, zum Teil ganz künstlich ersonnene<br />
Umorientierungen vor, die sich denn auch ausdrücklich gegen die anerkannten<br />
Entwicklungstendenzen der deutschen Schriftsprache wenden und ihnen „entgegenwirken“<br />
sollen. Das ist bereits ausführlich gezeigt worden und wird unten noch einmal<br />
zusammenfassend nachgewiesen.<br />
Ein Mißgriff besonderer Art, der auf eine gewisse Unvertrautheit mit den Tatsachen<br />
hindeutet, ist die Anführung des Aufsatzes von Wolfgang Menzel, über dessen<br />
abenteuerliche Verfehltheit ich anderswo das Nötige gesagt habe. 137 Man kann nur<br />
mutmaßen, welch eigentümliches Bild sich Löwer aufgrund solcher Irrtümer von der<br />
„Reform“ der Jahre 1901/02 machen mag.<br />
Über die Machenschaften, die zur neuerlichen Privilegierung des Duden führten,<br />
möchte ich mich nicht äußern, weil ich über keine anderen Quellen verfüge als die von<br />
137 Dieselbe Unvertrautheit mit dem Stoff deutet sich auch in der Namensentstellung<br />
Wilhelm von Raumer bzw. Robert von Raumer an, die Löwer in der Revisionsbegründung<br />
bzw. seinem Assistenten J. Menzel in dem fast gleichlautenden Aufsatz „Von Richtern<br />
und anderen Sprachexperten“ (NJW 17/1998) unterläuft.<br />
165
Löwer benutzten und weil mir auch gar nicht daran gelegen ist, das Dudenprivileg zu<br />
verteidigen. Ich plädiere für eine freie Konkurrenz der Wörterbücher unter der<br />
Prämisse, daß an den Schulen die allgemein übliche Rechtschreibung gelehrt wird –<br />
die es entgegen der Behauptung mancher Reformbefürworter tatsächlich gibt und die<br />
in fast allen Zeitungen, Fachbüchern usw. ganz unauffällig existiert, weshalb wir über<br />
die meisten Verstöße augenblicklich stolpern. Es gibt ja auch ungeachtet aller<br />
Flegeleien das gute Benehmen, und ähnlich wie dieses ist die korrekte Schreibweise<br />
ein typisches Hintergrundphänomen, das sich erst bei Abweichungen in Erinnerung<br />
bringt.<br />
Wie angedeutet, war der Unterricht in der ohne weiteres vorausgesetzten allgemein<br />
üblichen Rechtschreibung auch seit je das selbstverständliche Ziel der Schule. Löwer<br />
bemüht sich jedoch nach Kräften, den „allgemein üblichen Schreibbrauch“ als Fiktion<br />
hinzustellen. Wenn die Reformkritiker vom allgemein üblichen Schreibbrauch redeten<br />
– so Löwer –, dann meinten sie eigentlich die Dudenvorschriften. Daß es einen solchen<br />
Schreibbrauch überhaupt nicht gebe, wird für Löwer im Laufe seines Textes immer<br />
mehr zur unumstößlichen Gewißheit. Abgesehen von gewissen Selbstwidersprüchen<br />
begibt er sich damit auch in einen Gegensatz zu den Betreibern der Reform. Als zum<br />
Beispiel die zwischenstaatliche Rechtschreibkommission mit ihren ersten Korrekturvorschlägen<br />
zum Regelwerk aufwartete, wurde dies von mehreren Kultusministern<br />
sowie vom Deutschen Philologenverband und anderen Reformbefürwortern zunächst<br />
als „Annäherung an den tatsächlichen Schreibgebrauch“ begrüßt, dessen Existenz auch<br />
sie mithin als selbstverständlich voraussetzten. (Die Kritiker haben seinerzeit sofort<br />
gekontert, daß die optimale Annäherung an den Schreibgebrauch die vollständige<br />
Rücknahme der Reform wäre ...)<br />
Der Duden hat im großen und ganzen einen „deskriptiven Ansatz“ befolgt (so die<br />
Formulierung der Dudenredaktion in ihrer Stellungnahme für das Bundesverfassungsgericht<br />
vom 11.11.1997). Das war schon aus Gründen der Legitimierung<br />
des Dudenprivilegs notwendig, denn die Kultusminister gingen ja offenbar davon aus,<br />
daß der allgemein übliche Schreibgebrauch am besten im Duden repräsentiert sei.<br />
Dabei hat der Duden allerdings aus vorkommenden Varianten ausgewählt – genau wie<br />
die früheren Schulorthographien. Das kann nicht anders sein, denn sonst brauchte man<br />
kein Orthographikon. Innovativ oder kreativ hat die Dudenredaktion nicht gewirkt.<br />
Wenn Löwer unter ausführlicher Zitierung von Äußerungen der Dudenleitung die<br />
„regulierende“ Tätigkeit des Dudens hervorhebt, übertreibt er oder fällt auf die<br />
Werbesprüche einer Duden-Jubiläumsschrift herein. Die kurzlebigen Neuerungen der<br />
14. Auflage von 1954 (Kautsch usw.) bedürfen noch der Aufklärung; es ist neuerdings<br />
darauf hingewiesen worden, daß der DDR-Duden damit vorangeschritten war, so daß<br />
der West-Duden vielleicht dem Vorwurf der Rückständigkeit entgehen wollte. Auch<br />
mag der Schreibgebrauch damals solche gelegentlichen Eindeutschungen gezeigt<br />
haben, und man könnte ihre Zukunftsträchtigkeit überschätzt haben. Übrigens<br />
entspricht Kautsch der Rustschen Reform; ob auch dies eine Rolle spielte, entzieht sich<br />
meiner Kenntnis. Jedenfalls kann die Episode 138 nicht entkräften, daß der Duden den<br />
Schreibgebrauch deskriptiv festhielt und aufgrund der bekannten rechtlichen<br />
Konstruktion damit zugleich zur amtlichen Norm machte. Das bedeutet aber nicht, daß<br />
138 Löwer versucht, anhand dieser Kautsch-Episode die Fremdworteindeutschung als<br />
normierende Praxis des Duden darzustellen. In Wirklichkeit hat der Duden von solchen<br />
Avantgardismen alsbald die Finger gelassen.<br />
166
die Norm und die normierende Wirkung ohne das staatliche Privileg anders ausgesehen<br />
hätte und sich anders entwickelt haben würde. Das Jahr 1955 bedeutet daher –<br />
ungeachtet seiner geschäftspolitischen Bedeutung für das Haus Duden – für die<br />
Geschichte der deutschen Orthographie keineswegs den Einschnitt, den manche<br />
einschlägig interessierten Reformer darin sehen wollen. Die Funktion als<br />
Leitwörterbuch beruht nicht zur Gänze auf der Amtlichkeit, sondern auf Tradition und<br />
Qualität, reicht daher auch viel weiter zurück als die Privilegierung und überdauert,<br />
wie man heute sieht, auch dessen faktische Außerkraftsetzung; denn alle<br />
konkurrierenden Rechtschreibwörterbücher sind nach kurzer Blüte praktisch vom<br />
Markt verschwunden, während der teurere Duden immer noch auf der Bestsellerliste<br />
steht. Leitwörterbücher (Webster, Oxford) kennt auch die staatsferne englische<br />
Orthographie.<br />
Daß die amtlichen Regeln von 1902 kaum je wieder abgedruckt worden sind, ist<br />
richtig, aber wenn man sie kennt, muß man sagen, daß ihre Aufnahme in den Duden<br />
(der sich gleichwohl immer auf sie berufen mußte) wenig sinnvoll gewesen wäre.<br />
Nach der Integration des Buchdruckerdudens und nach der durchaus sinnvollen, von<br />
den Sprachbenutzern offensichtlich verlangten 139 Ausdifferenzierung der eher<br />
skizzenhaften Originalregeln verlieren letztere ihre Funktion. Die Legitimationsrhetorik<br />
des Duden kann man auf sich beruhen lassen. Angesichts der erreichten und<br />
offenbar gewünschten Regelungsdichte wäre ein Beharren auf den amtlichen Regeln<br />
von 1902 weltfremd. Jeder von uns würde sich wundern, wenn er Texte zu lesen<br />
bekäme, die von den 1902 noch gegebenen Möglichkeiten freien Gebrauch machten!<br />
Der Schritt zum Buchdruckerduden war unausweichlich.<br />
Hierzu eine grundsätzliche Bemerkung: Die vielgeschmähte Ausdifferenzierung der<br />
Dudenregeln (die übrigens im Alltag eine sehr geringe Rolle spielen, weil die meisten<br />
Benutzer einfach im Wörterverzeichnis nachschlagen und viele nicht einmal wissen,<br />
daß es auch ein Regelwerk gibt 140 ) beruht auch darauf, daß immer mehr orthographische<br />
Materie, die zunächst ganz anspruchslos im Wörterverzeichnis festgehalten<br />
war, (auch) in das Regelwerk überführt worden ist. So gab es seit langem einen Usus<br />
der Getrennt- und Zusammenschreibung, doch die Teilnehmer der II. Orthographischen<br />
Konferenz trauten sich nicht zu, diesen Usus auf Regeln zu bringen. Das hat der Duden<br />
inzwischen nachgeholt – schlecht und recht, muß man sagen, aber doch wohl eher<br />
recht als schlecht. Die Neuregelung hat es anders machen wollen, und zwar ganz<br />
anders und nicht bloß deskriptiv, sondern indem sie der Tendenz der<br />
139 Das bestätigen die unzähligen Anfragen an die Sprachberatung. Auf diese Weise ist auch<br />
die oft bespöttelte Dreibuchstabenregelung immer weiter ausgebaut worden, weil man<br />
offenbar wissen wollte, wie der einfache Grundansatz sich auf die Sonderfälle bis hin zu<br />
Ballettheater auswirkt. Für Schule und Alltag spielt das alles keine Rolle. Richtig ist<br />
natürlich, daß die Schreibweise von Ballettheater bei der Seltenheit solcher Wörter nicht<br />
aus dem Schreibbrauch abgelesen sein kann; sie beruht vielmehr auf einem Zu-Ende-<br />
Denken des durchaus empirisch gestützten Grundansatzes. An der deskriptiven<br />
Grundhaltung des Duden ändern solche marginalen Ausfüllungen zunächst<br />
unberücksichtigter und daher ungeregelter Nischen nichts. – Der Reformer Gallmann<br />
sagte 1985 mit Recht: „Die meisten Rechtschreibprobleme verschwinden nicht, wenn<br />
man die zugehörigen Regelwerke zusammenstreicht oder durch lauter ,kann‘-Formeln<br />
ersetzt.“ (Gallmann 1985, S. VI).<br />
140 Vgl. Augst et al.: Rechtschreibwörterbücher im Test. Tübingen 1997.<br />
167
Sprachgemeinschaft zur Zusammenschreibung „entgegenzuwirken“, also das zu<br />
Regelnde zugleich durchgreifend zu verändern versuchte – und ist damit gescheitert.<br />
Was der damalige Dudenchef über die sprachpflegerische Funktion des Duden schrieb,<br />
zeugt von erheblicher Selbstüberschätzung, zumal es sich weit über die<br />
Rechtschreibung hinaus auf Wortbestand und Grammatik bezieht. Wann wäre aber je<br />
ein Wort in den Sprachgebrauch aufgenommen oder aus ihm ausgeschieden worden,<br />
weil es im Duden stand oder nicht stand? Welche grammatische Norm ist durch die<br />
Dudengrammatik beeinflußt worden? Solche Gedankenspiele finden doch nur in<br />
schulmeisterlichen Leserbriefen bornierter Sprachrichter statt, die den Duden mit der<br />
deutschen Sprache gleichsetzen: Was nicht im Duden steht, existiert nicht.<br />
Gänzlich verfehlt ist Löwers Argument, die Schreibregeln des Duden<br />
„dürften in ihrer Gesamtheit schon deshalb nicht mehr im Volk gewachsen sein<br />
können, weil sie nach soweit ersichtlich allgemeiner sachverständiger Meinung<br />
auch von ,Fachleuten‘ nicht mehr beherrscht werden.“<br />
Von vergleichbarer Qualität wäre die Behauptung, das „Große Wörterbuch der<br />
deutschen Sprache“ könne nicht den Wortschatz der deutschen Sprache dokumentieren,<br />
weil niemand alle diese Wörter kenne, das Fremdwörterbuch aus den nämlichen<br />
Gründen nicht die tatsächlich vorgefundenen Fremdwörter usw.<br />
Zunächst einmal: Die ausdrücklich in allgemeiner Form dargestellten orthographischen<br />
Regeln sind im Duden von 1991 unter 171 „Richtlinien“ gebracht, die allerdings<br />
größtenteils eine ganze Reihe von Unterregeln abdecken. Dieses eigentliche<br />
Regelwerk ist gewiß nicht optimal gelungen, aber das hängt mit seinem<br />
Doppelcharakter zusammen: Es soll einerseits allgemeinverständlich und von jeder<br />
Sekretärin benutzbar sein, andererseits aber eine vollständige und wissenschaftlich<br />
akzeptable Beschreibung alles dessen, was sich überhaupt auf allgemeine Regeln<br />
bringen läßt. Vieles ist durchaus gelungen; insgesamt läßt sich dieselbe<br />
Regelungsmaterie m. E. wissenschaftlich befriedigender darstellen. Nun zerfällt aber<br />
die deutsche Gesamtsprache in zahlreiche Teilsprachen (im Sinne der „linguistischen<br />
Arbeitsteilung“), und niemand „beherrscht“ sie alle. Eine solche Forderung wäre von<br />
vornherein unrealistisch, denn die Gesamtsprache stellt schon rein begrifflich<br />
niemandes Kompetenz dar, sondern eine abstrakte Größe, die nur in Wörterbüchern<br />
usw. aufgehoben ist. So muß man nun auch das Gesamtregelwerk der deutschen<br />
Orthographie verstehen. Dabei ist es durchaus denkbar, noch weit über das<br />
Dudenregelwerk mit seinen 171 Adressen hinauszugehen. Beispielsweise ist allein die<br />
Zeichensetzung von Renate Baudusch noch viel detaillierter dargestellt worden als im<br />
Duden; sie kommt auf 227 Regeln, Dieter Berger gar auf 338. Auch diese vielen<br />
Regeln sind nicht erfunden, sondern dem tatsächlichen Schreibusus entnommen und<br />
mit Originaltexten belegt. Ähnlich verhält es sich mit der Getrennt- und Zusammenschreibung<br />
141 usw. Kurz gesagt: Die orthographischen Tatsachen der Gesamtsprache<br />
sind zu komplex, als daß der einzelne sie „beherrschen“ könnte; das muß er aber auch<br />
gar nicht, und es wäre ein Grundirrtum (und ein pädagogischer Kunstfehler), das<br />
Dudenregelwerk in diesem Sinne auszulegen.<br />
Noch deutlicher wird die Fehlerhaftigkeit des Löwerschen Gedankengangs, wenn man<br />
das Wörterverzeichnis ins Auge faßt. Allerdings käme eben deshalb auch niemand auf<br />
141 Herberg, Dieter/Baudusch, Renate: Getrennt oder zusammen? Ratgeber zu einem<br />
schwierigen Rechtschreibkapitel. Leipzig 1989.<br />
168
die Idee, die Authentizität der vom Duden vorgelegten Beschreibung anzuzweifeln, nur<br />
weil nicht jedermann auf Anhieb weiß, wie man Khedive oder Rallye schreibt. Diese<br />
und Zehntausende von anderen Wörtern sind typischerweise etwas zum Nachschlagen,<br />
jedenfalls in einer grundsätzlich nicht rein phonographischen Schrift. Das spricht aber<br />
nicht gegen den Duden und seinen Anspruch, den Usus deskriptiv zuverlässig zu<br />
erfassen.<br />
Das Löwersche Argument ist aber noch aus einem anderen Grund hinfällig. Die<br />
inhärenten Regularitäten der Sprache sind stets unvergleichlich komplexer als die<br />
detaillierteste Beschreibung, also die sogenannten „Regeln“, die wir ausformulieren<br />
können. Für die Grammatik ist das ganz offensichtlich. Die soeben erschienene<br />
„Deutsche Grammatik“ des IDS (die übrigens in „alter“ Rechtschreibung abgefaßt ist;<br />
man möchte eben auch in einigen Jahren noch gelesen werden ...) hat 2.500 Seiten und<br />
beschreibt ausdrücklich nur einen Teil der Sprachkompetenz eines normalen<br />
Deutschen. Die Wortbildung z. B. ist ganz ausgeklammert; man könnte darüber weitere<br />
zweitausend Seiten verfassen und wäre von Vollständigkeit immer noch weit entfernt.<br />
Auch das feine, von zahllosen Analogien durchzogene Gespinst der rechtschreiblichen<br />
Kompetenz (zum Beispiel die Gründe, aus denen manche Schreiber an manchen<br />
Stellen ein Semikolon setzen) ist über alle Vorstellung komplex. Wir ziehen nur aus<br />
praktischen Gründen irgendwo einen Strich und überantworten den „Rest“ an die<br />
Stilistik.<br />
Als Beleg für eigenmächtiges Abweichen des Duden von der amtlichen Regelung führt<br />
Löwer in Anlehnung an Glinz an, daß „das klare ,Dienstags‘ der amtlichen Regeln in<br />
der Auflage 1934 (ohne Begründung) zu ,dienstags‘ geworden“ ist. Nun ist es von<br />
vornherein abwegig, vom Rechtschreibwörterbuch eine „Begründung“ einzelner<br />
Wortschreibungen zu verlangen, die ja nur darin bestehen könnte, zu jedem Eintrag<br />
eine Fülle von Belegstellen anzuführen. Man muß vielmehr bis zum Beweis des<br />
Gegenteils davon ausgehen, daß das Rechtschreibwörterbuch den vorfindlichen Usus<br />
registriert. Glinz weist übrigens mit Recht darauf hin, daß der Duden schon 1905<br />
angab, in Bayern werde entgegen den amtlichen Regeln dienstags geschrieben. Ich<br />
nehme an, daß diese Entscheidung des bayerischen Regelbuchs (von Ammon) auch<br />
nicht willkürlich getroffen war, sondern auf Beobachtung des Sprachgebrauchs<br />
beruhte. Dann wären es also die Bayern selbst gewesen, die sich im schwankenden<br />
Schreibgebrauch für diese Lösung entschieden haben. Übrigens liegt sie ganz auf der<br />
Linie der allgemeinen Entwicklung des adverbialen Genitivs, weshalb ja auch die<br />
jetzige Reform eine letzte Ausnahme zu beseitigen unternimmt: Hungers > hungers.<br />
Ein willkürlicher Eingriff des Duden war dies also in keinem Fall, sondern eine –<br />
vermutlich empirisch gerechtfertigte – Neubewertung des Usus.<br />
Zur angeblich nicht beherrschbaren Kommaregelung und zur Dreibuchstabenregel ist<br />
in meinem Gesamtkommentar das Nötige gesagt, ich gehe daher nicht mehr darauf ein.<br />
Das Beispiel Ballettheater, auf das Löwer trotz offenkundiger Randständigkeit immer<br />
wieder zurückkommt, hat vermutlich mit humanistischem Bildungsdünkel „Graecumbewehrter“<br />
Duden-Mitarbeiter (wie Löwer sich ausdrückt) nichts zu tun, sondern<br />
beruht auf der einfachen Überlegung, daß auf das eigentlich geforderte dritte t tatsächlich<br />
kein weiterer Konsonant folgt, sondern nur ein konsonantischer Hilfsbuchstabe,<br />
so daß die Ausfüllung dieser Regelnische durch den Duden ganz konsequent erscheint.<br />
Übrigens haben die Reformer auf die lesepsychologischen und sprachvergleichenden<br />
Einwände gegen die reformierte Dreibuchstabenregel nie wirklich geantwortet. Im<br />
169
eformierten Duden Bd. 9 wird wieder und wieder gelehrt: „Zur besseren Lesbarkeit“<br />
(!) „kann ein Bindestrich gesetzt werden: Nuss-Schokolade.“ Daß Nußschokolade<br />
perfekt lesbar war, bleibt bezeichnenderweise unerwähnt.<br />
Dieter E. Zimmers Rechtschreibtest nach dem Muster des Kosogschen Diktats ist auch<br />
nach dem Urteil der Reformer wertlos. Auch nach der Neuregelung lassen sich entsprechende<br />
„Tests“ anfertigen, die die Unlernbarkeit der reformierten Rechtschreibung<br />
„beweisen“. Ein stärkerer Beweis ist die außerordentliche Fehlerhaftigkeit neuschreiblicher<br />
Texte, die von der KMK, von den Kultusministern und vom IDS herausgebracht<br />
werden. Die Stellungnahme des IDS für das Bundesverfassungsgericht zum Beispiel<br />
enthält siebzehn (!) Verstöße gegen die selbstgewählte neue Rechtschreibung, die doch<br />
sozusagen im eigenen Hause ausgearbeitet worden ist und von dort mit allen Mitteln<br />
propagiert wird.<br />
Es war nach Löwer die Absicht der Reform, „die Grundregeln der deutschen Rechtschreibung<br />
von 1901/02 wieder zu stärken“ und die Ausnahmen zurückzuschneiden.<br />
Das mag zutreffen, aber dieses Ziel ist nach dem Urteil der sprachwissenschaftlichen<br />
Kritik nicht erreicht worden. Wenn man sich an das Originalwerk hält und nicht an die<br />
gefällig vereinfachten, in hoher Stückzahl verbreiteten Propagandaschriften, wird man<br />
unweigerlich zu der Erkenntnis kommen: Die Neuregelung ist evident ungeeignet,<br />
die Erlernung der Rechtschreibung zu erleichtern. Schon das Ausmaß der<br />
Veränderungen ist viel zu gering, um einen nennenswerten Effekt zu erzielen. Viele<br />
Eingriffe beziehen sich auf völlig marginale Einzelwortschreibungen (Frigidär,<br />
Bonboniere, Nessessär, Gämse, Ständelwurz), die in Schülerarbeiten nicht<br />
vorkommen. Außerdem ist die Menge der Regeln und Ausnahmen nicht kleiner<br />
geworden. Noch wichtiger ist der Hang, gegen die tatsächliche Sprachentwicklung<br />
anzukämpfen und die intuitiv sehr wohl erfaßbare Systematik an zahlreichen Stellen<br />
willkürlich zu zerreißen. Als wohl krassestes Beispiel kann die Getrennt- und<br />
Zusammenschreibung gelten. Hier wird bei grundsätzlicher (aber nie ausgesprochener<br />
und begrifflich offenbar überhaupt nicht bewältigter) Anerkennung der Zusammenschreibung<br />
von Wortgruppen eine Menge vollkommen willkürlicher Einschränkungen<br />
verordnet, so daß es jetzt zum Beispiel heißen soll: auseinander setzen (aber<br />
zusammensetzen), heilig sprechen (aber freisprechen) usw.<br />
Sowohl für Löwers Text als auch für die gleichsinnigen Stellungnahmen der anderen<br />
Reformbefürworter (Deutscher Philologenverband, GEW usw.) sei hier festgestellt:<br />
Weder das beliebte Gerede vom „Regelwust“ des bisherigen Duden noch der Lobpreis<br />
der „Vereinfachungen“ durch die gegenwärtige Neuregelung können auf Autopsie<br />
beruhen. Was den Duden betrifft, so zeigt eine Sichtung des Regelteils, daß zwar<br />
manches aus systematischer Sicht gestrichen werden könnte, was offensichtlich nur auf<br />
Wunsch der zahllosen ratsuchenden Benutzer hineingenommen worden ist, und daß<br />
auch manche andere pragmatisch motivierte Eigenheit aus wissenschaftlichsystematischer<br />
Sicht geändert werden könnte, daß aber die 1991 vorgelegte<br />
Beschreibung des allgemein üblichen Schreibgebrauchs insgesamt nicht schlecht und<br />
auch recht gut verständlich ist. Demgegenüber ist festzuhalten, daß das neue<br />
Regelwerk auch nach Aussage einiger Verfasser (Sitta, Gallmann, Zabel) extrem<br />
schwerverständlich und der didaktischen Aufbereitung bedürftig ist. Die Erfahrung hat<br />
gezeigt, daß nicht einmal die Verfasser imstande sind, den Text vollständig zu<br />
verstehen. Schaeder kennt sich, wie ich nachgewiesen habe, in seinem ureigensten<br />
Teilbereich, der Getrennt- und Zusammenschreibung, nicht hinreichend aus. Die neue<br />
170
Kommaregelung, besonders § 77(5), ist so schwer zu verstehen, daß Gallmann und<br />
Sitta sie im „Handbuch Recht<strong>schreiben</strong>“ (Zürich 1996) und im Duden-Taschenbuch<br />
(1996) nachweislich falsch interpretieren, ebenso die Dudenredaktion in Duden Bd. 9<br />
und im Taschenbuch „Punkt, Komma und alle anderen Satzzeichen“ (1997), von der<br />
falschen Anwendung in den eigenen Texten der Reformer ganz zu schweigen. Die neue<br />
Getrennt- und Zusammenschreibung ist wegen Unverständlichkeit nicht anwendbar.<br />
Ob es weitgehend oder weit gehend, gleichbleibend oder gleich bleibend heißen muß,<br />
ist offenbar auch bei größter Anstrengung nicht herauszufinden. Die Anwendung der<br />
entsprechenden Beliebigkeitsklausel ist in diesen Fällen nur durch das Versagen der<br />
Reformer gerechtfertigt und nicht, wie es eigentlich sein sollte, durch eine objektiv<br />
vorhandene Übergangszone im sich wandelnden Sprachsystem.<br />
Das neue Regelwerk ist um ein Drittel umfangreicher als das bisherige, und selbst<br />
wenn man die vermehrten Beispiele abzieht, bleibt es mindestens gleich umfangreich.<br />
Die Kommaregeln sind nicht von 52 auf 9 reduziert, wie immer wieder zu lesen ist,<br />
sondern umfassen nach wie vor 10 DIN-A4-Seiten. Löwer spricht gelegentlich von den<br />
„inzwischen ausnahme-gesättigten Regeln von 1901/02“. Man kann ihm nur<br />
empfehlen, einmal das neue Regelwerk zur Hand zu nehmen und beispielsweise §§ 34<br />
und 36 nachzulesen.<br />
Die außerordentliche Kompliziertheit der Neuregelung zusammen mit ihrer<br />
Inkonsistenz in zentralen Bereichen hat schon jetzt die praktische Folge, daß der<br />
Rechtschreibunterricht an den Schulen in bisher unbekannter Weise intensiviert und<br />
damit auf- statt abgewertet wird. (Diese Intensivierung hat gelegentlich sogar zu<br />
unspezifischen Verbesserungen der Rechtschreibleistung geführt; auch dazu, daß<br />
mancher Lehrer sich zum erstenmal mit den Grundlagen der Orthographie beschäftigte.<br />
Leider werden ja unsere Lehramtsstudenten nie systematisch in Rechtschreiblehre<br />
ausgebildet, sondern schlagen von Fall zu Fall im Duden nach wie jeder Laie.) Das<br />
Staatsinstitut für Schulpädagogik und Bildungsforschung in München wendet selbst<br />
diese Entwicklung noch ins Positive, wenn es in seinen (übrigens äußerst fehlerhaften)<br />
„Handreichungen“ schreibt:<br />
und<br />
„Zweifellos wird die Neuregelung dem Rechtschreibunterricht insgesamt einen<br />
gewaltigen Impuls geben.“ 142<br />
„Die Neuregelung der Rechtschreibung bedingt, dass für jeden – Lehrer und<br />
Schüler – der Umgang mit einem Rechtschreiblexikon selbstverständlicher sein<br />
muss denn je.“ 143<br />
Dies trifft zu. Auch nach zwei Jahren muß der Neuschreiber fortwährend nachschlagen,<br />
um die korrekte Schreibweise von Allerweltswörtern wie z. B. weitgehend<br />
herauszufinden (und wird dennoch – wie gerade dieses Beispiel zeigt – in ein<br />
orthographisches Labyrinth geschickt, aus dem es oft keinen Ausweg gibt 144 ).<br />
142 Handreichungen „Neuregelung der deutschen Rechtschreibung“. ISB München 1996, S.<br />
30.<br />
143 Ebd. S. 41.<br />
144 weitgehend wird nach § 36 getrennt geschrieben, weil der erste Teil steigerbar ist: weit<br />
gehend. Wird er jedoch gesteigert, dann schreibt man ihn nach § 34(1) in Verbindung mit<br />
§ 36 E1 zusammen: weitergehend ... Der Blick ins amtliche Wörterverzeichnis bringt<br />
keine Auflösung dieses Paradoxons, sondern erhöht die Verwirrung. Wie sich die<br />
171
Die Entstehung der Neuregelung wird zutreffend dargestellt. Daß die Neuregelung im<br />
„Sprachreport“ „ausführlich“ vorgeführt worden sei, kann man allerdings nicht sagen.<br />
Vielmehr war gerade diese verkürzte Darstellung äußerst irreführend. Daß kein<br />
Wörterverzeichnis vorgelegt worden war, bevor die endgültigen Beschlüsse gefaßt<br />
wurden (die Verzögerung durch Minister Zehetmairs Intervention war ja nicht<br />
vorgesehen), bleibt unerwähnt. Sobald fundierte Kritik möglich war, kam sie auch<br />
schon „zu spät“. Löwers Feststellung „Schon die Beschlüsse der Wiener<br />
Orthographiekonferenz von 1994 weisen kaum noch einen Bezug zu früheren<br />
Konzepten auf“ trifft zu und läßt sich teilweise schon auf den Vergleich der Vorlagen<br />
von 1995 und 1992/3 beziehen. Daher ist es unrichtig, wenn die Reformer immer<br />
wieder behaupten, es habe einen jahrzehntelangen Reifungsprozeß gegeben. Vielmehr<br />
gab es aufgrund der Entscheidungen der Kultusbürokratie vollständige Kehrtwendungen,<br />
so daß die gegenwärtig geplante Reform in allen zentralen Punkten das<br />
Gegenteil dessen ist, was die Reformer noch 1993 einstimmig für richtig hielten:<br />
gemäßigte Kleinschreibung, Tilgung der Vokallängenbezeichnung, Fremdwortintegration,<br />
Einheitsschreibung das auch für die Konjunktion.<br />
Wie grobschlächtig die Reformer im Eifer des Zurücksteckens zu Werke gingen, läßt<br />
sich auf Schritt und Tritt beobachten. So sind von mehreren Dutzend h, die seit zweihundert<br />
Jahren zur Tilgung anstanden (und besonders 1876 ein Hauptprogrammpunkt<br />
der Reformer um Konrad Duden waren), schließlich nur zwei geopfert worden, in<br />
Känguru und rau. Was nun das letztere betrifft, so lassen wir die etymologische<br />
Berechtigung des h (die noch aus Rauchwerk = Pelz ersichtlich ist und dem Namen<br />
Allerleirauh Sinn gibt) beiseite und erinnern nur an die feinsinnigen Untersuchungen<br />
Roemhelds zum „Blickfang-h“ bei sinntragenden Wörtern. Alle Analoga zu rau<br />
(schlau, blau, flau, genau) haben Ober- und/oder Unterlängen, nur rau nicht. Für<br />
solche Feinheiten haben die Reformer keinen Sinn. (Oder doch? Immerhin haben sie<br />
nicht erwogen, zäh und roh entsprechend zu vereinfachen: zä und ro sehen noch<br />
armseliger aus als rau und sind wohl deshalb vermieden worden.) Unvergeßlich und<br />
für den Geist der Reformer überaus bezeichnend bleibt jener Vorschlag von 1995, das<br />
h aus Lehde und Lohde zu entfernen – Wörtern, die bis dahin niemand kannte und die<br />
daher der Erleichterung nicht bedurften.<br />
Löwer behauptet, „Grundstrukturen der deutschen Orthographie“ seien nicht betroffen,<br />
und führt als Beweis den eigenen, offenbar mühelos lesbaren Text an. Dieser Text, der<br />
– bei konservativster Zeichensetzung und Silbentrennung – in der Tat nur wenige<br />
(kaum hundert) Verstöße gegen die Neuregelung enthält und zweifellos gut lesbar ist,<br />
beweist aber nur, daß die Neuerungen sich quantitativ in engen Grenzen bewegen<br />
(weshalb sie ja auch schon aus arithmetischen Gründen keine nennenswerte<br />
Erleichterung bringen können und die außerordentlichen materiellen und immateriellen<br />
Kosten gewiß nicht rechtfertigen). Die gute Lesbarkeit neuschreiblicher Texte beruht<br />
auf dem Überwiegen der traditionellen Schreibungen, nicht auf der besonderen<br />
Qualität der Neuschreibungen. Quantitative Argumente sind hier überhaupt fehl am<br />
Platz.<br />
Die Neuregelung greift sehr wohl in Grundstrukturen der deutschen Orthographie ein.<br />
Sie stellt in zentralen Bereichen die bisherige Motivation bestimmter Schreibgewohn-<br />
172<br />
Wörterbücher (einschl. Duden Bd. 9) aus der Affäre ziehen, ist ein sehenswertes<br />
Schauspiel. Die vom IDS ausgearbeiteten Popularisierungen in Beilagen von „Woche“<br />
und „Hörzu“ sparen den ganzen Komplex wohlweislich aus.
heiten geradezu auf den Kopf. Dies erfaßt auch durchaus sehr viele Wörter, nämlich<br />
mehrere tausend. Aus dem Gesamtprojekt greife ich nur drei Bereiche heraus.<br />
• Die neue Getrennt- und Zusammenschreibung will erklärtermaßen einer Tendenz<br />
der Sprachgemeinschaft zur Zusammenschreibung „entgegenwirken“. 145 Sie führt<br />
willkürliche neue Kriterien wie die ig/isch/lich-Regel ein (heilig sprechen, aber<br />
freisprechen, fertig stellen, aber bereitstellen), das Verbot der Zusammenschreibung<br />
mit -einander- (neu nur noch auseinander setzen). Sie löscht die Regel, wonach<br />
feste Begriffe wie eisenverarbeitend, blutsaugend, hilfesuchend (jeweils mit<br />
Objektinkorporation) zusammengeschrieben werden, sie tilgt echte Komposita wie<br />
besorgniserregend, alleinstehend, allgemeinbildend, schwerbehindert u.v.a. Das<br />
ergibt nach Munskes Berechnungen (die sich auf vertrauliche Unterlagen der<br />
Wörterbuchverlage stützen) rund 4000 vernichtete Wörter, bezogen auf die<br />
Dudenkartei. Selbst Allerweltswörter wie sogenannt oder zufriedenstellend werden<br />
beseitigt und sind daher in neuen Wörterbüchern nicht mehr zu finden! Von einer<br />
behutsamen Systematisierung der deutschen Orthographie kann man hier wohl nicht<br />
sprechen.<br />
• Bezüglich der Groß- und Kleinschreibung habe ich bereits gesagt, welche Tendenz<br />
sich wirklich durchgesetzt hat. Sie ist von Munske mustergültig beschrieben<br />
worden, wobei er mit einer etwas anderen Begrifflichkeit arbeitet als ich. Die<br />
Neuregelung durchkreuzt die wirklich geltende Motivation der Groß- und<br />
Kleinschreibung und führt nicht etwa bis 1901, sondern in die erste Hälfte des<br />
vorigen Jahrhunderts zurück, als eine Entwicklung zu vermehrter Großschreibung<br />
einsetzte, die erst durch Duden, Wilmanns und andere, vor allem<br />
Schulorthographen, als systemfremd erkannt und zurückgedrängt wurde. Die<br />
Neuschreibungen des Öfteren, nicht im Geringsten, der Einzelne, Ersterer und<br />
Letzterer wirken daher archaisch. Es sind eindeutig Rückschritte auf dem Weg zur<br />
textbezogenen Lesefreundlichkeit, und zwar um der Erleichterung für Abc-Schützen<br />
willen, die mit der primitiven Artikelprobe eine Zeitlang ganz gut zurechtkommen<br />
mögen.<br />
• Die neue Kommasetzung streicht die ganze Entwicklung zum grammatischen<br />
Komma durch und führt zu einer unerträglichen Beliebigkeit, sofern sie nicht, wie<br />
von allen Reformern in ihren eigenen Texten, souverän ignoriert wird. Statt den<br />
Schülern zunächst viele Kommafehler der subtileren Art nachzusehen, zerstört die<br />
Neuregelung die Ratio der Kommasetzung selbst. Wie undurchdacht die neue<br />
Kommasetzung in Wirklichkeit ist, kann man am Komma zwischen Hauptsätzen<br />
sehen, das nach der neuen Grundregel entfällt, wenn eine Konjunktion vorhanden<br />
ist. Die Begründung lautet, eine Hauptsatzreihe sei eine „Aufzählung“ von<br />
Hauptsätzen, und zwischen den Gliedern einer Aufzählung stehe nun einmal<br />
entweder ein Komma oder eine Konjunktion. Das ist grundfalsch und<br />
textlinguistisch unbelehrt. Statt die ausführliche Begründung zu wiederholen, die<br />
ich andernorts gegeben habe, möchte ich nur die Frage aufwerfen, wieso das<br />
Komma zwischen Hauptsätzen gleichwohl noch zulässig sein soll. Zwischen den<br />
145 Schaeder in Augst et al. (Hg.) 1997, S. 203. Vgl. Deutsche Rechtschreibung: Vorschläge<br />
zu ihrer Neuregelung. Hg. vom Internationalen Arbeitskreis für Orthographie. Tübingen<br />
1992, S. 146; sinngemäß ebenso schon in den Wiesbadener Empfehlungen von 1958.<br />
Weiteres in Zabel 1996.<br />
173
konjunktional verbundenen Gliedern einer Aufzählung ist es doch sonst gerade<br />
ausgeschlossen! Die pseudoliberale Neuregelung ist also offen widersprüchlich.<br />
(Auch die Reformer Gallmann und Sitta haben sie kritisiert [Handbuch<br />
Recht<strong>schreiben</strong>. Zürich 1996].)<br />
Dies alles ist kein Streit um Kleinigkeiten, es betrifft die allerhäufigsten Recht<strong>schreiben</strong>tscheidungen<br />
der täglichen Praxis. Eine in sich widersprüchliche Regelung aber<br />
zerrüttet das Sprachgefühl. Bald wird niemand mehr wissen, welche Funktion das<br />
Komma eigentlich hat.<br />
Wie Löwer angesichts dieser fundamentalen Abkehr von der bisherigen Entwicklungrichtung<br />
der deutschen Orthographie behaupten kann:<br />
ja sogar:<br />
„Die vorliegende Reform bewegt sich im Rahmen der gewachsenen Strukturentscheidungen.“<br />
„(...) da die Neuregelung, wie allgemein anerkannt ist, an den Grundstrukturen<br />
der deutschen Orthographie nichts ändert (...)“ (Hervorhebung hinzugefügt)<br />
ist mir unverständlich. Es dürfte schwer sein, außerhalb der unmittelbar Reformbeteiligten<br />
einen Sprachwissenschaftler zu finden, der hier zustimmen würde.<br />
Löwers Versuch, die Dudenregelung in einen Gegensatz zum tatsächlichen Schreibbrauch<br />
zu bringen und daraus die Möglichkeit zu konstruieren, daß die Neuschreibungen<br />
einen schon etablierten, im Duden jedoch nicht berücksichtigten Usus<br />
verkörpern, ist verfehlt. Dabei lehnt er bemerkenswerterweise eine „Auswertung der<br />
Tagespresse“ ab, „denn hier wird geschrieben, wie der Duden schreibt“. Das ist falsch.<br />
Die Tagespresse (von der manche Laien irrigerweise annehmen, die Texte liefen durch<br />
eine dudenkonforme automatische Rechtschreibkorrektur und spiegelten daher nur die<br />
Dudenvorschrift wider) schreibt durchaus nicht einfach nach Duden, sondern bringt die<br />
sprachliche Intuition auch gegen den Duden zur Geltung und treibt damit eine<br />
Entwicklung weiter, die der Duden dann im Normalfall mit einigem zeitlichen Abstand<br />
aufgreift. So <strong>schreiben</strong> zum Beispiel die Zeitungen ziemlich einheitlich Schneller<br />
Brüter, während der Duden und kurioserweise auch die Neuregelung, die eben<br />
überhaupt keine empirische Grundlage hat, die Kleinschreibung vorsehen. Umgekehrt<br />
schreibt der Duden (wie auch die Neuregelung) vor: das ist ihm (völlig)<br />
Wurst/Wurscht. 146 Die Zeitungen <strong>schreiben</strong> es fast immer klein. Das Wort ernstnehmen<br />
wird in allen Formen sehr oft zusammengeschrieben, aber weder der Duden noch –<br />
überraschenderweise – die Neuregelung wollen es zulassen. Solcher Differenzen gibt<br />
es viele. Wieder und wieder behauptet Löwer jedoch, nicht der Duden beobachte den<br />
Schreibbrauch, sondern die Sprachgemeinschaft beobachte („seismographisch“), was<br />
die Dudenredaktion an Neuerungen einführe.<br />
Außerdem ist die Abwertung der Tagespresse als Quelle methodisch verfehlt, denn die<br />
Tagespresse ist aufgrund des gewaltigen „Textdurchsatzes“ der wichtigste Ort, an dem<br />
Orthographie für nahezu jedermann stattfindet. Kurz gesagt: Wir <strong>schreiben</strong> zuerst, wie<br />
wir es in der Schule lernen, später aber vor allem so, wie wir es in den Zeitungen lesen.<br />
146 Nachtrag: Die Rechtschreibkommission hat dies unter dem Eindruck der Kritik 1999<br />
stillschweigend geändert, die neuen Wörterbücher kennen jetzt nur noch<br />
Kleinschreibung.<br />
174
Überhaupt prägt das Lesen die Rechtschreibgepflogenheiten einer Gesellschaft viel<br />
stärker als der Regeldrill im Unterricht. Das wußte z. B. Wilmanns (1880, a.a.O. S.<br />
111), während unsere modernen Reformer fast nie vom Lesen sprechen.<br />
Löwer geht geflissentlich über die anerkannt katastrophale neue Getrennt- und Zusammenschreibung<br />
hinweg, die im Dezember 1997 selbst von der Rechtschreibkommission<br />
zum Abschuß freigegeben wurde. Statt dessen hebt er immer wieder auf<br />
gelegentlich vorgekommene falsche Beispiele ab, als seien sie typisch für die<br />
Reformkritik. Mit keinem Wort geht Löwer auf Horst H. Munskes fulminanten Beitrag<br />
in der ihm durchaus bekannten Textsammlung Eroms/Munske (Hg.) 1997 ein. Munske<br />
und Eisenberg eignen sich inzwischen sehr wohl als „Kronzeugen“ der Reformkritik.<br />
Löwer behauptet schlicht:<br />
„Für die These von der vollständigen Verfehltheit der Reform stehen im öffentlichen<br />
Diskurs nur wenige Namen (Werner H. Veith, Theodor Ickler, Friedrich<br />
Denk).“<br />
Das ist wirklich zuviel der Ehre. Mit der Nennung unserer Namen ist es aber auch<br />
nicht getan. Die Argumente, die von den Genannten (und vielen anderen) vorgetragen<br />
worden sind, wollen beantwortet sein.<br />
Was die Abweichungen zwischen den neuen Wörterbüchern betrifft, so sollte sich<br />
Löwer lieber nicht auf die vom IDS verbreitete Untersuchung von Güthert/Heller<br />
berufen, vgl. meine Entlarvung dieses Täuschungsversuchs in „Propaganda und<br />
Wirklichkeit“. Auch Peter Eisenberg hat sich inzwischen öffentlich von Augsts diesbezüglicher<br />
Erklärung distanziert („Sprachreport“ 1/98). 147 Wie die Varianten<br />
einerseits, die Abweichungen bei der „Umsetzung“ der Reform andererseits zu<br />
beurteilen sind, habe ich in meinen Büchern und Aufsätzen dargelegt und brauche<br />
daher hier auf den vergeblichen Versuch einer Verharmlosung der Reformmängel nicht<br />
einzugehen. Sonderbar mutet die Erwägung Löwers an, ob es nicht besser gewesen<br />
wäre, nur ein Regelwerk ohne Wörterverzeichnis herauszugeben und die Umsetzung<br />
dem Wörterbuchmarkt zu überlassen. Wer sich mit der Materie besser auskennt und<br />
auch das grundsätzliche Verhältnis von Regelwerk und Wörterverzeichnis zu beurteilen<br />
vermag, wird diese Idee – vorsichtig gesagt – abenteuerlich finden. Das sehen übrigens<br />
auch die Wörterbuchmacher so, die zum Beispiel während der Mannheimer Anhörung<br />
am 23. Januar 1998 dringend ein umfangreicheres amtliches Wörterverzeichnis<br />
anmahnten.<br />
Im übrigen trifft es nicht zu, daß die Reform die Regeln „liberalisiert“. Für eine große<br />
Zahl von neuen Regeln und Einzelwortschreibungen liegt das Gegenteil auf der Hand.<br />
Es ist keineswegs liberal, die herkömmliche Schreibung sogenannt, jedesmal,<br />
auseinandersetzen, leid tun, weh tun usw. für nunmehr falsch zu erklären und allein<br />
die Schreibung so genannt, jedes Mal, auseinander setzen, Leid tun und wehtun für<br />
richtig. Es ist weder liberal noch eine Erleichterung, Corned beef, von seiten usw. zu<br />
verbieten und dafür jeweils zwei neue Schreibungen (Cornedbeef oder Corned Beef,<br />
vonseiten oder von Seiten) als allein zulässig anzubieten. Warum in aller Welt soll die<br />
bisher übliche Platitüde plötzlich unzulässig und nur die Wahl zwischen Platitude und<br />
der makkaronisch integrierten Hauptvariante (!) Plattitüde erlaubt sein – während<br />
Attitüde, Etüde usw. unverändert gültig bleiben? Die etymologisierenden und<br />
volksetymologischen Neuschreibungen (ein Steckenpferd des Reformers Augst, seit 20<br />
147 Vgl. auch Hans Krieger: Rechtschreib-Schwindel. Sankt Goar 1998. (2. Aufl. 2000)<br />
175
Jahren von allen übrigen Germanisten belächelt) Gämse, Stängel (Glimmstängel),<br />
Zierrat, schnäuzen usw. hätten nicht die geringste Chance, wenn sie nicht variantenlos<br />
vorgeschrieben würden. Ja, die ganze Neuregelung wäre, wenn man sie lediglich als<br />
Angebot herausbrächte und der Bevölkerung eine wirklich freie Wahl ermöglichte, bis<br />
auf Kleinigkeiten wie die st-Trennung wahrscheinlich bald wieder vergessen. Zur<br />
freien Wahl würde natürlich gehören, daß die herkömmliche Schreibung weder durch<br />
den Rotstift noch – wie in Bayern verordnet – durch den Grünstift des Lehrers und<br />
durch ein ebenso unberechtigtes wie lächerliches „überholt“ diskriminiert würde und<br />
daß auch die Lehrer nicht per Erlaß gezwungen würden, nur noch die Neuschreibung<br />
zu verwenden. So heißt es zum Beispiel in einem Runderlaß des schleswigholsteinischen<br />
Kultusministeriums vom 5.11.1996: „Generell werden überholte Regeln<br />
und Schreibungen nicht mehr eingeführt und nicht mehr geübt.“ Diese „überholten“<br />
Schreibungen waren die amtlich gültigen! Von einem fairen Test der Neuregelung auf<br />
gesellschaftliche Akzeptanz, wie Löwer ihn zu erkennen meint, kann unter solchen<br />
Umständen keine Rede sein.<br />
Die Neuregelung setzt Willkür und Beliebigkeit an die Stelle längst festgewordener<br />
Schreibgewohnheiten. Sie läßt zwar oft die Wahl, aber niemand kann vorhersehen, wo.<br />
Zwischen zulasten und zu Lasten, zugrunde und zu Grunde soll man wählen können,<br />
aber nicht zwischen zugute und zu Gute (wie die „Woche“ irrtümlich annimmt),<br />
zuliebe und zu Liebe. „Nachschlagen!“ heißt die Parole. Und für dieses mutwillig<br />
erzeugte Durcheinander findet Löwer die pathetischen Worte, die Reform trage „die<br />
gesellschaftliche Freiheit in der Schreibung ein Stück weit in die Schulen und den<br />
Amtsbetrieb“!<br />
Wahr ist vielmehr, daß die Reformer Beliebigkeitsklauseln einfügen, wo sie selbst<br />
keine Regel aufzustellen vermögen. Sie wissen nicht, was der strukturelle Unterschied<br />
zwischen kennenlernen und schwimmen lernen ist, und behaupten daher ungeniert, ein<br />
formales Kriterium zur Unterscheidung sei hier nicht auffindbar, weshalb beides<br />
gleichermaßen getrennt geschrieben werden müsse. Das ist, wie zuerst Peter Eisenberg<br />
148 gezeigt hat, grober Unfug und ein bedenkliches Zeugnis fachlichen Versagens.<br />
Von dieser Art sind Dutzende sinnloser und falscher Behauptungen und darauf<br />
gegründeter neuer Regeln. Der Geschäftsführer der Rechtschreibkommission weiß<br />
nicht, daß zwischen artig grüßen und übrigbleiben keine „Analogie“ möglich und die<br />
damit gerechtfertigte neue Getrenntschreibung des letzteren völlig willkürlich ist. Die<br />
Reformer wissen nicht, daß leid in leid tun kein Substantiv ist, ebenso wie feind in<br />
jemandem feind sein. Dieser schockierende Dilettantismus der Reform kommt bei<br />
Löwer gar nicht in den Blick.<br />
Statt dessen lenkt er die Diskussion immer wieder auf Unwesentliches, ganz im Stil<br />
laienhafter Reformkritiker, die sich endlos über neue Einzelwortschreibungen wie die<br />
allerdings lächerlichen Spagetti mit Tunfisch erregen können und dabei die wirklich<br />
grundstürzenden Maßnahmen im Bereich der Regelveränderung übersehen. Ich habe<br />
andernorts nachgewiesen, daß Rad fahren, in Bezug auf usw. auch nach bisheriger<br />
Rechtschreibung durchaus nicht falsch waren, da es sich bei den dudenkonformeren<br />
Schreibweisen lediglich um Lizenzen handelte. Löwer faßt leider nicht die Möglichkeit<br />
ins Auge, daß eine sinngemäße liberale Interpretation des Duden unter<br />
Berücksichtigung des tatsächlichen Sprachgebrauchs (und bei gleichzeitiger<br />
Aufhebung des Dudenprivilegs) unsere orthographischen Probleme auch ohne<br />
148 „Praxis Deutsch“ 1995.<br />
176
kostspielige und ärgerliche „Reform“ hätte lösen können, soweit sie ohne<br />
grundsätzliche Abkehr von der nichtphonographischen Schrift überhaupt lösbar sind.<br />
Unverständlich ist Löwers Wort von der „im Zeitalter des Computers unendlich<br />
lästigen Verwandlung von „ck“ in „k-k“ im Trennungs-Fall“. Gerade dies bewältigen<br />
die Trennprogramme doch seit je ohne Mühe.<br />
Löwer hebt an verschiedenen Stellen darauf ab, daß an der Ausarbeitung der Reform<br />
Fachleute beteiligt waren. Dazu ist bei aller kollegialen Rücksichtnahme zunächst zu<br />
sagen, daß es durchaus unterschiedliche Fachleute gibt. Ferner muß bedacht werden,<br />
daß die gegenwärtige Reform kaum Ähnlichkeit mit den eigentlichen Plänen der<br />
beteiligten Wissenschaftler hat, sondern weitgehend den Wünschen von Fachbeamten<br />
der Kultusministerien entstammt, denen sich die übriggebliebenen Wissenschaftler 149<br />
Schritt für Schritt unterwerfen mußten.<br />
Wie es im Internationalen Arbeitskreis für Orthographie (den es als Institution mit<br />
definierter Mitgliedschaft übrigens nie gab) und in den nationalen Arbeitskreisen<br />
wirklich zuging, können nur Insider berichten. 150 Immerhin ist über die Art, wie dort<br />
die auch von Löwer erwähnten „Kompromisse“ geschlossen wurden, einiges bekannt.<br />
Zabel hat folgendes hübsche Detail ausgeplaudert:<br />
„Die Kommission für Rechtschreibfragen konnte sich diesen Vorschlägen“ (sc.<br />
Einheitsschreibung das) „(noch) nicht anschließen. Sie entschied sich einerseits,<br />
eine entsprechende Beschlußfassung zu einem späteren Zeitpunkt unter Berücksichtigung<br />
der Gesamtregelung vorzunehmen. Dies bedeutet, daß sie auf eine<br />
Neuregelung in diesem Bereich verzichten könnte, wenn dadurch andere<br />
Maßnahmen ermöglicht würden. Andererseits wäre es sinnvoll, zur Vereinfachung<br />
der Regeln diesen Vorschlag durchzusetzen, wenn sich die Realisierung<br />
anderer Vorschläge als utopisch erweisen sollte. Die Stellungnahme der<br />
Kommission geht von der durch das Protokoll der II. Orthographischen Konferenz<br />
von 1901 belegten Tatsache aus, daß Beschlüsse zur Orthographiereform<br />
ohne die Bereitschaft zum Kompromiß kaum möglich sind.“ (Die Rechtschrei-<br />
149 Mehrere von ihnen sind ja ausgeschieden, als sich diese Entwicklung abzeichnete, bis in<br />
die jüngste Zeit hinein.<br />
150 Günther Drosdowski, der langjährige Leiter der Dudenredaktion berichtet über seine<br />
Erfahrungen im Internationalen Arbeitskreis: „Ich habe mich mit meinen Vorstellungen<br />
von einer <strong>vernünftig</strong>en Neuregelung nicht durchsetzen können, bin immer überstimmt<br />
worden – in der Rechtschreibkommission und in den Arbeitsgruppen herrschten<br />
mafiaähnliche Zustände. Einige Reformer hatten von der Verschriftung der Sprache und<br />
der Funktion der Rechtschreibung für die Sprachgemeinschaft keine Ahnung, von der<br />
Grammatik, ohne die es bei Regelungen der Orthographie nun einmal nicht geht, sowieso<br />
nicht. Sie mißbrauchten die Reform schamlos, um sich Ansehen im Fach und in der<br />
Öffentlichkeit zu verschaffen, Eitelkeiten zu befriedigen und mit orthographischen<br />
Publikationen Geld zu verdienen. Selten habe ich erlebt, daß Menschen sich so ungeniert<br />
ausziehen und ihre fachlichen und charakterlichen Defizite zur Schau stellen. Es ist schon<br />
ein Trauerspiel, daß die Sprachgemeinschaft jetzt ausbaden muß, was sich [es folgen drei<br />
Namen] und andere ausgedacht haben. Von dieser (internationalen) Kommission stehen<br />
uns ja sicherlich auch noch Burlesken ins Haus, ein Rüpelstück schon allein die<br />
Besetzung: Diejenigen, die ihre Spielwiese erhalten wollen, schließen diejenigen, die<br />
etwas von der Sache verstehen und Kritik üben, aus, und Kultusministerien drängen auf<br />
Quotenregelung!“ (Brief an den Verfasser vom 10.11.1996)<br />
177
ung des Deutschen und ihre Neuregelung. Hg. v. d. Kommission für Rechtschreibfragen.<br />
Düsseldorf 1985, S.164)<br />
Ein solcher Kuhhandel mit Rechtschreibänderungen, die anschließend Millionen<br />
Menschen zum Umlernen bringen sollten, stößt mit Recht auf Mißtrauen.<br />
Daß die Neuregelung den Stand der deutschen Sprachwissenschaft widerspiegele, trifft<br />
glücklicherweise nicht zu. Im Gegenteil: Die Fachöffentlichkeit hat das Reformwerk<br />
wegen seiner offenkundigen Fehlerhaftkeit immer abgelehnt, und neuerdings<br />
artikuliert sich dieser Widerstand auch in organisierter Form. Fast sechshundert<br />
Professoren der Sprach- und Literaturwissenschaften haben im April und Mai 1998<br />
folgende Erklärung unterschrieben:<br />
Die sogenannte Rechtschreibreform „entspricht nicht dem Stand sprachwissenschaftlicher<br />
Forschung“ (so die Deutsche Gesellschaft für Sprachwissenschaft am<br />
3. März 1998); sogar die Rechtschreibkommission der Kultusminister hat in<br />
ihrem Bericht vom Dezember 1997 wesentliche Korrekturen als „unumgänglich“<br />
bezeichnet.<br />
Eine derart fehlerhafte Regelung, die von den bedeutendsten Autoren und der<br />
großen Mehrheit der Bevölkerung mit guten Gründen abgelehnt wird und die<br />
Einheit der Schriftsprache auf Jahrzehnte zerstören würde, darf keinesfalls für<br />
Schulen und Behörden verbindlich gemacht werden.<br />
Man findet selbst unter den Betreibern der Reform kaum noch jemanden, der zu einer<br />
inhaltlichen Verteidigung bereit wäre. Die sogenannten Bildungsverbände (Lehrerverbände,<br />
GEW, Schulbuchverleger, Bundeselternrat usw.) haben einen beispiellosen<br />
Propagandafeldzug geführt und die Befürworter der Reform zu einer Unterschriftensammlung<br />
aufgerufen. Nach ihrer eigenen Auskunft 151 liegen die gesammelten Unterschriften<br />
ungezählt in einem Archiv, Schätzungen reichen von 5.000 bis maximal<br />
12.000. Unterdessen haben die Kritiker der Reform mindestens 800.000 Unterschriften<br />
gesammelt. Daran läßt sich ablesen, daß die Reform auf breiteste Ablehnung stößt und<br />
mit allgemeiner Akzeptanz gar nicht zu rechnen ist. Wenn frühere Umfragen ergeben<br />
haben, daß eine Mehrheit sich generell für eine Rechtschreibreform aussprach, so ist<br />
das nicht verwunderlich, verspricht doch allein der Begriff der „Reform“ eine<br />
Verbesserung und Erleichterung. Nachdem jedoch bekannt geworden ist, worum es<br />
wirklich geht, ist die Ablehnung allgemein, und zwar gerade nicht bei ungebildeten<br />
Menschen, die nicht wissen, was überhaupt zur Diskussion steht, sondern bei solchen<br />
Bürgern, denen die Sprache und die Schrift nicht gleichgültig sind. Die Frage der<br />
erwartbaren Akzeptanz spielt im Urteil des OVG Schleswig eine bedeutende Rolle.<br />
Löwer bemüht sich, Zweifel an dieser Akzeptanzprognose zu entkräften oder für<br />
irrelevant zu erklären. Dazu gehört auch der Versuch, die Berücksichtigung des breiten<br />
Protests in der Bevölkerung auf „Einflüsterungen der Stimmungsdemokratie“ zu<br />
reduzieren oder sich über das Auslegen von Unterschriftenlisten „in Apotheken“ lustig<br />
zu machen. Hier steht Meinung gegen Meinung. Die weitere Entwicklung wird m. E.<br />
zeigen, daß die Rechtschreibreform keine neuen Freunde hinzugewinnt. Wenn Löwer<br />
schreibt:<br />
„Wenn die Gerichte jetzt für ihre Entscheidungen auf die öffentliche Ablehnung<br />
abstellen, nimmt der diskursive Prozess zirkuläre Züge an.“<br />
151 Dies ergaben telefonische Nachfragen bei mehreren beteiligten Verbänden sowie beim<br />
Sekretariat der KMK.<br />
178
– dann läßt sich das wortwörtlich auf die Entscheidung des OVG Schleswig anwenden,<br />
das den Unterricht in der Neuregelung als Anpassung an eine künftige<br />
Rechtschreibung betrachtet – eine Rechtschreibung, die aber gerade erst durch diesen<br />
Unterricht in Geltung gesetzt werden soll.<br />
Löwer äußert sich auch über die zwischenstaatliche Rechtschreibkommission, deren<br />
Aufgaben übrigens nach dem Wortlaut der Wiener Absichtserklärung bei weitem nicht<br />
so „klar“ sind, wie er es darstellt. Auch unter den Mitgliedern besteht darüber keine<br />
einhellige Meinung, insbesondere hinsichtlich der Frage, ob Korrekturen am<br />
Regelwerk unter dem Eindruck der inzwischen vorgenommenen kritischen Analysen<br />
dazugehören oder nicht, ferner darüber, ob die Kommission das Erbe der Dudenredaktion<br />
(als Wörterbuchredaktion) antreten oder die Wörterbuchredaktionen nur<br />
beraten soll usw. An dieser Stelle ist ein anderer Aspekt interessant: Löwer meint, daß<br />
die Neuregelung nicht zu einem höheren Grade von „Verstaatlichung“ der<br />
Orthographie führe, als er bisher schon herrschte. Dies wird durch die bisherige<br />
Erfahrung widerlegt. Als nämlich die Kommission ihre ersten zaghaften Korrekturvorschläge<br />
zum neuen Regelwerk herausbrachte und auf einer Anhörung am 23. Januar<br />
1998 diskutieren ließ, wurde sie – nach anfänglicher Zustimmung durch die KMK-<br />
Vorsitzende Brunn und andere Kultusminister – überraschend zurückgepfiffen. Zuerst<br />
eine kultusministerielle Fachkonferenz, dann die Amtschefskommission und<br />
schließlich die Kultusminister selbst waren es, die den fachlich zwar unzureichenden,<br />
aber wissenschaftlich immerhin begründeten und auch absolut notwendigen Eingriff in<br />
das Regelwerk zurückwiesen. Hier zeigt sich der direkte Zugriff von Politikern und<br />
staatlichen Kultusbürokraten auf die deutsche Rechtschreibung. In Wirklichkeit<br />
entstammt eben – was für die Öffentlichkeit allerdings nicht erkennbar war – die<br />
Neuregelung in wesentlichen Teilen nicht den Köpfen der beteiligten Fachwissenschaftler,<br />
sondern denen der Kultusbürokraten. Da von entscheidenden<br />
Sitzungen der Arbeitskreise (insbesondere des Internationalen Arbeitskreises in Wien<br />
1994) im Gegensatz zur I. und zur II. Orthographischen Konferenz 1876 bzw. 1901<br />
keine Protokolle existieren, läßt sich hier leider nichts Genaues nachweisen; dennoch<br />
war es so. Der geschilderte Vorgang ist ein Präzedenzfall. Er zeigt, wie die Gestaltung<br />
der deutschen Orthographie künftig vor sich gehen wird: als unmittelbarer Eingriff von<br />
Regierungsbeamten in die Norm. Löwer selbst betont ja, daß die Kommission nur<br />
Vorschlagsrecht hat. Entscheiden wird also ein anderer, und zwar der Staat unmittelbar.<br />
Das ist etwas grundsätzlich anderes als die bisherige Tätigkeit des Duden, ob mit oder<br />
ohne staatliches Privileg.<br />
Daß es um eine neue Qualität der Verstaatlichung der Orthographie gehe, ist im<br />
übrigen auch die Meinung der Reformer, die das bei vielen Gelegenheiten zum<br />
Ausdruck gebracht haben. Stellvertretend sei der Reformer Karl Blüml zitiert:<br />
„Das Ziel der Reform waren aber gar nicht die Neuerungen. Das Ziel war, die<br />
Rechtschreibregelung aus der Kompetenz eines deutschen Privatverlages in die<br />
staatliche Kompetenz zurückzuholen.“ (Standard 31.1.1998)<br />
So sieht es auch der Deutsche Philologenverband in seiner Stellungnahme für das<br />
Bundesverfassungsgericht. Er stellt mit Befriedigung fest, daß die Kultusminister<br />
„die Entscheidungskompetenz in Fragen Rechtschreibung nicht länger in privater,<br />
sondern wieder in staatlicher Hand wissen wollen.“<br />
179
Die Vorsitzende des Bundeselternrates, Renate Hendricks, schrieb:<br />
„Vielleicht ist es aber auch zukünftig sinnvoll, auf die Entstehung der Reform<br />
hinzuweisen, bei der die Aufhebung des Monopols des Duden-Verlags eine nicht<br />
ganz unwesentliche Rolle gespielt hat.“ 152<br />
Regierungsschuldirektor Kammerer vom baden-württembergischen Kultusministerium<br />
stellt fest:<br />
„Mit der Entscheidung, die Rechtschreibung nach über 90 Jahren zu reformieren<br />
und die hilfsweise seit 1956 zum Teil einem privatwirtschaftlichen Verlag überlassene<br />
Regelungskompetenz wieder an sich zu ziehen, ist staatliches Handeln<br />
wirksam geworden.“ 153<br />
Daß der ostdeutsche Reformer Nerius (langjähriges SED-Mitglied) ebenso denkt,<br />
versteht sich von selbst. Auch der von Löwer gern zitierte Journalist Dieter E. Zimmer<br />
ist der Meinung, daß die Aufhebung des Dudenprivilegs und damit die Überführung<br />
der Rechtschreibnorm in die staatliche Kompetenz geboten sei.<br />
Gerade den Deutschen fällt es offenkundig besonders schwer, sich ein stabiles<br />
gesellschaftliches Gebilde wie Sprache und Schrift ohne staatliche Regelungskompetenz<br />
vorzustellen. Die Deutschen hatten es schwerer als andere, zu einer<br />
Einheitsorthographie zu gelangen; deshalb hängen sie so sehr daran, daß ausgerechnet<br />
das Rechtschreibwörterbuch ihnen zum Inbegriff des Wörterbuchs, ja der Sprache<br />
werden konnte.<br />
Die Neuregelung setzt die „obrigkeitliche Lösung“ (Munske), die man in Deutschland<br />
für die Einheitsorthographie gefunden hat, nicht nur fort, sondern hebt sie auf ein<br />
höheres Niveau strikter Verstaatlichung, indem sie alle einzelnen Inhalte von<br />
behördlicher Billigung abhängig macht, ja den Kultusbehörden sogar die<br />
normschöpferische, vom Üblichen abweichende inhaltliche Ausgestaltung der an<br />
Schulen zu lehrenden und von Staatsdienern zu praktizierenden Schreibweisen<br />
überläßt. Die staatlichen Stellen haben denn auch jüngst zu erkennen gegeben, daß sie<br />
die Expertenkommission – die sich nach ihrer Düpierung wie eine Hofnarrentruppe<br />
vorkommen muß – im Grunde gar nicht mehr brauchen, weil sie sowieso alles besser<br />
wissen.<br />
Löwers Bemühungen, die Neuregelung umstandslos an die bisherige Praxis<br />
anzuschließen, wird nicht zuletzt durch die schlichte Tatsache widerlegt, daß erstmals<br />
sämtliche Rechtschreibbücher neu angeschafft werden müssen und darüber hinaus<br />
weitere Umstellungen mehr oder weniger unumgänglich sind, deren Kosten ja nach<br />
Auffassung der Verleger nicht der geringste Streitpunkt in der anstehenden<br />
gerichtlichen Auseinandersetzung sind. Demgegenüber vollzog sich bisher das<br />
Erscheinen einer neuen Duden-Auflage weitgehend unbemerkt und jedenfalls ohne<br />
spürbare Auswirkungen auf die Schulen und Ämter. Der Unterschied zwischen den<br />
von Löwer mehrfach erwähnten jeweils neuen Duden-Auflagen und der Neuregelung<br />
ist daher kein gradueller, sondern ein grundsätzlicher, es ist der Unterschied zwischen<br />
Entwicklung und Reform.<br />
152 Offener Brief an den KMK-Präsidenten Willi Lemke vom 13.08.2000.<br />
153 Gisela Schmirber (Hg.): Sprache im Gespräch. Hanns-Seidel-Stiftung München 1997, S.<br />
201.<br />
180
Im Fazit seiner Ausarbeitung greift Löwer gar zum schlichtesten Gemeinplatz, dem<br />
man in der gegenwärtigen Diskussion begegnen konnte: „Es gibt wichtigere Fragen“.<br />
Freilich, zu jeder wichtigen Frage läßt sich eine noch wichtigere denken, und ein<br />
Projekt, das vielleicht fünf Milliarden kostet, wird durch ein zehnmal so teueres ohne<br />
weiteres in den Schatten gestellt. Soll man deshalb die weniger wichtigen Fragen<br />
ungelöst lassen? Die Rechtschreibreform ist nicht nur überflüssig, sondern schädlich<br />
wie ein Kropf. Dafür gibt es eine erdrückende Menge von Beweisen, und die Mehrheit<br />
der Bevölkerung hat es erkannt.<br />
Zusammenfassung: Löwer referiert viele Tatsachen zweifellos zutreffend, stellt aber<br />
zugleich die Rechtschreibreform und ihre Vorgeschichte bis zu den orthographischen<br />
Einheitsbestrebungen des vorigen Jahrhunderts in so eigenwilliger Auswahl und<br />
Beleuchtung dar, daß man sie kaum wiedererkennt. Dem war eine andere und, wie ich<br />
denke, sprachwissenschaftlich korrektere Perspektive entgegenzuhalten. Daraus ergibt<br />
sich eine abweichende Einschätzung der gegenwärtigen Ereignisse.<br />
Die Einführung der Rechtschreibreform an den Schulen bedeutet, daß zum erstenmal<br />
die Schüler nicht mehr in der allgemein üblichen Rechtschreibung unterrichtet werden,<br />
sondern in einer anderen, die in wesentlichen Teilen weder der Entwicklungsrichtung<br />
der deutschen Orthographie entspricht noch wissenschaftlichen Erkenntnissen genügt.<br />
Indem Löwer marginale Erscheinungen, über die verschiedene Meinungen möglich<br />
sind, in den Vordergrund stellt und die fundamentale Kritik an zentralen<br />
Entscheidungen der Reform kaum oder gar nicht erwähnt, gerät die Tatsache aus dem<br />
Blick, daß das neue Regelwerk in zentralen Bereichen fehlerhaft und widersprüchlich,<br />
seine praktische Umsetzung daher a limine ausgeschlossen ist. Besonders ist hervorzuheben,<br />
daß die „haarsträubende Unsystematik“ (Werner H. Veith) der Neuregelung<br />
das sogenannte Sprachgefühl zerrüttet, d. h. die intuitive Kenntnis des zwar<br />
komplexen, im Kern aber wohlorganisierten Gesamtgefüges, das die ernsthafte<br />
Orthographieforschung mit wachsendem Respekt erkannt hat und weiter untersucht.<br />
Mit ihren willkürlichen Eingriffen zerstört die Reform die Grundlage der<br />
schriftsprachlichen Bildung – und das in einer Zeit, da mit Recht das wachsende<br />
Unvermögen Heranwachsender zum differenzierten sprachlichen Ausdruck beklagt<br />
wird!<br />
Löwer geht durchweg von der Voraussetzung aus, die Zielsetzung der Reform, also die<br />
Vereinfachung der deutschen Orthographie, sei – wenn nicht vollkommen und nicht in<br />
jedem Bereich – immerhin einigermaßen gelungen. Die unabhängige wissenschaftliche<br />
Kritik hat das Gegenteil nachgewiesen. Einer der besten Kenner der Materie urteilt<br />
abschließend: „Von besserer Lehrbarkeit der Neuregelung kann insgesamt keine Rede<br />
sein.“ 154 Damit hat sie ihr Ziel verfehlt.<br />
Das Urteil vom 14.7.1998<br />
Der wesentliche Inhalt des Urteils wurde etwa zehn Tage vor der Urteilsverkündung,<br />
die auf den 14. Juli 1998 angesetzt war, durch die Presse bekannt, und zwar unter<br />
154 Peter Eisenberg in: Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 4/1997, S. 129.<br />
(Eisenberg war damals noch Mitglied der Rechtschreibkommission. Der Grund seines<br />
Austritts wird unmittelbar verständlich, wenn man die Pressemitteilung der KMK vom<br />
12.2.1998 liest. Vgl. Kap. III.)<br />
181
Berufung auf Bonner Politiker. Daraufhin zogen die Beschwerdeführer ihre<br />
Beschwerde zurück, weil sie, wie sie sagten, mit einem fairen Verfahren nicht mehr<br />
rechnen könnten. Außerdem beabsichtigten sie, das Bundesverwaltungsgericht wieder<br />
zum Zuge kommen zu lassen, dem das Bundesverfassungsgericht überraschend<br />
zuvorgekommen war. Beim Bundesverwaltungsgericht war auf dem Wege der<br />
Sprungrevision die Berufung des Landes Berlin gegen das Urteil des VG Berlin in der<br />
Sache Gernot Holstein gegen das Land Berlin anhängig. Mit einer Niederlage des<br />
Landes Berlin war zu rechnen. Es wird allgemein angenommen, daß der Erste Senat<br />
des Bundesverfassungsgerichtes unter seinem neuen Vorsitzenden Hans-Jürgen Papier<br />
[CSU] vorpreschte, um den Politikern das fristgerechte Inkraftsetzen der<br />
Rechtschreibreform zum 1. August 1998 zu ermöglichen.<br />
Das Bundesverfassungsgericht beschloß jedoch, „juristisches Neuland“ zu betreten (so<br />
die Pressestelle) und das Urteil dennoch zu verkünden, weil ein allgemeines Interesse<br />
daran bestehe. Zugleich wurde mitgeteilt, daß die Bundesrichter „verärgert“ über die<br />
Indiskretionen seien und nach der undichten Stelle im Gericht forschen wollten.<br />
Indiskret waren allerdings auch und vor allem die Bonner Politiker gewesen, denn daß<br />
zwischen Karlsruhe und Bonn vielfältige Informationskanäle existieren, war Insidern<br />
nicht unbekannt. Der Bundesjustizminister stellte sich (obwohl selbst ein<br />
Reformgegner) schützend vor das Gericht und kritisierte die Presse wegen der<br />
Weitergabe von Informationen.<br />
Das Urteil (Az 1 BvR 1640/97) umfaßt mit Begründung kaum 63 Seiten. Hier zunächst<br />
die Leitsätze:<br />
Leitsätze<br />
zum Urteil des Ersten Senats vom 14. Juli 1998<br />
„1. Der Staat ist von Verfassungs wegen nicht gehindert, Regelungen über die<br />
richtige Schreibung der deutschen Sprache für den Unterricht in den Schulen zu<br />
treffen. Das Grundgesetz enthält auch kein generelles Verbot gestaltender<br />
Eingriffe in die Schreibung.<br />
2. Regelungen über die richtige Schreibung für den Unterricht in den Schulen<br />
fallen in die Zuständigkeit der Länder.<br />
3. Für die Einführung der von der Kultusministerkonferenz am 30. November/1.<br />
Dezember 1995 beschlossenen Neuregelung der deutschen Rechtschreibung an<br />
den Schulen des Landes Schleswig-Holstein bedurfte es keiner besonderen, über<br />
die allgemeinen Lernzielbestimmungen des Landesschulgesetzes hinausgehenden<br />
gesetzlichen Grundlage.<br />
4. Grundrechte von Eltern und Schülern werden durch diese Neuregelung nicht<br />
verletzt.“<br />
Es folgen einige Anmerkungen, wobei das spezifisch Juristische ausgespart bleibt.<br />
182<br />
„Die Rechtschreibung, der Inbegriff der Regeln über die richtige Schreibung,<br />
dient dem Ziel, im Interesse der Kommunikation die Einheitlichkeit des<br />
Schreibens sicherzustellen.“
Schon der erste Satz läßt erkennen, daß Rechtschreibung für das Gericht stets extern<br />
gesetzte Norm, nicht inhärente Norm der Sprache ist. In vielen Schriftsätzen, die dem<br />
Gericht sowohl vom Beschwerdeführer als auch von unabhängigen Sprachwissenschaftlern<br />
vorgelegt worden sind, und ebenso im mündlichen Vortrag ist der Begriff<br />
der inhärenten Norm erläutert worden. Nach dieser Auffassung besteht die<br />
Rechtschreibung zunächst darin, „zu <strong>schreiben</strong> wie die anderen“ (eventuell mit<br />
gewissen Einschränkungen hinsichtlich der als maßgebend anzusehenden Muster),<br />
unabhängig von der mehr oder weniger gelungenen Kodifikation in Wörterverzeichnissen<br />
und – nochmals einen Schritt von der Wirklichkeit entfernt –<br />
Regelwerken. Durch die Nichtberücksichtigung dieses linguistisch trivialen Sachverhaltes<br />
kommt von Anfang an ein falscher Ton in die Darstellung des Gerichts. Es wird<br />
nämlich problemlos eine normsetzende Instanz angenommen, und daß der Staat diese<br />
Rolle zu übernehmen habe, erscheint viel selbstverständlicher, als es ist.<br />
Es ist zwar richtig, daß es im 19. Jahrhundert noch lange nicht zu einheitlichen<br />
Rechtschreibregeln kam, ebenso richtig wäre es aber, auf die gleichwohl vorhandene,<br />
rasch voranschreitende Konvergenz der regionalen bzw. Verlagsorthographien<br />
hinzuweisen. Die Schulorthographien waren nur ein Beitrag zur Vereinheitlichung, sie<br />
wirkten katalysierend und beschleunigend, man muß aber annehmen, daß, wie auch<br />
Konrad Duden 1876 feststellte, die Einheit auch ohne staatlichen Eingriff gekommen<br />
wäre.<br />
Über die Konferenz von 1901 heißt es:<br />
„Die grundsätzlichen Fragen – Kleinschreibung der Substantive, lautgetreue<br />
Schreibung, Fremdwortschreibung, Silbentrennung, Getrennt- und Zusammenschreibung<br />
sowie Zeichensetzung – wurden dagegen ausgespart.“<br />
Diese Darstellung ist tendenziös, da sie einerseits wirkliche Teilgebiete (Silbentrennung,<br />
Getrennt- und Zusammenschreibung) nennt, im Falle der „Kleinschreibung der<br />
Substantive“ sowie der „lautgetreuen Schreibung“ aber nur die traditionellen<br />
Programmpunkte der Reformwilligen. Damit wird suggeriert, daß es sich bei der<br />
Einführung der gemäßigten Kleinschreibung und der phonetischen Schrift um eine<br />
seinerzeit ungelöste Daueraufgabe handele. Diese Darstellung kommt von vornherein<br />
den Bestrebungen der heutigen Reformer entgegen, die ja immer wieder ihre Vorliebe<br />
für die Kleinschreibung bekundet haben und die „lautgetreue Schreibung“<br />
nachweislich als ideale Erfüllung der Buchstabenschrift betrachten. Richtiger wäre es,<br />
neutral von „Groß- und Kleinschreibung“ und von „Laut-Buchstaben-Beziehungen“ zu<br />
sprechen. Es geht um Themen der Diskussion, nicht um fällige Veränderungen.<br />
Die „Einarbeitung des sogenannten Buchdrucker-Dudens in den für die Allgemeinheit<br />
bestimmten Duden“ wird ebenfalls tendenziös in der gewohnten Weise der Reformer<br />
dargestellt, als sei die „Allgemeinheit“ seither ungebührlicherweise mit<br />
Spezialanforderungen eines Berufszweiges überbeansprucht worden. Aber wer ist die<br />
„Allgemeinheit“? Die Orthographie von 1901/1902 war keine Schulorthographie mehr,<br />
und die orthographisch interessierte Allgemeinheit außerhalb der Schule besteht<br />
größtenteils aus Sekretärinnen und vielen anderen Menschen, die durchaus<br />
professionellen Ansprüchen an die Textgestaltung genügen wollen und sich daher mit<br />
einer lückenhaften, hinter dem „Stand der Technik“ (d. h. der Entwicklung einer<br />
hochdifferenzierten Schriftsprache) zurückbleibenden Regelung nicht zufrieden geben.<br />
Die Buchdrucker andererseits arbeiten für die Allgemeinheit, nämlich für Leser aller<br />
183
Art, die von Gedrucktem eine perfektere Orthographie erwarten dürfen, als sie selbst<br />
zu leisten imstande sind. Im Duden waren zuvor viele Normierungen nur im<br />
Wörterverzeichnis, also einzelwortgebunden verzeichnet, aber sie waren vorhanden.<br />
Ihre Überführung in die verallgemeinerte Darstellung des Regelwerks, mithin in die<br />
sog. „doppelte Kodifizierung“, bedeutete keine zusätzliche Regelung. Die Schule<br />
mußte und muß weiterhin für ihren gestuften Unterricht aus dem Gesamtkorpus von<br />
Regeln und Wörtern auswählen. Interessant ist in diesem Zusammenhang eine neue<br />
Äußerung des führenden Reformers Augst:<br />
„Nicht alle Regeln, Ausnahmeregeln und Ausnahmeregeln von den Ausnahmeregeln<br />
waren Gegenstand des Rechtschreibunterrichts. Es hat immer ein<br />
heimliches Curriculum der wichtigsten Regeln gegeben. Das bleibt auch nach der<br />
Neuregelung so. Manches ist zwar weggefallen, wie die schwierigen Regeln des<br />
Kommas vor und oder beim Infinitivsatz 155 , aber generell ist die amtliche<br />
Regelung, die ja auch die Belange der Drucker und Setzer berücksichtigen muss,<br />
zu umfangreich: sie muss für die Schule reduziert werden.“ (Gerhard<br />
Augst/Mechthild Dehn: Rechtschreibung und Rechtschreibunterricht. Stuttgart<br />
1998, S. 90)<br />
Es wird nicht klar, wer die Politiker (BMI und KMK) überhaupt veranlaßte, Reformplanungen<br />
auf den Weg zu bringen. Das Institut für deutsche Sprache (IDS) und die<br />
dann tätig werdenden Reformer waren in Wirklichkeit die treibenden Kräfte, die sich<br />
den „politischen Auftrag holten“, wie es in Reformerschriften zu heißen pflegt. KMK<br />
und Bundesinnenministerium waren nicht Initiatoren, sondern „Adressaten für Anträge<br />
zu einer Reform der deutschen Rechtschreibung“ (so der Reformer Zabel in Augst et<br />
al. [Hg.] 1997, S. 7). Dieser Gesichtspunkt ist darum so wichtig, weil alle mit Reformarbeiten<br />
Beschäftigten immer schon bereitstanden und in allen wesentlichen<br />
Forderungen übereinstimmten. Die Rekrutierung der Reformarbeitsgruppen auf dem<br />
Wege der Selbsternennung und Kooptation liegt weitgehend im dunkeln, bleibt aber<br />
entscheidend, weil damit die Richtung der Reform von vornherein feststand. So war<br />
klar, daß in diesem Falle auf der Linie der gescheiterten Stuttgarter und Wiesbadener<br />
Empfehlungen weitergearbeitet werden würde. Es zeigte sich bald, daß die Reformer<br />
hauptsächlich weiterhin auf die gemäßigte Kleinschreibung hinarbeiteten, obwohl die<br />
Bearbeitung dieses ganzen Komplexes ihrem ausdrücklichen Auftrag widersprach, wie<br />
auch die Auftraggeber seinerzeit kritisch feststellten 156 . Das Urteil geht auf diesen<br />
Hergang nicht ein. Für die siebziger Jahre stellt es schlicht fest, daß „sich die<br />
Diskussion um eine Rechtschreibreform neu belebte“ (wer belebte sie?). In den vier<br />
deutschsprachigen Staaten „wurden Arbeitsgruppen gebildet“ (von wem?). Sie traten<br />
seit 1980 als „Internationale Arbeitskreis für Orthographie zu gemeinsamen Sitzungen<br />
zusammen“. Hinter dieser Selbstbezeichnung steckte keine offizielle Gründung und<br />
zunächst auch kein Mandat.<br />
Unter den Punkten 2 a) bis i) beansprucht das Urteil, „die wichtigsten Neuerungen“<br />
anzuführen. Das trifft jedoch nur teilweise zu. So scheinen die Richter zu glauben, daß<br />
Dränage, Mohär, Polonäse, Jacht, Kode und Sketsch neu eingeführte Varianten seien;<br />
in Wirklichkeit stehen sie alle schon im vorigen Duden. Im Folgenden werden viele<br />
155 Interessanterweise befolgen Augst/Dehn und die anderen Reformer genau die weggefallenen<br />
Kommaregeln! Diese scheinen also doch noch irgendwo zu existieren.<br />
156 Sogar öffentlich, vgl. Leserbrief von Kultusminister und KMK-Präsident Gölter in der<br />
F.A.Z. vom 22.3.1989.<br />
184
Regeln aufgezählt, die keinerlei Neuerung enthalten. Der Sinn dieser gleichwohl<br />
hochselektiven Darstellung ist unklar, die Folge jedoch nicht: Wie bei allen<br />
Kurzfassungen (in Sprachreport, Woche, Hörzu usw., jeweils vom IDS erstellt) und<br />
„Schnellkursen“ (Focus 21.7.1998, von DUDEN) wird die neue Rechtschreibung so<br />
dargestellt, daß die Ausnahmen weitgehend wegfallen und die ganze Reform daher<br />
stringenter und vor allem einfacher aussieht, als sie tatsächlich ist. Gerade bei solchen<br />
Gegenständen ist die Verkürzung eine wesentliche Verfälschung.<br />
Die Verdoppelung von Konsonantenbuchstaben zur Kennzeichnung der Vokalkürze<br />
wird zwar häufiger durchgeführt; aber angesichts der ungeheuren Menge von<br />
Ausnahmen fallen die Änderung von Tip zu Tipp und einige wenige ähnliche<br />
Maßnahmen überhaupt nicht ins Gewicht.<br />
Das Gericht übernimmt in jeder Hinsicht die Darstellung der Reformer, ohne sich um<br />
die kritischen Einwände unabhängiger Sprachwissenschaftler zu kümmern. Zur<br />
Stammschreibung bei „Wörtern, die sich aufeinander beziehen lassen“: Wer bezieht<br />
hier – und warum muß man Beziehungen herstellen, wo die Reformer das für richtig<br />
halten, sonst aber nicht? Nicht jeder bezieht numerieren auf Nummer, und die<br />
Umlautschreibung folgt keineswegs der allgemeinen Regel, sondern nur in einigen<br />
wenigen Fällen, die auch fast vollständig aufgezählt werden (Stängel, behände usw.),<br />
nicht aber in Dutzenden oder gar Hunderten von weiteren, die ebensoviel Recht auf<br />
„Stammschreibung“ hätten (*Häu, *käntern, *Spängler usw.), insbesondere dann,<br />
wenn man den Begriff der „Grundform“ in der volkslinguistisch gelockerten Weise<br />
versteht, wie es im Regelwerk der Fall ist. Sogar das Beispiel selbstständig wird im<br />
Sinne der Reformer dargestellt, als ginge es hier wirklich um eine andere „Schreibung“<br />
von selbständig und nicht um die Lemmatisierungsentscheidung für ein anderes Wort,<br />
die überhaupt nichts mit Orthographie zu tun hat. Hier zeigt sich besonders deutlich,<br />
daß das Gericht selbst einfachste Fehler getreulich aus den Vorlagen der<br />
Reformbetreiber abschreibt.<br />
Zu den Fremdworteindeutschungen wäre noch zu bemerken, daß auch Desintegrationen<br />
vorgesehen sind; so darf laut Wörterverzeichnis die längst eingedeutschte<br />
Form Gräkum nicht mehr benutzt werden, sondern nur noch Graecum.<br />
Von den fünf bedeutsamen Neuerungen bei der Kommasetzung werden nur zwei<br />
erwähnt: die Weglaßbarkeit des Kommas zwischen konjunktional verbundenen<br />
Hauptsätzen und vor erweiterten Infinitiven. Nicht erwähnt sind: die Zulässigkeit eines<br />
Kommas zwischen gleichrangigen, konjunktional verbundenen Nebensätzen (ich<br />
glaube, daß es kalt wird, und daß es Schnee gibt); das obligatorische neue Komma als<br />
drittes Satzzeichen nach wörtlicher Rede („So?“, fragte sie); das obligatorische neue<br />
Komma vor Infinitiven (sogar nichterweiterten!), wenn ein Hinweiswort vorhergeht<br />
(hier fällt es schwer, zu schweigen). Die beiden letzteren sind Hauptgegenstände der<br />
Kritik und erstrangige neue Fehlerquellen. (In hier gilt es den Mund zu halten kann das<br />
Komma jetzt wegfallen, weil das es kein hinweisendes ist! Dies hat fast niemand<br />
verstanden, es ist auch nahezu unlernbar.)<br />
Der „Bericht“ der Rechtschreibkommission vom Dezember 1997 schlug nicht nur vor,<br />
in zentralen Bereichen die alten Schreibungen neben den neuen wiederzuzulassen,<br />
sondern enthielt darüber hinaus den bemerkenswerten Satz, daß Änderungen<br />
„unumgänglich notwendig“ seien. Zwar wurde dieser Satz in der Endfassung vom<br />
Februar 1998 gestrichen, aber das Gericht bezieht sich ausdrücklich auf die erste<br />
185
Fassung. Dieses Eingeständnis geht grundsätzlich über eine Duldung das Alten neben<br />
dem Neuen hinaus, es ist ein Eingeständnis des Scheiterns in zentralen Bereichen und<br />
zwar wegen oft nachgewiesener Verstöße gegen die deutsche Grammatik (das nichts<br />
Sagendste, noch tief schürfender usw., ebenso aber auch die Großschreibung in<br />
Bankrott gehen u.v.a.). Das Gericht ist von seiten unabhängiger Sprachwissenschaftler<br />
viele Male darauf hingewiesen worden, geht aber mit keinem Wort darauf ein. Es<br />
verschanzt sich wie schon in der mündlichen Verhandlung hinter der Behauptung, nicht<br />
linguistischer Obergutachter sein zu wollen – ohne jedoch auf sprachbezogene<br />
Aussagen von entscheidender Bedeutung zu verzichten, wenn es der angestrebte<br />
Zweck erfordert: die Neuregelung für geringfügig zu erklären.<br />
Aus dem Urteil des OVG Schleswig vom 13.8.1997 zitiert das Gericht u. a. die<br />
„positive Akzeptanzprognose“, nicht aber den entscheidenden, an prominenter Stelle,<br />
nämlich am Schluß stehenden weiteren Text. Er lautet:<br />
„Wenn allerdings der Bundestag und/oder Landtage durch politische Beschlüsse<br />
mit parlamentarischer Autorität gegen die Rechtschreibreform Stellung bezögen,<br />
wäre wohl nicht mehr damit zu rechnen, daß sich das Reformwerk gleichwohl<br />
noch durchsetzte. Für den Fall etwa wäre es dann kein tauglicher Gegenstand<br />
eines korrekten Deutschunterrichts mehr, wie ihn Eltern aus Schulverhältnis und<br />
Elternrecht verlangen können.“<br />
Durch den Bundestagsbeschluß vom 26.3.1998 ist die „positive Akzeptanz-Prognose“<br />
(OVG Schleswig) erschüttert; dasselbe würde durch den Volksentscheid eintreten 157 ,<br />
wie denn auch alle Umfragen nach wie vor eine hohe Ablehnungsquote in der<br />
gesamten Bevölkerung ergeben und auch nach dem 1.8.1998 nicht mit einer<br />
allgemeinen Umstellung zu rechnen ist, außer natürlich in den umstrittenen<br />
Sonderbereichen, über die der Staat „Regelungsgewalt“ hat. 158<br />
Das Urteil resümiert die vorgelegten Stellungnahmen zwar nur pauschal, interessant ist<br />
jedoch, daß aus dem Schreiben des Bundesverbandes der Zeitungsverleger gerade der<br />
entscheidende Schlußsatz nicht zitiert wird: „Gleichwohl liegt uns daran zu betonen,<br />
daß den Zeitungsverlegern in ihrer Gesamtheit in keiner Weise an einer Umsetzung der<br />
Rechtschreibreform gelegen ist.“ Und dies, nachdem in dem Schreiben ausdrücklich<br />
festgestellt wurde, daß die erwartbaren Kosten von 5 Mill. Mark für die Umstellung<br />
„mit Blick auf den Gesamtumsatz unserer Branche nicht allzu hoch“ sein würden.<br />
Nicht erwähnt werden natürlich auch die umfassenden sprachwissenschaftlichen<br />
Analysen, die ich für den Verein für deutsche Rechtschreibung und Sprachpflege<br />
vorgelegt habe. Dem Gericht lag ferner die von nahezu 600 Professoren der Sprach-<br />
157 Nachtrag: Die Bevölkerung Schleswig-Holsteins bekundete im September 1998 durch<br />
Volksentscheid ihre Ablehnung der Reform, die daraufhin ausgesetzt wurde. Ein Jahr<br />
später annullierte der Landtag auf Antrag der CDU-Fraktion dieses Votum, und die<br />
Reform wurde aufs neue eingeführt.<br />
158 Nachtrag: Diese Prognose hat sich bestätigt. Nach dem 1. August 1998 ist zwar die<br />
Reformpropaganda – besonders durch Duden und Bertelsmann – enorm verstärkt<br />
worden, die Druckmedien sind jedoch bei der alten Rechtschreibung geblieben. Die<br />
Schüler lernten teilweise schon das dritte Jahr eine Orthographie, die außerhalb der<br />
Schule nahezu unbekannt war. Am 1.8.1999 haben zwar die meisten deutschen Tageszeitungen<br />
und einige Zeitschriften auf diverse Hausorthographien umgestellt, aber dabei<br />
spielte laut Mitteilung der Zeitungsverleger und der Nachrichtenagenturen das Urteil des<br />
Bundesverfassungsgerichts gerade die entscheidende Rolle.<br />
186
und Literaturwissenschaft unterschriebene Erklärung vor. Nicht einmal diese Erklärung<br />
hat das Gericht offenbar dazu veranlassen können, Fachleute außerhalb des<br />
immergleichen Kreises der Reformer zu Rate zu ziehen.<br />
Das Gericht stellt zutreffend fest, daß das Grundgesetz kein Verbot enthalte, die<br />
Rechtschreibung zum Gegenstand staatlicher Regelung zu machen. Der Staat dürfe<br />
hier im Gemeinwohlinteresse handeln, auch ohne besondere Ermächtigung durch die<br />
Verfassung. Dann folgen die zentralen Aussagen:<br />
„Auch aus der Eigenart der Sprache folgt kein absolutes Regelungsverbot. Die<br />
Annahme, die Sprache ,gehöre‘ dem Volk, kann ein solches Verbot nicht<br />
begründen; denn weder bringt das ,Gehören‘ eine Zuordnung im Rechtssinn zum<br />
Ausdruck noch könnte die der Annahme zugrunde liegende These, falls ihr<br />
rechtlicher Gehalt zukäme, eine staatliche Befassung verhindern. Daß ein<br />
Gegenstand dem Staat nicht ,gehört‘, hindert diesen nicht daran, seinen Gebrauch<br />
bestimmten Regeln zu unterwerfen. Auch der Umstand, daß die Sprache nicht aus<br />
staatlicher Quelle fließt und sich im gesellschaftlichen Gebrauch von selbst<br />
entwickelt, steht einer staatlichen Regelung nicht entgegen. Diese Eigenschaften<br />
teilt die Sprache mit zahlreichen Regelungsgegenständen. Die Sprache<br />
unterscheidet sich von anderen Regelungsgegenständen auch nicht dadurch, daß<br />
bei ihr korrekturbedürftige Fehlentwicklungen – etwa im Sinn erschwerter Lehr-<br />
und Lernbarkeit – von vornherein ausgeschlossen wären. Der Staat kann die<br />
Sprache deswegen aber nicht beliebig regeln. Begrenzende Wirkungen ergeben<br />
sich aus der Eigenart der Sprache jedoch nur für Art und Ausmaß einer Regelung,<br />
nicht dagegen für eine Regelung überhaupt.<br />
Auch ein generelles Verbot gestaltender Eingriffe in die Schreibung läßt sich dem<br />
Grundgesetz nicht entnehmen. Der Staat ist nicht darauf beschränkt, nur<br />
nachzuzeichnen, was in der Schreibgemeinschaft ohne seinen Einfluß im Lauf<br />
der Zeit an allgemein anerkannter Schreibung entstanden ist. Regulierende<br />
Eingriffe, die Widersprüche im Schreibusus und Zweifel an der richtigen<br />
Schreibung beseitigen oder – etwa aus Vereinfachungsgründen – bestimmte<br />
Schreibungen erstmals festlegen, sind ihm ebenfalls grundsätzlich erlaubt.“<br />
An diesen Feststellungen ist dreierlei besonders bemerkenswert:<br />
1. Der Staat darf die Sprache regeln, nicht nur die Schrift. Der Wechsel der<br />
Redeweise von der strittigen Orthographie zur Sprache kann nicht auf Zufall oder<br />
Nachlässigkeit beruhen, denn die ganze Argumentation zum Thema „Die Sprache<br />
gehört dem Volk“ ist nur sinnvoll, wenn tatsächlich die gesamte Sprache gemeint ist,<br />
die hier ausdrücklich als Gegenstand staatlicher Regelung aufgefaßt wird.<br />
Da die Sprache in gewisser Weise gar kein „Gegenstand“ ist, der sich von seinem<br />
„Gebrauch“ unterscheiden ließe – denn sie ist selbst ein Brauch, eine Gesamtheit von<br />
gesellschaftlich-kommunikativen Umgangsformen –, ist die Argumentation an sich<br />
schon bedenklich. Es ist nicht möglich, zwischen eigengesetzlicher Entstehung und<br />
staatlich geregeltem Gebrauch zu unterscheiden, als ginge es um das natürliche<br />
Wachstum der Bäume einerseits und die Beschränkung ihrer Abholzung in der<br />
staatlichen Baumschutzverordnung andererseits.<br />
Ein staatlicher Eingriff in die Sprache war zum Beispiel die Ablösung der<br />
landesüblichen Grußformeln durch den „Deutschen Gruß“ während der nationalsozialistischen<br />
Herrschaft. Dies war ein durchaus normschöpferischer („gestaltender“)<br />
187
Eingriff im Sinne des Urteils; man wird den Vorgang aber heutzutage schwerlich als<br />
Vorbild für eine zulässige Sprachregelung anführen wollen.<br />
2. Der Staat darf die Sprache der gesamten Sprachgemeinschaft regeln, nicht nur<br />
die Schul- und Behördensprache. Das Urteil spricht in den zitierten Abschnitten<br />
ausdrücklich von der Sprache insgesamt und bejaht an anderen Stellen die auch im<br />
Urteil von Schleswig ausgesprochene und belegte Deutung, daß die<br />
Rechtschreibreform auf die gesamte deutsche Sprachgemeinschaft zielt.<br />
3. Der Staat darf die gesamte Sprache ändern, auch im Sinne eigener Erfindung.<br />
Im zweiten Abschnitt kehrt die Argumentation zwar zur Schrift zurück, doch ist nicht<br />
zu erkennen, daß die Ausführungen nicht auch auf die gesamte Sprache zu beziehen<br />
wären. Die Geschlossenheit der Argumentation erfordert dies geradezu. Vorausgesetzt<br />
wird, daß der Staat in bezug auf die Sprache überhaupt tätig werden darf und sogar<br />
muß, und in Frage steht nur noch, ob er nachzeichnen oder selbst erfinden darf. Selbst<br />
ein bloß nachzeichnender Staat versteht sich nicht von selbst, zumal weiterhin nicht<br />
bloß von der Schulsprache die Rede ist. Warum sollte es eine staatliche Aufgabe sein,<br />
der Sprachgemeinschaft eine Beschreibung ihrer Sprachgewohnheiten vorzulegen?<br />
Weit darüber hinaus geht aber die Ermächtigung, diesen Usus aus eigener Machtvollkommenheit<br />
zu verändern und damit die Sprachgemeinschaft zu zwingen, sich anders<br />
auszudrücken als bisher.<br />
Der Staat hat kein legitimes Interesse an der Lehr- und Lernbarkeit der Sprache,<br />
sondern nur an den Methoden des Lehrens und Lernens der Sprache. Dazu kam es<br />
durch die Verstaatlichung des Schulwesens.<br />
Daß die Reform neuerfundene Schreibweisen einführt, wird mehrfach bekräftigt; so<br />
stellt das Gericht noch einmal ausdrücklich fest,<br />
„daß durch die vorliegende Rechtschreibreform im Schulunterricht Rechtschreibregeln<br />
und Schreibweisen eingeführt werden, die nicht nur das Ergebnis<br />
einer historisch gewachsenen, vom Staat unbeeinflußten Schreibentwicklung sind<br />
und auch nicht lediglich eine sich im gesellschaftlichen Bereich immerhin<br />
anbahnende Schreibentwicklung vorwegnehmen, sondern jedenfalls teilweise auf<br />
reformerische Entscheidungen staatlicher Entscheidungsträger zurückgehen.“<br />
Dafür gibt es keine Legitimation, die angeführte ist ungültig. Die Sprache reguliert<br />
sich selbst. Was nicht lehr- und lernbar ist, überdauert nicht einmal den Schritt der<br />
Weitergabe an die nächste Generation. Den Kommunikationspartnern ist ja an nichts<br />
anderem gelegen als an ihrer gegenseitigen Verständigung. Folglich halten sie ihr<br />
Verständigungsmittel schon im eigenen Interesse in Ordnung. Das gilt auch für die<br />
Kommunikation mit der nachwachsenden und daher lernenden Generation. Lernbarkeit<br />
gehört zum Wesen der Sprache, sogar optimale Lernbarkeit darf man mit guten<br />
Gründen unterstellen. (Es würde zu weit führen, diese Gründe hier ausführlich<br />
darzustellen.) Daß der Staat das Gleichgewicht von Lernbarkeit für die Jungen und<br />
höchsten Ansprüchen an das Kommunikationsmittel der Erwachsenen besser<br />
austarieren könnte als die Sprachgemeinschaft selbst, ist eine Annahme von<br />
aberwitziger Kühnheit. Der Vergleich mit dem notorischen Versagen von<br />
Zentralverwaltungswirtschaften wäre eine Untertreibung.<br />
Erleichterte Lehr- und Lernbarkeit wird auch nur als eines der möglichen Motive<br />
staatlicher Sprachplanung erwähnt. Andere sind denkbar. Das Nächstliegende sind<br />
bestimmte Vorstellungen von politischer Korrektheit. Feministische, antirassistische<br />
188
und ähnliche gutgemeinte Programme sprachlicher Umerziehung lassen sich zwanglos<br />
anschließen. Wer könnte es wagen, sie zu kritisieren? Wer könnte etwas gegen „Vereinfachung“<br />
des Recht<strong>schreiben</strong>s für „unsere Kinder“ haben (wie die Kultusministerinnen<br />
sich gern ausdrücken)? Im übrigen ist es unmöglich, im Schreibusus „Widersprüche“<br />
festzustellen. Widersprüchlich kann die regelförmige Beschreibung des Usus sein,<br />
nicht dieser selbst. Der Sprachusus ist ja ein Stück Wirklichkeit, und diese kann zwar<br />
Unterschiede und Unregelmäßigkeiten enthalten, aber keine Widersprüche. Diese<br />
Klarstellung ist wichtig: Widersprüche sind schon rein begrifflich etwas zu<br />
Beseitigendes, Unterschiede und Unregelmäßigkeiten an sich nicht.<br />
Im Folgenden beruft sich das Urteil auf frühere staatliche Orthographieregelungen, wie<br />
sie seit der Mitte des 19. Jahrhunderts üblich wurden und nach Auffassung des<br />
Gerichts bezeugen, daß Orthographie als staatliche Aufgabe begriffen wurde.<br />
„Dabei bestanden die für die Schule aufgestellten Rechtschreibregeln nicht nur<br />
aus einer Wiedergabe dessen, was sich im außerstaatlichen Bereich auf<br />
gewissermaßen natürlichem Wege an Schreibkonventionen herausgebildet hatte.<br />
Die im Schulunterricht vermittelten Regeln und Schreibweisen waren vielmehr –<br />
zumindest teilweise – auch das Ergebnis normierender staatlicher Entscheidung.<br />
Schon die Schulorthographien des 19. Jahrhunderts stellten, soweit sie in dem<br />
Bestreben um eine einheitliche Schreibung in dem jeweiligen Land bestimmte<br />
Schreibweisen ausschlossen, eine bewußte und gezielte staatliche Einflußnahme<br />
auf Art und Inhalt der Rechtschreibung dar. Gleiches galt für die Ergebnisse der<br />
staatlichen Orthographiekonferenz von 1901. Daß und in welchem Umfang der<br />
Staat die Befugnis für sich in Anspruch nahm, auch verändernd in den<br />
Schreibusus einzugreifen, zeigen im übrigen Reformvorschläge wie die<br />
Wiesbadener Empfehlungen von 1958, auch wenn sich diese nicht durchsetzen<br />
konnten.<br />
Selbst der Beschluß der Kultusministerkonferenz vom 18./19. November 1955,<br />
der für Zweifelsfälle die im Duden jeweils gebrauchten Schreibweisen und<br />
Regeln für verbindlich erklärte, führte schwerlich nur zum Nachvollzug<br />
außerstaatlicher Schreibentwicklung. Nach den Worten des früheren Leiters der<br />
Dudenredaktion tradieren deren Mitarbeiter bei der von ihnen betriebenen<br />
,Sprachpflege‘ ,nicht blind überkommene sprachliche Normen, sondern<br />
überprüfen sie und bestimmen sie gegebenenfalls neu‘ (vgl. Drosdowski, a.a.O.<br />
S. 30f). Auch wenn man diese Bewertung der Tätigkeit der Dudenredakton für zu<br />
weitgehend hält, wie dies in der mündlichen Verhandlung eingewandt worden ist,<br />
läßt sich eine normative Einflußnahme des Dudens auf die deutsche<br />
Schriftsprache jedenfalls im Grundsatz nicht ausschließen, zumal eine scharfe<br />
Grenzziehung zwischen reiner Deskription und regulierender Präskription schon<br />
angesichts der Uneinheitlichkeit und Wandelbarkeit des Schreibgebrauchs kaum<br />
möglich sein dürfte. Nahm der Duden eine Änderung auf, wechselte mit diesem<br />
Vorgang die betroffene Schreibung aus dem Status des Fehlers in den der Norm.“<br />
(S. 39f.)<br />
Das Urteil drückt sich bemerkenswert vage aus. Beispiele für staatliche Neuerfindungen<br />
von Schreibweisen im 19. Jahrhundert werden nicht genannt, es sind auch<br />
aus der Literatur keine bekannt. Vielmehr wählten die Schulorthographien aus<br />
allgemein bekannten Schreibweisen einige aus, im Sinne der Beseitigung von<br />
Doppelformen. Das liegt im Wesen jeder Orthographie. Entscheidend ist, daß bereits in<br />
189
Gebrauch befindliche Formen ihre Funktionstüchtigkeit schon bewiesen haben,<br />
während dies bei Neuerfindungen zunächst ungewiß ist.<br />
Die Wiesbadener Empfehlungen mögen den „Anspruch“ des Staates exemplifizieren,<br />
aber sie besagen nichts für die Berechtigung, mit der dieser Anspruch erhoben wird.<br />
Der Anspruch hätte auch damals schon angefochten werden können, doch bestand<br />
dazu kein Anlaß mehr, da der Reformversuch scheiterte.<br />
Die Werbeschrift des ehemaligen Dudenchefs ist keine zitierbare Informationsquelle,<br />
wenn man die tatsächliche Wirksamkeit des Duden bestimmen will. Der Hinweis, es<br />
sei „im Grundsatz nicht auszuschließen“, daß der Duden auch einmal etwas Neues<br />
erfunden und durchgesetzt habe, genügt nicht; er wird durch kein Beispiel belegt,<br />
obwohl das doch leicht möglich sein müßte, wenn die Vermutung einigermaßen<br />
begründet wäre. Übrigens hat nicht nur die Seite der Kritiker, sondern der neue<br />
Dudenchef selbst während der mündlichen Verhandlung die Aussage seines Vorgängers<br />
zwar höflich, aber deutlich genug relativiert.<br />
Wenn eine in der Sprachgemeinschaft neu aufgekommene Schreibweise zunächst<br />
weder im Wörterverzeichnis vorgesehen noch nach den Regeln ableitbar ist und<br />
folglich als falsch zu gelten hat und dann allmählich in einer neuen Auflage des Duden<br />
als neue Variante und schließlich als neue Norm registriert wird, so ist dies genau der<br />
Vorgang des bloßen Nachzeichnens der eigenständigen Sprachentwicklung und<br />
keineswegs ein Beleg für die unterstellte normschaffende Vorgehensweise, wie das<br />
Gericht in einem bemerkenswerten Sophisma meint.<br />
Fazit: Das Gericht kann seine Behauptung, der Staat sei entweder direkt oder auf dem<br />
Umweg über die Ermächtigung des Duden auch bisher schon spracherfinderisch und<br />
nicht bloß nachzeichnend tätig gewesen, weder durch allgemeine Argumente noch<br />
durch ein Beispiel belegen. Die Behauptung muß daher bis auf weiteres als falsch<br />
gelten.<br />
Das Gericht bezeichnet die Geschichte der Schulorthographie als „anschauliches<br />
Beispiel“ dafür, daß „Zielsetzungen und Werte, die in der Schule vermittelt werden,<br />
stets in den außerschulischen Bereich ausstrahlen.“ Es nennt aber – der behaupteten<br />
„Anschaulichkeit“ zum Trotz – kein einziges Beispiel für Schreibweisen, die vom Staat<br />
über die Schule in den allgemeinen Gebrauch eingeführt worden wären.<br />
Das Gericht behauptet:<br />
„Das Ziel, das Erlernen richtigen Schreibens durch Vereinfachung der Rechtschreibregeln<br />
und Schreibweisen zu erleichtern, ist ein Gemeinwohlbelang, durch<br />
den die Neuregelung verfassungsrechtlich hinreichend gerechtfertigt ist. Nach<br />
vertretbarer Einschätzung des Landes ist die Rechtschreibreform geeignet, dieses<br />
Ziel zu erreichen.“<br />
Der erste Satz zeigt, daß das Gericht sich der naiven, am Ziel der Fehlervermeidung<br />
orientierten Auffassung der Orthographie anschließt, die der gesamten neueren<br />
Reformbewegung zugrunde liegt. Die Orthographie hat aber nicht den Zweck,<br />
„fehlerfreies Schreiben“ zu ermöglichen, wie es an anderer Stelle und in der gesamten<br />
Reformliteratur heißt. Vielmehr hat sie den Zweck, eine optimale Vermittlung von<br />
Inhalten zu ermöglichen, und zwar durch leserorientierte Techniken, die es einzuüben<br />
gilt.<br />
Mit dem zweiten Satz setzt sich das Gericht über das Urteil der besten Sachkenner<br />
190
hinweg und ignoriert auch die ihm vorgelegten Beweismaterialien, die gegen die<br />
zitierte Einschätzung durch das Land Schleswig-Holstein sprechen. Dabei hatten alle<br />
Kultusminister und die KMK und am allermeisten deren Präsident Wernstedt ihre<br />
Glaubwürdigkeit hundertfach verspielt, als sie immer wieder abenteuerliche<br />
Behauptungen über phantastische Fehlerverminderungsquoten in die Welt setzten, die<br />
schon aus arithmetischen Gründen nicht zutreffen konnten. Vgl. auch S. 48, wo<br />
gewisse ungenannte „Erschwernisse im Teilbereich der Getrennt- und Zusammenschreibung“<br />
erwähnt werden, denen aber größere Vorteile gegenüberstünden.<br />
Nochmals schließt sich das Gericht der Einschätzung durch die schleswigholsteinische<br />
Landesregierung an und erwähnt seine „Eindrücke“ aus der mündlichen<br />
Verhandlung. Daß in den Akten von empirischen Fehleranalysen der Reformkritiker<br />
berichtet wird, während die Reformbetreiber keine solchen Untersuchungen angestellt<br />
haben (bis auf die evident unzulänglichen Studien des ISB, München), interessierte das<br />
Gericht nicht. Ihm genügt die bloße Behauptung auf seiten der Reformer. Und hier ist<br />
es denn auch, wo offensichtlich die Überzahl der Befürworter als solche das Gericht<br />
beeindruckt hat, was angesichts der unsymmetrischen Einladungspolitik befremdlich<br />
wirkt. Daß die beiden Kultusministerinnen und ihre Gefolgschaft sowie die erstaunlich<br />
unwissende Vertreterin der GEW in der mündlichen Verhandlung ohne jeden Beleg<br />
behaupteten, die Reform vereinfache das Schreiben, war so wenig überraschend wie<br />
relevant.<br />
Erleichterung kann für den Unterricht angestrebt werden, aber bevor die Technik<br />
selbst vereinfacht wird, ist zu fragen, ob sie dann ihren eigentlichen Zweck noch<br />
erreicht. Zum Vergleich eignet sich durchaus das oft angeführte Klavier ohne schwarze<br />
Tasten oder die Flöte mit zwei Löchern. Oder noch einmal anders: Man könnte das<br />
Musizieren natürlich auch dadurch erleichtern, daß man nur noch einfache Stücke<br />
spielen läßt.<br />
Die neuen Regeln erreichen zwar das Ziel der Vereinfachung nicht oder nur in ganz<br />
seltenen und marginalen Fällen, aber eine Reduzierung der Ansprüche ist dennoch<br />
feststellbar, deutlicher gesagt: eine Vergröberung. Hier wäre zunächst die forcierte<br />
Getrenntschreibung zu erwähnen. Ob es einfacher zu erlernen ist, aneinander hängen<br />
und auseinander entwickeln nur noch getrennt zu <strong>schreiben</strong>, sei dahingestellt.<br />
Betonungs- und damit zusammenhängende Bedeutungsunterschiede brauchen nicht<br />
mehr beachtet zu werden; andererseits bleibt das Mittel der Zusammenschreibung von<br />
Verbzusatz und Verb ja grundsätzlich erhalten, und damit könnte auch der Wunsch<br />
bestehenbleiben, aneinanderhängen ebenso zu <strong>schreiben</strong> wie zusammenhängen. Die<br />
neue Regel erscheint dann als kontraintuitive Ausnahmeregelung und neue Fehlerquelle.<br />
Jedenfalls geht dem Leser durch obligatorische Getrenntschreibung eine<br />
wichtige Information verloren.<br />
Selbst wenn die neuen Regeln einfacher zu erlernen wären, müßte man ihre Legitimierung<br />
in Zweifel ziehen, weil sie die Regelungsmaterie selbst einschneidend verändern.<br />
Das Urteil hatte allerdings an früherer Stelle bereits festgestellt, der Staat dürfe die<br />
Sprache verändern. Die Tauglichkeit dieser veränderten Sprache für die von der<br />
Sprachgemeinschaft für wichtig gehaltenen Zwecke ist für das Gericht kein<br />
Beurteilungsgesichtspunkt. Es denkt in Kategorien des um seine Note besorgten<br />
Schülers.<br />
191
Aus dieser engen Perspektive sind auch die Prognosen zu verstehen:<br />
„Die Gefahr einer Verunsicherung der Kinder durch die verschiedenen Schreibweisen<br />
[sc. beim Lesen älterer Bücher] erscheint ebenfalls als eher gering.<br />
Verwechslungen, die im Einzelfall infolge der Konfrontation mit älteren Texten<br />
trotzdem unterlaufen, bleiben auch in der Schule auf lange Zeit folgenlos, weil<br />
dort bis mindestens Ende Juli 2005 bei schriftlichen Leistungsnachweisen<br />
bisherige Schreibweisen nicht als Fehler, sondern lediglich als überholt<br />
gekennzeichnet werden.“<br />
Es wird völlig außer acht gelassen, daß unabhängig von der Notengebung zwei<br />
verschiedene Orthographien zwangsläufig zu einer Verunsicherung (Ähnlichkeitshemmung)<br />
und in diesem Falle auch zu einer Schwächung des Sprachgefühls führen<br />
müssen, d. h. der intuitiven Kenntnis von Wortklassen, Bildungsmustern und Syntax.<br />
Und noch einmal: Warum mutmaßt das Gericht, wo es nach zwei Jahren Erfahrung<br />
wissen könnte?<br />
Zur Begründung staatlicher Orthographienormung führt das Gericht an:<br />
„Lehrer wie Schüler benötigen möglichst sichere, verbindliche, aber auch<br />
verständliche Grundlagen für richtiges Lehren und Lernen der deutschen<br />
Schreibung sowie zuverlässige Maßstäbe für die Benotung der inbesondere im<br />
Rechtschreibunterricht geforderten schulischen Leistungen.“<br />
Das Interesse am möglichst erfolgreichen Lehren der „deutschen Schreibung“ ist<br />
wohlbegründet, aber es setzt gerade voraus, daß es diese „deutsche Schreibung“ immer<br />
schon gibt. Die Grundlagen ihrer Vermittlung sind ein didaktisches Problem, und<br />
Didaktik ist nachgeordnet; sie läßt den beizubringenden Gegenstand unberührt. Noch<br />
befremdlicher ist die allerdings schon im ersten Satz des Urteils enthaltene Vorstellung,<br />
um der Notengebung willen müsse der Staat die Orthographie regeln, „bestimmte<br />
Schreibweisen von der Anerkennung durch die amtlichen Regeln“ ausschließen, wie es<br />
wenig später heißt. Es gibt kein genuines Interesse des Staates an der Notengebung.<br />
Gegen die Funktion der Rechtschreibung als Instrument der Selektion haben sich die<br />
Reformbetreiber der siebziger Jahre mit Recht verwahrt. Zum Vergleich: Das<br />
Strafgesetz hat nicht den Zweck, Möglichkeiten seiner Übertretung zu schaffen und<br />
dadurch die Guten von den Bösen zu unterscheiden, sondern es dient dem friedlichen<br />
Zusammenleben der Menschen. So hat auch die Orthographie ihren Zweck, das<br />
Gericht nennt ihn: die Verbesserung der schriftlichen Kommunikation. Wie man sie an<br />
Kinder vermittelt, sollen die Pädagogen sich überlegen, und dazu müssen sie die<br />
herrschende Orthographie kennen, aber sie dürfen sie nicht verändern.<br />
Zur Legitimation der Reform wird ferner angeführt, es handele sich bei<br />
Rechtschreibunterricht auch künftig um „wertfreie Wissensvermittlung“. Solange es<br />
aber den Gegenstand dieses Wissens außerhalb der Schule überhaupt nicht gibt, kann<br />
es auch nicht um Wissensvermittlung gehen. Der Unterricht vermittelt vielmehr eine<br />
neue, schulspezifische Praxis, von der gerade strittig ist, ob sie angemessen auf das<br />
Leben außerhalb der Schule vorbereitet. Allenfalls könnte man argumentieren, daß das<br />
vermittelte Wissen sich auf einen zukünftigen Brauch beziehe. Damit käme jedoch die<br />
Akzeptanzprognose wieder ins Spiel, um deren Validierung sich das Gericht nicht<br />
hinreichend bemüht. Inzwischen gibt es weitere Indizien dafür, daß die Neueregelung<br />
nicht zum allgemein üblichen Schreibusus werden wird. Die behauptete Wissensvermittlung<br />
gewinnt dadurch utopische Züge.<br />
192
An dieser Stelle sei auch auf einen Widerspruch hingewiesen, der das gesamte Urteil<br />
durchzieht. Einerseits legitimiert sich die Reform nach Ansicht der Richter dadurch,<br />
daß die Neuregelung mit großer Wahrscheinlichkeit zum Schreibgebrauch der<br />
gesamten Sprachgemeinschaft werden wird, wie es auch die Akzeptanzprognose des<br />
OVG Schleswig ins Auge gefaßt und mit Zitaten aus der Absichtserklärung und aus der<br />
Neuregelung selbst als erklärtes Ziel der Reform belegt hatte: „Die Rechtschreibreform<br />
ziele nicht nur auf eine Änderung der Schreibweise im Unterricht und in der<br />
Amtssprache. Reformiert werde zum 1. August 1998 die Schreibweise der deutschen<br />
Sprache überhaupt.“ (nach dem Urteil von Schleswig) – Andererseits beruft sich das<br />
Gericht dort, wo es um das Recht der Bürger auf sprachliche Integrität und Schutz vor<br />
Benachteiligungen geht, auf die Unverbindlichkeit der Reform für den<br />
außerschulischen Bereich:<br />
„Soweit dieser Regelung rechtliche Verbindlichkeit zukommt, ist diese auf den<br />
Bereich der Schulen beschränkt. Personen außerhalb dieses Bereichs sind<br />
rechtlich nicht gehalten, die neuen Rechtschreibregeln zu beachten und die<br />
reformierte Schreibung zu verwenden. Sie sind vielmehr frei, wie bisher zu<br />
<strong>schreiben</strong>.“<br />
„Die Schriftsprache wird sich wie bisher trotz bestehender amtlicher Regeln<br />
weiterentwickeln. Traditionelle Schreibweisen werden sich noch längere Zeit<br />
erhalten und, wie dies schon im ersten Bericht der Zwischenstaatlichen<br />
Kommission für deutsche Rechtschreibung vom Januar 1998 für eine Reihe von<br />
Fällen vorgeschlagen worden ist, als Schreibvarianten neben den reformierten<br />
Schreibweisen verwendet werden. Allenfalls auf lange Sicht läßt sich vorstellen,<br />
daß einzelne Schreibweisen von neuen – im hier behandelten Regelwerk<br />
enthaltenen oder später hinzugetretenen – abgelöst werden, sofern sich diese im<br />
Schreibusus der Schreibgemeinschaft durchsetzen.“<br />
Das Urteil rechnet also geradezu damit, daß die Neuregelung keineswegs den<br />
erwartbaren Zustand der orthographischen Praxis vorwegnimmt. Damit wird jedoch<br />
die Legitimation auch des reformierten Unterrichts teilweise entkräftet.<br />
Das Gericht bringt in allen Sachfragen, zu denen es sich selbst nicht kompetent äußern<br />
kann, den Kultusministerien ein nahezu unbegrenztes Vertrauen entgegen. Es ist der<br />
Meinung, „daß Sachkompetenz und Nähe zur schulischen Praxis die<br />
Kultusverwaltungen für die Entscheidung über Notwendigkeit, Inhalt, Ausmaß und<br />
Zeitpunkt einer Rechtschreibreform besonders qualifizieren“. Daß sich die<br />
Kultusverwaltungen schon durch die Einsetzung und Duldung einer so stark in die<br />
fachliche Kritik geratenen Kommission disqualifiziert haben, ferner durch die bereits<br />
erwähnten evident unwahren Behauptungen über die Wirkung der Reform, bleibt<br />
unberücksichtigt. Nicht das Urteil der Sprachwissenschaftler und der kritischen Lehrer,<br />
die sich immerhin auf umfangreiche Fehleranalysen stützen können, sondern die<br />
Kultusministerien erscheinen dem Gericht von vornherein als glaubwürdig, so daß es<br />
deren Behauptungen ohne nähere Nachprüfung für „vertretbar“ hält.<br />
Noch erstaunlicher ist die Ansicht des Gerichts, Rechtschreibreform falle zuvörderst in<br />
die Kompetenz der Schulbehörden, sei also eine didaktische Angelegenheit und keine<br />
die Schreibgemeinschaft als solche betreffende.<br />
193
Zusammenfassend urteilt das Gericht:<br />
„Die Rechtschreibänderungen fallen quantitativ und qualitativ nicht besonders ins<br />
Gewicht.“<br />
Die Reform führt dazu, daß von den 115.000 Einträgen des Rechtschreibdudens etwa<br />
12.000, also rund 10%, durch Rotdruck als geänderte Schreibungen gekennzeichnet<br />
sind. Nur weniges davon betrifft neue Worttrennungen. Von den 12.500 Einträgen der<br />
amtlichen Liste (die naturgemäß prozentual weniger Zusammensetzungen enthält) sind<br />
1.038 (= rund 8%) durch Asterisken als geändert markiert; darin sind überhaupt keine<br />
Worttrennungen enthalten. Aus trivialen statistischen Gründen ist der Prozentsatz<br />
geänderter Wörter (Wortformen, Tokens) in einem laufenden Text wesentlich geringer.<br />
Schätzungen besagen, daß etwa 0,5 bis 1,5 Prozent sich ändern. Das weithin übliche<br />
Herausrechnen der neuen ss-Schreibung ist nicht zu rechtfertigen, da gerade diese<br />
Änderung als besonders segensreich gepriesen wird.<br />
Die Qualität der Änderungen wird am umfassendsten in Munskes Aufsatz „Wie<br />
wesentlich ist die Rechtschreibreform?“ dargestellt. Der Verfasser zeigt, daß bisherige<br />
Regeln und Grundsätze durch die Reform geradezu auf den Kopf gestellt oder durch<br />
ganze Gruppen von Ausnahmen untergraben werden. Er kommt daher zu seinem oft<br />
zitierten Fazit: „Diese Rechtschreibreform ist nach Art und Umfang der vorgesehenen<br />
Änderungen tatsächlich eine Reform, ein wesentlicher Eingriff in die Struktur der<br />
Schriftnorm des Deutschen.“ Das ist die Meinung fast aller Sprachwissenschaftler,<br />
soweit sie unabhängig, d.h. weder in die Ausarbeitung noch in die Vermarktung der<br />
Reform verwickelt sind.<br />
Zusammenfassung: Das Gericht hat sich in allen sprach- und schriftbezogenen Fragen<br />
einzig und allein auf die Vorgaben der Kultusminister und damit auf die fachliche<br />
Außenseiterposition der Reformurheber verlassen. Das Urteil beruht daher auf falschen<br />
sachlichen Voraussetzungen.<br />
Hinzu kommt die völlig überraschende Ermächtigung des Staates, auf dem Umweg<br />
über Schulen und Behörden die Sprachgewohnheiten des ganzen Volkes zu ändern.<br />
Dadurch wird das Verhältnis von Staat und Gesellschaft neu definiert. Die Folgen sind<br />
noch nicht abzusehen. 159<br />
159 Nachtrag: Nach der Urteilsverkündung stießen die Reformer und die ihnen geschäftlich<br />
verbundenen Verlagsvertreter mit Sekt an (aus Pappbechern). Der orthographische<br />
Zustand deutscher Texte, wie er sich infolge des Urteils vor allem in den umgestellten<br />
Zeitungen zeigt, läßt solch frohe Stimmung nicht recht aufkommen. Doch auch die<br />
erhoffte Besserung am Wörterbuchmarkt hat sich nicht eingestellt.<br />
194
195
196<br />
VI. Die Presse
Nachrichtenagenturen<br />
Die Deutsche Presse-Agentur (dpa) machte auf viele Beobachter, was die Reform<br />
betraf, einen voreingenommenen und parteiischen Eindruck. Die Aktivitäten der<br />
Reformgegner wurden von bestimmten dpa-Korrespondenten einseitig im Sinne der<br />
Reformpropaganda dargestellt oder, wie die Aktionen von Schülerinitiativen, völlig<br />
verschwiegen. Der reformkritische Chefredakteur Dieter Ebeling verschwand auf einen<br />
Posten im Ausland.<br />
Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts fand zwischen Nachrichtenagenturen,<br />
Zeitungsverlegern und Chefredakteuren ein Entscheidungsprozeß statt, der bis heute<br />
nicht aufgeklärt werden konnte. Die Zeitungen behaupten:<br />
„Es war nicht so, daß die deutschsprachigen Zeitungen die Agenturen gezwungen<br />
haben, sich der Reform anzunehmen. Der Bundesverband der Deutschen<br />
Zeitungsverleger und die Agenturen haben gemeinsam den Beschluß gefaßt, 1999<br />
die Rechtschreibreform einzuführen.“ 160<br />
Damit konfrontiert, stellt der Bundesverband Deutscher Zeitungsverleger e.V. jedoch<br />
fest:<br />
„Der BDZV hat niemals einen Beschluß zur Rechtschreibreform gefaßt.“ 161<br />
Die Agenturen behaupteten, dem Wunsch ihrer Kunden, also der Zeitungen zu folgen,<br />
deren Chefredakteure zu rund 95 Prozent die Umstellung auf die Reformorthographie<br />
gefordert hätten. Zwei Jahre später war auf der Internetseite der dpa nur noch von<br />
„über 70 Prozent“ die Rede.<br />
Wegen der entscheidenden Rolle, die dpa in dieser Angelegenheit spielte, lasse ich hier<br />
den Text folgen, der im Jahre 2000 monatelang auf der Internetseite der Deutschen<br />
Presse-Agentur zu lesen war:<br />
„Die Deutsche Presse-Agentur hatte zusammen mit den anderen<br />
deutschsprachigen Nachrichtenagenturen die neue Schreibung zum 1. August<br />
1999 eingeführt. Sie tat dieses – wie die anderen – auf Wunsch ihrer<br />
Medienkunden. Grundlage dafür legte zum einen das entsprechende Urteil des<br />
Bundesverfassungsgerichtes in Karlsruhe vom 14. Juli 1998. Zum anderen<br />
startete die dpa eine breit angelegte Umfrage unter ihren Kunden. In dieser<br />
Umfrage wurden die Medien befragt, ob und zu welchem Zeitpunkt sie die<br />
Umstellung auf eine neue Rechtschreibung wünschten. Eine überwiegende<br />
Mehrheit – weit mehr als 70 Prozent – entschloss sich zum grundsätzlichen Ja für<br />
die neue Schreibung und für die Einführung zum 1. August 1999. Sie forderten<br />
gleichzeitig die Agenturen auf, sich auf eine einheitliche Form zu einigen. Denn<br />
die neuen Regeln ließen Spielräume zu, die jedermann interpretieren konnte. Seit<br />
langer Zeit schon besteht ein Transkriptionsausschuss der Agenturen mit dem<br />
Auftrag, auch im Tagesgeschäft einheitliche Definitionen zu finden. Der Sinn<br />
160 Brief von Chefredakteur Peter Kruse, Hamburger Abendblatt, vom 8.7.1999 im Auftrag<br />
des Vorstands der Axel Springer Verlag AG. Vgl. auch: „Die künstlerische Freiheit ist uns<br />
– den einzelnen Redaktionen – nicht erlaubt, da ein Beschluß der Zeitungs- und<br />
Zeitschriftenverleger, sich der Reform anzuschließen, besteht.“ (Brief der Redaktion von<br />
„Hörzu“ vom 23.8.1999)<br />
161 Brief vom 20.7.1999.<br />
197
einer solchen Vorgehensweise ist eindeutig: Die Medien in Deutschland,<br />
Österreich und in der Schweiz möchten nicht, dass die eine Agentur einen<br />
Begriff, eine Bezeichnung, ein Wort anders schreibt als die andere. Alles andere<br />
würde die Redaktionscomputer verwirren, die Redakteure und die Leser. In<br />
diesem Transkriptionsausschuss hat jede Agentur einen Sitz und eine Stimme –<br />
unabhängig von ihrer Größe oder Verbreitung. Dieser Ausschuss befasste sich<br />
auch mit dem neuen Regelwerk und definierte die Grauzonen. Die Festlegungen<br />
wurden wiederum mit den Kunden auf ihre Durchsetzbarkeit überprüft,<br />
abgestimmt und erst dann eingeführt. Das Verfahren scheint umständlich, ist aber<br />
dennoch effektiv und sinnvoll. Denn die Nachrichtenagenturen sind für ihre<br />
Medien da. Sie können, dürfen und wollen nicht als Sprachlenker in der<br />
Schreibung ihre Kunden bevormunden. In der neuen Debatte um die<br />
Rechtschreibung haben sich die Agenturen darauf verständigt, die Diskussionen<br />
aufmerksam zu beobachten. Bei einer noch anzuberaumenden Sitzung des<br />
Transkriptionsausschusses im Herbst sollen Erfahrungen ausgetauscht werden.<br />
Sollte der Streit eskalieren, wird die dpa im Transkriptionsausschuss wiederum<br />
eine detaillierte Kundenumfrage anregen. –<br />
Wilm Herlyn, dpa-Chefredakteur“<br />
(Anm.: Zur angekündigten Sitzung des Transkriptionsausschusses kam es nicht, weil<br />
dazu, wie Herlyn am 12. 2. 2000 brieflich mitteilte, „kein Anlass“ mehr gesehen<br />
wurde.)<br />
Dieser Text wurde am 12. 12. 2000 durch den folgenden ersetzt:<br />
198<br />
„Achtung Chefredaktionen und Chefs vom Dienst<br />
Die deutschsprachigen Nachrichtenagenturen geben Ihnen nachfolgend eine<br />
Stellungnahme, wie sie zur Umsetzung der Rechtschreibreform stehen: Die<br />
Agenturen haben die neue Schreibung zum 1. August 1999 eingeführt. Grundlage<br />
dafür war unter anderem auch eine breit angelegte Umfrage der dpa vom Sommer<br />
1996, bei der sich mehr als 95 Prozent der Kunden für eine Umsetzung der<br />
Reform ausgesprochen hatten.<br />
Am 1. August 2000 beschloss die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ), zu den<br />
herkömmlichen Regeln der Rechtschreibung zurückzukehren. In der Folge dieses<br />
Beschlusses entwickelte sich in der Öffentlichkeit kurzzeitig eine Diskussion um<br />
die Rechtschreibreform. Die Nachrichtenagenturen verständigten sich darauf, im<br />
Sinne ihrer Kunden bei ihrem Beschluss zu bleiben und die Diskussion<br />
aufmerksam zu beobachten. Seitens der Medien gab es bisher gegenüber den<br />
Agenturen kaum Forderungen, zu den alten Schreibweisen zurückzukehren. Die<br />
wenigen den Agenturen bewussten Schwächen des Agenturbeschlusses und die<br />
Grauzonen des Reformwerks werden weiterhin, wie im vergangenen Jahr<br />
angekündigt, beobachtet und mit der für die Reform verantwortlichen<br />
Kommission für die deutsche Rechtschreibung geklärt. Dieser Prozess wird sich<br />
nach heutigem Stand bis zum Ende 2001 hinziehen. Änderungen des<br />
Agenturbeschlusses auf der Basis neuer Entscheidungen und Empfehlungen der<br />
Kommission werden rechtzeitig den Kunden mitgeteilt. Sämtliche Aktivitäten in<br />
Fragen der Rechtschreibreform werden von einer Arbeitsgruppe begleitet, in der<br />
die Agenturen gleichberechtigt vertreten sind. Dieser Gruppe gehören die
Agenturen AFP, AP, dpa, ddp, epd, KNA, Reuters, sid, vwd, APA (Österreich)<br />
und sda (Schweiz) an.“<br />
Unverkennbar ist die Tendenz, die Diskussion herunterzuspielen und die anhaltende<br />
Ablehnung der Reform durch die Bürger und Zeitungsleser überhaupt nicht zu<br />
erwähnen. Andernfalls hätte die Agentur ja, gemäß ihrer Ankündigung, eine neue<br />
Befragung vornehmen müssen.<br />
Nachdem ich auf den Widerspruch zwischen den Zahlenangaben hingewiesen hatte,<br />
schrieb Herlyn am 14. 12. 2000, es handele sich um einen „Tippfehler“, und ließ statt<br />
„95 Prozent“ seine frühere Angabe „70 Prozent“ wiederherstellen.<br />
Aus manchen Zeitungen ist Klage über das eigenmächtige Vorgehen der Deutschen<br />
Presse-Agentur zu hören, von der die Initiative zur Umstellung ausgegangen war. Ein<br />
entscheidender Schritt war der Vorstoß, den dpa im Sommer 1996 unternahm – als<br />
noch nicht einmal der neue Duden erschienen war, nur wenige den Inhalt der<br />
Neuregelung kannten und die Proteste der Bevölkerung sich noch kaum artikuliert<br />
hatten. Der Chefredakteur verschickte folgendes Rund<strong>schreiben</strong> „an die Chefredakteure<br />
der Bezieher des Basisdienstes“ (Hervorhebung hinzugefügt):<br />
Rechtschreibreform<br />
Sehr verehrte Frau Kollegin,<br />
sehr geehrter Herr Kollege,<br />
„Hamburg, 14. August 1996<br />
die Vertreter der deutschen Länder und einiger deutschsprachiger Staaten haben<br />
am 1. Juli die Einführung der neuen deutschen Rechtschreibung beschlossen.<br />
Bereits ab Herbst dieses Jahres wird den Erstkläßlern in acht von 16<br />
Bundesländern die neue Rechtschreibung gelehrt, in Bayern und Bremen gilt die<br />
Reform auch schon in den Abschlußklassen.<br />
Mit Wirkung vom 1. August 1998 wird die neue Rechtschreibung in Ämtern und<br />
Schulen eingeführt und ist dort nach einer Übergangszeit ab 31. Juli 2005<br />
verbindlich.<br />
Dies bedeutet, daß spätestens im Jahre 2005 die meisten Schulabgänger –<br />
übrigens auch die neue Generation des journalistischen Nachwuchses –<br />
ausschließlich die neue Rechtschreibung beherrschen. Es ist anzunehmen, daß<br />
sich bis spätestens zu diesem Zeitpunkt das Bild der tatsächlich geschriebenen<br />
Sprache merklich verändert haben wird.<br />
Wir haben bereits vor einiger Zeit versucht, bei Gesprächen mit unseren Kunden<br />
deren Vorstellungen von den Folgen, die diese politische Entscheidung für unser<br />
Metier haben wird, zu erkunden. Damals hatte eine Meinungsbildung<br />
offensichtlich entweder kaum stattgefunden oder beschränkte sich auf die<br />
Aufforderung, sich der Rechtschreibreform zu widersetzen.<br />
199
200<br />
Zahlreiche Anfragen aus dem Kreis unserer Kunden nach der Unterzeichnung<br />
vom 1. Juli lassen uns vermuten, daß sich zwischenzeitlich das allgemeine<br />
Problembewußtsein weiterentwickelt hat und Sie entsprechende Vorschläge von<br />
uns erwarten.<br />
Unser heutiger Brief ist mit den anderen deutschsprachigen Nachrichtenagenturen<br />
abgestimmt. Die Agenturen gehen davon aus, daß eine Veränderung<br />
der Rechtschreibung nur gemeinsam erfolgen kann. Voraussetzung für eine<br />
geänderte Rechtschreibung der deutschsprachigen Agenturen ist jedoch, daß diese<br />
Veränderung von den Kunden akzeptiert oder gewünscht wird. Dabei gehen wir<br />
davon aus, daß eine solche Änderung des Agenturmaterials bei den meisten<br />
unserer Kunden nur gleichzeitig mit einer Umstellung auf die neue<br />
Rechtschreibung im gesamten redaktionellen Teil von Zeitungen und<br />
Zeitschriften erfolgen kann. Voraussetzung dafür ist unter anderem die<br />
Umstellung von Redaktions- und Datenbanksystemen.<br />
Das bedeutet, daß jeder Schritt der Agenturen nur im Einklang mit erheblichen<br />
Anstrengungen der Kunden vorgenommen werden kann. Abgesehen von der<br />
Akzeptanz durch die Leser handelt es sich hier vermutlich vor allem um ein<br />
Ausbildungsproblem sowie um möglicherweise nicht unerhebliche technische<br />
Veränderungen beispielsweise in den Rechtschreibprogrammen von<br />
Redaktionssystemen.<br />
Unserer Ansicht nach ist eine Umstellung auf die neue Rechtschreibung letztlich<br />
unvermeidlich – vor allem, weil die nachwachsende Lesergeneration anderenfalls<br />
den Printmedien verlorengehen könnte.<br />
Wie halten zwei Wege für denkbar:<br />
1) Anwendung aller wesentlichen neuen Rechtschreibregeln ab einem<br />
festzulegenden Zeitpunkt.<br />
Dies würde bedeuten: Schlagartige Veränderung des neuen Agenturmaterials über<br />
Nacht: Ausgenommen werden könnten einige neue Schreibweisen, deren<br />
Akzeptanz derzeit noch besonders fraglich erscheint. Vorteil dieses Verfahrens<br />
wäre die relativ übersichtliche Umstellung von Redaktionssytemen und<br />
Datenbanken.<br />
2) Schrittweise Anwendung der neuen Rechtschreibregeln in beispielsweise drei<br />
Erappen:<br />
1. Etappe: Anwendung der Regeln zur Getrenntschreibung sowie zur Groß- und<br />
Kleinschreibung<br />
2. Etappe: Anwendung der Regeln über den Gebrauch von „ss“ und „ß“<br />
3. Etappe: Anwendung der Regeln über neue Schreibweisen von Wörtern, sofern<br />
diese nicht bereits durch die beiden vorhergegangenen Etappen erfaßt wurden.<br />
Ein möglicher Vorteil wäre, die Einführung der überaus gewöhnungsbedürftigen<br />
neuen Rechtschreibung für all jene Leser zu erleichtern, die durch die<br />
Stichtagelösung möglicherweise verschreckt würden. Sie böte beispielsweise die<br />
Möglichkeit, die zweite Etappe erst dann einzuführen, wenn im öffentlich<br />
wahrnehmbaren Schriftbild die Akzeptanz erkennbar ist.
Ein möglicherweise gewichtiger Nachteil kann in den technischen Problemen<br />
liegen, die diese Staffelung mit sich brächte.<br />
Die deutschsprachigen Nachrichtenagenturen sind nun darauf angewiesen, daß<br />
Sie uns Ihre Wünsche mitteilen, Sie finden daher als Anlage einen Fragebogen.<br />
Bitte füllen Sie ihn sorgfältig aus, und schicken Sie ihn bis zum 31. August 1996<br />
an die dpa-Chefredaktion zurück.<br />
Anhand des Meinungsbildes werden wir – die deutschsprachigen Agenturen –<br />
dann entscheiden müssen. Dabei ist nicht auszuschließen, daß diese Entscheidung<br />
dem Wunsch einer substantiellen Minderheit zuwiderläuft. Gerade deswegen sind<br />
wir in höchstem Maße daran interessiert, daß angesichts der Bedeutung des<br />
Themas möglichst alle unsere Kunden ihre Meinung äußern.<br />
Selbstverständlich werden wir Sie umgehend über das Ergebnis dieser Kunden<br />
befragung informieren. Ich bedanke mich schon jetzt für die Mühe, der Sie sich<br />
unterziehen.<br />
Mit freundlichen Grüßen<br />
Ihr<br />
Dr. Wilm Herlyn“<br />
Wie zu erkennen ist, betrachtet die Deutsche Presse-Agentur die Reform als<br />
unabwendbar und legt ihren Kunden nahe, die Lage ebenso einzuschätzen. Daß die<br />
Schulen kaum bei einer Neuschreibung bleiben könnten, wenn sich die Presse<br />
verweigerte, kommt nicht in den Blick. Die Warnung vor dem Verlust der<br />
nachwachsenden Leserschaft tut ein Übriges.<br />
Der Fragebogen sah so aus:<br />
„Antwort zur Umfrage Rechtschreibreform<br />
1) Wir möchten, daß die Rechtschreibreform von den deutschsprachigen<br />
Nachrichtenagenturen vollständig mit<br />
Stichtag 1. August 1998<br />
vollzogen wird.<br />
2) Wir möchten, daß die Rechtschreibreform von den deutschsprachigen<br />
Nachrichtenagenturen in drei Etappen vollzogen wird – und zwar mit einer noch<br />
genauer zu definierenden<br />
ersten Etappe am 1. August 1998,<br />
gefolgt von zwei weiteren Etappen, über deren Dauer und Zeitpunkt gemäß der<br />
tatsächlichen Akzeptanz der Rechtschreibreform später verbindlich entschieden<br />
wird.<br />
3) Wir möchten, daß die Rechtschreibreform am ... vollzogen wird.<br />
201
4) Wir möchten, daß die Rechtschreibreform ungeachtet der Veränderungen im<br />
amtlichen Gebrauch der deutschen Sprache von den Nachrichtenagenturen bis auf<br />
weiteres überhaupt nicht vollzogen wird.<br />
(Unterschrift)<br />
............., den .......... 1996“<br />
Wie man sofort sieht, ist der Fragebogen von derselben Tendenz pro Reform bestimmt.<br />
Die Möglichkeit der Verweigerung wird erst als letzte und durch den Hinweis auf die –<br />
damals noch in weiter Ferne liegende – amtliche Änderung des Sprachgebrauchs<br />
geradezu abwegige Eigenbrötelei dargestellt. Das Ergebnis der Befragung wurde am<br />
11. September 1996 mitgeteilt:<br />
Sehr verehrte Frau Kollegin,<br />
sehr geehrter Herr Kollege,<br />
mit Rund<strong>schreiben</strong> vom 14. August 1996 hatte ich Sie gebeten, bis zum 31.<br />
August einen Fragebogen zur Rechtschreibreform auszufüllen.<br />
Nach einer Auswertung dieses Fragebogens mit Stand 11. September votieren<br />
– 77 Medienkunden dafür, die Rechtschreibreform mit Stichtag 1. August 1998<br />
vollständig zu vollziehen.<br />
– 17 Medienkunden haben sich entschieden, daß die Rechtschreibreform in drei<br />
Etappen vollzogen wird – und zwar mit einer noch genauer zu definierenden<br />
ersten Etappe vom 1. August 1998 an.<br />
– Insgesamt neun Medienkunden votieren für verschiedene Daten, vom 1. Juli<br />
1997 (ein Kunde) bis „so spät wie möglich“ (ein Medienkunde).<br />
– Für die Aussetzung des Vollzugs der Rechtschreibreform bis auf weiteres<br />
plädieren insgesamt vier Medienkunden.<br />
Über den Fortgang der Diskussion werden wir Sie weiter informieren.<br />
Mit freundlichem Gruß<br />
Dr. Wilm Herlyn“<br />
Die Agenturen haben auf diesem Wege erst den äußeren Schein jener „Akzeptanz“<br />
geschaffen, die ihnen dann wieder als Legitimation ihrer Umstellung diente. Nur die<br />
Leser als die eigentlich Betroffenen wurden nie gefragt.<br />
Anzumerken ist noch, daß es mehr als 350 Bezieher des Basisdienstes gibt;<br />
geantwortet hat also weniger als ein Drittel, und für die Umstellungsvariante, die dann<br />
tatsächlich ins Werk gesetzt wurde, haben sich nur etwas mehr als ein Fünftel<br />
ausgesprochen. In einem Referat von Albrecht Nürnberger, dem langjährigen<br />
Vorsitzenden des Transkriptionsausschusses der Deutschen Presse-Agentur, wird<br />
daraus die Mitteilung, „daß mehr als 95 Prozent (der Medien) die Reform umsetzen<br />
wollen.“ (IFRA-Tagung am 10. Juni 1999 in Darmstadt). Die Agenturen beauftragten<br />
Nürnberger mit der Ausarbeitung einer brauchbaren gemeinsamen Hausorthographie.<br />
202
Sie erwies sich als extrem fehlerhaft. wurde später geringfügig überarbeitet und steht<br />
noch heute auf der Internetseite der Deutschen Presse-Agentur. Ich beschränke mich<br />
daher auf die Wiedergabe der Einleitung und einige kommentierende Bemerkungen:<br />
„Arbeitsgruppe der deutschsprachigen Nachrichtenagenturen<br />
Beschluß zur Umsetzung der Rechtschreibreform<br />
Die deutschsprachigen Nachrichtenagenturen haben am 16. Dezember 1998 in<br />
Frankfurt einvernehmlich nach intensiver Beratung beschlossen, die Reform der<br />
deutschen Rechtschreibung weitestgehend und in einem Schritt umzusetzen.<br />
Wichtigstes Ziel war, die Rechtschreibung im Sinne der (gemeinsamen) Kunden<br />
nicht nur einheitlich, sondern auch eindeutig festzulegen. Die Notwendigkeit der<br />
Eindeutigkeit ergibt sich vor allem daraus, daß die eingesetzten elektronischen<br />
Systeme bei der Nutzung von Schreibvarianten in ihren Suchfunktionen behindert<br />
würden. Zudem müssen Schreibweisen „mit einem Blick“ optisch identifiziert<br />
und zugeordnet werden können.<br />
Ausschlaggebend für den Umsetzungsbeschluß war die Überlegung, daß die<br />
neuen Schreibweisen in naher Zukunft eine Selbstverständlichkeit sein werden<br />
und daß die (Zeitungs-)Leser künftig in allen Bereichen des öffentlichen Lebens<br />
mit den neuen Regeln konfrontiert werden. Ein weiterer Punkt war, daß es nicht<br />
Aufgabe der Agenturen sein kann, die Reform zu steuern oder zu verhindern. Bei<br />
ihren Beratungen haben sich die Agenturen an der Systematik des Internationalen<br />
Arbeitskreises für Orthographie, der die Reform erarbeitet hat, orientiert.<br />
An der Erarbeitung des Beschlusses waren die deutschsprachigen Nachrichtenagenturen<br />
(AFP, AP, dpa, ddp, ADN, epd, KNA, Reuters, sid, vwd, APA<br />
(Österreich) und SDA (Schweiz)) gleichberechtigt beteiligt.<br />
Die Agenturen sind sich bewußt, daß sie mit ihrem Beschluß lediglich einen<br />
ersten Schritt für eine einheitliche und eindeutige Schreibung in ihren Häusern<br />
tun können. Die genannten Festlegungen für Schreibweisen können nur exemplarischen<br />
Charakter haben. Die Vorlage einer vollständigen Liste sämtlicher<br />
neuer Schreibweisen liegt außerhalb der Möglichkeiten der Agenturen.<br />
Die Agenturen werden künftig die Rechtschreibung aufmerksam beobachten und<br />
gegebenenfalls auf neue Entwicklungen reagieren.<br />
Die Umstellung auf die neue Rechtschreibung wird seitens der Agenturen am 1.<br />
August 1999 erfolgen. Bis dahin werden sich alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter<br />
in den Häusern auf die neuen Schreibweisen einstellen müssen. Aber<br />
auch die eingesetzten elektronischen Systeme müssen „lernen“, ihre Rechtschreibprüfprogramme<br />
und die elektronischen Wörterbücher von Datenbanksystemen<br />
müssen angepaßt werden.“<br />
Es kann nicht darum gehen, „einen ersten Schritt für eine einheitliche Schreibung“ zu<br />
tun. Wir haben ja bereits eine einheitliche Schreibung, die auch von der deutschen<br />
Presse befolgt wird, zum Nutzen der Leser, die damit sehr zufrieden sind. Wozu etwas<br />
ändern, wenn man damit nicht einmal den Wünschen der Kultusminister gerecht wird?<br />
Denn der Beschluß der Agenturen sieht ja vor, daß in bestimmten Bereichen auch<br />
abweichend von der amtlichen Schulorthographie geschrieben werden soll.<br />
203
Die Agenturen und die Zeitungen sind in keiner Weise gehalten, die von den<br />
Kultusministern – wie sich gezeigt hat – voreilig beschlossenen, unausgereiften<br />
Schulschreibregeln zu befolgen. Das Bundesverfassungsgericht hat lediglich bestätigt,<br />
daß die Minister diese Regelung auf dem gewählten Wege in die Schulen einführen<br />
durften, mehr nicht. Übrigens enthält das Urteil von Karlsruhe eine bemerkenswert<br />
skeptische Akzeptanzprognose! Die Agenturen verhalten sich also keineswegs neutral,<br />
wenn sie umstellen, sondern machen sich zu Handlangern einer winzigen Gruppe von<br />
Reformeiferern, denen es gelungen ist, ein paar Politiker rechtzeitig in eine erkennbar<br />
verfehlte Unternehmung zu verwickeln, aus der sie nun nicht mehr ohne<br />
Gesichtsverlust herausfinden.<br />
Die Neuregelung wird in der gegenwärtig vorliegenden Form keinesfalls die<br />
Orthographie der Zukunft sein. Der weitreichende Revisionsvorschlag der<br />
Kommission (d. h. im wesentlichen der Reformer selbst) vom Dezember 1997 ist nur<br />
mit Rücksicht auf die Schul- und Wörterbuchverleger aufgeschoben worden und wird<br />
zweifellos nach einer „Schamfrist“ (P. Eisenberg) verwirklicht werden. Damit rechnet<br />
auch der führende Reformer Augst. Er hat kürzlich ein umfangreiches<br />
„Wortfamilienwörterbuch“ (Tübingen 1998) veröffentlicht, in dem er die Neuregelung<br />
zuzüglich der von der Kommission vorgeschlagenen, von den Kultusministern<br />
aber untersagten Revision praktiziert. Gerade das, was die Agenturen an Änderungen<br />
übernehmen wollen (Fleisch fressend usw.), wird von Augst bereits rückgängig<br />
gemacht! Sachkundige wissen, daß dem noch weitere Revisionen folgen werden. Das<br />
hat auch Bundesinnenminister Schily angedeutet (BT-Drucksache 14/356).<br />
Erst im Jahre 2005 wird einigermaßen klar sein, was von der Reform überhaupt<br />
übrigbleibt. Es ist nicht einzusehen, warum die Agenturen nicht so lange warten<br />
können, statt sich mit voreiligen, zum Teil jetzt schon als fehlerhaft erkennbaren<br />
Änderungen im Sinne einer bloßen Übergangsschreibung als besonders willfährig zu<br />
erweisen.<br />
Die wichtigsten Abweichungen der Agenturschreibung von der amtlichen Neuregelung<br />
sind die Großschreibung fester Begriffe einschließlich der Zugehörigkeitsadjektive<br />
(Ohmsches Gesetz), die Großschreibung der Briefanrede und die Beibehaltung der<br />
bisherigen Kommasetzung. Am Ende des Papiers findet man folgenden Nachtrag:<br />
„Hinweis: Nach der Veröffentlichung des Grundsatzbeschlusses der Agenturen<br />
vom 16.12.1998 haben zahlreiche Medienkunden nach einer beispielgebenden<br />
Liste gefragt. Mehrheitlich wollen die Agenturen diesem Kundenwunsch folgen<br />
und halten von Anfang Februar 1999 an eine entsprechende Liste bereit.<br />
Hamburg, 14.1.1999“<br />
Die angekündigte Liste stellt etwa 500 Wörter in alter und neuer Rechtschreibung<br />
einander gegenüber. Sie beweist, daß die Agenturen geglaubt haben, ohne fachliche<br />
Beratung auszukommen. Man findet darin Neuschreibungen wie Schuld bewusst,<br />
Französisch zusammenfassen, selbst bewusst, wieder sehen, zusammen gehen und<br />
ähnliche Mißgriffe.<br />
Die Zeitungen<br />
Ein besonderes Beispiel vorauseilenden Gehorsams lieferte die „Woche“, als sie<br />
bereits Ende Dezember 1996 auf eine neue Hausorthographie umstellte. Seither befand<br />
204
sie sich in einer Art Rechtfertigungszwang, der sich in aggressiven Tönen gegenüber<br />
allen Reformkritikern äußerte und die „Woche“ zu einem völlig kritiklosen<br />
Schulterschluß mit den Kultusministern nötigte – ein Schicksal, das später alle<br />
umgestellten Zeitungen teilten. Zu welchen Verrenkungen dieser frühe Kniefall vor der<br />
Macht führte, verdeutlicht der folgende Text, den Chefredakteur Manfred Bissinger<br />
nach der Rückumstellung der F.A.Z. an die Leser richtete:<br />
Liebe Leserin, lieber Leser,<br />
Dreieinhalb Jahre ist es jetzt her, ganze 187 Ausgaben der WOCHE, dass wir als<br />
erste Zeitung die neuen Regeln der Rechtschreibreform einführten. Und wir sind<br />
gut damit gefahren. Ich erinnere drei Abbestellungen, ganz am Anfang,<br />
Professoren von Pädagogischen Hochschulen, ansonsten waren Sie (das sind<br />
immerhin 390.000 Leserinnen und Leser) einverstanden. Die meisten hatten es,<br />
das muss ehrlicherweise hinzugefügt werden, erst gar nicht bemerkt. Wann<br />
berichten wir schon über Schifffahrt oder Teeeier, Wörter, die die neue<br />
Orthografie schon optisch wahrnehmbar machen.<br />
Wir haben uns gefreut, als dann vor über einem Jahr erst die „Zeit“ und später die<br />
Agenturen und mit ihnen alle anderen Zeitungen und Zeitschriften unserem<br />
Schritt folgten. Jeder nutzte die Spielräume der Reform auf seine Weise. Wir zum<br />
Beispiel schrieben viele Fremdwörter weiter wie vorher. Wir wollten<br />
„Portemonnaie“ nicht eindeutschen. Die Regeln erlauben das, und weder der<br />
Sprache noch den Inhalten hat es geschadet, dass wir auch andere offensichtliche<br />
Ungereimtheiten von vornherein korrigiert haben.<br />
Die deutsche Sprache entwickelte sich schon in der Vergangenheit äußerst<br />
lebendig, und sie wird es kontinuierlich weiter tun – wir sind sicher, dass die<br />
zuständige Kommission sowohl unsere als auch die Erfahrungen der anderen<br />
Anwender bei der angekündigten Überarbeitung des Regelwerkes nutzen wird.<br />
Schließlich gehört auch die Korrektur von Fehlern zum Ethos der Wissenschaft.<br />
Die in dieser Woche erfolgte Rückkehr der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“<br />
(„FAZ“) zur Schreibweise des vergangenen Jahrhunderts wird daran nichts<br />
ändern können. Die klugen Köpfe sind allein: „Welt“ wie „Süddeutsche“,<br />
„Focus“ wie „Spiegel“, „Bild“ wie „Stern“ respektieren weiter die neuen<br />
Schreibweisen. Der Schritt der „FAZ“ wird in der Zukunft eher die abschrecken,<br />
die inzwischen nach den neuen Regeln ausgebildet worden sind.<br />
Wir warten in Ruhe ab, was die gelehrten Herren der Rechtschreibkommission<br />
aus der Praxis für Lehren ziehen. Sollten sie vorhandene Absurditäten tilgen und<br />
der Reform damit zu noch mehr Klarheit verhelfen – uns sollte es nur recht sein.<br />
Ohnehin will keiner den jetzt der „FAZ“ zujubelnden Schriftstellern ihre Sprach-<br />
Kreativität rauben. Sie sollen so dichten, wie sie glauben uns Leser am besten<br />
überzeugen zu können. Man denke nur an Arno Schmidt, jenen genialen Autor,<br />
der schon die alten Regeln missachtete und einfach „1zigartig“ schrieb.<br />
205
Solche Einfälle dürfen keinem Regelverdikt zum Opfer fallen – getreu dem<br />
Motto Georg Christoph Lichtenbergs: „Der eine hat eine falsche Rechtschreibung<br />
und der andere eine rechte Falschschreibung.“<br />
Manfred Bissinger<br />
Chefredakteur<br />
Dazu nur wenige Anmerkungen: Mir sind mehrere Personen bekannt, die die „Woche“<br />
abbestellt haben, ohne Professoren an Pädagogischen Hochschulen zu sein. Die<br />
Leserinnen und Leser der „Woche“ sind auch gar nicht nach ihrer Zufriedenheit gefragt<br />
worden. Die Neuschreibung gibt sich nicht an Teeeiern zu erkennen, sondern an dass,<br />
und daß irgendein Leser (gar „die meisten“) es nicht einmal bemerkt haben sollte, ist<br />
eine geradezu beleidigende Unterstellung. Die Neuregelung enthält auch nach<br />
Bissinger „Ungereimtheiten“ und „Absurditäten“; dennoch glaubt er ihr folgen zu<br />
müssen. Die Folgsamkeit nimmt Formen der Devotion an: „Wir warten in Ruhe ab,<br />
was die gelehrten Herren der Rechtschreibkommission aus der Praxis für Lehren<br />
ziehen.“ Die F.A.Z. ist nicht zur Orthographie „des vorigen Jahrhunderts“<br />
zurückgekehrt – wie Bissinger mit demagogischer Absicht sagt –, denn das neue<br />
Jahrhundert begann erst am 1. Januar 2001. Im übrigen hatte die „Woche“ ja selbst<br />
noch kurz zuvor in der Orthographie des 20. Jahrhunderts geschrieben, gewiß zur<br />
vollen Zufriedenheit ihrer Leser. Es ist die Neuschreibung, die ins 19. Jahrhundert und<br />
noch weiter zurückführt. Die Schriftstellerbeschimpfung eint Bissinger mit den<br />
Kultusministern. Zwar hängt das Ableben der „Woche“ im März 2002 nicht<br />
unmittelbar mit der Reformschreibung zusammen, aber mit der hier zutage tretenden<br />
Arroganz hat es wohl doch zu tun.<br />
Am 1. August 1999 stellten fast alle deutschsprachigen Zeitungen ihre Orthographie<br />
um, auch die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ und die „Welt“, deren Redaktionen<br />
unermüdlich gegen die Neuregelung gekämpft hatten. Von den größeren Tageszeitungen<br />
widersetzte sich nur die „Presse“ (Wien). Unzählige Briefe an protestierende<br />
Leser wurden verschickt, etwa dieser Art:<br />
206<br />
„Sehr geehrter Herr ...,<br />
mit Ihrer Kritik an der Rechtschreibreform rennen Sie bei mir und meiner<br />
Redaktion offene Türen ein. Wir werden diese völlig überflüssige Reform in der<br />
Landeszeitung, wenn überhaupt, erst von Ende 1999 an umsetzen müssen. Denn<br />
zu diesem Zeitpunkt werden alle deutschsprachigen Nachrichten-Agenturen die<br />
neuen Regeln – leider – zur Anwendung bringen. Bis dahin wird auch die<br />
Landeszeitung bemüht sein, diesen Unsinn abzubiegen.<br />
Mit freundlichen Grüßen ...“<br />
„Sehr geehrter Herr ...,<br />
herzlichen Dank für Ihre Zuschrift und die Beispiele aus der OSTSEE-ZEITUNG<br />
zum leidigen Thema ,Rechtschreibreform‘. Ich teile Ihre Einschätzung zur<br />
Reform, leider kann ich dennoch Ihrer Empfehlung zur Beibehaltung der<br />
sprachlich oft klareren alten Schreibweise nicht folgen. Es geht einfach nicht,<br />
weil die deutschsprachigen Agenturen, deren Texte wir zu einem Teil drucken,<br />
sich für die neuen Schreibweisen entschieden haben. Es übersteigt unsere
zeitlichen und personellen Möglichkeiten, alle verwendeten Agenturtexte zu<br />
korrigieren.<br />
Mit freundlichen Grüßen ...“<br />
Im folgenden Brief ist neben der falschen Einschätzung der Rechtslage<br />
bemerkenswert, welche Zwänge hier offenbar wirksam sind: Die nach eigener<br />
Auskunft meistgelesene deutsche Zeitschrift (Auflage über 13 Mill.) darf es nicht<br />
wagen, auch nur einen einzigen Leserbrief in der vom Verfasser gewünschten,<br />
allgemein üblichen Orthographie abzudrucken:<br />
„Sehr geehrter Herr ...,<br />
haben Sie besten Dank für Ihr Schreiben vom 14.08.1999 und entschuldigen Sie<br />
bitte vielmals die etwas verspätete Antwort.<br />
Die Verzögerung hängt leider nicht damit zusammen, dass wir eventuell in<br />
Betracht gezogen hätten, wieder zur alten Schreibweise zurück zu kehren. Von<br />
fast allen großen Verlagen wurde der Beschluss, ab dem 01.08.1999 sämtliche<br />
Printerzeugnisse in der neuen Rechtschreibung zu drucken, realisiert. Und –<br />
unabhängig davon, ob der Einzelne die Reform für sinnvoll hält oder nicht –<br />
müssen auch wir uns nach den neuen orthographischen Regeln richten und die<br />
motorwelt wird weiterhin in „reformierter“ Form erscheinen. Ein anderer Grund<br />
für unsere Entscheidung ist sicherlich auch das positive Urteil, das vom Bundesverfassungsgericht<br />
in Karlsruhe am 14.07.1998 hinsichtlich der Rechtschreibreform<br />
gefällt wurde und demgemäß die neue Rechtschreibung ab dem<br />
01.08.1998 in Kraft zu treten hat und ab diesem Zeitpunkt an Schulen,<br />
Universitäten und im gesamten öffentlichen Sektor praktiziert wird. Ab dem<br />
31.07.2005 ist die neue Rechtschreibung Pflicht und die bisherige Schreibweise<br />
nicht mehr zulässig. Insofern haben selbstverständlich weder wir als motorwelt<br />
noch irgendeine andere Institution die rechtliche oder faktische Möglichkeit diese<br />
Reform rückgängig machen. Befürworter der neuen Rechtschreibung<br />
argumentieren übrigens, dass potenzielle Gegner ab Beginn der Diskussion und<br />
dem Einsetzen entsprechender Arbeitskreise ab Beginn der 80er Jahre die<br />
Möglichkeit gehabt hätten, mit Gegenargumenten in die Verhandlungen<br />
einzugreifen, dies aber lange Zeit nur äußerst zurückhaltend geschehen wäre.<br />
Eine Veröffentlichung Ihres Schreibens ist leider nicht möglich, da wir die<br />
motorwelt durchgängig in neuer Schreibweise erscheinen lassen müssen und dies<br />
Ihrem Wunsch zuwider laufen würde. Aber seien Sie versichert, dass auch uns die<br />
Umstellung leichte „Bauchschmerzen“ verursachte und etwas gewöhnungsbedürftig<br />
ist. Wir möchten Sie abschließend um Verständnis für unsere<br />
Entscheidung bitten und danken Ihnen für Ihr kritisches Interesse an unserer<br />
Arbeit und Zeitschrift.<br />
Mit freundlichen Grüßen<br />
ADAC motorwelt“<br />
207
„Lieber Herr ...<br />
herzlichen Dank für Ihr freundliches Schreiben.<br />
Das Entsetzen wird Ihnen und uns allen hier in der Redaktion nicht erspart<br />
bleiben. Die Geschäftsleitung hat beschlossen, Anfang des Jahres zu machen, was<br />
alle machen: Die neue Rechtschreibung einzuführen. Nicht gerne, sondern<br />
notgedrungen, weil wir schließlich nicht bis zum St. Nimmerleinstag hinter der<br />
Allgemeinheit hinterherhinken können. Vielleicht ist es für Sie – wie auch für uns<br />
– ein kleiner Trost, daß wir dann wenigstens nicht mehr durcheinanderkommen,<br />
wenn wir Tips heute so und morgen als Tipps serviert bekommen. Das ständige<br />
Lesen prägt ja auch den versierten Schreiber und bringt ihn schließlich<br />
durcheinander. Sehen wir es also positiv - ändern können wir es ja doch nicht.<br />
Und künstlerischen oder gar Kult-Status, der es uns erlauben würde, die neue<br />
Norm außer Kraft zu setzen, hat eine TV-Zeitschrift ja nun wirklich nicht.<br />
Mit freundlichen Grüßen aus Hamburg<br />
TV HÖREN UND SEHEN-Leserservice“<br />
Geradezu demonstrativ zynisch teilte die F.A.Z. nach der Umstellung auf ihrer Leserbriefseite<br />
in besonders großen Lettern mit:<br />
„Aus Gründen der effizienten Arbeitsteilung zwischen Redaktion, Texterfassung<br />
und Korrektur und um eines stimmigen Gesamtbildes dieser Rubrik willen<br />
müssen Zuschriften nach den Regeln der reformierten deutschen Rechtschreibung<br />
veröffentlicht werden. Die Abteilung ,Briefe an die Herausgeber‘ bittet daher um<br />
Verständnis für notwendige Eingriffe in die individuell bevorzugte Schreibung.“<br />
(FAZ 2. 8. 99)<br />
Offenbar soll der Leser hier dermaßen vor den Kopf gestoßen werden, daß er sich mit<br />
Protest an die Herausgeber wendet.<br />
(Gleichzeitig druckte übrigens die F.A.Z. Marcel Reich-Ranickis Erinnerungen in alter<br />
Rechtschreibung, ebenso den darauffolgenden Romanvorabdruck.)<br />
Keine Zeitung übernahm die amtliche Neuregelung unverändert – womit das Argument<br />
wegfiel, man dürfe die Schüler nicht mit ihrer Reformschreibung allein lassen. Von der<br />
amtlichen Regelung abzuweichen und deren „größte Absurditäten“ nicht mitzumachen<br />
wurde geradezu der Stolz derjenigen Blätter, die etwas auf sich hielten und dadurch<br />
Mannesmut vor Fürstenthronen zu zeigen glaubten.<br />
ZEITschreibung<br />
Nachdem die „Woche“ bereits am 1. Januar 1997 auf eine Version der Neuschreibung<br />
umgestellt hatte, ließ es sich auch die ältere Konkurrentin, die „Zeit“, nicht nehmen,<br />
schon einige Wochen vor den anderen Zeitungen umzustellen. Dafür hatte sie von<br />
ihrem Mitarbeiter, dem sprachkundigen und vielseitig gebildeten Dieter E. Zimmer,<br />
eine eigene „ZEITschreibung“ ausarbeiten lassen, die sie in einem umfangreichen<br />
Dossier vorstellte. Es enthält erstaunlich viel Rotgedrucktes, also Abweichungen von<br />
208
der amtlichen Neuregelung. Zur Beurteilung könnte der Brief beitragen, den ich<br />
seinerzeit an Zimmer schickte:<br />
Sehr geehrter Herr Zimmer,<br />
vielen Dank für freundliche Erwähnung im ZEIT-Spezial vom 10. Juni 1999! Die<br />
Hausorthographie der ZEIT trägt ja in sehr erfreulicher Weise zum Abriß der<br />
verpfuschten Rechtschreibreform bei; sie unterstützt insofern unserer Bemühungen,<br />
diese völlig überflüssige, milliardenteure Rechtschreibverwirrung doch noch zu<br />
verhindern. Natürlich ist das, was Sie vorlegen, eine Hausorthographie, allen gegenteiligen<br />
Beteuerungen zum Trotz. Die Behauptung, die ZEIT wechsele „zur neuen<br />
Rechtschreibung“, ist daher irreführend; sie wechselt zu einer neuen Schreibung. Die<br />
ist weniger schlecht als die amtliche, aber schlechter als die bisherige. Was soll denn an<br />
so genannt, fürs Erste usw. besser sein? Leichter ist sie natürlich auch nicht. Daß dies<br />
nun jeder auf den ersten Blick erkennen kann, ist ein großes Verdienst der ZEIT.<br />
Zur wiederhergestellten Kleinschreibung bei leidtun gratuliere ich (aber warum gleich<br />
Zusammenschreibung?). So Leid es mir tut sieht ja auch gar zu dumm aus. Allerdings<br />
hätten Sie recht haben ebenfalls beibehalten müssen, denn wie Recht der Präsident hat<br />
(gleich auf S. 1 derselben Ausgabe der ZEIT) ist ja offenbar grammatisch falsch. Die<br />
Reformer werden es wie so vieles andere demnächst zurücknehmen. Über das<br />
befremdliche Not tun, das Sie selbst verwenden, ist alles schon gesagt worden. Man<br />
wundert sich, daß hier eine sprachgeschichtliche Entwicklung, die man überall nachlesen<br />
und auch ganz lebendig spüren kann, völlig ignoriert, an anderer Stelle aber auf<br />
entlegenen Etymologien herumgeritten wird, zum Beispiel bei den Stängeln, die auch<br />
in dieser Ausgabe der ZEIT wuchern.<br />
Daß die Neuregelung „ganz auf den Schulgebrauch zugeschnitten sei“ und „keine<br />
Rücksicht auf die Bedürfnisse der Printmedien“ nehme, trifft jedenfalls nach den<br />
Intentionen der Reformer nicht zu. Der Oberreformer Gerhard Augst hat dazu erst<br />
kürzlich folgendes geschrieben:<br />
„Generell ist die amtliche Regelung, die ja auch die Belange der Drucker und<br />
Setzer berücksichtigen muss, zu umfangreich: sie muss für die Schule reduziert<br />
werden.“<br />
Es ist also – auch laut Vorwort der amtlichen Regelung – keine Schulorthographie.<br />
Allerdings versagt sie de facto vor professionellen Bedürfnissen, aber das ist eine<br />
Sache für sich.<br />
Nun möchte ich ein paar Anmerkungen zum Inhalt Ihrer ZEITschreibung machen.<br />
Die Darstellung der amtlichen Neuregelung bei Wochentagen und Tageszeiten ist nicht<br />
richtig: dienstags abends bleibt natürlich auch in der Neuregelung zulässig (s. amtl.<br />
Wörterverzeichnis). Hinzuzufügen wäre noch, daß das „Verbot“ von Dienstag abends<br />
objektiv falsch ist; denn da man auf die Frage Wann kommt er denn? antworten kann<br />
Dienstag! (mit adverbialem Akkusativ), muß man auch sagen können Dienstag abends.<br />
Überhaupt führt das konsequente Durchdenken dieses ganzen Kapitels genau zur<br />
bisher üblichen Schreibweise mit allen ihren Varianten zurück. Diese Varianten sind<br />
nämlich das Ergebnis unterschiedlicher grammatischer „Programme“ zur Bezeichnung<br />
von Terminen und Zeiträumen. Sobald man das durchschaut hat, wirkt die Vielfalt der<br />
Ausdrucksmöglichkeiten auch nicht mehr so verwirrend.<br />
209
Der Gingko ist völlig neu, müßte also rot gedruckt werden; bisher war Ginkgo üblich,<br />
daneben soll Ginko eingeführt werden. Das wäre immerhin zu erwägen, aber<br />
dringenden Handlungsbedarf wird man hier so wenig sehen wie bei all den Wechten,<br />
Stängeln und Ständelwurzen, also den vielbelächelten Spielereien des Reformers<br />
Augst, die übrigens teilweise erst nach der Wiener Abschlußkonferenz ohne Kenntnis<br />
der anderen Reformer in das Regelwerk hineingeschrieben worden sind.<br />
Selbstständig ist keine andere Schreibung, sondern ein anderes Wort als selbständig<br />
und war auch bisher jederzeit möglich (stand bloß nicht im Duden). An der<br />
Bereitschaft, nun plötzlich das kakophone selbstständig zu verwenden, kann man den<br />
Grad der Beflissenheit ablesen, mit der sich alle möglichen Leute, von denen man es<br />
nicht anders erwartet hatte, den Wünschen der deutschen Kultusminister unterwerfen.<br />
(Die Verfasser der amtlichen Neuregelung selbst verwenden es übrigens nicht!)<br />
Außer den „vier Bedingungen“, die Sie für die Zusammenschreibung mit Partizipien<br />
aufstellen, gibt es noch andere gute Gründe, daher müssen auch blutsaugend,<br />
fleischfressend usw. wiederhergestellt werden. Näheres in meinem „Kritischen<br />
Kommentar zur Neuregelung der deutschen Rechtschreibung“ (2. Auflage 1999). Die<br />
Energieversorgungsunternehmen sind immer sehr erstaunt, wenn man ihnen mitteilt,<br />
daß ihr Lieblingswort energiesparend nicht mehr existieren soll! Das kommt aber alles<br />
wieder – weshalb es ja auch so unsinnig ist, gerade jetzt umzustellen.<br />
Ihr Kommentar, bei den Verbverbindungen sei die deutsche Orthographie „nicht<br />
reformierbar“, ist ganz aus der Sicht eines Schülers formuliert, der gar sehr wegen<br />
möglicher „Fehler“ besorgt ist. In Wirklichkeit geht es doch um eine von der<br />
Sprachgemeinschaft geschaffene Möglichkeit der schriftlichen Differenzierung<br />
(aneinander hängen gegenüber aneinanderhängen), und „Reform“ würde einfach<br />
deren Annullierung bedeuten. Das wollen Sie doch erklärtermaßen gerade nicht –<br />
womit Sie sich übrigens in einem fundamentalen Gegensatz zu den Reformern<br />
befinden, der Ihre Willfährigkeit in anderen Dingen noch unbegreiflicher macht. Das<br />
Schülerhafte der ganzen Reform fiel ja den unabhängigen Sachverständigen von<br />
Anfang an auf. Schon die Vermittlung einer „erwachsenen“ Sicht der Dinge würde den<br />
Rechtschreibunterricht revolutionieren. Allerdings wäre dann keine Reform mehr<br />
nötig, und deshalb wird es wohl bei jenem Starren auf das Ziel der „Fehlervermeidung“<br />
bleiben, das Sie von Ihren Gewährsleuten übernommen haben.<br />
Gibt es einen plausiblen Grund, das Allerweltswort sogenannt durch Getrenntschreibung<br />
aus dem deutschen Wortschatz zu tilgen? Warum schließt sich die ZEIT<br />
ausgerechnet diesem Schritt an, der doch ganz gewiß weder Sinn noch Zukunft hat?<br />
Warum wollen Sie die Beseitigung des seit Jahrhunderten gebrauchten Kompositums<br />
Zeitlang (ebenso auch Handvoll, Fingerbreit usw.) mitmachen? Zu den unbedachten<br />
Folgen gehört die ungrammatische Schreibung auf eine Zeit lang, für eine Zeit lang. In<br />
der umgestellten ZEIT liest man doch tatsächlich die Hand voll deutscher Soldaten –<br />
und das wollen Sie uns als moderne Weiterentwicklung einer angeblich veralteten<br />
Orthographie verkaufen? Für wie dumm halten Sie eigentlich Ihre Leser?<br />
Das krampfhafte Hervorkramen ausgewählter Etymologien führt dazu, daß in der ZEIT<br />
nun die Nichtoperierten ebenso behände laufen (!) und springen (!) wie die Operierten<br />
– eine penetrante Erinnerung an die seit Jahrhunderten vergessene Wortherkunft, die<br />
hier unfreiwillig komische Vorstellungen von Patientenakrobatik hervorruft.<br />
210
Die neu-alte Großschreibung der vielen Floskeln wie im Allgemeinen, im Übrigen, im<br />
Wesentlichen usw. stört das Lesen. Sie beruht auf jener Artikelprobe, die von denselben<br />
Reformern noch vor wenigen Jahren als gar zu primitiv abgewiesen wurde. Überhaupt:<br />
Die Reformer, die noch unmittelbar vor den Wiener Beschlüssen einstimmig die<br />
„gemäßigte Kleinschreibung“ befürwortet hatten, wußten jederzeit, daß vermehrte<br />
Großschreibung nicht die Lösung sein kann. Schon 1974 schrieb der Reformfanatiker<br />
Augst:<br />
„Ein anderer Versuch von Erich Wüster“ (sic! lies „Eugen“) „lief darauf hinaus,<br />
durch vermehrte Großschreibung eine weniger problematische und einsichtigere<br />
Grenzziehung zwischen Groß- und Kleinschreibung zu erreichen. Eine seiner<br />
Regeln lautete: entweder groß und auseinander oder klein und zusammen. Hugo<br />
Moser hat jedoch in einer umfangreichen Studie (...) nachgewiesen, daß auch<br />
diese Grenzziehung Ungereimtheiten in Kauf nehmen muß, daß eine<br />
Grenzziehung grundsätzlich nicht möglich, da die Wortart ,Hauptwort‘ nicht zu<br />
fixieren ist.“ (Gerhard Augst (Hg.): Rechtschreibung mangelhaft? Heidelberg<br />
1974, S. 44)<br />
Die Einführung der vermehrten Großschreibung hatte also rein taktische Gründe.<br />
Wahrscheinlich wollen die Reformer gerade auf diesem so offenkundig absurden Wege<br />
doch noch ihre geliebte Kleinschreibung durchsetzen. („Geliebt“ stammt nicht von mir,<br />
sondern von Augst selbst, der im Rückblick beklagt, daß er „viele geliebte<br />
Reformziele“ habe aufgeben müssen, vgl. H. Strunk [Hg.]: Documenta orthographica,<br />
Hildesheim 1998, S. XVIII. Dieses Bekenntnis sollte man nachlesen, es öffnet die<br />
Augen dafür, was der brennende Ehrgeiz eines einzelnen vermag.) – Wie heißt es doch<br />
so vielversprechend in den Dudeninformationen vom Dezember 1994? „Es ist ein<br />
Anfang gemacht worden, weitere Vereinfachungen und Verbesserungen können sich zu<br />
einem späteren Zeitpunkt anschließen.“ Das kann gar nicht anders gemeint sein, als<br />
daß die Reformer ihre zunächst von den Kultusbeamten niedergemachten vier<br />
Hauptziele doch noch zu erreichen hoffen: Kleinschreibung (dies vor allem!), Tilgung<br />
der Dehnungszeichen, weitgehende Fremdworteindeutschung und Einheitsschreibung<br />
das.<br />
Was die oben genannten Fälle von Großschreibung betrifft, so ist der Artikel nicht<br />
einmal mehr aus der Verschmelzung mit der Präposition herauslösbar (in dem<br />
Allgemeinen? für das Erste?), so daß die Schüler mit der primitiven Probe auch nicht<br />
recht zu Rande kommen werden. Zur Erinnerung: Die besondere Rationalität der<br />
Großschreibung beruht auf einer Entwicklung von der Großschreibung „ehrenhalber“<br />
(GOtt usw.) über die Eigennamen- und Substantivgroßschreibung zur textsemantisch<br />
begründeten Großschreibung: Substantivgruppen, die das bezeichnen, wovon im Text<br />
wirklich die Rede ist, werden durch Großschreibung ausgezeichnet. Dies ist längst<br />
jedem gebildeten Leser in Fleisch und Blut übergegangen. Die Neuschreibung dreht<br />
das Rad um Jahrhunderte zurück. Aber wer denkt an den Leser? Die Leser sind nie<br />
gefragt worden, die der ZEIT am allerwenigsten, wie man u. a. an der Leserbriefpolitik<br />
zum Thema Rechtschreibreform beobachten konnte!<br />
Ihre Erwartung, daß „die“ (welche?) Neuschreibung bei der jüngeren Generation zur<br />
Selbstverständlichkeit werde, ist um so unbegründeter, je mehr Erfolg der ZEIT-Hausorthographie<br />
beschieden sein wird. Gerade die Vielzahl konkurrierender Orthographien<br />
(alle nachweisbar schlechter und keine leichter als die bisherige) beseitigt jede<br />
211
Selbstverständlichkeit. Den Schülern ist damit wirklich nicht geholfen. Man sollte sie<br />
geradezu davor warnen, die ZEIT zu lesen.<br />
Es geht offenbar längst bloß noch darum, die Verluste der Verlage in Grenzen zu<br />
halten. Übrigens hat weder die ZEIT noch eine andere Zeitung je die Kosten (vor allem<br />
durch Steuerausfälle) zu recherchieren versucht.<br />
Wenn die Bürger in Schleswig-Holstein und vielleicht noch anderswo in vorbildlich<br />
demokratischer Weise entscheiden, daß sie bei der allgemein üblichen Orthographie<br />
bleiben wollen, sehe ich nicht, wie man das als Rückmarsch in die Kleinstaaterei<br />
lächerlich machen kann. Rückschrittlich ist nachweisbar die Reformschreibung: Das<br />
„Heysesche“ ss war von der vielgerühmten Zweiten Orthographischen Konferenz vor<br />
hundert Jahren endgültig abgeschafft worden, die bereits erwähnte Großschreibung<br />
(des Öfteren usw.) galt schon um die Mitte des vorigen Jahrhunderts als „übertrieben“<br />
und wurde durch die intelligentere Kleinschreibung zurückgedrängt, und die vermehrte<br />
Getrenntschreibung ist achtzehntes Jahrhundert. Dies abzulehnen, ist nicht provinziell,<br />
sondern fortschrittlich. Ins neunzehnte Jahrhundert führt gerade auch die Entwicklung<br />
von Hausorthographien zurück, die man nach hundert Jahren gut funktionierender und<br />
hinreichend anpassungsfähiger Einheitsorthographie nicht mehr für nötig und möglich<br />
gehalten hätte. Übrigens haben die Schleswig-Holsteiner stellvertretend abgestimmt,<br />
weil man sich auf das Wort der Kultusminister verlassen hatte, daß ein Reformstopp in<br />
einem Bundesland genüge, um die Reform ganz zu beenden. Die „Neue Zürcher<br />
Zeitung“ hat die Selbstverständlichkeit ausgesprochen, daß ganz Deutschland ebenso<br />
abstimmen würde, wenn es unter fairen Bedingungen dazu käme. Aber die deutschen<br />
Zeitungsschreiber hatten mit ganz wenigen Ausnahmen nichts Eiligeres zu tun, als über<br />
diesen seltenen Fall einer gelungenen basisdemokratischen Notwehr gegen staatlichen<br />
Übermut zu spotten.<br />
In die Chronik hätten wohl auch noch aufgenommen werden können: die Ablehnung<br />
der Reform durch den Haushaltsausschuß des Bundestags, die Ablehnung durch den<br />
Rechtsausschuß (nach öffentlicher Anhörung) und die Ablehnung durch das Plenum<br />
des Bundestags (26.3.1998). Daß beide Bundesregierungen sich darüber<br />
hinwegsetzten, macht diese Voten nicht ungeschehen.<br />
Von der ganzen Reform wird wohl nur das ss bleiben, übrigens eine berüchtigte neue<br />
Fehlerquelle. Die Schüler <strong>schreiben</strong> jetzt ständig heisst usw., auch die neue Ausgabe<br />
der ZEIT führt es unfreiwillig vor. Und noch etwas bleibt: der Eindruck, daß die<br />
Kultusminister tun können, was sie wollen, und daß die Zeitungen kuschen. Oder<br />
mißverstehe ich das alles? Ist das ZEIT-Spezial am Ende bloß die Garnierung der<br />
Bertelsmann-Anzeige? In der übrigens ein Apostroph steht – „Ich verlass’ mich auf<br />
den Bertelsmann“ –, der laut Reformduden falsch ist; so viel zu Ihrer sinnigen<br />
Empfehlung, man solle sich in Zweifelsfällen an die Wörterbücher halten, die<br />
bekanntlich weder untereinander noch mit der amtlichen Regelung übereinstimmen!<br />
Allein vom Bertelsmannwörterbuch liegen elf Ausgaben in zwei Auflagen vor;<br />
zwischen der ersten und der bisher letzten gibt es Tausende von Abweichungen. Vom<br />
Duden ist eine neue Bearbeitung angekündigt, aber die bisher vertriebene hat uns<br />
zusammen mit ihren Derivaten bei Brockhaus und Langenscheidt etwa<br />
zehnmillionenmal „eingebläut“, wiedersehen werde jetzt getrennt geschrieben!<br />
Sie stellen die Rechtschreibreform als unabwendbares Schicksal dar. Hält man dies mit<br />
der eigenwilligen ZEIT-Schreibung zusammen, so soll dem Leser suggeriert werden,<br />
212
irgendeine planmäßige Änderung der Orthographie sei unausweichlich. Das ist<br />
natürlich völlig aus der Luft gegriffen. In früheren Beiträgen haben Sie manchmal<br />
behauptet, es bestehe ein Junktim zwischen der Reform und der Aufhebung des<br />
Dudenprivilegs. Auch das trifft nicht zu. Die erwünschte „Entmachtung“ des Duden<br />
kann im Gegenteil als Chance begriffen werden, der allgemein üblichen<br />
Rechtschreibung erst recht die vorbildliche Geltung zu verschaffen, die vom Duden<br />
teilweise verdunkelt worden war. Dazu wäre die Entstaatlichung der Orthographie<br />
nötig, aber für eine solche liberale, sozusagen „englische“ Lösung sind die Deutschen<br />
in Ihren Augen auch hundert Jahre nach der Besiegelung der Einheitsorthographie<br />
wohl immer noch nicht reif genug.<br />
Daß die Schulbücher der unteren Klassen und einige andere (fast durchweg äußerst<br />
fehlerhaft) bereits umgestellt sind, spricht nicht gegen eine Rücknahme der ohnehin<br />
zur Revision anstehenden Reform. Die Kultusminister haben nichts dagegen<br />
einzuwenden gehabt, daß auch die alten Schulbücher aufgebraucht werden: „Wegen<br />
der geringfügigen Unterschiede können Schulbücher in alter Rechtschreibung weiter<br />
verwendet werden.“ (Schnellbrief des Niedersächsischen Kultusministeriums an die<br />
Schulen vom 15.7.1998) Also kann man auch die umgestellten Bücher aufbrauchen.<br />
Wer auf die Schulbücher verweist, die nach einer listigen Absprache zwischen<br />
Verlagen und Ministerien vorfristig umgestellt worden sind, beteiligt sich an jenem<br />
Mißbrauch der Schüler als Geiseln, der nachweislich in der Absicht der Reformer lag:<br />
„Eine Änderung geltender Konventionen und Normen über den Schüler zu<br />
erreichen, ist zwar verlockend und wäre, wenn es gelänge, auch am erfolgversprechendsten,<br />
aber sie setzt an am schwächsten Glied in der Kette.“<br />
So Augst im Jahre 1982; die Skrupel hat er inzwischen verloren.<br />
In Wirklichkeit wird an den Schulen außer ein bißchen ss-Schreibung und gelockerter<br />
Kommasetzung so gut wie nichts von der Reform „umgesetzt“. Vom Rechtschreibwortschatz<br />
der Grundschule sind nach einer offiziellen Liste des sächsischen<br />
Kultusministeriums nicht mehr als 24 Wörter betroffen, alle wegen ss. Das ss ist ja,<br />
wie die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung feststellte, das deutlichste<br />
Zeichen der Unterwerfung unter den Willen der Kultusminister; schon deshalb wird es<br />
bleiben, jedenfalls in der ZEIT, die sich ausdrücklich zur Anpassung an den „Zeitgeist“<br />
bekennt!<br />
Schon vor Jahren, als noch fast gar nichts geschehen war, schrieben Sie: „Die Einheit<br />
der Orthographie ist dahin.“ Das war falsch, aber jetzt scheint es wahr zu werden, und<br />
zwar durch Ihre eigene, den Leser souverän verachtende Tätigkeit. Es wird Jahrzehnte<br />
dauern und ungeheure materielle und immaterielle Kosten verursachen, bis sich wieder<br />
eine Einheitsorthographie durchsetzt. Noch könnte man die Notbremse ziehen, aber<br />
dazu reicht wohl die Kraft nicht, oder es fehlt an Phantasie.<br />
Trotzdem besten Dank! Sie haben uns mit dem vielen Rotgedruckten einen großen<br />
Dienst erwiesen. Je mehr Menschen die Neuregelung kennenlernen, sei es auch noch<br />
so gebrochen, desto besser für die Sprache.<br />
Gruner+Jahr<br />
Dem Bertelsmann-Tochterunternehmen Gruner+Jahr wurde aufgetragen, die Veröffentlichungen<br />
des Hauses auf die Neuregelung umzustellen. Dafür arbeitete die Henri-<br />
213
Nannen-Journalistenschule eine Hausorthographie aus: „Empfehlungen der G+J-<br />
Rechtschreib-Kommission zur Umsetzung der neuen Regelungen“ (1. März 1999). Das<br />
Vorwort lautet:<br />
„Wir sind von zwei Überlegungen ausgegangen: Unsere zukünftigen Leser<br />
werden alle mit den neuen Regeln aufgewachsen sein und die für uns ungewohnten<br />
Schreibweisen als normal empfinden. Deshalb übernehmen wir – von<br />
ganz wenigen Ausnahmen abgesehen – alle Regeln, die vom Jahr 2005 an<br />
verbindlich sein werden.<br />
In den Fällen, in denen die Reform Wahlmöglichkeiten anbietet, wollen wir für<br />
unsere Leser das vertraute Schriftbild so weit wie möglich erhalten. Dies gilt vor<br />
allem für die Eindeutschung von Fremdwörtern aus dem Französischen. Wir<br />
sperren uns aber nicht gegen reformierte Varianten, wenn sie uns sinnvoll<br />
erscheinen.“<br />
Der Widerwille gegen die Neuregelung kommt nur zwischen den Zeilen zum<br />
Ausdruck:<br />
„Bändel, behände, belämmert, einbläuen, verbläuen, Gämse, Gräuel, Quäntchen,<br />
schnäuzen, Stängel<br />
Auch wenn es weh tut, es sind hier keine Wahlmöglichkeiten gegeben. Da wo es<br />
sie gibt, bleiben wir bei der alten Schreibweise.“<br />
„8. GETRENNTSCHREIBUNG<br />
Hier entfaltet sich die Reform zu voller Blüte. Grundsätzlich wird viel mehr<br />
getrennt geschrieben als bisher. Es gibt aber Ausnahmeregelungen, die schlicht<br />
gelernt werden müssen (und die hier nicht in allen Feinheiten erklärt werden<br />
können).<br />
Die Reformer halten es für eine Erleichterung, daß sie Kleinschreibung<br />
verordnen nach dem Muster die platonischen Schriften, die heineschen<br />
Reisebilder, die darwinsche Evolutionstheorie.<br />
Wir werden – ebenso wie die Agenturen – adjektivisch gebrauchte Personennamen<br />
zu einem Substantiv weiterhin groß<strong>schreiben</strong>.“<br />
Neue Zürcher Zeitung<br />
Am 15.5.2000 stellte die NZZ überraschenderweise auch noch um, und zwar auf eine<br />
eigene Hausorthographie, die sie in einem Dossier vorstellte.<br />
Folgende Schreibungen aus der amtlichen Neuregelung werden von der NZZ nicht<br />
übernommen (fakultative Neuschreibungen in Anführungszeichen):<br />
Armeeeinheit (ohne Bindestrich), „aufwändig“, „Schänke“, Gämse, Stängel, behände,<br />
Gräuel, gräulich, Quäntchen, „Saisonier“, „Ordonanz“, „selbstständig“, so genannt,<br />
viel sagend, nichts sagend, Hand voll, sich in Acht nehmen, Acht geben, ausser Acht<br />
lassen, Not tun, Leid tun, Feind sein usw., sein eigen nennen, sich zu eigen machen,<br />
jenseits von gut und böse, an Kindes statt, hungers sterben, Anzeige gegen unbekannt,<br />
du, dein usw. (in Briefen)<br />
Keine Fremdworteindeutschungen bis auf das Plural-s in Hobbys, Babys<br />
214
Thunfisch, Spaghetti, Panther usw. werden beibehalten<br />
Die Unterscheidung Phantasie vs. Fantasie wird beibehalten.<br />
Die Unterscheidungen sitzenbleiben (in der Schule) vs. sitzen bleiben (auf dem Stuhl)<br />
usw. werden beibehalten.<br />
inne werden wird anders als nach alter und neuer Orthographie nur getrennt<br />
geschrieben, ebenso irre werden<br />
Die Unterscheidung schlechtmachen vs. schlecht machen usw. wird beibehalten.<br />
Die Unterscheidung frischgebacken vs. frisch gebacken wird beibehalten.<br />
gross/klein <strong>schreiben</strong> wird anders als nach alter und neuer Orthographie in jeder<br />
Bedeutung getrennt geschrieben.<br />
Die Unterscheidungen Fleisch fressende vs. fleischfressende Pflanzen, allein stehend<br />
vs. alleinstehend, Aufsehen erregend vs. aufsehenerregend usw. werden beibehalten.<br />
Die neue Weglaßbarkeit von Kommas wird in keinem Fall genutzt.<br />
Die Worttrennung bleibt konservativ (nicht Hyd-rant, he-rab, Heri-sau).<br />
Bei der Schreibung englischer Fremdwörter legt die NZZ eine Fülle von eigenen<br />
Regeln fest, um die Varianten einzuschränken. Bei Abkürzungen, Firmennamen usw.<br />
bleibt die NZZ bei ihren bisherigen Gepflogenheiten.<br />
Es bleiben folgende Neuschreibungen, die von der NZZ übernommen werden:<br />
Schifffahrt usw., Känguru, Ass, Karamell, Messner, Mopp, nummerieren, Tipp,<br />
Stepptanz, Tollpatsch, Stuckateur; Bändel (nur noch so), belämmert, verbläuen,<br />
Wechte, Föhn (Haartrockner), Zierrat, Rohheit, Babys usw., potenziell usw., Rad<br />
fahren (nur noch so), auseinander setzen usw., da gewesen (nur noch so), irgendetwas,<br />
irgendjemand, 17-jährig, die 17-Jährige, Pleite gehen, heute Abend usw., im<br />
Allgemeinen, des Öfteren, „aufs Schönste“, auf Deutsch usw., schwarzes Brett usw.,<br />
das ohmsche/Ohm’sche Gesetz usw.<br />
Anmerkung: Die Hausorthographie der NZZ zeigt deutlich den Einfluß des Reformers<br />
Peter Gallmann, der nicht nur Mitglied der Rechtschreibkommission ist, sondern auch<br />
langjähriger Mitarbeiter des Verlags der NZZ war, wo auch sein mit Max Flückiger<br />
verfaßtes Buch „Richtiges Deutsch“ erschien. Auf ihn geht insbesondere die Absicht<br />
zurück, feste Begriffe wie Schwarzes Brett mit der amtlichen Neuregelung, aber gegen<br />
die Entscheidung der Nachrichtenagenturen und aller anderen Zeitungen klein zu<br />
<strong>schreiben</strong>, andererseits die Großschreibung in adverbialen Wendungen wie des<br />
Näheren sowie in das Gleiche, auf Deutsch. In beiderlei Hinsicht stemmt sich die NZZ<br />
– wie die amtliche Regelung – der wirklichen Sprachentwicklung entgegen. Das neue<br />
Komma nach Subjektsinfinitiv (Ruhig zu bleiben, ist ihm nicht leichtgefallen) geht<br />
überhaupt nur auf Gallmanns frühere Arbeiten zurück.<br />
Am Ende kündigt die NZZ an,<br />
„dass die ,Neue Zürcher Zeitung‘ die Entwicklung der neuen Rechtschreibung<br />
weiterhin aufmerksam verfolgen und gegebenenfalls weitere begründete<br />
Abweichungen von den neuen Regeln ihren Lesern darlegen wird. Redaktion und<br />
Korrektorat der NZZ glauben, mit einer Linie, die sich grundsätzlich an die vom<br />
neuen Duden in zahlreichen Fällen weiterhin zugelassenen hergebrachten Formen<br />
215
hält, einen gangbaren Weg zwischen Tradition und orthographischer Neuerung<br />
einzuschlagen. Einzelne spätere Anpassungen an die künftige Entwicklung des<br />
Sprachgebrauchs behalten wir uns vor.“<br />
Eine Durchsicht der NZZ (9. Juni 2000) ergibt, daß im Durchschnitt eine Neuschreibung<br />
pro Seite auftritt.<br />
Im Herbst 2000 wurde bekannt, daß die NZZ, wenn sie damals vom Vorhaben der<br />
F.A.Z. erfahren hätte, die Agenturschreibung zum 1. August wieder aufzugeben, bei<br />
der bisherigen Schreibweise geblieben wäre. 162<br />
Die Schweiz geht aber von Anfang an auch amtlich eigene Wege. Bei der Fremdworteindeutschung<br />
aus lebenden Sprachen macht sie mit Rücksicht auf die Vielsprachigkeit<br />
der Nation nicht mit. Die Schweizerische Bundeskanzlei in Zusammenarbeit mit der<br />
Staatsschreiber-Konferenz gab 1998 einen „Leitfaden zur Neuregelung der deutschen<br />
Rechtschreibung“ heraus, worin verschiedene Abweichungen von der Neuregelung<br />
empfohlen bzw. festgelegt werden. Es heißt u. a.:<br />
„Unter dem Regime der herkömmlichen Regeln haben die Schreibenden oft nach<br />
der Intuition entschieden, ob eine Verbindung zusammen- oder getrennt<br />
geschrieben wird. Dabei liessen sie sich in erster Linie von der Betonung leiten.<br />
Ist der erste Bestandteil betont, so handelt es sich in aller Regel um eine<br />
Zusammensetzung und man schrieb zusammen: freischwebend, gutbezahlt, es ist<br />
mir schwergefallen, hochgebildet. Werden hingegen beide Bestandteile betont, so<br />
handelt es sich um eine Wortgruppe und man schrieb entsprechend getrennt: ein<br />
frei schwebender Ballon, die Arbeit ist gut bezahlt, sie ist schwer gefallen, sie ist<br />
hoch gebildet. In diesem Bereich der Zusammen- und Getrenntschreibung stösst<br />
die Reform zum Teil auf Kritik. Deshalb soll in solchen Fällen – sie betreffen<br />
ausschliesslich Verbindungen aus Adjektiv und Verb (oft als Partizip) – neben der<br />
Neuschreibung auch die herkömmliche Schreibung weiter verwendet werden<br />
können.“ (24 f.)<br />
Nach der Umstellung<br />
In allen umgestellten Zeitungen findet man außerordentlich viele Verstöße gegen die<br />
selbstgewählte Neuschreibung, hauptsächlich durch unzulässige Verallgemeinerung<br />
der neuen Regeln oder natürlich durch „Rückfall“ in die bessere Erwachsenenorthographie.<br />
Geradezu epidemisch breiten sich zwei Fehlertypen aus, die hier durch<br />
einige Beispiele illustriert seien:<br />
Das hat sich Grund legend verändert. (Nürnberger Nachrichten 25.7.2000)<br />
die neuen Bild gebenden Verfahren (ebd. 25.7.2000)<br />
Die Röttenbacher Kommunalpolitiker wollen die Ortsbild prägenden Weiher erhalten.<br />
(ebd. 5.2.2000)<br />
das Welt umspannende Computernetz (FAZ 23.2.2000)<br />
von Magen umwühlendem Horror (Welt 29.3.2000)<br />
bei der Appetit fördernden Beihilfe (Welt 7.4.2000)<br />
162 Allerdings wußte das die F.A.Z. damals selbst noch nicht mit letzter Sicherheit. Zwar<br />
hatte die Redaktion bereits im März auf einer Sondersitzung den Ausstieg beschlossen,<br />
doch bestanden auf seiten der Herausgeber noch Bedenken. Sie wurden erst durch den<br />
Vorstoß der „Welt“ vom 25.7.2000 überwunden.<br />
216
ein Spiel entscheidendes Eigentor (Welt 9.10.2000)<br />
Beifall umrauschte Konzerte. (Nürnberger Nachrichten 30.6.2000)<br />
Pflege bedürftig gewordene Stiftsbewohner (ebd. 27.1.2000)<br />
die Gold gebräunte Haut (Welt 19.10.2000)<br />
diese Ekel besetzte Angst (Welt 7.10.2000)<br />
wegen seiner Verlust reichen Tätigkeit (SZ 4.3.2002)<br />
Nach dem Fund von Antibiotikum belastetem Honig ... (SZ 1.3.2002)<br />
Außerdem natürlich die Schreibweisen, die jetzt „korrekt“, aber gleichwohl<br />
grammatisch falsch sind:<br />
der bislang Erfolg versprechendste Ansatz (Welt 29.6.2000)<br />
die nahe liegendste Rausrederei (Welt 30.6.2000)<br />
wie viel versprechend die deutsch-chinesischen Beziehungen doch seien (Welt<br />
1.7.2000)<br />
Der Zustand des Kanzlers sei aber nicht Besorgnis erregend. (Welt 6.10.99)<br />
Kulturförderung tut Not (Welt 4.10.2000)<br />
In der EU ist die demokratische Gesetzgebung Not leidend. (SZ 19.5.2001)<br />
Dass es so Geld vermehrend funktionierte ... (SZ 25.2.2002)<br />
wie Recht Alfred Döblin hatte, als er schrieb...(NZZ 29.8.2001)<br />
217
218<br />
VII. Die neuen Wörterbücher
Die Fehlerhaftigkeit der Neuregelung brachte von Anfang an eine Dynamik in das<br />
Schicksal der Reform, die sich am besten an den rasch aufeinanderfolgenden<br />
reformierten Wörterbüchern ablesen läßt. Ich habe die meisten davon rezensiert und<br />
gebe hier einige dieser Besprechungen mit leichten Kürzungen in chronologischer<br />
Reihenfolge wieder.<br />
Bertelsmann: Die neue deutsche Rechtschreibung, verfasst von Ursula Hermann,<br />
völlig neu bearbeitet und erweitert von Prof. Dr. Lutz Götze mit einem Geleitwort von<br />
Dr. Klaus Heller. Gütersloh 1996<br />
Das rasche Erscheinen des vorliegenden Rechtschreibwörterbuchs im Sommer 1996<br />
hat wesentlich dazu beigetragen, die Einsicht in die Revisionsbedürftigkeit der<br />
Rechtschreibreform zu fördern.<br />
Das Werk ist mit einem Geleitwort von Klaus Heller versehen, einem Mitarbeiter des<br />
Instituts für deutsche Sprache in Mannheim. Heller schreibt: „Das gewohnte<br />
Schriftbild bleibt soweit wie irgend möglich erhalten.“ Hier muß so weit getrennt<br />
geschrieben werden, da es sich nicht um die Konjunktion handelt, sondern um den<br />
hinweisenden Teil der Korrelativkonstruktion (vgl. Regelwerk § 39 E1 (2), aber E2<br />
(2.4)). Im Wörterbuchteil steht allerdings: ich werde ihm soweit wie möglich<br />
nachgeben; aber: lauf so weit wie möglich. Ebenso: ich bin soweit, ich bin soweit<br />
fertig, er kann es sowenig wie ich. All dies ist falsch.<br />
Auf das Geleitwort folgen die üblichen Benutzerhinweise, Umschriftalphabete und<br />
Korrekturanweisungen sowie eine vier Seiten umfassende Darstellung „Zur Geschichte<br />
der Rechtschreibung“, für die der Herausgeber persönlich als Verfasser zeichnet. Sie ist<br />
sachlich und orthographisch mangelhaft.<br />
Götzes Vorschau auf die amtlichen Regeln enthält weitere sachliche und<br />
orthographische Fehler, auf die hier nicht eingegangen werden soll, zumal sie in den<br />
Nachauflagen teilweise schon korrigiert sind.<br />
Es folgt ein Abdruck der amtlichen Regeln. Nach jeder Regel gibt der Herausgeber<br />
Hinweise auf die Unterschiede zur bisherigen Regelung. In diesen Abschnitten zeigt<br />
sich, daß Götze falsche Vorstellungen vom bisher gültigen Duden hat.<br />
Zu § 32: Die Unterscheidung von Dank sagen/danksagen ist kein „Zweifelsfall“ wie<br />
sitzen bleiben/sitzenbleiben und wird auch nicht auf wörtliche und übertragene<br />
Bedeutung zurückgeführt, sondern entspricht der doppelten Flexionsmöglichkeit sagt<br />
Dank vs. danksagt. – Zu § 34: Als bisherige Regelung wird abhandenkommen<br />
angeführt. Das ist falsch. Auch die Gegenüberstellung von bisherigem festhalten und<br />
neuem fest halten ist nicht korrekt, da beide Möglichkeiten mit unterschiedlicher<br />
Bedeutung immer gegeben waren und auch nach der Neuregelung erhalten bleiben. –<br />
Zu § 36: Hier wird zunächst wieder abhanden kommen fälschlich als Neuschreibung<br />
gekennzeichnet. Auch dicht behaart, hell strahlend, leuchtend rot, schwach bevölkert<br />
waren schon früher möglich; neu ist nur ihre ausschließliche Geltung. Gefangen<br />
nehmen gehört nicht unter diesen Paragraphen. – Zu § 37: Die Alternativschreibungen<br />
viertel Kilogramm/Viertelkilogramm usw. sind keineswegs neu. – Zu § 39: Es trifft<br />
nicht zu, daß eine bisherige Alternativschreibung an Hand/anhand durch die alleinige<br />
Schreibung anhand ersetzt worden wäre; auch das Wörterbuch selbst ist anderer<br />
219
Meinung. Die variante Schreibung auf Grund/aufgrund ist nicht neu. Aufseiten war<br />
ebensowenig die bisherige Norm wie mithilfe. – Zu § 45: Die vereindeutigenden<br />
Schreibungen Drucker-Zeugnis/Druck-Erzeugnis sind nicht neu. Kaffeeersatz war<br />
nicht die durch Kaffee-Ersatz/Kaffeeersatz zu ersetzende alte Schreibung.<br />
Entsprechendes gilt für Sollstärke gegenüber angeblich neuem Soll-Stärke/Sollstärke.<br />
Vgl. Duden (alt) R 33ff. Hier sind also sämtliche Beispiele fehlerhaft, außerdem ist der<br />
Kursivsatz falsch gehandhabt. – Zu § 51: Goetheausgabe ohne Bindestrich war nicht<br />
die allein mögliche Schreibung, Helsinkinachfolgekonferenz natürlich erst recht nicht.<br />
Vgl. R 135 und R 149 des alten Dudens. – Zu § 52: Daß die bisherige Schreibung<br />
Frankfurt Hauptbahnhof usw. durch eine alternative Schreibung mit Bindestrich<br />
ergänzt worden sei, ist nicht richtig, vgl. R 154. – Zu § 55: Dienstag mittag ist keine<br />
neue Alternativschreibung, sondern die abgeschaffte alte Schreibweise. Bei auf Grund<br />
wird der obengenannte Fehler wiederholt. – Zu § 56: Hier wird die Toleranzregel, die<br />
viertel Pfund/Viertelpfund zur Wahl stellt, als „vorteilhaft“ gelobt; sie entspricht aber<br />
dem bisherigen Gebrauch. Allerdings versuchte der Duden bisher, die beiden<br />
Schreibweisen mit unterschiedlichen Bedeutungsnuancen zu begründen. – Zu § 58:<br />
Neben auf das herzlichste ist künftig auch die Großschreibung zulässig. – Zu § 71: Die<br />
Kommasetzung bei mehreren attributiven Adjektiven ist keineswegs toleranter als<br />
bisher; das Beispiel neue computergestützte Lehrverfahren vs. neue, computergestützte<br />
Lehrverfahren entspricht vielmehr genau der bisherigen Regelung. – Zu § 108: Hier<br />
wird behauptet, -ss- werde neuerdings getrennt, wenn es „statt bisherigem -ß- steht“.<br />
Darum geht es jedoch nicht, sondern um die Ersatzschreibung mit Typensätzen, die<br />
kein ß enthalten.<br />
Der größte Teil dieser erstaunlichen Irrtümer hätte sich durch einfaches Nachschlagen<br />
im alten Duden vermeiden lassen. Die fehlerhafte Darstellung der geltenden Regeln<br />
wirft auch ein bezeichnendes Licht auf die von Götze so oft bekundete Befürwortung<br />
der Neuregelung.<br />
Das Wörterverzeichnis enthält mehrere hundert rot umrandete „Kästen“, in denen<br />
anläßlich von Beispielwörtern die wichtigsten Neuregelungen veranschaulicht werden.<br />
Bei dreieckig, durchackern, edel, Eja-, elektri-, Emi-, Eo- und einigen anderen Wörtern<br />
äußert Götze in eigens hierfür angelegten Kästen die Meinung, aus „ästhetischen<br />
Gründen“ werde die Abtrennung einzelner Buchstaben nicht empfohlen. Das ist eine<br />
Zutat, die im Regelwerk keine Grundlage hat. Falsch ist die Trennung e|o ipso, vgl.<br />
§107 E. Die Schreibweise Schahinschah (ohne Bindestriche) ist von Götze neu<br />
eingeführt und zieht die befremdliche Trennung Scha-hinschah nach sich. – Zahllose<br />
Trennmöglichkeiten werden jedoch – wie im neuen Duden – gar nicht erst angegeben.<br />
Keines der neueren Wörterbücher will wahrhaben, daß nach den neuen Regeln vollenden<br />
(§ 112) getrennt werden kann. – Nicht die Trennung Bang-ladesh ist neu,<br />
sondern die englische: Ban-gladesh. – Sketsch ist keine Neuschreibung. – Barutsche ist<br />
alphabetisch falsch eingeordnet. – Schlag acht Uhr soll in der Schweiz und in<br />
Österreich weiterhin klein geschrieben werden. Das ist offenbar ein versehentlich<br />
stehengebliebener Rest der alten Dudennorm. Wohl aus Versehen schreibt Götze auch<br />
spinnefeind klein, während er inkonsequenterweise bei jdm. Feind sein die absurde<br />
Neuregelung pünktlich befolgt.<br />
Bei der Großschreibung lateinischer Substantive herrscht Unsicherheit: Alma mater,<br />
aber Alma Mater s.v. Ultima Ratio. Vgl. auch Corpus delicti, Corpus iuris, (aber<br />
220
Corpus Iuris canonici), Alter ego. Einschlägig ist § 55 (3), der für den substantivischen<br />
Teil Großschreibung verlangt.<br />
Götze löst in vermeintlicher Befolgung der neuen Getrenntschreibung die infiniten<br />
Formen maschinen<strong>schreiben</strong> und maschinengeschrieben (mit dem Fugen-n, das<br />
eindeutig auf Komposition hinweist) in Maschinen <strong>schreiben</strong> und Maschinen<br />
geschrieben auf. – Einträge vom Typ „harntreibend; ein Harn treibendes Mittel“<br />
tragen auch nicht zur Klärung bei.<br />
„Kleingeschrieben wird das Zahlwort: (...) achtjährig (8-jährig), die ersten acht. (...) In<br />
festen Verbindungen wird Acht großgeschrieben: Acht geben (...) Großgeschrieben<br />
werden darüber hinaus Substantivierungen: der/die/das Achte.“ Die Unterbringung der<br />
Homonyme im selben Kasten ist irreführend. – Ein eigener Kasten zur Getrenntschreibung<br />
von besser gehen usw. scheint überflüssig, da derselbe Sachverhalt naturgemäß<br />
unter dem Positiv gut gehen seinen Platz hat und dort auch in einem weiteren Kasten<br />
angemessen dargestellt ist. – Blau machen soll „in Analogie“ zu blau färben usw.<br />
getrennt geschrieben werden, d. h. zu solchen Verbindungen, bei denen das Adjektiv<br />
erweitert oder gesteigert werden kann – eine etwas rätselhafte, zudem systemwidrige<br />
Begründung. – Die neue ss-Schreibung wird u.a. am Beispiel Cashewnuss durch einen<br />
Kasten veranschaulicht, nicht etwa unter Nuss. Auffindbar ist sie allerdings ohnehin<br />
nur durch Zufall. – Der Kasten auf S. 291 lautet: „danebenstehen/daneben stehen:<br />
Zusammensetzungen aus Partikeln wie daneben und Verben werden in den<br />
unflektierten (nicht gebeugten) Formen zusammengeschrieben: in der Diskussion<br />
danebenstehen (= sich nicht hineinversetzen können)“ (...) „Als Wortgruppe wird das<br />
Gefüge jedoch getrennt geschrieben: Er hat daneben gestanden. Ebenso: daneben sein,<br />
daneben gehen, daneben liegen, daneben schießen. § 34 E1“. Hier und bei zahlreichen<br />
anderen Einträgen (dabeisitzen, darangehen, heraufgehen, übergehen, umfassen,<br />
widerhallen u.a., vgl. auch entlanggehen und preisgeben) ist kein Verständnis der<br />
Regel zu erkennen. – Unter eng anliegend heißt es: „Gefüge aus Adjektiv und Partizip<br />
werden im Einzelfall getrennt geschrieben.“ Was mag das bedeuten? – Bei fertig<br />
stellen, fertig bringen und anderen Fügungen mit fertig schreibt Götze: „Gefüge aus<br />
Adjektiv und Verb, bei denen das Adjektiv in dieser Verbindung steigerbar oder<br />
erweiterbar ist, werden getrennt geschrieben.“ (S. 384) Diese Bedingung ist aber<br />
beispielsweise bei fertig bringen gar nicht erfüllt. Einschlägig ist vielmehr die sonderbare<br />
Regel des amtlichen Regelwerks, wonach Adjektive auf -ig, -isch und -lich<br />
getrennt geschrieben werden. – Der Kasten Haus halten/haushalten stellt das<br />
grammatische Verhalten dieses Gefüges nicht zutreffend dar; die Schreibung<br />
haushalten, hausgehalten hat nach der Neuregelung keine Berechtigung mehr. –<br />
Superlativformen mit am „können“ nicht, sondern müssen klein geschrieben werden<br />
(Kasten S. 467). – „In Gefügen aus Substantiv und Verb schreibt man das Substantiv<br />
groß: Er war gestern Klasse. [§ 34 E3 (5)].“ Aber darum geht es nicht, sondern darum,<br />
daß klasse als Attribut klein geschrieben wird, als Prädikatsnomen hingegen nur noch<br />
groß (wo bisher die Option der Kleinschreibung bestand). Der zitierte Unterpunkt von<br />
§ 34 bezieht sich auf Angst haben usw. und ist nicht einschlägig. – Linksgerichtet soll<br />
zusammengeschrieben werden, weil der erste Teil für eine Wortgruppe im Sinne von §<br />
36 (1) steht, wohl nach links. Aber warum soll dasselbe auch für linksstehend gelten?<br />
– Der Kasten Mitternacht/heute Mitternacht drückt sich in auffälliger Weise um die<br />
Beantwortung der Frage, ob die Zeitangabe neuerdings tatsächlich<br />
Dienstagmitternacht geschrieben werden muß, wie es nach § 55 anzunehmen, dort<br />
aber ebenfalls nicht ausdrücklich verzeichnet ist. Die Neuregelung heute Abend –<br />
221
morgen früh – Dienstagmorgen gehört bekanntlich zu den größten Absurditäten der<br />
Reform, was aber Götze nicht von dem Kommentar abhält: „Gegenüber der bisherigen<br />
Schreibung herrscht jetzt Klarheit.“ (S. 309) Die bisherige Schreibung war: heute<br />
abend – morgen früh – Dienstag morgen. Was ist daran unklar? – Die<br />
Zusammenschreibung von preisgeben wird irrtümlich auf § 34 (2.2.) bezogen.<br />
Einschlägig ist vielmehr die Liste § 34 (3). – Das untrennbare Verb rechtfertigen wird<br />
zu Unrecht auf § 34 bezogen, und das defektive recht<strong>schreiben</strong> gehört wieder<br />
anderswohin. – Wieso Schlegel ('Rehkeule') das Stammprinzip verwirklicht, ist nicht<br />
zu erkennen. – Zu selbständig/selbstständig bemerkt Götze: „Die bisherige Regelung<br />
– Tilgung des zweiten -st- – wird aufgehoben.“ Das trifft aus historischer Sicht nicht<br />
zu. Auch ist die Feststellung „beide Schreibweisen sind korrekt“ schief, da es sich<br />
nicht um zwei Schreibweisen desselben Wortes, sondern um zwei verschiedene Wörter<br />
handelt. – Die beiden (ungeschickterweise getrennten) Kästen auf S. 867 geben keine<br />
zutreffende Darstellung der Getrennt- und Zusammenschreibung von so oft bzw. sooft<br />
und ähnlichen Dubletten. Entscheidend ist der Unterschied zwischen dem<br />
hinweisenden so oft und der Konjunktion sooft. – Daß die „mehrteilige Konjunktion“<br />
sowohl als auch getrennt geschrieben wird, bedarf keines besonderen Hinweises, da<br />
die beiden Teile ja ohnehin nicht in Kontaktstellung vorkommen. – Unter statt liest<br />
man: „Das feste Gefüge schreibt man getrennt: an Eides statt. Aber: an meiner<br />
Statt/anstatt meiner.“ Wenige Zeilen später heißt es im laufenden Text: „an Kindes<br />
Statt, an Eides Statt, an Zahlungs Statt“. – Der Kasten „Staub saugen/staubsaugen“<br />
verweist zwar auf § 33, läßt aber nicht erkennen, daß es dort keineswegs um<br />
Zusammenschreibung trennbarer Verben geht, sondern um das untrennbare staubsaugen<br />
(er staubsaugt usw.), das Götze im Gegensatz zum Duden überhaupt nicht zu<br />
kennen scheint. Das mehrmals angeführte staubgesaugt ist sowohl nach alter wie nach<br />
neuer Orthographie unrichtig. Als Muster einer zutreffenden Darstellung kann der<br />
Kasten zu gewährleisten/Gewähr leisten dienen. – Zu Tabula rasa meldet der Kasten:<br />
„Im Gegensatz zur bisherigen Schreibweise (tabula rasa) wird das fremdsprachige<br />
Substantiv mit großem Anfangsbuchstaben geschrieben, da es sich nicht um ein<br />
Zitatwort handelt: Tabula rasa (machen). Ebenso: Terra incognita.“ Selbstverständlich<br />
stehen beide Ausdrücke genau so bereits im alten Duden. – Zu tropfnass, das auch<br />
schon im Regelwerk (§ 36) als Beispiel angeführt wird, sagt der Kasten:<br />
„Verbindungen aus einem Verbstamm und einem Adjektiv, bei denen der erste<br />
Bestandteil für eine Wortgruppe steht, schreibt man zusammen: das tropfnasse Hemd.“<br />
Natürlich ist es für ein solches Kompositum ganz gleichgültig, „wofür“ der erste<br />
Bestandteil „steht“. Durch die überflüssige Auskunft buchstabiert Götze den entsprechenden<br />
Abschnitt der amtlichen Regelung mit dankenswerter Klarheit aus. – Zu<br />
vereinzelt/Vereinzelte wird wiederum behauptet, die Großschreibung der Substantivierung<br />
stehe „im Gegensatz zur bisherigen Schreibweise“, was jedoch nicht zutrifft. –<br />
Unter wiederholen wiederholt Götze einen alten Dudenfehler: Im Anschluß an Sie<br />
wollen das Geld wiederbekommen – als Beispiel der Zusammenschreibung in der<br />
Bedeutung ,zurück‘ heißt es: „Ebenso: Sie wollen das Stück wiederholen. (Akzent auf<br />
dem Verb).“ Gegen diese gar nicht hierhergehörige Bestimmung wird dann die Akzentuierung<br />
des getrennt zu <strong>schreiben</strong>den Verbkomplexes abgesetzt: „In der Bedeutung<br />
,erneut, nochmals‘ wird das Gefüge getrennt geschrieben (Akzent auf der Partikel<br />
wieder): Sie will die Trophäe wieder holen (= erneut).“ – Die volksetymologische<br />
Schreibung Zierrat würdigt Götze in einem eigenen Kasten: „Analog zu der Vorrat<br />
wird zukünftig bei der Endung -rat ein vorausgehendes -r- geschrieben.“ Aber in dem<br />
222
Wort Vorrat ist -rat keine „Endung“, sondern das Grundwort eines Kompositums. –<br />
Die Kennzeichnung von zu Gunsten in der Verbindung zu seinen Gunsten als neu ist<br />
irreführend. Viele Kästen sind überflüssig. So enthält der Kasten Kommuniqué/Kommunikee<br />
einfach noch einmal, was im laufenden Text des Wörterverzeichnisses<br />
ohnehin steht, daß nämlich das erste die Haupt- und das zweite die Nebenvariante sein<br />
soll.<br />
Duden: Praxiswörterbuch zur neuen Rechtschreibung. Mannheim 1998<br />
Um das darniederliegende Wörterbuchgeschäft bis zu den angekündigten Korrekturen<br />
der Neuregelung anzukurbeln, brachte der Dudenverlag im November 1998 ein<br />
„Praxiswörterbuch“ heraus, das die schlimmsten Folgen der Neuregelung abzumildern<br />
versucht, indem es jeweils die am wenigsten anstößige Variante auswählt und als<br />
einzige „empfiehlt“. Mit der radikalen Ausschließung aller Varianten wiederholt sich<br />
ein Vorgang vom Beginn des Jahrhunderts: Der sogenannte Buchdruckerduden brachte<br />
gegen die noch verbliebene Variantenfülle der einheitlichen Rechtschreibung das<br />
Interesse der Profession an eindeutigen Vorgaben zur Geltung. Daß andere<br />
Schreibweisen auch richtig sein können, braucht in der Tat nur den korrigierenden<br />
Lehrer zu interessieren, nicht die Sekretärin oder den Journalisten. In vielen Fällen<br />
bevorzugt das neue Werk die herkömmlichen Schreibweisen. Auch die Skeptiker, so<br />
heißt es, sollen sich auf diese Weise mit der Neuschreibung anfreunden können. Vor<br />
allem will dieses Wörterbuch denjenigen die Mühe abnehmen, die sonst je für sich eine<br />
eigene „Hausorthographie“ entwickeln müßten. Auch dies ist natürlich ein<br />
vernichtendes Urteil über die Rechtschreibreform. Und sollte die Schule, für die das<br />
Ganze doch angeblich unternommen wurde, an klaren Regeln weniger interessiert<br />
sein?<br />
Laut Vorwort ist das Praxiswörterbuch mit „Unterstützung“ durch die Deutsche Presse-<br />
Agentur entstanden. Diese „Unterstützung“ beschränkte sich allerdings, wie die<br />
Agentur inzwischen mitgeteilt hat, auf die Übersendung der allgemein gebräuchlichen<br />
Transkriptionsregeln für fremde Eigennamen und hat mit der Rechtschreibreform<br />
nichts zu tun. Die Danksagung für einen derart geringfügigen Dienst soll offenbar den<br />
Eindruck wecken, daß das neue Wörterbuch mit der wichtigsten deutschen<br />
Nachrichtenagentur abgestimmt sei – ein durchsichtiges Mittel, anstehende<br />
Entscheidungen der anderen Agenturen und der Zeitungen zu beeinflussen.<br />
Im Vorwort wird behauptet: „Alle im DUDEN-Praxiswörterbuch angegebenen Schreibungen<br />
entsprechen dem neuen amtlichen Regelwerk.“ Diese Behauptung ist falsch.<br />
Dazu einige Beispiele: Die Reform hatte zur allgemeinen Überraschung festgelegt, das<br />
Wort schwerbehindert existiere nicht mehr, nur noch schwer behindert. Schon der<br />
Rechtschreibduden nahm sich die Freiheit, wenigstens das Substantiv<br />
Schwerbehinderte zu retten – gegen den Wortlaut der Neuregelung, denn wenn es das<br />
Adjektiv nicht mehr gibt, kann es auch seine Substantivierung nicht mehr geben. Die<br />
neue, durch ein Sternchen im amtlichen Wörterverzeichnis als Änderung markierte<br />
Schreibung ist vielmehr, wie auch führende Reformer ausdrücklich erklärten, schwer<br />
Behinderte – was zwar bisher auch eine jederzeit mögliche Konstruktion war, jetzt aber<br />
als einzig zulässig gelten soll. Der Praxisduden macht sich nun ein Schlupfloch<br />
zunutze, das die Reform gelassen hat: er erklärt schwerbehindert kurzerhand für<br />
„fachsprachlich“, und damit ist es gerettet; denn die Fachsprachen werden von der<br />
223
Neuregelung nicht berührt. Bei fleischfressend (karnivor) und Dutzenden ähnlicher<br />
Wörter kann er sich nicht zu einem analogen Vorgehen entschließen, es bleibt bei<br />
Fleisch fressend. Bei leicht verletzt, anders denkend (aber Leichtverletzte, Andersdenkende!)<br />
bleibt er auf halbem Wege stehen, wie schon der Rechtschreibduden. Und bei<br />
tief schürfend ist die Anpassung an die Erfordernisse der Grammatik ganz unterlassen<br />
worden, daher: am tief schürfendsten, das tief Schürfendste usw. Natürlich ist Aufsehen<br />
erregend, Kosten sparend, nichts sagend in vielen Fällen falsch, aber der Praxisduden<br />
ist keineswegs befugt, aufsehenerregend, kostensparend, nichtssagend wiederherzustellen<br />
und als regelkonform auszugeben. Es handelt sich vielmehr um jene<br />
Revisionsvorschläge, die von der Rechtschreibkommission als „unumgänglich<br />
notwendig“ unterbreitet, von den Kultusministern jedoch ausdrücklich abgelehnt<br />
wurden.<br />
Von notleidenden Krediten (im Gegensatz zur Not leidenden Bevölkerung) weiß der<br />
Rechtschreibduden so wenig wie die amtliche Regelung; das Praxiswörterbuch hat dies<br />
unter dem Eindruck der Kritik eigenmächtig hinzuerfunden. Das Wort sogenannt wird<br />
zwar nicht wiederhergestellt, es bleibt bei so genannt – aber die Abkürzung soll gleichwohl<br />
sog. lauten! (Das Österreichische Wörterbuch ist da konsequenter; es vermerkt:<br />
„so gen. (früher: sog.)“. Dafür löst es wohlschmeckend usw. auf, also: etwas noch wohl<br />
Schmeckenderes, am wohl schmeckendsten – eine grammatische Monstrosität, die wiederum<br />
der Duden von vornherein vermieden hat.) Das Nebeneinander von blutstillend<br />
und Blut saugend bleibt bestehen. Dieser Wirrwarr betrifft Hunderte von Fällen.<br />
Der Hohe Priester muß laut Neuregelung getrennt geschrieben werden, wobei die<br />
Reformer offenbar übersehen haben, daß es Formen ohne Beugung des Erstgliedes<br />
gibt: Soll man etwa <strong>schreiben</strong> den Hohe Priester usw.? Nachdem der Rechtschreibduden<br />
hier wahre Eiertänze vorgeführt hat, zieht das Praxiswörterbuch einen<br />
Schlußstrich: Es heißt schlicht und einfach wieder der Hohepriester und ebenso das<br />
Hohelied – <strong>vernünftig</strong>, aber in krassem Widerspruch zur amtlichen Regelung.<br />
Zunächst völlig absurd scheint folgender Eintrag: „wieder sehen; er kann wieder<br />
sehen, aber er wird sie bald wiedersehen (mit ihr ein Wiedersehen feiern)“. – Warum<br />
sollte die Kombination eines Adverbs mit einem Verb einen besonderen Eintrag wert<br />
sein? Dazu muß man den Hintergrund kennen: Der reformierte Rechtschreibduden<br />
hatte sich der irrigen Meinung hingegeben, wiedersehen müsse nunmehr getrennt<br />
geschrieben werden (eine Folge der unklaren Angaben von § 34 der Neuregelung). Die<br />
Fehldeutung hat sich in mehrere Millionen Wörterbücher und fast alle Schulbücher<br />
fortgeerbt. Im Praxiswörterbuch wird er nun stillschweigend korrigiert, jedoch so, daß<br />
auf den ersten Blick überhaupt keine Änderung vorliegt: derselbe Haupteintrag wieder<br />
sehen findet sich hier wie dort.<br />
Nicht nachzuvollziehen ist, warum Finnland das Land der tausend Seen ist, während<br />
bei Tausend und Abertausend Sterne Großschreibung eintritt; allerdings gehört der<br />
entsprechende Paragraph der Neuregelung zu den verworrensten überhaupt.<br />
Bei der Fremdwortschreibung ist das Praxiswörterbuch so konservativ wie möglich.<br />
Thunfisch bleibt, ebenso Bouclé, Necessaire usw.; und der Frigidaire verschwindet in<br />
der Versenkung, aus der ihn die Neuregelung eigens zu dem Zwecke einer postumen<br />
Schreibänderung hervorgeholt hatte. Die Plattitüde wäre nicht nötig gewesen, zumal<br />
sie auch noch als „gehoben“ markiert ist.<br />
224
Ein paar Flüchtigkeitsfehler der Neuregelung sind stillschweigend korrigiert. So sieht<br />
das Regelwerk vor: hintenüberstürzen, aber vornüber stürzen. Der Praxisduden bietet<br />
sinnvollerweise – aber entgegen der amtlichen Vorschrift – vornüberstürzen. Die<br />
archaisierende Neuschreibung in Sonderheit und das extrem dummdeutsche platzieren<br />
lassen allerdings kein Ausweichen zu.<br />
Die Abtrennung einzelner Buchstaben – eine der überflüssigsten Eingebungen der<br />
Reformer – wird gar nicht erst erwogen: Buche-cker wird man also hier nicht finden<br />
(allerdings A-pis). Die Fremdwörter sind teilweise wieder eher „organisch“, also<br />
morphologisch getrennt: Pro-gnose, Kon-stellation, nicht Prog-nose, Kons-tellation<br />
wie im Rechtschreibduden. Die Flagge unserer Nachbarn im Norden heißt wieder<br />
Dane-brog (statt wie 1996 Daneb-rog). Jedoch verfährt das neue Wörterbuch gerade<br />
hier mit erstaunlicher Inkonsequenz. Den A-pop-lektiker des Rechtschreibdudens hat<br />
die Redaktion wieder aufgegeben, nicht aber das Apos-tolat und den Apos-taten.<br />
Bisher stand durch wohlgegründete Regeln fest, daß man demon-strieren trennt. Den<br />
Rechtschreibduden hatte die Reform dazu bewogen, demonst-rieren als erste Wahl<br />
anzubieten. Das Praxiswörterbuch ist ohne nähere Begründung auf eine dritte Möglichkeit<br />
verfallen: demons-trieren. Was spricht eigentlich dagegen, den bisherigen Usus<br />
beizubehalten? Dieses kopflose Hin- und Herschwanken macht die Schreibweise von<br />
Hunderten ganz geläufiger Wörter unvorhersehbar. Wie trennt man zum Beispiel<br />
Designer? Bisher Desi-gner, nach dem reformierten Rechtschreibduden Desig-ner,<br />
aber der Praxisduden kehrt zu Desi-gner zurück! So sind auch alle Trennungen vom<br />
Typ Arma-gnac, Champa-gner gegenüber dem Rechtschreibduden wiederhergestellt,<br />
nur Aurig-nacmensch nicht. Ar-thritis, De-lhi und Po-grom waren zwischendurch<br />
Arth-ritis, Del-hi und Pog-rom (!), sind aber jetzt ebenfalls wiederhergestellt. Epi-skop<br />
bleibt, aber nur eine Zeile weiter steht neuerdings Epis-kopat. Daß man ganz geläufige<br />
Fremdwörter schon lange nicht mehr morphologisch trennt (Epi-sode, Epo-che), ist<br />
kein Grund, hochgelehrte Bildungen derselben barbarischen Prozedur zu unterwerfen<br />
(Epen-these, Epe-xegese). Neben di-ploid stehen Diph-thong und Dip-tychon (und<br />
natürlich Trip-tychon; was haben eigentlich Dip und Trip hier zu suchen?). Es soll<br />
heißen Di-alog, aber Dia-spora; Pros-pekt, Res-pekt, aber Per-spektive, Retro-spektive.<br />
Zwischen lauter Zy-klen, Zy-klonen, Zy-klopen usw. steht einsam und allein zyk-lisch;<br />
aber wiederum azy-klisch, antizy-klisch, prozy-klisch! Zwischen Dutzenden von<br />
Wörtern mit Ana-, Anti-, Hypo- und Inter- stehen ganz singulär Anas-tomose, Antis-tes,<br />
Inte-resse und Hypos-tase. Sy-nopse, sy-nergetisch und eine Reihe ähnlicher<br />
Barbarismen findet man unter zahlreichen richtigen Trennungen, die das auch im<br />
Deutschen produktive Präfix syn- absichern. (Was sollen wir uns bei all diesen Pekten,<br />
Tasen, Nopsen und Ressen eigentlich denken?) Die hundertfach belegte Vorsilbe Re-<br />
soll überall korrekt abgetrennt werden: Re-spiration, Re-stitution usw., nur bei ganz<br />
wenigen Wörtern wie Res-pekt und Res-triktion nicht. An-ästhesie und Syn-ästhesie<br />
sind sinngemäß getrennt, aber mitten dazwischen überbietet Ki-nästhesie sogar noch<br />
den Rechtschreibduden (Kin-ästhesie). Die Pickles werden wieder wie früher Pick-les<br />
getrennt; sobald sie aber gemischt auftreten, gilt die törichte neue Trennung: Mixed Pickles,<br />
Mixpi-ckles (!). Der reformierte Rechtschreibduden hatte die Jugoslawen zu<br />
Jugos-lawen gemacht; diese Torheit nimmt das Praxiswörterbuch zurück. Sehr<br />
inkonsequent verfährt es jedoch bei der Rettung chinesischer Namen: Zwar wird der<br />
Jang-tse nicht mehr wie im Reformduden Jangt-se getrennt, aber der Philosoph mit<br />
dem zweisilbigen Namen Lao-tse muß sich von den westlichen Barbaren weiterhin Laot-se<br />
nennen lassen.<br />
225
Die Je-su-i-ten haben eine zusätzliche Trennstelle bekommen, die In-tui-ti-on nicht.<br />
Das ist die totale Willkür, die nur ein einziges Ergebnis haben kann und wohl auch<br />
haben soll: „Den Duden braucht jeder.“<br />
Noch leichtfertiger ist die unorganische Trennung deutscher Wörter: Das Wörterbuch<br />
empfiehlt ei-nander, hi-nauf, he-runter, vo-rüber usw., kanonisiert also einen<br />
primitiven Anfängerfehler. Damit schließt es sich der abwegigen Meinung der<br />
Reformer an, daß die Deutschen, nur weil sie manche Zusammensetzungen gebunden<br />
sprechen, außerstande seien, deren Bestandteile zu erkennen. Dieselben Sprecher,<br />
denen der Rechtschreibduden die Trennung Son-nabend zutrauen zu müssen glaubte,<br />
sollen aber zwecks Großschreibung nicht nur die Wortarten in fremden Sprachen<br />
beherrschen (Corpus Delicti usw.), sondern – bei allen genannten Torheiten –<br />
grundsätzlich die Muta-cum-liquida-Regel für Fremdwörter beherrschen, so daß sie<br />
anders als der Rechtschreibduden wieder Pu-blikum usw. trennen. Welcher Journalist<br />
fühlt sich nicht auf den Arm genommen, wenn man ihm die Trennung vo-raus<br />
zumutet? Während durch die verordnete Großschreibung von Acht geben eine ziemlich<br />
obsolete Acht künstlich reanimiert wird, sollen Obacht und beobachten völlig<br />
undurchschaubar sein, so daß der Praxisduden die Trennung beo-bachten empfiehlt<br />
und Obacht für gänzlich untrennbar erklärt. Komischerweise überträgt sich diese<br />
Trennungsscheu auch auf obligat und alle seine Verwandten, während bei Obliteration,<br />
observieren usw. die erste Silbe sehr wohl abgetrennt wird – warum auch<br />
nicht?<br />
Dieses ganze Durcheinander soll Standard der deutschen Presse werden, obwohl kein<br />
erwachsener Mensch und erst recht kein Computer mit der Silbentrennung die<br />
geringsten Schwierigkeiten hatte – abgesehen von jenen Lach-stürmen bzw. Lachstürmen,<br />
die aus naheliegenden Gründen für längere Zeit schwer programmierbar<br />
bleiben werden.<br />
Die Verfasser berufen sich bei ihren Entscheidungen auf die legendäre Dudenkartei.<br />
Seltsamerweise scheint darin das Wort selbständig nicht vorzukommen, obwohl es<br />
doch zum Beispiel im Jahrgang 1996 der F.A.Z. nicht weniger als 1341mal belegt ist.<br />
Duden kennt nur noch selbstständig, was keine andere Schreibweise, sondern ein<br />
anderes, jüngeres Wort ist und folglich die Orthographiereformer gar nichts angeht.<br />
Handvoll und ähnliche Zusammensetzungen, die seit Jahrhunderten im Deutschen<br />
heimisch und in den Dialekten gemütvoll verkürzt sind (Hämpfele, vgl. auch Arfel =<br />
Armvoll), werden von der Neuregelung aus dem Verkehr gezogen, ebenso jedesmal<br />
und viele andere. Der Duden schließt sich diesen Machtsprüchen der KMK klaglos an<br />
– Kartei hin, Kartei her.<br />
Die „Freigabe“ des Kommas vor Infinitivsätzen – ein Prunkstück der Reform und oft<br />
angeführter Beweis ihrer „Liberalität“ – wird vollständig zurückgenommen.<br />
Gerhard Augst: Wortfamilienwörterbuch der deutschen Gegenwartssprache.<br />
Tübingen 1998<br />
(Die Besprechung dieses Buches wird hier eingerückt, weil es den Hintergrund der<br />
Augstschen Volksetymologien erhellt, weil es den heimlichen Rückbau der Reform<br />
nach der Mannheimer Anhörung dokumentiert und schließlich auch, weil es den<br />
Sprachwissenschaftler Augst ins rechte Licht zieht. Eine ausführlichere Fassung<br />
erschien in „Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik“ 66, 1999, S. 296-307.)<br />
226
Ein treffenderer Titel für das vorliegende Werk wäre: „Günter Kempcke et al.:<br />
Handwörterbuch der deutschen Gegenwartssprache, umgearbeitet von Gerhard Augst“.<br />
Zwar gehört das Ab<strong>schreiben</strong> zum täglichen Geschäft der Wörterbuchmacher, aber<br />
noch nie hat sich einer offen zu dem Plan bekannt, ein fremdes Werk zu scannen (!).<br />
Diese Absicht zerschlug sich, wie G. Augst im Vorwort berichtet, aus technischen<br />
Gründen, herausgekommen ist aber dennoch eine teilweise anders angeordnete, im<br />
übrigen nur unwesentlich veränderte Abschrift des genannten, 1984 in der DDR<br />
erschienenen Handwörterbuchs (HDG), ergänzt durch Abschnitte aus dem Deutschen<br />
Universalwörterbuch von Duden (2. Aufl. 1989) (DUW). Das Werk will ein<br />
Bedeutungswörterbuch sein, doch gerade die Bedeutungsangaben sind mitsamt den<br />
Beispielen weitgehend wörtlich übernommen.<br />
Wie eng das Verhältnis zwischen Augsts Buch und seinen Vorlagen ist, können zufällig<br />
herausgegriffene Beispiele verdeutlichen:<br />
HDG:<br />
Augst:<br />
DUW:<br />
Augst:<br />
kraulen (...) in Brustlage schwimmen, wobei die Arme abwechselnd über Wasser<br />
nach vorn gestreckt und unter Wasser mit leicht gewölbten Handflächen und<br />
zusammengelegten Fingern zurückgezogen und die Beine abwechselnd auf- und<br />
abwärts bewegt werden (...): er kann gut k.; er ist über den See gekrault<br />
kraulen (...) in Brustlage schwimmen, wobei die Arme abwechselnd über Wasser<br />
nach vorn gestreckt u. unter Wasser mit leicht gewölbten Handflächen u.<br />
zusammengelegten Fingern zurückgezogen u. die Beine abwechselnd auf- u.<br />
abwärts bewegt werden: er kann gut k.; er ist über den See gekrault<br />
Hund (...) kleines bis mittelgroßes Säugetier, das bes. wegen seiner Wachsamkeit<br />
u. Anhänglichkeit als Haustier gehalten wird, einen gut ausgebildeten Gehör- und<br />
Geruchssinn besitzt u. beißen u. bellen kann<br />
Hund (...) kleines bis mittelgroßes Säugetier, das (bes. wegen seiner Wachsamkeit<br />
u. Anhänglichkeit) als Haustier gehalten wird, einen gut ausgebildeten<br />
Gehör- und Geruchssinn besitzt u. beißen u. bellen kann<br />
So stammen wohl über tausend Seiten des Buchs von fremder Hand. Das Wörterbuchmachen<br />
ist hier auf eine – allerdings umfangreiche, im übrigen jahrelang von der<br />
Deutschen Forschungsgemeinschaft finanzierte – Hilfskrafttätigkeit reduziert. Davon<br />
abgesehen, wirft das Verfahren jedoch eine Reihe von Problemen auf, die unmittelbar<br />
zum Kern des ganzen Unternehmens führen.<br />
Augst legt ein nach Wortfamilien geordnetes Wörterbuch der deutschen Sprache vor.<br />
Der Nutzen eines solchen Werkes für die deutsche Sprachwissenschaft steht grundsätzlich<br />
außer Frage, würde es doch – im Falle des Gelingens – die unterschiedliche<br />
Produktivität der einzelnen Stämme und Morpheme zeigen und so insbesondere der<br />
Wortbildungsforschung ihre Arbeit erleichtern. Es könnte im einfachsten Falle eine Art<br />
Register zum etymologischen Wörterbuch oder auch zur Wortbildungslehre liefern.<br />
Solche Listen gibt es auch schon. Anspruchsvoller ist das überaus nützliche, von Augst<br />
nicht erwähnte Wortfamilienwörterbuch, das Heinrich Erk für die Wissenschafts-<br />
227
sprache geschaffen hat. Augst hat jedoch nicht das Ziel, die wirklichen, also<br />
historischen Wortbildungsbeziehungen und Bedeutungsentwicklungen zur Grundlage<br />
seines Lexikons machen, sondern die im Kopf der heutigen Sprecher bestehenden, also<br />
gegebenenfalls auch „volksetymologischen“ Motivationen. Diese Neigung, den<br />
Wortschatz unter Umständen auch durch historisch unzutreffende Beziehungen neu zu<br />
organisieren, nennt Augst „synchrone etymologische Kompetenz“. Motivierung,<br />
Demotivierung und Neumotivierung der sprachlichen Zeichen verändern diese Zeichen<br />
selbst und können schon deshalb aus der Geschichte der Sprache nicht gestrichen<br />
werden. Hebamme, Hängematte, röhren usw. sind bekannte Beispiele. Augst dehnt das<br />
Prinzip auf gegenwärtige assoziative Beziehungen aus, die noch nicht zu einer<br />
Umgestaltung der Formen geführt haben. Der Laie kennt viele etymologische<br />
Beziehungen nicht, dafür stiftet er andere, die von der wissenschaftlichen Etymologie<br />
nicht anerkannt werden. Dies alles in einem Buch zu dokumentieren, wäre eine<br />
reizvolle, aber schwierige Aufgabe, nicht zuletzt deshalb, weil die Wörter einerseits in<br />
sprachwirksame assoziative Strukturen eingebettet, andererseits aber auch Gegenstand<br />
einer naiven Reflexion über ihre Herkunft sind. Im „synchronen“ Bewußtsein ist<br />
nämlich stets auch der Gedanke der Geschichtlichkeit von Sprache enthalten. Ja, die<br />
meisten Sprecher dürften heute wissen, daß es etymologisches Expertenwissen gibt,<br />
vor dem ihre laienhaften Vorstellungen nicht bestehen können. Diese Komplizierung<br />
der Lage hat Augst nicht einmal ansatzweise bedacht.<br />
Plan und Ausführung des Werkes enthalten außerdem einen fundamentalen<br />
Widerspruch. Wenn die semantischen Zusammenhänge so dargestellt werden, wie sie<br />
im Kopf des Sprechers bestehen, dann müßte dasselbe auch für die Bedeutungen selbst<br />
unternommen werden. Die von Augst exzerpierten Wörterbücher sind aber nicht mit<br />
dem Anspruch aufgetreten, die laienhaften Vorstellungen von der Bedeutung der<br />
Wörter zu dokumentieren. In der Einleitung schreibt Augst unter dem Titel „Welche<br />
Informationen erhalten Sie zu jedem Wort?“: „Das Wortfamilienwörterbuch enthält in<br />
knapper Form alle wesentlichen Informationen, die ein normales Wörterbuch (z. B.<br />
DUW, BROCKH, WAHRIG) auch enthält.“ (S. XXI) (Seltsamerweise ist ausgerechnet<br />
das HDG nicht genannt, dessen Inhalt das Wörterbuch von G. Augst „in knapper<br />
Form“, d. h. leicht gekürzt wiedergibt!). Gerade dies widerspricht dem Konzept. Man<br />
kann dann gleich im HDG oder einem der genannten Wörterbücher nachschlagen, wo<br />
man wegen der strikt alphabetischen Anordnung auch leichter zum Ziel kommt. Das<br />
HDG erklärt auch Fachausdrücke und weiß überhaupt manches, was der normale<br />
Sprecher nicht weiß, zum Beispiel daß Holunder ein „Geißblattgewächs“ ist, Glyzerin<br />
„eine hygroskopische Flüssigkeit“ und der Sinus eine des näheren beschriebene<br />
Winkelfunktion ... (Andereseits begnügt sich Augst manchmal anders als seine<br />
Vorlagen mit überraschend pauschalen Definitionen, etwa unter Gnu: ,eine Tierart‘<br />
oder Planet: ,ein Himmelskörper‘.)<br />
So unklar dem Bearbeiter seine eigene Idee offenbar ist, so willkürlich sind die Zutaten,<br />
die er unterderhand beimischt. Augst geht zum Beispiel von der undiskutierten<br />
Annahme aus, daß jede Wortfamilie normalerweise genau ein „Kernwort“ besitze und<br />
die weitere Struktur „hierarchisch“ sei. Schon im Einbanddeckel wird postuliert: „Das<br />
Wortfamilienwörterbuch bildet durch seinen Aufbau die Struktur der Wortfamilien ab.<br />
Jede Wortfamilie hat ein Kernwort“ usw. Diese Forderung entspringt mehr dem<br />
Wunsch nach einer wörterbuchtauglichen einfachen Darstellung als der Untersuchung<br />
des Gegenstandes. Sie führt zu sachfremden Überlegungen wie etwa unter Gunst,<br />
gönnen:<br />
228
„Gunst hat eine schwierige Semantik. Manche Informanten sind bzgl. des Kopfes<br />
der Wortfamilie unentschieden, d. h. manche nennen Gunst, andere gönnen als<br />
Kernwort.“<br />
Hier hat offenbar der Interviewer seinen Probanden erst eingeredet, daß die<br />
Wortfamilie ein „Kernwort“ haben muß, denn von sich aus dürften die Sprecher eine<br />
solche Notwendigkeit nicht gesehen haben. Ähnlich unter fatal:<br />
„Wer das bildungsspr. Fatum kennt, wird die Wf. von dort her aufbauen.“<br />
Aber es gibt keine Notwendigkeit, Wortfamilien von einem bestimmten Wort her<br />
„aufzubauen“; der bloße Zusammenhang von Netzen ohne Mittelpunkt genügt.<br />
Die erste Tatsache, mit der sich das Projekt eines laienlinguistischen Wörterbuchs konfrontiert<br />
sieht, ist die Ungleichartigkeit der Sprecher hinsichtlich ihrer Sprachkenntnis,<br />
Belesenheit und Reflexionsfähigkeit. Es gibt nicht „die“ synchronische etymologische<br />
Kompetenz. Der Verfasser spielt das Informantenproblem herunter, indem er darauf<br />
verweist, daß die meisten Zusammenhänge ohnehin nicht durch Befragung ermittelt,<br />
sondern von ihm selbst hergestellt worden sind:<br />
„(...) im Großen und Ganzen spiegelt dieses Wörterbuch die Ordnung nach<br />
Wortfamilien so wider, wie wir sie als (re)konstruierende Wörterbuchautoren dem<br />
'normalen' Sprachteilhaber idealtypisch unterstellen.“ (S. X, vgl. auch S. XIX).<br />
Der normale Sprachteilhaber, auf dessen „Laien“-Status großer Wert gelegt wird, ist<br />
also, schlichter gesagt, zunächst einmal eine Erfindung des Verfassers, keine<br />
empirische Größe. Der zitierte Satz ist im Grunde eine Ungeheuerlichkeit: das<br />
Programm einer spekulativen Laien- und Psycholinguistik.<br />
Augst ist es nie gelungen, den „Laien“ in widerspruchsfreier, empirisch gehaltvoller<br />
Weise zu definieren. Laut Vorwort ist es ein Mensch, der „nicht auf besondere<br />
fachliche, fremdsprachliche oder gar sprachwissenschaftliche Kenntnisse zurückgreifen<br />
kann.“ – Zwar ist diese Formulierung nicht sehr klar, aber die weitere Praxis<br />
zeigt, daß der Laie keine Berufsausbildung und keine Fremdsprachenkenntnisse,<br />
folglich auch keine weiterführende Schulbildung besitzen darf. Diese von Augst<br />
ersonnenen absoluten Hinterwäldler gibt es im deutschen Sprachraum praktisch nicht,<br />
und wenn man doch irgendwo einen auftreiben sollte – warum muß man ihn zum<br />
Richter über die „natürliche“ Organisation des deutschen Wortschatzes machen? Da<br />
der Laie ausdrücklich keine sprachwissenschaftlichen Kenntnisse haben soll,<br />
andererseits aber der Begriff der „Wortfamilie“ – wie auch immer man ihn umschreibt<br />
– ein sprachwissenschaftlicher Begriff ist, wüßte man gern, mit welcher Frage die<br />
Informanten eigentlich konfrontiert worden sind und wie sie die Frage verstanden<br />
haben. Zum Beispiel ist fressen ohne weiteres unter essen gebracht, aber die Ableitung<br />
dürfte sogar gebildeten Sprechern unklar sein. Wenn sie dennoch dieser Zuordnung<br />
beitreten, so geschieht es vielleicht, weil die beiden Verben fast dasselbe bedeuten und<br />
sich außerdem verdächtig gut reimen. Sie werden also wohl irgendwie<br />
zusammengehören. An einer anderen Stelle sagt Augst: „Der normale Sprachteilhaber<br />
bringt Zoo u. Zoologie zusammen, ohne den genauen Bezug angeben zu können.“ Aber<br />
was erwartet Augst vom Laien eigentlich – etwa ein Hantieren mit<br />
sprachwissenschaftlichen Begriffen?<br />
Dem Konstrukt des „Laien“ entspricht das des „Fachmannes“. Es bleibt undefiniert.<br />
Unzählige kleingedruckte „Bemerkungen“ lauten etwa so wie unter Aristokratie:<br />
229
„Fachleute werden das Wort als Zus. erkennen, vgl. analoge Wörter unter -kratie.“ Zu<br />
Skateboard: „Für Fachleute eine Zus.“ Zu Cornflakes: „Die Fachleute stellen es zu<br />
Korn und Flocke.“ „Dass sozial u. Sozius zusammengehören, wissen nur Fachleute.“<br />
Zu fingieren: „Fachleute werden es zu fiktiv stellen.“ In allen diesen Fällen genügen<br />
bescheidene Fremdsprachenkenntnisse. Mit Fachlichkeit hat das nichts zu tun. In einer<br />
ganzen Reihe vom „Bemerkungen“ wird den Fachleuten aber noch eine andere Rolle<br />
zugewiesen. So lesen wir unter fitten (,anpassen‘), Fitting (,Verbindungsstück für<br />
Rohrleitungen‘): „Die Fachleute müssen entscheiden, ob sie es zu fit stellen.“ – Was<br />
liegt daran, wie die Fachleute entscheiden? Für den Zweck des Buches ist es<br />
gleichgültig.<br />
Da Augst vor allem abschreibt, bezeichnet er das Vorkommen eines Wortes im HDG<br />
als „Beleg“. Bis auf ein paar DDR-Ideologismen darf kein Jota weggelassen werden,<br />
und hinzugefügt wird der kanonischen Vorlage nur ganz selten ein Wort aus dem DUW<br />
zwecks Vervollständigung eines Paradigmas. Auf diese Weise läßt sich weder ein<br />
eigenständig ermitteltes Bild des heutigen Wortbestandes noch gar der subjektive<br />
Wortbesitz normaler Sprecher gewinnen. Unter repassieren vermerkt Augst: „Die<br />
Informanten kennen das Wort nicht.“ Wozu wird es dann angeführt? Zu Melange (1.<br />
Kaffeemischung, 2. Gewebe) bemerkt Augst: „Die meisten Informanten kennen nur je<br />
eine Bed., so dass der synchrone Zusammenhang nicht geklärt werden kann.“ Aber<br />
wenn die Sprecher den synchronen Zusammenhang nicht kennen, dann gibt es eben<br />
keinen, im Gegensatz zum diachronen, der eine Tatsache außerhalb der Köpfe bleibt.<br />
Die enge Bindung an das HDG hat zur Folge, daß auch der Wortbestand auffallend<br />
antiquiert ist. Schüler <strong>schreiben</strong> eine Ex in Bio, ihre Eltern kaufen im Bioladen usw.,<br />
aber davon weiß das Wörterbuch nichts. Wörter, die heute in aller Munde sind wie<br />
Internet, Laptop, Pocket(kamera), Display, Punk, Skinhead usw., sind nicht aufgenommen.<br />
Man findet gerade noch das Softeis, nicht die Software; den Schnittlauch, nicht<br />
die Schnittstelle; die Maus kommt als Nagetier vor, nicht als Computerzubehör. Es ist<br />
eben der Wortschatz der DDR der fünfziger bis siebziger Jahre; Graffiti gab es nicht,<br />
nur Graphit. In der gleichen Weise bleibt der ganze Bereich der griechischen und<br />
lateinischen „Konfixe“ (Mega-, Nano- usw.) unterbelichtet.<br />
Es liegt nahe, daß die Sprachteilhaber in der heutigen Flut der Entlehnungen und<br />
Neubildungen allmählich gewisse Beziehungen erkennen oder herstellen. Zum<br />
Beispiel dürfte jedermann spüren, daß Nostalgie und Neuralgie etwas gemein haben,<br />
ebenso Monarchie, Oligarchie und Hierarchie. Die reformierte Rechtschreibung tut<br />
zwar alles, um diese Einsicht zu verdunkeln, indem sie – beispielsweise durch die<br />
närrische Silbentrennung – Talgie und Ralgie, Narchie, Garchie und Rarchie zu<br />
selbständigem Dasein verhilft, aber das kann den intuitiven Zusammenhang nicht<br />
gänzlich aufheben. Das Wortfamilienwörterbuch weiß von solchen Dingen so gut wie<br />
nichts.<br />
Das HDG war, wie gesagt, auch ein typisches DDR-Produkt mit seinem teilweise<br />
unerträglichen ideologischen Ballast. Das ist selbstverständlich getilgt. Nur in Spuren<br />
nimmt man es noch wahr. Eine Junta hat natürlich eine reaktionäre Zielstellung. Statt<br />
einfach zu sagen, daß Gott als Eigenname gebraucht wird (was mit einer dem<br />
Staatsatheismus verdächtigen Existenzpräsupposition verbunden werden könnte),<br />
windet sich das HDG in fast unverständlicher Weise:<br />
230<br />
/o. Pl.; mit Art. nur in Verbindung mit einem Attr./ in der Vorstellung
monotheistischer Religionen, bes. der christlichen Religion, als überirdisch und<br />
allmächtig gedachtes und kultisch verehrtes Wesen<br />
Augst folgt getreulich:<br />
/o. Pl.; mit Art. nur in Verbindung mit einem Attr./ in der Vorstellung<br />
monotheistischer Religionen, bes. der christlichen Religion, als überirdisch u.<br />
allmächtig gedachtes Wesen<br />
Der Mesner, dem die Rechtschreibreform bekanntlich volksetymologisierend zu Leibe<br />
rückt (Messner), fehlt ganz, und bei Menetekel soll niemand an den biblischen<br />
Hintergrund denken. – Die distanzierte Haltung des SED-Staates zum Christentum<br />
kann man in der Definition der Kreuzigung spüren. Die Menschen, so heißt es, seien<br />
am Kreuz hingerichtet worden, „indem man sie daran annagelte oder aufknüpfte (!)“<br />
(HDG und Augst), offenbar eine recht spaßige Angelegenheit, die man nicht gerade in<br />
d-Moll setzen müßte. Übrigens: Ist es denkbar, daß bei Kruzifix niemand an Kreuz<br />
denkt? Augst behauptet es. Materie wird vom HDG so definiert: „die objektive<br />
Realität: Bewegung, Raum, Zeit sind wesentliche Eigenschaften der M.“ – Augst<br />
übernimmt dieses Glanzstück des Dialektischen Materialismus: „die objektive Realität:<br />
Bewegung, Raum und Zeit sind objektive Eigenschaften der M.“ Ein Russismus ist die<br />
an erster Stelle gegebene Definition von Havarie: ,Beschädigung, Störung an größeren<br />
Maschinen, technischen Anlagen: eine Havarie im Kraftwerk‘. Westlich-dekadentes<br />
Popcorn gibt es nicht, nur Puffmais.<br />
Der bekannte konservative, ja prüde und erzieherische Charakter der DDR-Lexikographie<br />
kommt im Fehlen vulgärer Wörter zum Ausdruck. Diese Aussparungen reißen<br />
ebenfalls Lücken in den psychisch realen und wirksamen Wortbesitz. Der immer noch<br />
aktuelle Kommentar dazu findet sich in der Vorrede zum Deutschen Wörterbuch von J.<br />
und W. Grimm unter dem Titel „Anstöszige wörter“ (Erster Band, Leipzig 1854, S.<br />
XXXII).<br />
Irrtümer des HDG sind getreulich übernommen. Zum Beispiel behauptet das HDG,<br />
kanonisch werde „nur attributiv“ gebraucht, ebenso steht es folglich auch bei Augst.<br />
Ähnlich in vielen Fällen. Zu hin schreibt das HDG:<br />
Augst:<br />
„/bezeichnet die Richtung von hier weg auf etw., jmdn, zu/: die Fenster liegen<br />
nach dem Hof h.“<br />
„/bezeichnet die Richtung von hier weg auf etw./jmdn. zu/: die Fenster liegen zum<br />
Hof h.“<br />
Ein beliebter Irrtum, den schon das angeführte Beispiel widerlegt: hin hat im<br />
Gegensatz zu her und weg keinen Bezug zum Sprecherstandort. – Im HDG und<br />
folglich auch bei Augst heißt es das Graphit, alle anderen Wörterbücher kennen nur<br />
den Graphit.<br />
Wer die gelegentlich zitierten „Informanten“ waren, wie viele es waren und wie ihre<br />
Befragung im einzelnen aussah, erfährt man nicht. Und doch ist all dies von<br />
entscheidender Bedeutung. Denn wenn man Menschen über ihre Sprache befragt,<br />
kommt bekanntlich nicht unbedingt ihr sprachwirksames Wissen und Können zutage,<br />
sondern ein Gemisch aus diesem, einem Bodensatz von Bildung und einem Quantum<br />
Spekulation. Nur in ihrem natürlichen Sprachgebrauch geben die Menschen zu<br />
231
erkennen, wie der Zusammenhang der Wörter in ihren Köpfen wirklich beschaffen ist.<br />
Dies sei an einigen Beispielen vorgeführt.<br />
Zu den klassischen Beispielen von Volksetymologie gehört die Anlehnung des<br />
griechischen, besonders durch Sigmund Freud popularisierten Wortes Trauma an<br />
Traum. So steht es beispielsweise im „Deutschen Wörterbuch“ von Hermann Paul (9.<br />
Aufl. 1992, S. 899), aber Augst scheint davon nichts zu wissen. Und doch ist es ganz<br />
leicht, den Zusammenhang in konkreten Texten nachzuweisen, also ohne<br />
„Unterstellungen“. Es gibt nämlich zahllose Verwendungsbeispiele der folgenden Art:<br />
Da ist er, der Alptraum, das Trauma des Oppositionsführers (Frankfurter<br />
Allgemeine Zeitung 25. 10. 1978)<br />
die alptraumatische Szenerie (Frankfurter Allgemeine Zeitung 19. 7. 1985)<br />
Erwachen (!) aus dem Vietnam-Trauma (Süddeutsche Zeitung 2. 1. 1980)<br />
Unter Mund/Munt (,Schutzverhältnis‘), Vormund, Mündigkeit vermißt man bei Augst<br />
jeden Hinweis auf den Mund, an den viele Menschen denken, wenn sie die sonst<br />
isolierten Wörter aus dem germanischen Rechtsleben hören. Dabei führt Augst sogar<br />
den entsprechend umgestalteten Plural Vormünder an. Vgl.:<br />
Im Exil eignete er sich die Rolle eines Vor-Mundes an, der für andere spricht ...<br />
(Hansers Sozialgesch. der dt. Literatur. Bd. 11, München 1983, S. 366; zur<br />
Deutung von vor- als für- vgl. W. Pfeifer s. v. Vormund)<br />
Mündigkeit aber bedeutet zunächst ganz wörtlich, daß einer seinen Mund auftut,<br />
nicht daß er schweigend konsumiert. (Das Parlament 1. 1. 1985)<br />
Daß irritieren vielfach im Sinne von irremachen gedeutet wird, braucht nicht durch die<br />
stets bedenkliche Informantenbefragung festgestellt zu werden:<br />
Nicht ausgeschlossen werden kann, daß durch homosexuelle Handlungen in<br />
früherem Alter Jugendliche in der Findung ihrer Geschlechtsrolle irritiert<br />
werden. (Der Spiegel 20. 7. 1981)<br />
Angesichts der großen Ankündigungen eines völlig neuen Konzepts fällt immer wieder<br />
auf, wie viele mögliche und sogar nachweisbare subjektive Zusammenhänge nicht<br />
aufgeführt sind. Das Neue verschwindet buchstäblich in der ungeheuren Masse des<br />
Bekannten und lediglich Abgeschriebenen. Sollte kein Informant Rebhuhn zu Rebe<br />
gestellt haben? Die Anlehnung, längst wörterbuchkundig, hat regional sogar zu<br />
verlängerter Aussprache des e geführt.<br />
Wenn man Sprecher mit der Anforderung konfrontiert, Wortzusammenhänge<br />
festzustellen, kommen sie auf Gedanken, die sie sich vorher noch nie gemacht haben,<br />
und konstruieren ad hoc etwas, was bisher in ihrem Sprachbesitz überhaupt nicht<br />
vorhanden war. Ein gutes Beispiel ist die feministische Linguistik, die einigen Wörtern<br />
und grammatischen Neutralisationserscheinungen gewissermaßen ihre Unschuld<br />
genommen hat. Augst greift dieses Thema seltsamerweise gar nicht auf. Was ihm hier<br />
entgeht, läßt sich am Eintrag dämlich zeigen. Es bedurfte nicht erst der feministischen<br />
Diskussion, um den trügerischen Bezug auf Dame zu allerlei dummen Späßen zu<br />
nutzen („Herren sind herrlich, Damen dämlich“ usw.). In der Tat kann der Laie, wenn<br />
er denn unbedingt eine Motivation für dämlich suchen muß, auf nichts anderes als<br />
Dame kommen. Augst hat jedoch unter keinem der beiden Stichwörter einen<br />
entsprechenden Hinweis.<br />
232
An vielen Stellen verrät Augst unabsichtlich, wie er den Informanten die gewünschten<br />
Zusammenhänge suggeriert hat. Zu den kaum noch gebrauchten Wörtern Huld und<br />
hold vermerkt er:<br />
Zu Nadel:<br />
„Die Informanten nennen meist den Zusammenhang von hold u. Huld nicht von<br />
sich aus, akzeptieren ihn aber.“<br />
„Wenn man die Informanten darauf hinweist, dann können sie einen<br />
Zusammenhang zwischen Nadel und nähen sehen, sie geben ihn aber nicht von<br />
sich aus an.“<br />
Zu schellen:<br />
„Etym. gehört diese Wf. zu schallen, Schall; die Informanten sehen selbst nicht<br />
diesen Zusammenhang, akzeptieren ihn aber erstaunt, wenn man ihn nennt.“<br />
Also hat der Interviewer selbst einen Zusammenhang hergestellt, den der Interviewte<br />
mangels besserer Gegenvorschläge dann ganz annehmbar finden mußte. Die Methode<br />
bleibt obskur, ihr Ergebnis irrelevant. Das undurchsichtige Verb ergötzen stellen<br />
angeblich alle Informanten zu Götze – weshalb es unter Gott eingeordnet ist! Was<br />
bleibt den Befragten anderes übrig, als den Zusammenhang zu „akzeptieren“? Auf<br />
dieselbe Weise hat die Rechtschreibreform viele dazu gebracht, etymologische<br />
Zusammenhänge anzuerkennen oder ihre von Augst angeregte Erfindung<br />
nachzuvollziehen, auf die sie von sich aus nie gekommen wären. Hat Augst denselben<br />
Aha-Effekt bei kentern, Spengler u. v. a. zu erzielen versucht? Zu Spengler schreibt er<br />
nur: „Etym. ,Spangenmacher‘; heute wohl (durch die Schreibung mit e) demotiviert.“<br />
Höchste Zeit also, durch Umlautschreibung die volle Durchsichtigkeit<br />
wiederherzustellen: Spängler, schällen usw., wie Augst es für behände, schnäuzen,<br />
Stängel durchgesetzt hat!<br />
Bei Augst führt die Beschränkung auf das Format der Morpheme zu einer systematischen<br />
Lücke. Ihm entgehen nämlich die weit überzufälligen psychophonetischen,<br />
lautstilistischen, aber eben submorphemischen Zusammenhänge, die es zum Beispiel<br />
nahelegen, daß im Kopf des Sprechers viele Wörter, die mit spr-, schl- oder kn-<br />
anlauten, jeweils auf eine schwer greifbare und dennoch wirksame Weise<br />
zusammengehören.<br />
Die seltenen Bemerkungen, in denen Augsts eigentlicher Beitrag zur Beschreibung<br />
„synchroner etymologischer Kompetenz“ zu vermuten wäre, sind durchweg banal.<br />
Unter Flaschenzug lesen wir:<br />
„Flaschenzug ist nur für Informanten mit entsprechenden technischen<br />
Kenntnissen motiviert, die anderen sind unentschieden, es besteht aber eine<br />
Tendenz, es zu Flasche zu stellen.“<br />
Wen wundert’s? – Nutzen wir die Gelegenheit zu einem kleinen Streifzug durch das<br />
Wörterbuch. Das Falschen und Fragwürdigen ist allerdings so viel, daß nur wenige<br />
Beispiele ausgewählt werden können.<br />
Das etymologisch unklare Wort Ballast steht unter Ball, weil es nach Augst als<br />
ball[en] + Last zu erklären ist. Die etymologischen Wörterbücher wissen davon nichts.<br />
– blenden wird genau wie in der Vorlage ausschließlich als Beeinträchtigung des<br />
Sehvermögens durch übermäßige Helligkeit definiert. Man sollte aber doch meinen,<br />
233
daß auch die anders ausgeführte Strafe des Blendens noch erinnerlich ist. Das Wort<br />
Blendung (wie im Titel von Canettis Roman) fehlt ganz. Übrigens schließt Augst mit<br />
der Bemerkung: „Etym. gehört blenden (= blind machen) zu blind; heute?“ In<br />
Wirklichkeit dürfte der Zusammenhang ganz lebendig sein, aber man könnte es ja<br />
nachprüfen. Das mehrere hundertmal vorkommende heute? verweist auf ebenso viele<br />
unterlassene Nachforschungen. – Brunft geht anders als Brunst nicht wirklich auf<br />
brennen zurück. – erben 2 ist falsch definiert: ,(biolog.) Anlagen übertragen‘. – Unter<br />
föderal merkt Augst an: „Beachte die Wortbildungsparallele föderieren –<br />
konföderieren, Föderierte – Konföderierte, Föderation – Konföderation.“ Warum diese<br />
Banalität beachtenswert sein soll, ist nicht klar. Sie gefällt dem Verfasser aber so gut,<br />
daß er unter drängen, existieren, Referat nochmals auf ähnliche „Parallelen“ hinweist.<br />
– Frost steht etymologisch korrekt unter frieren, aber was denken sich die Informanten<br />
dabei? Der Zusammenhang liegt ja nicht auf der Hand. Das gilt auch für andere Fälle<br />
von grammatischem Wechsel, z. B. verlieren – Verlust. Zu Verlies immerhin gibt AUGST<br />
richtig an, daß manche Sprecher es zu verlassen stellen (weshalb es übrigens<br />
oberdeutsch eine Zeitlang Verließ geschrieben wurde; die orthographische Fehlerquelle<br />
besteht auch heute noch). – Granat, Granate und Granit gehen nicht auf lat. granulum<br />
zurück, Gymnastik nicht auf griech. gymnásion. – Zu Herbst vermerkt Augst: „Manche<br />
Informanten bringen es mit herb zusammen.“ Da Augst selbst es war, der bei früheren<br />
Gelegenheiten die volksetymologische Grübelei vorgetragen und sogar ins Vorwort der<br />
amtlichen „Neuregelung der deutschen Rechtschreibung“ eingeschleust hat, ob Herbst<br />
vielleicht mit herb zusammenhänge, liegt der Verdacht nahe, daß auch hier etwas eher<br />
suggeriert als erfragt wurde. – Sollte bei Hinduismus wirklich niemand an Indien<br />
denken? – Bei Inzest begnügt sich das Wörterbuch nicht wie das HDG mit der<br />
Übersetzung ,Blutschande‘, sondern fügt hinzu: ,Inzucht in strengster Form bei<br />
Tieren‘; das stammt, ohne Quellenangabe, aus dem DUW, entspricht aber nicht dem<br />
allgemeinen Sprachgebrauch. (Ursprung scheint ein im achtbändigen Duden<br />
angeführter Einzelbeleg aus der Fachliteratur zur Schafzucht zu sein.) – Fällt keinem<br />
Informanten etwas zu Kasematte ein? Vgl. J. und W. Grimms Deutsches Wörterbuch s.<br />
vv. Kasematte, Käsematte und Matte! – Bei Ministrant denkt angeblich niemand an<br />
Minister. – Unter pirschen stimmt das Beispiel nicht: er pirschte sich an das Mädchen.<br />
Offenbar fehlt der Verbzusatz heran. – Podex soll das Kernwort für Po und Popo sein.<br />
Synchron ist es sicher umgekehrt. – Unter Resolution verfügt Augst: „Im Deutschen<br />
kann man es nicht zu resolut stellen.“ Warum denn nicht? Die beiden Wörter gehören<br />
für den, der sie recht versteht, zusammen wie Entschließung und entschlossen. Solche<br />
Parallelen sind viel interessanter als die oben zitierten. – Daß Reich, reich (und sogar<br />
reichen) etymologisch nicht zusammengehören, ist nicht ausgemacht, vgl.<br />
Kluge/Seebold s. vv. – Unter Ring ('Boxring' usw.) steht die Bemerkung:<br />
„Ring in dieser Bed. kann man auf den Ring mit dem Merkmal ,äußere<br />
Begrenzung‘ beziehen. Manche Informanten erklären es mit den Zuschauern, die<br />
um die Kämpfenden einen kreisförmigen Platz [Ring] schaffen. Es ist aber auch<br />
möglich, es auf die folgende Wortfamilie ringen zu beziehen ,Ort, wo man ringt‘.“<br />
Das ist teils banal, teils haltlose Spekulation, die jeder für sich anstellen mag. – Zu<br />
Rondo: „Fachleute erkennen den Zusammenhang zwischen Rondell u. Rondo u. stellen<br />
beides zu rund.“ – Fachleute? Man muß eben wissen, was ein Rondo ist, dann ist der<br />
Zusammenhang unvermeidlich; aber dann ist man vielleicht nach Augsts Maßstäben<br />
bereits ein Fachmann ... Überhaupt die „Fachleute“! Welche „Fachleute“ wissen, „dass<br />
Ranft mit Rand verwandt ist“? Es kommen doch bloß die Sprachwissenschaftler in<br />
234
Frage; die wissen aber sowieso alles, was in diesem Wörterbuch steht, und noch viel<br />
mehr. – Zu Rowdy: „Man könnte es mit rau verbinden.“ Freilich könnte man, aber<br />
gehört das in ein Wörterbuch, das doch ein wenig mehr enthalten sollte als die<br />
Augenblickseinfälle des Verfassers? – säkularisieren wird umschrieben als ,aus<br />
kirchlichem in weltlichen Besitz übergehen‘; offensichtlich falsch, da es ,überführen‘<br />
heißen muß. Das Überraschendste ist aber die Bemerkung:<br />
„Entfernt kann man es an die Wörter sakral bis Sakristei anschließen, nicht<br />
jedoch an säkular.“<br />
Warum „kann man“ nicht? Viele können es, während ihnen die genannten Anschlüsse<br />
mehr oder weniger absurd vorkommen mögen.<br />
Zu -schecke (in Eierschecke):<br />
„Die Informanten kennen das Wort nicht, so dass eine denkbare synchrone<br />
Beziehung zu I. Scheck nicht belegt werden kann.“<br />
Augst denkt sich also aus, was die Sprecher sich bei einem Wort denken würden, wenn<br />
sie es denn kennten, was aber leider nicht der Fall ist. Warum sollten solche<br />
Hirngespinste den Leser interessieren? – Zu schurigeln scheint kein Informant befragt<br />
worden zu sein; was er gegebenenfalls gesagt hätte, kann man sich denken. –<br />
Unkommentiert ist schwierig unter schwer eingereiht; wahrscheinlich weiß der<br />
Verfasser gar nicht, daß die beiden Wörter verschiedener Herkunft sind. – Bei<br />
selbst(st)ändig usw. ist immer das falsche st eingeklammert, da das Wort ja nicht aus<br />
selbst + ändig besteht. – Unter stehen vermißt man die Stendelwurz, deren Änderung<br />
zu Ständelwurz der Rechtschreibreformer Augst so energisch betrieben hat, um die<br />
volksmedizinische Bedeutung dieser Orchidee, sozusagen als Viagra des kleinen<br />
Mannes, zu Ehren zu bringen. – Die Wortfamilie um stumpf bezeichnet nicht „etwas<br />
Fehlendes“, sondern umgekehrt das, woran etwas fehlt. – Zwischen Werk und wirken<br />
soll es keinerlei Verbindung geben, und wirklich ist wieder ein anderes, ausdrücklich<br />
als „heute demotiviert“ bezeichnetes Stichwort! – züchtig und eine ganze Reihe<br />
verwandter Wörter ohne weiteres unter ziehen zu stellen scheint doch etwas gewagt.<br />
Was sagen die „Informanten“ spontan dazu?<br />
Richtig und nützlich ist es, auch die Affixe anzuführen. Aber gleich das erste Beispiel<br />
auf der ersten Seite des Wörterbuchs stürzt den Leser in tiefe Verwirrung:<br />
„a-, ab- an-, ana- /Präfix/ nicht; /oft mit der zusätzlichen Bed./: zuwiderlaufend:<br />
ahistorisch; apolitisch; asymmetrisch; abnormal; anorganisch; anachronistisch.<br />
Das Präfix verbindet sich (in geläufigen Wörtern) weniger häufig mit fremden<br />
Adjektiven u. ist kaum produktiv.<br />
Bem.: ab- ist etym. eine Variante des Negationspräfix a- (...).“<br />
Das lateinische ab- ist natürlich keine Variante des griechischen Negationspräfixes a-<br />
(vor Vokalen an-) ist. ana wiederum ist eine griechische Präposition, die überhaupt<br />
nichts mit Negation zu tun hat.<br />
Die Rechtschreibreform wurde bereits erwähnt. In einigen wenigen Fällen hat die<br />
Kultusbürokratie dem führenden Reformer Augst erlaubt, sein persönliches Konzept<br />
von „synchroner etymologischer Kompetenz“ auszuleben. Bezeichnenderweise<br />
geschieht das fast immer so, daß die veränderte Schreibung (Zierrat usw.) nunmehr als<br />
einzige zulässige gelten soll, damit die bessere Sprach- und Sachkenntnis anderer<br />
235
Sprachteilhaber keine Chance mehr hat. Ebenso verfährt Augst in seinem<br />
Familienbuch. Die ganze Wortsippe um Dichtung ('Poesie') wird ohne Umstände unter<br />
das Adjektiv dicht subsumiert. Als Rechtfertigung dient folgende Behauptung:<br />
„dichten ein sprachliches Kunstwerk (in<br />
gebundener Form) schaffen; “<br />
Die „Bemerkung“ dazu lautet:<br />
„Manche Informanten wissen, dass dichten ,ein Kunstwerk schaffen‘ etym. zu<br />
dictare gehört, sie sehen daher nicht den (neu motiv.) Zusammenhang mit dicht.“<br />
Man muß keineswegs wissen, daß dichten von dictare kommt, um sicher zu sein, daß<br />
es jedenfalls nichts mit dicht zu tun hat. (Übrigens scheinen die „Informanten“ hier<br />
nicht dieselben zu sein, die säkularisieren eher an sakral als an säkular anschließen!)<br />
Die von Augst erfundenen Schreibweisen Stängel und schnäuzen werden mit einer<br />
ebenso künstlichen Legitimation versehen, indem er sie unter Stange und Schnauze<br />
einordnet, als sei dies „heute“ selbstverständlich.<br />
Durch den Verzicht auf eigene semantische Anstrengungen werden fundamentale<br />
Fehler der Vorlagen übernommen. Betrachten wir auszugsweise den Eintrag gut. Es<br />
werden vier Bedeutungsgruppen unterschieden, ohne Andeutung einer Entwicklung.<br />
Die dritte Bedeutung soll sein:<br />
in enger freundschaftlicher Beziehung zu jmdm. stehend: ein guter Freund,<br />
Bekannter; einer freundschaftlichen, vertrauensvollen Beziehung zu jmdm.<br />
entsprechend: in guter Nachbarschaft leben<br />
Diese wortwörtlich aus dem HDG abgeschriebenen Definitionen leiden am Fehler der<br />
„konstruierten Mehrdeutigkeit“ (E. Leisi): Man projiziert die Bedeutung des<br />
Substantivs in das begleitende Adjektiv hinein. In Wirklichkeit ist guter Freund ebenso<br />
zu interpretieren wie das einer ganz anderen Gruppe zugeschlagene guter Schüler: ,ein<br />
Freund bzw. Schüler, wie er sein soll‘. In beiden Fällen ist das Attribut relational, d. h.<br />
es geht nicht additiv um ein X, das erstens Freund bzw. Schüler und zweitens gut ist.<br />
Innerhalb der Familien sind die Einzelwörter alphabetisch geordnet. Insbesondere die<br />
Präfix- und Partikelverben stehen völlig gleichförmig in langen Reihen untereinander,<br />
jeweils versehen mit der HDG-Definition. Das verdunkelt die abgestufte Motiviertheit,<br />
die für jedes Wort gesondert zu ermitteln wäre. Unter der reichen Sippe treten<br />
beispielsweise findet man den Vertreter. Natürlich kann man beim Nachdenken den<br />
Zusammenhang mit treten zweifelsfrei erschließen, aber es ist doch unverkennbar, daß<br />
man normalerweise nicht an das Verb treten denkt, wenn man hört: Vertreter von<br />
Partei und Gewerkschaft waren anwesend (S. 1505). Andererseits wird beispielsweise<br />
vermachen aus der Sippe machen herausgelöst und gesondert lemmatisiert. Das ist<br />
ebenso willkürlich.<br />
Durch die sogenannte Rechtschreibreform werden bekanntlich viele hundert Wörter<br />
aus dem deutschen Wortschatz getilgt. Augsts Versicherung, sie blieben als<br />
Phraseologismen erhalten, stimmt nur zum Teil. Und selbst wo die Wortgruppe noch<br />
erhalten bleibt, ist sie oft kaum auffindbar versteckt, z. B. fleischfressend als Fleisch<br />
fressend unter essen. Außerdem geht natürlich gerade die Wortbildungsbedeutung des<br />
Kompositums verloren und damit der Grund, warum es überhaupt zur Komposition<br />
gekommen ist.<br />
236
Das Werk ist selbst in einer neuen Rechtschreibung abgefaßt, allerdings nicht in der<br />
amtlichen. Augst sagt dazu:<br />
„Das Wörterbuch ist in der neuen Rechtschreibung abgefasst, wie sie im Oktober<br />
1996 im Bundesanzeiger veröffentlicht wurde. Die Nachbesserungen, die die<br />
'Zwischenstaatliche Kommission für deutsche Rechtschreibung' vorgeschlagen<br />
hat, sind – soweit mit dem Redaktionsschluss 31.12.1997 bekannt –<br />
berücksichtigt worden.“ (S. XXIII)<br />
Als Augst dies schrieb, wußte er schon, daß die Kultusminister die Revisionsvorschläge<br />
der Kommission, deren Vorsitzender er ist, zunächst begrüßt, dann aber mit<br />
Rücksicht auf die Verlegerlobby zurückgewiesen hatten. Er weiß aber offenbar auch,<br />
daß die Änderungen (und zahlreiche weitere) auf jeden Fall kommen werden, da sie<br />
aus sachlichen Gründen „unumgänglich notwendig“ sind, wie die Kommission in<br />
jenem Bericht festgestellt hatte. Nur deshalb kann er zuversichtlich <strong>schreiben</strong>, es seien<br />
durch jenen Bericht „Freizonen geschaffen worden“. „Geschaffen“ wird durch bloße<br />
Vorschläge natürlich nichts, aber man kann sicher sein, daß die Kultusminister ihre<br />
amtliche Regelung bald durch eine ziemlich andersartige ersetzen werden. (Das hat<br />
auch der Bundesinnenminister angedeutet, vgl. Bundestagsdrucksache 14/356, 1999.)<br />
Aufs neue wird damit deutlich, daß die zur Zeit „gültige“ Orthographie nur eine<br />
Übergangsschreibung ist, so daß es weder Zeit noch Mühe noch Kosten lohnt, sich<br />
darauf umzustellen.<br />
Von der „Freizone“, die Augst sich entgegen dem Veto der Kultusminister genehmigt,<br />
macht er zum Beispiel Gebrauch, wenn er blutsaugend wieder zusammenschreibt<br />
(unter Egel), nachdem alle Wörterbücher es nach und nach getrennt haben. Allerdings<br />
sind die meisten auseinandergerissenen Komposita vom Typ furchterregend noch nicht<br />
wiederhergestellt; anders als in der Vorlage fehlen sie einfach, obwohl ihre Existenz<br />
zum Beispiel durch leicht belegbare Steigerungsformen (am furchterregendsten usw.)<br />
zweifelsfrei feststeht. Der Lexikograph versäumt hier seine erste Pflicht: die Tatsachen<br />
zu ermitteln. jdm. feind sein kann nach Augst auch wieder klein geschrieben werden;<br />
die Linguisten haben sich umsonst aufgeregt. Der Eintrag: „jmdm. Todfeind/Todfeind,<br />
Schr. tod- feind sein“ ist allerdings kryptisch. (Schr. soll für Schreibung stehen.)<br />
Interessanterweise verwendet Augst auch das Wort Zeitlang (unter weilen), dessen<br />
Ersetzung durch Zeit lang vom amtlichen Wörterverzeichnis zwingend vorgeschrieben<br />
wird. Nach dem Muster von Zeitlang konnte man vermuten, daß die Neuregelung auch<br />
die deutschen Wörter Armvoll, Handbreit usw. auszutilgen beabsichtigt. Augst führt<br />
Handbreit an, jedoch nicht Armvoll, obwohl beide im HDG vorgegeben sind. Diese<br />
Inkonsequenz ist nicht nachvollziehbar. Mundvoll fehlt im HDG, folglich auch bei<br />
Augst. Er schreibt Fair play, wie bisher; die Neuregelung verlangt Fair Play. Obwohl<br />
die Neuregelung frittieren zwingend vorschreibt, bleibt Augst bei fritieren. Neben der<br />
erzwungenen Großschreibung aller Ordinalia kennt er auch groß geschriebene<br />
Kardinalia: das Erste von Zweien.<br />
Unter Leid findet man, wie erwartet, die Neuschreibung er tut mir Leid, weil er so<br />
krank ist; aber wenige Zeilen später auch<br />
„leid /Adj.; nicht attr./ /nur in den Wendungen/ l. sein, werden, tun“<br />
Das ist die eigenmächtige Wiederherstellung von leid tun, wie vor der Mannheimer<br />
Anhörung vorgeschlagen, aber dann doch nicht genehmigt.<br />
Für die Rechtschreibreform ergibt sich, daß zur Zeit neben der alten und der neuen<br />
237
amtlichen nun noch diese neue nichtamtliche propagiert wird, dazu kommt die vom<br />
Duden-„Praxiswörterbuch“ vorgelegte, eigenmächtig revidierte Fassung, mit der einige<br />
Ministerien und Behörden liebäugeln. Wiederum einen anderen Leitfaden mit<br />
bewußten Abweichungen von der amtlichen Regelung haben die Nachrichtenagenturen<br />
im Dezember 1998 beschlossen, und nochmals durchgreifend anders ist der<br />
Kompromißvorschlag der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung vom März<br />
1999. Die in der Wiener Absichtserklärung vom 1. Juli 1996 ins Auge gefaßte<br />
„Einheit“ der deutschen Orthographie, die es vor der Reform gab, dürfte damit auf<br />
längere Zeit zerstört sein, wofern man nicht allen Reformplänen entsagt und bei der<br />
nun wirklich bewährten, unzweifelhaft konsensfähigen bisherigen Schreibung bleibt.<br />
Bertelsmann: Die deutsche Rechtschreibung. Verfasst von Ursula Hermann, völlig<br />
neu bearbeitet und erweitert von Prof. Dr. Lutz Götze mit einem Geleitwort von Dr.<br />
Klaus Heller. Gütersloh 1999<br />
Dieses Buch hat eine Vorgeschichte. Am 1. Juli 1996 wurde in Wien die Absichtserklärung<br />
zur Rechtschreibreform unterzeichnet, und schon einen Tag später lag „Die<br />
neue deutsche Rechtschreibung“ vom Bertelsmann Lexikon Verlag in den Buchläden.<br />
Sie erwies sich als äußerst fehlerhaft; man konnte zu ihren Gunsten allenfalls anführen,<br />
daß sie in Hunderten von Fällen aus Nachlässigkeit die „alten“, objektiv besseren<br />
Schreibweisen unverändert gelassen hatte. Im Laufe der nächsten Jahre erschienen<br />
neun mehr oder weniger veränderte, zunächst nicht einmal als solche erkennbare<br />
Bearbeitungen, die sich immer mehr an den zwar verspäteten, inzwischen aber wieder<br />
zum Marktführer aufgerückten Duden anglichen. Dies konnte jedoch das Geschäft<br />
nicht merklich beleben, und so wurden im Januar 1999, unmittelbar vor dem<br />
Erscheinen der zweiten Auflage, noch schnell zehntausend Exemplare an die Schüler<br />
Schleswig-Holsteins verschenkt. Die Reformkritiker sahen darin den Versuch, das<br />
Ergebnis des Volksentscheids in diesem Bundesland zu unterlaufen und sich zugleich<br />
der Lagerbestände des schwerverkäuflichen Buchs zu entledigen.<br />
Man kann den Gang der Ereignisse am Schicksal des Wortes wiedersehen verfolgen. In<br />
der ersten Ausgabe war es zusammengeschrieben. Im Zuge der fortschreitenden<br />
Angleichung an den Duden wurde auch dessen Fehldeutung des allerdings höchst<br />
unklaren Paragraphen 34 übernommen und wieder sehen getrennt geschrieben.<br />
Inzwischen ist der Irrtum aufgeklärt, und die hier anzuzeigende Neuauflage schreibt es<br />
wieder zusammen.<br />
Wie im Duden sind nun erstmals auch Personennamen und Vornamen aufgenommen,<br />
eine richtige Entscheidung, die vielen Benutzern entgegenkommt.<br />
Der Gehorsam gegenüber den deutschen Kultusministern geht so weit, daß sogar<br />
offenkundige Versehen der Reformer sklavisch reproduziert werden. Anders als im<br />
Duden heißt es also hintenüberkippen, aber vornüber kippen – nur weil die Reformer<br />
zugestandenermaßen vergessen hatten, auch vornüber in ihre Liste zusammenzu<strong>schreiben</strong>der<br />
Partikeln aufzunehmen!<br />
Als besonders anstößige Einzelheit der Reform wird die Auflösung von sogenannt in<br />
so genannt empfunden. Götze drückt sich ein wenig um die Offenlegung dieser<br />
Absurdität, indem er für so genannt ausdrücklich zwei Akzentstellen angibt und als<br />
Beispiel nur das unverfängliche Sie wurde seit langem so genannt. Aber um diesen<br />
ebenso wie bisher geschriebenen Ausdruck geht es nicht, sondern um den Verbleib des<br />
238
Adjektivs sogenannt, das in jedem Jahrgang der F. A. Z. mehr als fünftausendmal<br />
belegt ist.<br />
Zu den bedenklichsten Eingebungen der Reformer gehört die Auseinanderreißung von<br />
Zusammensetzungen wie aufsehenerregend, nichtssagend. Ein schlagendes Gegenargument<br />
sind die Steigerungsformen, die bei Getrenntschreibung offenkundig<br />
ungrammatisch werden: höchst Aufsehen erregend, das nichts Sagendste. Die<br />
Reformer haben den Einwand nach langem Zögern anerkannt. Anläßlich der<br />
Mannheimer Anhörung im Januar 1998 erklärten sie es für „unumgänglich<br />
notwendig“, die Regeln in diesem Sinne zu ändern. Ihre Auftraggeber, die<br />
Kultusminister und der Bundesinnenminister, untersagten die Änderung jedoch.<br />
Trotzdem nehmen sich Duden und nun auch Bertelsmann die Freiheit, das<br />
grammatisch Richtige gegen die Wünsche der Kultusminister wiedereinzuführen. Das<br />
neue Wörterbuch weicht also bewußt von der allein verbindlichen amtlichen Regelung<br />
ab. Nur zum Schein wird weiterhin mit viel Rotdruck gearbeitet, als sei hier etwas neu<br />
geregelt, während in Wirklichkeit das Nebeneinander von Aufsehen erregend und<br />
aufsehenerregend genau der bisherigen Regelung entspricht. Wo das Kriterium der<br />
Steigerbarkeit, das die Reformer gern wiedereinführen würden, wenn sie es denn<br />
dürften, nicht anwendbar ist, verfährt das Wörterbuch sehr inkonsequent. So ist<br />
überraschenderweise blutsaugend wiederhergestellt, eisenverarbeitend jedoch nicht.<br />
Wie schon in früheren Ausgaben kommt es massenhaft zu Einträgen wie<br />
hochgeschätzt > hoch geschätzt, wohlbedacht > wohl bedacht, jeweils mit einem<br />
zusätzlichen Akzent auf dem zweiten Wort. Aber dann handelt es sich gar nicht um<br />
dasselbe Wort und folglich nicht um eine zulässige Neuschreibung. Ebenso unzulässig<br />
ist die Angabe, kennenlernen sei durch kennen lernen (mit zwei Akzenten) zu ersetzen.<br />
schwerbehindert und schwerbeschädigt können überraschendereweise und entgegen<br />
den eindeutigen Vorgaben der amtlichen Regelung auch wieder zusammengeschrieben<br />
werden, allerdings nur, wenn sie bedeuten „mit einem ärztlichen Attest versehen“. Das<br />
bedeuten sie freilich nie; der linkische Hinweis deutet vielmehr an, daß es sich hier<br />
wohl doch um feste Begriffe handelt, woraus eben die besondere Betonung und<br />
Zusammenschreibung folgt. Genau diesen Zusammenhang wollte die amtliche<br />
Regelung nicht anerkennen, nun ist er durch ein ähnliches Hintertürchen wieder zur<br />
Geltung gekommen wie im Duden-Praxiswörterbuch mit seinen frei erfundenen<br />
„fachsprachlichen“ Sonderschreibungen (vgl. F. A. Z. vom 14. 12. 1999). Götzes<br />
Behauptung, „fachsprachliches“ nichtleitend, nichtrostend sei von neuerdings getrenntem<br />
nicht leitend, nicht rostend (mit zwei Akzenten) zu unterscheiden, hat ebenfalls<br />
keinerlei Grundlage im amtlichen Regelwerk.<br />
Die Rechtschreibreform hat bekanntlich dazu geführt, daß die Schreibweise ganz<br />
alltäglicher Wörter unsicher geworden ist. Wie schreibt man zum Beispiel jetzt<br />
wohltuend? Die neuen Wörterbücher schwanken, das vorliegende hat den Stein der<br />
Weisen gefunden: es läßt den Eintrag einfach weg! Bei den vieldiskutierten Fällen vom<br />
Typ tiefschürfend kann sich das Wörterbuch nicht von den Vorgaben der Reform lösen,<br />
es bleibt bei Getrenntschreibung trotz der fatalen Folgen: das bei weitem tief<br />
Schürfendste ... Die unerhört schwierige neue Regel, wonach substantivische<br />
Bestandteile in mehrgliedrigen Entlehnungen aus beliebigen Fremdsprachen groß zu<br />
<strong>schreiben</strong> seien, war in der ersten Ausgabe fast gar nicht beachtet worden; es hieß<br />
Tertium comparationis, Pour le mérite wie eh und je. Das ist nun nachgeholt: Tertium<br />
Comparationis, Pour le Mérite.<br />
239
Nach mancherlei Hin und Her werden nun auch das Hohelied und der Hohepriester so<br />
geschrieben, wie die amtliche Neuregelung es fordert: das Hohe Lied, der Hohe<br />
Priester, mit der unangenehmen Folge, daß die traditionellen Formen mit unflektiertem<br />
Vorderglied (des Hohe Priesters?) überhaupt nicht mehr gebildet werden können!<br />
Die neuen Möglichkeiten der Silbentrennung werden bis zum Absurden ausgeschöpft:<br />
Schinda-cker, Buche-cker, O-cker, Obst-ruktion usw. In einem roten Kasten lehrt Götze<br />
ausdrücklich: „Die Abtrennung eines Einzelvokals ist korrekt, da nach Sprechsilben<br />
getrennt wird: Berga-horn, Berga-kademie.“ Aber niemand trennt so, am<br />
allerwenigsten die Reformer selbst. „Korrekt“ sind die sinnwidrigen Trennungen nur<br />
insofern, als die Kultusminister sie nicht als Fehler angestrichen wissen wollen, was<br />
freilich durch einfache Anweisung an die Lehrer hätte erreicht werden können. In<br />
einem höheren Sinne sind sie dennoch falsch, und ein verantwortungsvoller<br />
Deutschlehrer wird seine Schüler darauf hinweisen, daß man nicht Bi-omüll trennen<br />
sollte, denn was ist Omüll? Die Unterstellung, ein Wort wie Biomüll sei nicht als<br />
Zusammensetzung durchschaubar, ist eine Beleidigung selbst für den simpelsten<br />
Zeitgenossen. Eine Zeitlang gefiel sich die „Bertelsmann-Fraktion“ unter den<br />
Reformern darin, dem Konkurrenten die Unvollständigkeit der angegebenen<br />
Trennstellen vorzurechnen. Sogar der hessische Kultusminister Holzapfel (SPD)<br />
kritisierte den Duden und lobte (freilich mit falschen Beispielen) das Werk seines<br />
Parteifreundes Götze wegen der vollständiger angegebenen Trennstellen. Der<br />
Bertelsmannautor und Geleitwortschreiber Klaus Heller, zugleich Geschäftsführer der<br />
Rechtschreibkommission, hielt dem Duden vor, die Trennung Hämog-lobin<br />
unterschlagen zu haben. Zufällig stand sie im Bertelsmann. Aus der Neuauflage ist sie<br />
verschwunden, niemand wird ihr nachtrauern.<br />
Das Versprechen, auch die bisherige Rechtschreibung anzugeben, ist nur teilweise<br />
gehalten. Jemandem feind, todfeind, freund sein fehlen zugunsten der sprachwidrigen<br />
Neuschreibung Feind sein und so weiter. Dem neuen und grammatisch falschen Pleite<br />
gehen, Bankrott gehen wäre die herkömmliche Kleinschreibung des Adjektivs<br />
entgegenzustellen. Pan-dschab ist entgegen Götzes Vermutung nicht die herkömmliche<br />
Trennung. Da der Name auf die „fünf Ströme“ Bezug nimmt, wurde bisher Pandschab<br />
getrennt (pandsch- 'fünf' wie in Punsch, trotz Schiller, der im „Punschlied“ nur<br />
„vier Elemente, innig gesellt“ für die Rezeptur des belebenden Getränks hält). Aber<br />
wie schon in der ersten Ausgabe hält der Herausgeber es nicht für nötig, sich über die<br />
herkömmliche Rechtschreibung genauer zu informieren. Es stimmt ja gar nicht, daß<br />
Kaffeeersatz bisher ohne Bindestrich geschrieben wurde und erst durch die Reform mit<br />
einem solchen versehen werden darf (das Wörterverzeichnis weiß es übrigens besser<br />
als Götzes Erläuterungen zum Regelwerk). Scharm, scharmant sind keineswegs<br />
Neuschreibungen, sondern uralte Eindeutschungsversuche, die sich allerdings nicht<br />
durchgesetzt haben. Die Vereindeutigung von Druckerzeugnis (Druck-erzeugnis,<br />
Drucker-zeugnis) durch Bindestriche gehört ebenfalls zum Fundus der bisherigen<br />
Rechtschreibung und ist keine Neuerung, wie Götze behauptet.<br />
Der Bearbeiter rühmt die „Konsequenz“, mit der die Reform französische Wörter wie<br />
Exposé zu Exposee eindeutsche. Aber Abbé, Attaché und viele andere Wörter bleiben<br />
ausgespart, so daß es mit der Konsequenz nicht weit her ist.<br />
In den roten Kästen sind auch krasse Fehler der ersten Ausgabe stehengeblieben. So<br />
heißt es zu selbständig/selbstständig: „Die bisherige Regelung – Tilgung des zweiten<br />
-st- – wird aufgehoben.“ Hier ist nie etwas getilgt worden, sondern selbstständig ist<br />
240
eine jüngere Bildung vom neuen Stamm selbst- anstelle des älteren selb-, und das<br />
Ganze hat mit Rechtschreibung überhaupt nichts zu tun.<br />
Wahrig: Deutsches Wörterbuch. 7., vollständig neu bearb. u. aktualisierte Auflage<br />
auf der Grundlage der neuen amtlichen Rechtschreibregeln. Gütersloh/München 2000<br />
Mit besonderem Interesse nimmt man ein Wörterbuch zur Hand, das sich nicht nur auf<br />
die amtliche Neuregelung der deutschen Orthographie beruft, sondern – laut Vorwort<br />
und Benutzungshinweisen – auch auf anderweitig nicht zugängliche „Absprachen“ und<br />
„Empfehlungen“ der Zwischenstaatlichen Kommission für deutsche Rechtschreibung.<br />
Wie sich schon nach dem Erscheinen der zweiten Auflage des Bertelsmann-<br />
Rechtschreibwörterbuchs (April 1999) absehen ließ, betrifft eine der wichtigsten<br />
vorgesehenen Korrekturen die neue Getrennt- und Zusammenschreibung: Während die<br />
Neuregelung vorschreibt, die Zusammensetzungen vom Typ aufsehenerregend in<br />
Wortgruppen (Aufsehen erregend) aufzulösen, führen die neuesten Wörterbücher auch<br />
die zusammengesetzten Adjektive wieder ein und <strong>schreiben</strong> sie im Falle von<br />
Steigerung und Erweiterung (noch aufsehenerregender, höchst aufsehenerregend)<br />
sogar zwingend vor. Genau dieses grammatische Argument hatten die Reformgegner<br />
immer gegen die Neuregelung ins Feld geführt; nun steht es unter jedem einschlägigen<br />
Stichwort. (Die Angabe aus den Benutzungshinweisen, Aufsehen erregend und<br />
aufsehenerregend seien „gleichwertige Varianten“, trifft also keineswegs zu.) Die<br />
Einträge sind zwar immer noch mangelhaft, weil es widersinnig ist, zu den erweiterten<br />
oder gesteigerten Formen keinen entsprechenden nichterweiterten Positiv zuzulassen,<br />
aber im übrigen ist nunmehr genau der alte Zustand wiederhergestellt, so daß der<br />
Rotdruck (für „Neuschreibung“) nicht mehr gerechtfertigt ist.<br />
Unverständlich ist allerdings, daß nicht nur die Zusammensetzungen, sondern auch die<br />
Wortgruppen Aufsehen erregend, Glück bringend usw. als „Adjektive“ bezeichnet<br />
werden; erstens gehören Wortgruppen keiner Wortart an, und zweitens handelt es sich<br />
ja bei den Partizipien, wie schon die Akkusativrektion zeigt, um Verbformen. Ein<br />
ähnliches Zurückbleiben der Wortartzuweisung hinter den orthographischen<br />
Gewaltakten beobachtet man auch sonst: in heute Abend usw. soll Abend neuerdings<br />
groß geschrieben werden, weil es nach Ansicht der Reformer ein Substantiv ist; laut<br />
Wahrig bleibt es jedoch „Adverb“. „Adverb“ bleiben auch Leid (in Leid tun), Not (Not<br />
tun), und um „Adjektive“ handelt es sich bei jemandem Feind sein, Bankrott/Pleite<br />
gehen selbst nach Einführung der allerdings grammatisch falschen Großschreibung<br />
durch die irregeleiteten Reformer. Man findet also Leid tun nur unter dem Stichwort<br />
leid, nicht (zumindest auch) unter Leid. All dies muß den unbefangenen Benutzer vor<br />
den Kopf stoßen, zumal auch das beigefügte „Lexikon der deutschen Sprachlehre“<br />
keine Erklärung der sonderbaren Widersprüche liefert.<br />
A propos Feind: den vielbelachten Spinnefeind erspart uns das Wörterbuch, es bleibt,<br />
wie der führende Reformer Gerhard Augst bereits früher „angeboten“ hatte, bei<br />
spinnefeind; das Adjektiv todfeind fehlt allerdings ganz – bei einem Wörterbuch dieses<br />
Umfangs immerhin merkwürdig.<br />
Bei Not leidend hätte ich mir Auskunft gewünscht, ob man tatsächlich <strong>schreiben</strong> soll:<br />
Die Kredite wurden Not leidend. Grammatisch ist das falsch, und dies war der dritte,<br />
von der Kommission bisher nicht verstandene Grund, den die Kritiker gegen die<br />
obligatorische Auflösung der Komposita geltend gemacht hatten. Ganz ist der<br />
241
gewaltsame Eingriff in diesen Bereich noch nicht überwunden, was sich an zahlreichen<br />
Fehlern wie Blut reinigend zeigt. Zu den Pointen der Neuregelung gehört ja gerade,<br />
daß Blut saugend getrennt geschrieben werden muß (die Zecke saugt Blut), während<br />
blutreinigend erhalten bleibt (nicht: der Tee reinigt Blut). fleischfressend und<br />
insektenfressend hat man brav aufgelöst (Fleisch fressend, Insekten fressend), aber<br />
unter dem jeweils anderen Stichwort sowie unter karnivor ist die Auflösung vergessen.<br />
Dieser Fehler durchzieht das ganze Werk. Bei Angina Pectoris ist die verordnete<br />
Großschreibung hergestellt, unter den Synonymen (Herzbräune, Stenokardie usw.)<br />
heißt es weiterhin Angina pectoris.<br />
Das Schlüsselwort wiedersehen ist erwartungsgemäß wiederhergestellt, nachdem in<br />
Millionen neuer Wörterbücher (im Anschluß an den Duden von 1996) seine<br />
Beseitigung aufgrund einer mißverstandenen Reformregel dokumentiert worden war.<br />
In zahlreichen anderen Fällen (wiederaufbereiten, wiederaufrichten, wiedergutmachen<br />
usw.) hat sich die bessere Einsicht noch nicht durchgesetzt. Unter Zeitlang findet man<br />
die Angabe, dies könne „auch“ Zeit lang geschrieben werden. Das amtliche Regelwerk<br />
kennt nur noch die Getrenntschreibung.<br />
Unter den Zusammensetzungen mit hoch und wohl herrscht reine Willkür. Es genüge<br />
hier der Hinweis auf das Nebeneinander von hochgelehrt und hoch gebildet,<br />
wohlgesinnt und wohl schmeckend, wohlgeneigt und wohl gelitten. gleich bedeutend<br />
ist im Gegensatz zu gleich lautend nicht aus den neuen Regeln zu begründen, denn<br />
man kann zwar sagen, daß zwei Wörter gleich lauten, nicht aber, daß sie gleich<br />
bedeuten. schwerbehindert ist ebenso wie schwerbeschädigt ohne Wenn und Aber<br />
wiederhergestellt, obwohl das amtliche Wörterverzeichnis ebenso kategorisch schwer<br />
behindert vorschreibt. Nirgendwo ist die entschlossene Abweichung von der amtlichen<br />
Neuregelung greifbarer.<br />
Der Versuch, einige Schnitzer der Reform gleichsam auf kaltem Wege zu bereinigen,<br />
macht merkwürdigerweise vor ausgesprochenen Versehen halt. Daß es hintenüberkippen,<br />
aber vornüber kippen heißen soll, braucht man nicht getreulich zu reproduzieren,<br />
denn die Reformer sind längst bereit, ihre lückenhafte Liste zusammenzu<strong>schreiben</strong>der<br />
Partikeln zu ergänzen. Auch die Unterscheidung von darin sitzen und drinsitzen (und<br />
weiteren Fällen dieser Art) hat nie eingeleuchtet. Die Schreibweise Eurythmie ist,<br />
nachdem die Reformer sich im Herbst 1995 von Rytmus trennen mußten, keine neue<br />
Variante mehr, sondern nurmehr eine anthroposophische Marotte, wie bisher. Wenn<br />
zwei sich streiten, freut sich der Dritte – hier ist die Großschreibung durchaus nicht<br />
neu. Wie oft muß man noch wiederholen, daß selbstständig keine Schreibvariante zu<br />
selbständig ist, sondern ein anders gebildetes Wort, dessen Verwendung mit<br />
Rechtschreibung und Rechtschreibreform überhaupt nichts zu tun hat? Gräkum ist laut<br />
Neuregelung nicht mehr zulässig, nur Graecum. Unter Crêpe findet man einen Verweis<br />
auf Krepp, der jedoch ins Leere führt – zum Glück, möchte man fast sagen, denn der<br />
Edelpfannkuchen verträgt die an Klopapier erinnernde Eindeutschung denkbar<br />
schlecht. Immerhin: Während die amtliche Regelung ausdrücklich vorsieht: Onestep,<br />
Twostepp, hat Wahrig vereinheitlicht: Onestepp. Sinnvoll oder gar notwendig war die<br />
Eindeutschung natürlich ohnehin nicht.<br />
Im Zeitalter der automatischen Silbentrennung war es sehr überraschend, daß die<br />
Reformer zahlreiche „Erleichterungen“ für Anfänger und Wenigschreiber einführen zu<br />
müssen glaubten, als wenn der mühsam vor sich hin syllabierende Grundschüler den<br />
Maßstab für eine doch eher drucktechnische Angelegenheit abgeben könne. Erst der<br />
242
kulturrevolutionäre Eifer zu Beginn der neuesten Reformbewegung hatte die<br />
Silbentrennung zum wichtigen Programmpunkt erhoben: Die sogenannten<br />
„Gebildeten“ sollten ihre Überlegenheit nicht mehr durch morphologisch korrekte<br />
Trennung von Pädagoge oder Psychiater zur Schau stellen können. Während der<br />
Duden früher (und der Ost-Duden bis fast zuletzt) überhaupt keine Silbentrennung<br />
angab, überbieten sich die neuen Wörterbücher in der Anführung von immer<br />
absurderen Trennstellen, und dies ist es auch, was den Umfang des Rotgedruckten so<br />
enorm wachsen läßt. Allein die vielen Zusammensetzungen mit hinein oder über, die<br />
jetzt jeweils eine Variante hi-nein bzw. ü-ber bekommen, führen zu mehreren<br />
rotgesprenkelten Seiten. Von den neuen Trennstellen hat sich die nach einem einzelnen<br />
Vokalbuchstaben überhaupt nicht durchgesetzt. In einem Wörterbuch, das nicht einmal<br />
als eigentliches Rechtschreibwörterbuch auftritt, braucht man solchen Unfug also gar<br />
nicht anzuführen. Niemand trennt ja No I-ron, Lötrohra-nalyse usw. Wer Buche-cker,<br />
Bleia-sche, Glaso-fen, Blütendi-agramm, Breake-ven, De-ospray trennt, macht sich<br />
einfach lächerlich. Im übrigen entwirft das Wörterbuch ein ziemlich inkonsistentes<br />
Bild des Benutzers. So soll er ausdrücklich imstande sein, Prospermie oder<br />
intransigent richtig zu zerlegen, aber bei E-kloge, e-klektisch, O-blate soll er diese<br />
törichten Zerlegungen für möglich halten. Trennungen wie Pneu-mektomie brandmarken<br />
den Laien; er sollte wenigstens davor gewarnt werden. Immerhin wird Hämoglobin<br />
wieder organisch getrennt, nachdem der Geschäftsführer der Rechtschreibkommission<br />
und Bertelsmannautor Klaus Heller noch vor kurzem die Konkurrenz<br />
getadelt hatte, weil sie anders als Bertelsmann die Trennung Hämog-lobin nicht<br />
verzeichnete. Auch von A-nas-tig-mat (Bertelsmann) hat man wieder Abstand<br />
genommen. Aber der Rest ist schlimm genug: Bläu-epilz, Ge-odreieck, Gli-azelle,<br />
Foli-oformat! Was sind denn diese Epilze, Odreiecke, Azellen und Oformate? Der<br />
Mediziner weiß, was Kak-idrose ist; warum sollte er seiner Schreibkraft, die es<br />
vielleicht nicht weiß, entgegenkommen und ihr die Trennung Kaki-drose durchgehen<br />
lassen? Der Leser interessiert sich für das, was der Fachmann sagt, nicht für den<br />
Wissensstand der Schreibkraft.<br />
DUDEN: Das große Wörterbuch der deutschen Sprache in zehn Bänden. 3., völlig<br />
neu bearbeitete und erweiterte Auflage. Mannheim u. a. 1999<br />
Die Neubearbeitung dieses Werkes ist „in neuer Rechtschreibung verfasst“. Obwohl es<br />
sich keineswegs um die amtliche Neuregelung handelt, war die Rechtschreibreform<br />
der einzige Grund, warum das Werk sofort nach dem Abschluß der zweiten Auflage<br />
völlig umgearbeitet werden mußte.<br />
Die zwischenstaatliche Rechtschreibkommission war bekanntlich schon im Dezember<br />
1997, also lange vor dem Inkrafttreten der Reform, zu der Einsicht gelangt, daß<br />
wesentliche Korrekturen an der Vorlage „unumgänglich notwendig“ seien. Da die<br />
Kultusminister, besonders aber das Bundesinnenministerium jedoch darauf bestanden,<br />
die Reform ohne jede Änderung in Kraft zu setzen, gerieten die Reformer in eine<br />
peinliche und die Wörterbuchverlage in eine geradezu existenzgefährdende Lage. Es<br />
sprach sich nämlich herum, daß die Reform keinesfalls Bestand haben werde;<br />
Hausorthographien der Zeitungsverlage und Nachrichtenagenturen sprossen aus dem<br />
Boden, und der gesamte Wörterbuchmarkt bis hin zu den Enzyklopädien brach nach<br />
der kurzen Blüte des Jahres 1996 nahezu völlig zusammen. Das Haus Duden hatte<br />
jedoch beschlossen, gleichsam alles an die Front zu werfen, das heißt sämtliche<br />
243
Verlagsprodukte so schnell wie möglich auf die Neuschreibung umzustellen und sogar<br />
jede Erinnerung an die immerhin auch für die Schulen noch bis 2005 gültige und in der<br />
Literatur weiterhin fast ausschließlich gebrauchte Orthographie auszulöschen. Als<br />
einzige lassen daher die Dudenbücher nicht mehr erkennen, wie bisher geschrieben<br />
wurde und in der seriösen Literatur weiterhin geschrieben wird.<br />
Hinter den Kulissen ging allerdings die Reform der Reform ihren Gang. Die<br />
Rechtschreibkommission lud ihre Freunde und Geschäftspartner zu zehn exklusiven<br />
Gesprächsrunden ein und teilte ihnen mit, wie die neuen Regeln auszulegen und<br />
welche Veränderungen in der nächsten Zukunft zu erwarten seien. Nur aus den zuletzt<br />
erschienenen Neubearbeitungen der Bertelsmann-Rechtschreibung, des Bertelsmann-<br />
Wahrig und eben des Großen Wörterbuchs von Duden können andere Interessierte<br />
(auch potentielle Mitbewerber auf dem Wörterbuchmarkt) erfahren, was die<br />
Kommission plant.<br />
So sah man bereits im neuen Bertelsmann-Wahrig, daß schwerbehindert und ähnliche<br />
Wörter – entgegen dem klaren Wortlaut der amtlichen Regelung – wieder zusammengeschrieben<br />
werden. Auch eine lange Reihe von Wörtern wie aufsehenerregend<br />
wurde wiederhergestellt, nach Bertelsmann-Wahrig wenigstens im Falle der Steigerung<br />
(womit solche Monstrositäten wie noch Aufsehen erregender, am Aufsehen<br />
erregendsten vermieden werden), nach dem vorliegenden Wörterbuch ohne jedes<br />
Wenn und Aber. Hatte der Rechtschreibduden vielsagend und vielversprechend<br />
aufgelöst, so wollte der neue Bertelsmann-Wahrig sie „auch“ wiederzulassen; Dudens<br />
Großes Wörterbuch kennt schon gar nichts anderes mehr. Dasselbe gilt für<br />
blutsaugend und blutbildend, die jetzt wieder genauso geschrieben werden wie<br />
blutreinigend und blutstillend, nämlich zusammen. Das sind erhebliche Abweichungen<br />
von der amtlichen Vorlage. Irgendwann werden die Kultusminister sich zu dieser auf<br />
kaltem Wege durchgeführten Reform der Reform bekennen müssen, denn die<br />
Diskrepanz muß den Lehrern und anderen professionell mit Rechtschreibkorrektur<br />
Befaßten allmählich störend auffallen.<br />
Der Rechtschreibduden brachte in vielen Millionen Bänden die Fehldeutung unters<br />
Volk, wiedersehen und ein Dutzend ähnliche Wörter müßten nach der Neuregelung<br />
getrennt geschrieben werden. Das Große Wörterbuch stellt natürlich fast alle diese<br />
Verben wieder her. Nur wiederaufnehmen, wiedereinführen, wiederherrichten und ein<br />
paar andere sind aus unerfindlichen Gründen noch nicht wiederhergestellt; aber das ist<br />
sicher nur eine Frage der Zeit. Immerhin ahnt man, warum der Rechtschreibduden<br />
nicht längst in einer korrigierten Neuauflage erschienen ist: Millionen Käufer der<br />
ersten Auflage würden alsbald merken, daß sie vom orthographischen Leitwörterbuch<br />
eine untaugliche Version, sozusagen einen Fehldruck erworben haben. Was dagegen in<br />
den Tiefen eines wenig verbreiteten zehnbändigen Werkes verborgen ist, fällt bei<br />
weitem nicht so auf.<br />
Zu den Wörtern, die nach der Reform besonders uneinheitliche Darstellungen in den<br />
Wörterbüchern gefunden haben, gehören die Zusammensetzungen mit wohl-. Die<br />
Rechtschreibkommission hat es sich daher besonders angelegen sein lassen, die<br />
Wörterbuchverlage auf eine einheitliche Linie zu verpflichten. In der Tat sind die<br />
Abweichungen zwischen dem neuen Bertelsmann-Wahrig und dem vorliegenden<br />
Wörterbuch geringer geworden. Ganz verschwunden sind sie nicht. Schwer zu<br />
verstehen ist, warum die Redaktion nun anders als noch beim reformierten<br />
Rechtschreibduden die Getrenntschreibungen wohl riechend, wohl schmeckend<br />
244
eingeführt hat. Aus der Darstellung ergibt sich, daß die Bearbeiter folgende<br />
Steigerungsformen annehmen: wohl schmeckend, besser schmeckend, bestschmeckend.<br />
Das ist abwegig. besser riechend, besser schmeckend sind Komparative von gut<br />
riechend, gut schmeckend. Im Rechtschreibduden finden wir ganz richtig:<br />
wohlriechend: noch wohlriechendere Blumen; wohlschmeckend: die<br />
wohlschmeckendsten Speisen. Band 9 des Großen Duden („Richtiges und gutes<br />
Deutsch“) lehrt auch nach der Reform noch: „Die Vergleichsformen lauten<br />
wohlschmeckender, wohlschmeckendste.“ Es fällt auf, daß das neue Wörterbuch diese<br />
geläufigen Vergleichsformen gar nicht mehr anführt; in den vom Vorwort erwähnten<br />
„mehreren Millionen Belegen“ sowie „umfangreichen elektronischen Textkorpora“<br />
scheinen sie nicht ein einziges Mal vorzukommen. Übrigens muß das wohlriechende<br />
Veilchen nicht nur zum wohl riechenden werden, sondern, da botanische Namen groß<br />
zu <strong>schreiben</strong> sind, zum Wohl riechenden Veilchen. Das wird nicht nur die Botaniker<br />
begeistern. Zur Botanik noch eine kleine Überraschung: Die Neuschreibung<br />
Ständelwurz für die als potenzsteigernd geltende Stendelwurz ist – Ständer hin,<br />
Ständer her – einfach wieder gestrichen.<br />
Gegen die eindeutschenden Schreibweisen Typografie und Topografie wäre eigentlich<br />
wenig einzuwenden, wenn man einmal von der allzu feinsinnigen, obgleich<br />
folgenlosen Unterscheidung absieht, daß nach der amtlichen Regelung jenes<br />
„Hauptvariante“, dieses „Nebenvariante“ sein soll. Überraschenderweise wird nun<br />
beides zurückgenommen; es heißt Typographie und Topographie, basta.<br />
Wörter wie schwerbehindert, schwerbeschädigt sind wiederhergestellt, und zwar unter<br />
dem Vorwand, sie seien „Amtsspr.“. Allerdings soll es weiterhin schwer<br />
kriegsbeschädigt heißen, und in allen diesen Fällen kommt es bei Substantivierung<br />
unerklärterweise zur Zusammenschreibung: der Schwerkriegsbeschädigte; schwer<br />
krank, der Schwerkranke usw. Der Trick, eine Schreibung als „amtssprachlich“ zu<br />
erklären und damit der Reform zu entziehen (weil Fachsprachen grundsätzlich der<br />
Reform nicht unterworfen sind), überzeugt ohnehin nicht. So ist der Ausdruck<br />
Rechtens sein gesetzes- und rechtssprachlich wie nur irgendeiner; gleichwohl soll er<br />
nur noch klein geschrieben werden. Apropos: Die Kleinschreibung hungers [sterben],<br />
ein vielgerühmtes Glanzstück der Reform, ist gestrichen, es heißt wie bisher Hungers<br />
sterben. Schon der neue Bertelsmann-Wahrig hatte keinen eigenen Eintrag hungers,<br />
sondern brachte die Neuschreibung nur beiläufig beim Substantiv Hunger unter.<br />
Die bisherige Rechtschreibung wird zwar tunlichst totgeschwiegen, aber insgeheim<br />
wirkt sie doch noch fort. Sonst wäre nämlich gar nicht zu verstehen, warum die<br />
Einträge der Wortgruppen wohl riechend usw. genau dort eingeordnet sind, wo zuvor<br />
die unzerhackten Wörter standen. Das heißt, man weiß ganz genau, daß der Benutzer<br />
diese Einheiten des deutschen Wortschatzes zu finden erwartet. Irgendwie scheinen sie<br />
doch noch zu existieren.<br />
Nun zu einem besonders betrüblichen Kapitel. Wie erwähnt, beruft sich das<br />
Wörterbuch auf „authentisches Quellenmaterial“. „Es wertet mehrere Millionen Belege<br />
aus der Sprachkartei der Dudenredaktion sowie umfangreiche elektronische<br />
Textkorpora aus.“ Der Sinn der Belege war schon in der vorigen Auflage unklar. Unter<br />
Violine steht zum Beispiel: „Ein Mann mit einer V. stellte sich am Rande des<br />
Bürgersteigs auf und begann zu spielen (Remarque, Triomphe 156)“. Was erfährt man<br />
daraus? Der Nachweis, daß es dieses Wort gibt, ist überflüssig. Um einen Erstbeleg<br />
handelt es sich natürlich nicht, und besondere Kollokationen werden auch nicht<br />
245
dargeboten. Unter Beiträger liest man: „Selbstverständlich unerwähnt blieb jedoch,<br />
dass der herausragende US-B. wegen Mordes und fortgesetzten Wahnsinns nicht weit<br />
von Oxford entfernt in einem Irrenhaus einsaß.“ Ist das für Beiträger typisch, und was<br />
ist überhaupt ein „US-Beiträger“? Derart sinnlose Zeilenschinderei mit unspezifischen<br />
Beispielen bläht das Werk nur unnötig auf.<br />
In der Neubearbeitung kommt jedoch noch etwas Neues, Unerhörtes hinzu. Das<br />
„authentische Quellenmaterial“ wird keineswegs in seiner authentischen Form<br />
angeführt, sondern nach den Maßgaben der Rechtschreibreform umgeschrieben. Dabei<br />
geht die Redaktion weit über die Änderung von ß in ss hinaus; sie greift in die<br />
Grammatik und Semantik der Texte ein. Zu wohlbehütet hieß es im Achtbänder: „Sie<br />
hatte eine wohlbehütete Kindheit genossen (Jaeger, Freudenhaus 171)“. Die<br />
Neuauflage bringt dieselbe Stelle als Beleg für getrennt geschriebenes wohl behütet:<br />
„Sie hatte eine wohl behütete Kindheit genossen (Jaeger, Freudenhaus 171)“. Zu<br />
wohldurchdacht: „bald wurde deutlich, daß er eine wohldurchdachte Konzeption<br />
vortrug (Heym, Schwarzenberg 39)“. Neuauflage: eine wohl durchdachte Konzeption.<br />
Nicht einmal dem Altbundespräsidenten nutzt es etwas, daß er geschrieben hat: „ein<br />
Verständnis von Kultur, das uns aus der deutschen Geistesgeschichte wohlvertraut ist<br />
(R. v. Weizsäcker, Deutschland 104)“. Sein eindeutiger Text muß in der Neuauflage als<br />
Beleg für zweideutiges wohl vertraut herhalten.<br />
Hans Magnus Enzensberger, der die deutsche Sprache doch wahrhaftig beherrscht wie<br />
nur irgend jemand, soll geschrieben haben: Die Passage ist zu nichts sagend (!), um<br />
hier zitiert zu werden. Anna Seghers schrieb von blaugewürfeltem Wachstuch, Thomas<br />
Mann von tiefliegenden Augen, Hans Hellmut Kirst von gutgewachsenen Beinen,<br />
Gerhart Hauptmann von einer schwarzgeränderten Anzeige, Arnold Zweig von<br />
hochgestellten Vorgesetzten, Heinrich Böll von halbgeöffneten Lidern; unser<br />
Wörterbuch weiß es besser: blau gewürfelt, tief liegend, gut gewachsen, schwarz<br />
gerändert, hoch gestellt, halb geöffnet muß es nach dem Willen der Kultusminister<br />
heißen, und so wird es zitiert. Aus ebensowenig (Enzensberger) wird ebenso wenig, aus<br />
kennengelernt (Jens) kennen gelernt, aus fertiggestellt und selbstgestellte Fragen (G.<br />
Vesper) fertig gestellt, selbst gestellte Fragen. Der Benutzer muß aus den „Belegen“<br />
schließen, daß die verordnete Getrenntschreibung in der deutschen Literatur<br />
wohlbegründet sei – eine geradezu orwellsche Verfälschung der Wirklichkeit.<br />
Das Verfahren betrifft noch andere Gebiete der Sprache. Wer sich kundig machen will,<br />
ob die volksetymologische Neuschreibung Zierrat (mit Anlehnung an Rat) literarisch<br />
belegbar ist, stößt neben Christoph Ransmayr auf Max Frisch, der – als gelernter<br />
Architekt! – diese ignorante Schreibweise benutzt haben soll. In der vorigen Auflage<br />
waren jedoch beide Stellen als Belege für die unter Gebildeten übliche Schreibweise<br />
Zierat angeführt. Hermann Broch werden die Gämsen untergeschoben. Anna Seghers<br />
soll einbläuen geschrieben haben, wie die „Anfänger und Wenigschreiber“, denen der<br />
Reformer Augst mit diesen nunmehr obligatorischen Neuschreibungen zu Hilfe<br />
kommen wollte. Statt mit Hilfe sollen Manfred Hausmann 1932 und alle Zeitungen<br />
ohnehin seit eh und je mithilfe geschrieben haben, der „Spiegel“ gar Tipp im Jahre<br />
1966; es stimmt aber alles nicht. Horst Stern schrieb substantielle Nahrung, daraus<br />
wird substanziell. „Die Unvermeidlichkeit des Bestehenden hatte ihr angst gemacht<br />
(Chr. Wolf, Nachdenken 92)“. Neuauflage: hatte ihr Angst gemacht - der Unterschied<br />
ist deutlich spürbar. Christa Wolf schreibt auch dutzendmal, zitiert wird Dutzend Mal.<br />
Hochhuth: aufs tiefste beschämt, Duden: aufs Tiefste beschämt. Es macht einen<br />
246
Unterschied, ob Handke und Ransmayr wirklich im Voraus geschrieben haben, wie<br />
man jetzt lesen muß, oder im voraus, wie es in der vorigen Auflage stand und<br />
allgemein üblich ist. Remarque, Marion Dönhoff, der Germanist Bausinger und alle<br />
anderen schrieben selbständig, doch Duden macht daraus selbstständig – nicht nur eine<br />
andere Schreibung, sondern ein anderes, recht kakophones Wort, von dem fast sicher<br />
ist, daß die betroffen Autoren es nicht verwendet hätten. Die törichte Neuschreibung<br />
im Wesentlichen wird der Zeitschrift „Natur“ von 1991 untergeschoben, das nicht<br />
minder törichte des Weiteren Patrick Süskind: dass man ihn des Weiteren nicht<br />
belästigte. Marion Gräfin Dönhoff schreibt angeblich im Klaren sein und der so<br />
genannte Leihwagen-Prozess, Thomas Mann des Öfteren, Willy Brandt unter der<br />
Hand – alles frei erfunden. Edgar Hilsenrath soll geschrieben haben: Er hat den armen<br />
Kerl so windelweich gehauen, dass er mir fast Leid getan hat! Hier hört der Spaß<br />
endgültig auf, da Leid tun grammatisch falsch ist (vgl. so Leid es mir tut) und es nicht<br />
hingenommen werden kann, daß seriösen Schriftstellern grammatische Schnitzer<br />
angedichtet werden. Remarque und Süskind müssen sich nachsagen lassen, sie hätten<br />
Recht, der Marquis hatte Recht geschrieben zu haben, was ebenfalls nicht stimmt.<br />
Bei Franz Werfel findet sich die fleischgewordene Bitterkeit, wozu die vorige Auflage<br />
des Wörterbuchs ausdrücklich vermerkte, daß es sich um ein Adjektiv handele. Diese<br />
Angabe ist nun gestrichen, das „authentische“ Zitat umgeschrieben (Fleisch<br />
gewordene Bitterkeit) und unter das Substantiv Fleisch gestellt. Der Beleg von Annette<br />
Kolb: daß Währingers einen Bücherschrank ihr eigen nannten stand in der vorigen<br />
Auflage unter dem Adjektiv eigen, jetzt ist er umgeschrieben und soll das Substantiv<br />
Eigen belegen! Botho Strauß kann auch kein Deutsch: Wären sie nicht Feind mit aller<br />
Welt. In Wirklichkeit hat er natürlich feind geschrieben. Die Wendung jdm. Feind sein,<br />
die es nicht gibt, wird als „veraltend“ gekennzeichnet, das Adjektiv feind aber, das es<br />
gibt, soll es nie gegeben haben. Entsprechend steht es mit jdm. freund sein; es ist<br />
mitsamt dem früheren Beleg getilgt, und an seine Stelle tritt ein unbelegtes Freund<br />
sein.<br />
Auch wo es „nur“ um die Schreibweise geht, sind die Eingriffe durchaus nicht<br />
gleichgültig, sie verändern gleichsam das Gesicht eines Textes. Botho Strauß schreibt<br />
Phantast, die Neuauflage zitiert in der Form Fantast. Ob Strauß damit einverstanden<br />
wäre? Oder Joachim Fest mit deplatziert, wo er deplaciert hatte? Es ist schwer<br />
vorstellbar. Luis Trenker schrieb Wächte, Duden weiß es wiederum besser: Wechte<br />
hätte er <strong>schreiben</strong> müssen. Bei Barbara Frischmuth föhnt jemand das Haar; die vorige<br />
Ausgabe des Wörterbuchs hatte noch fönt. Jeder Beleg mit überschwenglich ist in<br />
überschwänglich geändert. Da die Handvoll nicht mehr existiert, heißt es jetzt bei<br />
Erich Loest tatsächlich eine Hand voll Häuser auf einem Wiesenteller, wie ich es vor<br />
Jahren mit Schaudern vorausgesagt hatte. Angeblich wurde schon vor dreißig Jahren<br />
regelmäßig rau, so genannt und 15-jährig geschrieben, so daß dies gar keine Neuerungen<br />
der Reform wären. Sämtliche Schriftsteller von Jean Paul über Kirst und Kreuder<br />
bis in die Gegenwart haben laut Duden immer nur schnäuzen geschrieben! Die<br />
Frommsche Wohnungstür (Fallada) wird zur frommschen und die Kuhschen Töchter<br />
(Fontane) werden zu kuhschen. Wenn in einem einzigen Satz von Reich-Ranicki drei<br />
Änderungen vorgenommen worden sind (darunter die Ersetzung von in Frage durch<br />
infrage), so ändert sich der Gesamteindruck schon in einem Maße, mit dem der<br />
Verfasser vielleicht nicht einverstanden gewesen wäre.<br />
Unerwünschte Belege, die in der achtbändigen Ausgabe des Wörterbuchs angeführt<br />
247
waren, werden in vielen Fällen kurzerhand gestrichen. Zum Beispiel hieß es unter<br />
wohlbedacht: „Wohlbedacht leitete er aus diesem Grunde mit einem Vorbericht des<br />
Verfassers die Erzählung ein (NJW 19, 1984, 1093).“ Das Wort ist jetzt getilgt und mit<br />
ihm der Beleg, ebenso die Belege zu wohlbegründet, wohlüberlegt und<br />
wohlschmeckend: „die Salzwasserforellen erwiesen sich als sehr wohlschmeckend<br />
(NNN 11.11.85)“. Hier hat die Redaktion offenbar nicht gewagt, in sehr wohl<br />
schmeckend zu ändern. Die Neuschreibung behände erinnert so penetrant an die<br />
Hände, daß bisherige Belege für behende wirklich nicht dazu passen: was sein<br />
behendes Kopfrechnen betraf (Th. Mann) usw.; sie sind allesamt gestrichen. – Bisher<br />
wurde voll mit zahlreichen Verben verbunden, und die vorige Auflage hatte Dutzende<br />
von Belegen mit vollkotzen, vollsaugen, vollstellen usw. Sie sind verschwunden.<br />
Korpus hin, Korpus her – wenn die Kultusminister anordnen, daß es solche Wörter<br />
nicht mehr gibt, dann haben sie auch in der Vergangenheit nie existiert; Duden beweist<br />
es durch Auswertung seines „authentischen Quellenmaterials“. Besonders schlimm hat<br />
es die sogenannten trennbaren Verben mit aneinander, aufeinander, auseinander usw.<br />
getroffen. Betrachten wir ein Beispiel: In der vorigen Auflage waren rund 40 Verben<br />
mit auseinander- angeführt und durch rund 65 Belege erläutert. Sie sind mitsamt den<br />
Belegen gestrichen. Das Millionenkorpus scheint überhaupt keine Beispiele für<br />
auseinandersetzen usw. zu enthalten. Es gibt zwar alle diese Verbzusatzkonstruktionen<br />
noch mit Getrenntschreibung, aber sie lassen sich, wenn man der Dudenredaktion<br />
glaubt, durch kein einziges Zitat belegen. Ebenso wurde mit aneinander, aufeinander,<br />
zueinander usw. verfahren, so daß insgesamt Hunderte von unliebsamen Belegstellen<br />
verleugnet werden. Der Vorsatz des Werkes, „die deutsche Sprache in ihrer ganzen<br />
Vielschichtigkeit zu dokumentieren“ und „den Wortschatz so vollständig und so exakt<br />
wie möglich“ zu be<strong>schreiben</strong>, klingt angesichts dieser Fälschung wie Hohn.<br />
Mit dem Hinweis auf die seit je übliche orthographische Normalisierung alter Texte<br />
läßt sich das Vorgehen auch nicht rechtfertigen. Anders als Wolfram, Grimmelshausen<br />
oder Lessing arbeiten unsere zeitgenössischen Schriftsteller ja mit einer deutschen<br />
Einheitsorthographie, die sehr konsequent unterscheidet zwischen im allgemeinen und<br />
im Allgemeinen, greulich und gräulich usw.<br />
Als neue Quelle ist die „Woche“ hinzugekommen und wird ausgiebig genutzt, da sie<br />
wegen ihrer weit vorauseilenden Umstellung automatisch die „richtigen“ Beispiele<br />
liefert. Die zweite umgestellte Ausgabe der „Zeit“ (17. Juni 1999; so weit reichen die<br />
Belege an das Erscheinungsdatum des Wörterbuchs heran) dient dazu, den Austriazismus<br />
zurzeit als die einzige in Deutschland übliche Form nachzuweisen; auch<br />
Augstein soll schon immer so geschrieben haben, zur Zeit hat es nach Duden nie<br />
gegeben. Der „Spiegel“ sprach angeblich von übel wollender Ignoranz, der Blick in<br />
die vorige Auflage zeigt aber, daß alle diese Belege umgeschrieben wurden.<br />
Manchmal scheint die linke Hand nicht zu wissen, was die rechte tut. Die<br />
Dudenredaktion hat, wie gesagt, jahrelang geglaubt, wiedererkennen und<br />
wiedergeboren würden infolge der Neuregelung getrennt geschrieben. Davon rückt das<br />
Wörterbuch zwar nun ab, aber einige Belege werden dennoch im Sinne der<br />
Fehldeutung verfälscht: Elfriede war nicht wieder zu erkennen; ... wieder geboren zu<br />
werden. Überraschenderweise ist zufriedenstellend als Eintrag noch erhalten, während<br />
es unter zufrieden aufgelöst wird. warmhalten gibt es noch als Lemma, aber unter<br />
warm wird es getrennt. In einem Beleg unter von stößt man auf wohlschmeckend, das<br />
es ja nach den jüngsten Erkenntnissen der Redaktion nicht mehr gibt. vielsagend und<br />
248
vielversprechend sollen entgegen der amtlichen Regelung wieder<br />
zusammengeschrieben werden, aber unter viel sind sie noch getrennt (vgl. auch viel<br />
versprechend unter Auftakt). Unter eigentlich heißt es hast du recht, unter benoten steht<br />
noch im großen und ganzen. Unter V-Mann liest man von Tips, die neuerdings zu Tipps<br />
werden müßten.<br />
Die Täuschung des Benutzers hat Methode. Wie schon im reformierten Rechtschreibduden<br />
spricht die Redaktion von den nach wie vor gültigen Schreibweisen als<br />
„früheren“ Schreibweisen und behauptet in der Einleitung sogar ausdrücklich, diese<br />
Schreibweisen seien „nicht mehr gültig“, obwohl sie in der Schule noch bis 2005<br />
gültig sind und außerhalb der Schule, wie das Bundesverfassungsgericht bekräftigt hat,<br />
ohnehin niemand die neuen Schreibweisen zu übernehmen braucht. Im Anhang haben<br />
die Hauptmatadore der Reform einen propagandistisch gefärbten Abriß der<br />
Neuregelung untergebracht, der alle Probleme sorgfältig umgeht.<br />
Werfen wir noch einen Blick auf die Silbentrennung: Das eher marginale Gebiet hat<br />
sich ja zum zentralen Problem der Neuregelung entwickelt. Schon frühzeitig<br />
bekämpften sich die Wörterbuchverlage mit dem Argument, der jeweils andere führe<br />
nicht sämtliche neuerdings zulässigen Trennungen an (Ob-struktion, Obs-truktion,<br />
Obst-ruktion). Der Rechtschreibduden erklärte, er gebe „nur die Variante an, die von<br />
der Dudenredaktion als die jeweils sinnvollere angesehen wird.“ Besonders sinnvoll<br />
erschienen dem Duden: Anas-tigmat, Emb-lem, Emb-ryo, Emig-rant, E-nergie, E-pistyl,<br />
Lac-rosse, Me-töke, Monoph-thong, monos-tichisch, Pen-tathlon, Prog-nose,<br />
Katam-nese, Tu-ten-cha-mun und viele tausend ähnliche Trennungen, die man nicht<br />
einmal mehr als laienhaft bezeichnen möchte. Es ist unplausibel, daß jemand solche<br />
bildungs- und fachsprachlichen Wörter benutzen und zugleich so wenig von ihrem<br />
Aufbau wissen sollte, daß er sie nach Metzgerart zerlegen müßte. Das neue<br />
Wörterbuch verfährt uneinheitlich. Einerseits wird bei An-astigmat das (erste)<br />
Negationspräfix erkannt, andererseits schreitet die Trennung unorganisch fort: astigmat,<br />
obwohl unter as-tigmatisch der Hinweis auf Stigma nicht fehlt. Ebenso wird<br />
anas-tatisch getrennt, obwohl gleich dahinter die Herleitung (ana + statikos) zu finden<br />
ist. Dagegen wird demselben Benutzer zugetraut, daß er An-azidität ohne weiteres<br />
durchschaut. Im Grunde wäre es sogar einfacher, die griechischen Elemente a-/an-<br />
(Negation) und ana (Präposition), die ja in zahllosen Fremdwörtern vorkommen und<br />
bei der ungemein produktiven Lehnwortbildung eine Rolle spielen, stets gleich zu<br />
behandeln. Es würde die Durchsichtigkeit der ganzen Gruppe erhöhen. Hie-ro-gly-phe<br />
wird anders getrennt als Hi-e-ro-gramm und alle anderen Wörter mit demselben Erstglied.<br />
Das Element hypo- wird in rund hundert Einträgen sachgerecht abgetrennt, aber<br />
sobald die Buchstabenverbindung st in Sicht kommt, rasten die Neuschreiber aus:<br />
Hypos-tase usw.<br />
Das Gesamturteil über die Neuauflage fällt nicht schwer. In den traditionellen<br />
Bereichen der grammatischen und semantischen Darstellung hat die erfahrene<br />
Redaktion gute Arbeit geleistet, und die Auswahl der Stichwörter ist immerhin<br />
annehmbar, auch was die Aktualität betrifft. Die von den Kultusministern angeordnete<br />
Verhunzung der Orthographie hat jedoch zu einer bisher undenkbaren Verrohung der<br />
lexikographischen Sitten geführt. Im Vorwort findet man eine bemerkenswerte<br />
Selbsteinschätzung: „Dieses Wörterbuch ist zugleich ein Spiegelbild unserer Zeit und<br />
ihrer kulturellen und gesellschaftlichen Verhältnisse.“ So ist es wohl, leider.<br />
249
Anhang: Die Rechtschreibreform in der Dudengrammatik<br />
Die Neubearbeitung der Dudengrammatik (6., neu bearbeitete Auflage. Mannheim<br />
1998) ist nicht nur selbst in reformierter Orthographie verfaßt, sondern auch inhaltlich<br />
gegenüber der 5. Auflage von 1995 so verändert, daß sie der Rechtschreibreform<br />
gerecht wird. Dies war offenbar auch der einzige Grund, warum das Werk bereits nach<br />
drei Jahren neu aufgelegt werden mußte.<br />
Zu den schwersten Fehlern der sogenannten Rechtschreibreform gehört bekanntlich die<br />
gewaltsame Auseinanderreißung zusammengesetzter Wörter. Wenn man<br />
schwindelerregend auflöst, ergeben sich grammatisch falsche Gebilde wie am<br />
Schwindel erregendsten, und es gibt noch eine Reihe weiterer Gründe, warum auch die<br />
vielen anderen Zusammensetzungen wie blutsaugend, tiefschürfend und<br />
schwerbeschädigt erhalten bleiben müssen. Die Reformer selbst haben Ende 1997<br />
erklärt, eine Revision dieses zentralen Kapitels sei „unumgänglich notwendig“, doch<br />
legten die deutsche Kultusminister ihr Veto ein. Seither wird an deutschen Schulen<br />
etwas unterrichtet, was sogar die Urheber für falsch halten.<br />
Wie geht nun die Dudengrammatik mit diesen heiklen Fällen um?<br />
Im Wortbildungskapitel hieß es 1995 noch völlig richtig: „Zwei Drittel der mit 1.<br />
Partizipien gebildeten Zusammensetzungen folgen dem Muster gefahrbringend,<br />
erdölproduzierend usw.“ In der Neuauflage ist dieses Muster ersatzlos gestrichen, die<br />
Verfasser wollen von dem einst so produktiven Wortbildung noch nie etwas gehört<br />
haben!<br />
Alle größeren deutschen Grammatiken und nicht zuletzt Band 9 des Großen Duden<br />
(„Richtiges und gutes Deutsch“) vermerken seit je, daß man im Deutschen nicht sagt:<br />
Das Ergebnis ist durchaus zufrieden stellend; das erweiterte Partizip ist nämlich anders<br />
als das zusammengesetzte Adjektiv (zufriedenstellend) ungeeignet, als Prädikativum zu<br />
fungieren. Genau dieser unzulässige Satz steht aber nun in der neuen<br />
Dudengrammatik, weil die Rechtschreibreform es so und nicht anders will.<br />
In der vorigen Auflage wußten die Verfasser noch: „Auch Partizipien wie<br />
schwerbeschädigt sind Komposita, das zeigt die Reihenbildung. Das Zweitglied<br />
bestimmt die Wortart, sie tragen außerdem nur einen Hauptakzent und weisen eine<br />
spezifische Bedeutung auf.“ 1998 heißt es an der gleichen Stelle: „Zu diesem<br />
Übergangsbereich gehören dann besonders viele Partizipbildungen wie schwer<br />
beschädigt (...). Das Zweitglied bestimmt die Wortart, sie tragen außerdem nur einen<br />
Hauptakzent und weisen eine spezifische Bedeutung auf.“ – Da aber das in zwei<br />
Wörter zerlegte Gebilde schwer beschädigt gerade kein Kompositum mehr ist, kann<br />
man auch nicht mehr von einem „Zweitglied“ sprechen. Und vollends absurd ist nun<br />
der letzte Satz, weil er immer noch etwas zu begründen vorgibt, was inzwischen gar<br />
nicht mehr exisiert.<br />
Zum Satzbauplan Ich bin diesem Mann fremd gehörte 1995 ausdrücklich auch der Satz<br />
Der Kaiser war den Christen feind. Drei Jahre später ist er gestrichen, weil die<br />
Orthographiereformer irrigerweise meinten, hier handele es sich um das Substantiv<br />
Feind. Gestrichen sind aus demselben Grunde auch freund sein und not tun. Die<br />
Neuschreibung verlangt ja widersinnigerweise: Seefahrt tut Not. Sobald die Reformer<br />
ihre Revisionspläne verwirklichen dürfen, werden alle diese Formen wieder<br />
auftauchen und damit wohl auch das vorübergehend unterdrückte grammatische<br />
Wissen der Dudengrammatiker.<br />
250
Die staatlich verordnete Großschreibung der Tageszeiten in heute Abend usw. hat die<br />
erstaunliche Folge, daß dort, wo die Grammatik zuvor ein Adverb erkannte, nun ein<br />
Substantiv stehen soll; das Beispiel Donnerstag abend ist vorsichtshalber ersatzlos<br />
gestrichen. Die Wortvernichtung geht noch weiter. Gestrichen sind aufsichtführend,<br />
unverrichteterdinge, sogenannt – lauter Wörter, denen die Rechtschreibreform den<br />
Garaus gemacht hat. Ein aufgelöstes Stichwort so genannt ist im Register zwar noch zu<br />
finden, allerdings mit einem nunmehr blinden Verweis auf einen Abschnitt, der das<br />
Stichwort auch in der aufgelösten Form gar nicht mehr enthält.<br />
Die Bereitschaft der Verfasser, sich von den staatlich autorisierten Orthographen über<br />
grammatische Sachverhalte belehren zu lassen, ist erstaunlich. Der Orthographie wird<br />
zugetraut, uns nicht nur über die Schreibweise der Wörter zu informieren, sondern<br />
sogar darüber, welche Wörter es überhaupt gibt. Syntax und Wortbildung liegen aber<br />
der Orthographie voraus, sie können durch orthographische Eingriffe, mögen sie auch<br />
mit staatlicher Autorität vorgenommen sein, nicht geändert werden. Daß ebendies nun<br />
versucht wird, noch dazu an so prominenter Stelle, gehört zu den beschämendsten<br />
Nebenfolgen der unglücklichen Schreibveränderung.<br />
Duden: Die deutsche Rechtschreibung. 22. Auflage Mannheim 2000<br />
Ein Hauptfehler der Neuregelung war es, die Adjektive vom Typ besorgniserregend<br />
aufzulösen und statt dessen nur noch das syntaktische Gefüge aus einem Partizip und<br />
einer substantivischen Ergänzung gelten zu lassen: Besorgnis erregend. Grammatische<br />
und stilistische Gründe sprechen dafür, daß es auch das zusammengesetzte Adjektiv<br />
weiterhin geben muß. Die Hauptgründe sind die gesamthafte Steigerbarkeit (noch<br />
besorgniserregender, sehr besorgniserregend) sowie der prädikative Gebrauch (das ist<br />
besorgniserregend). In beiden Fällen ist das Partizipialgefüge ausgeschlossen. Dieser<br />
schlagende Einwand, der sich übrigens bereits in einem Duden-Taschenbuch von 1996<br />
aus der Feder der führenden Schweizer Reformer Gallmann und Sitta findet, führte im<br />
Dezember 1997 zu Vorschlägen der Rechtschreibkommission, den Paragraphen 36<br />
einer „unumgänglich notwendigen“ Änderung zu unterziehen. Nach der Ablehnung<br />
dieser Vorschläge durch die Kultusminister und den deutschen Innenminister verlegten<br />
sich die Reformer darauf, die Änderung als bloße Interpretation auszugeben und sie<br />
stillschweigend in die neuesten Wörterbücher und sonstigen Rechtschreibmaterialien<br />
einzuschleusen. Den expliziten Widerspruch zur amtlichen Regelung nehmen sie in<br />
Kauf. So steht im amtlichen Wörterverzeichnis ganz eindeutig: Furcht<br />
[einflößen/einflößend]; so stand es dann auch im Duden von 1996, aber 2000 liest man<br />
eine Furcht einflößende, auch furchteinflößende Vorstellung. Ebenso Furcht<br />
erregend/furchterregend – beides mit Hinweis auf die gesamthafte Steigerung. Hier<br />
einige dieser Revisionen:<br />
Abscheu erregend/abscheuerregend<br />
Achtung gebietend/achtunggebietend<br />
Aufsehen erregend/aufsehenerregend<br />
Besorgnis erregend/besorgniserregend<br />
Ehrfurcht gebietend/ehrfurchtgebietend<br />
Ekel erregend/ekelerregend<br />
Epoche machend/epochemachend<br />
Erfolg versprechend/erfolgversprechend<br />
251
Erholung suchend/erholungsuchend<br />
Furcht einflößend/furchteinflößend<br />
Furcht erregend/furchterregend<br />
Glück bringend/glückbringend<br />
Glück verheißend/glückverheißend<br />
Hitze abweisend/hitzeabweisend<br />
Kosten sparend/kostensparend<br />
Krebs erregend/krebserregend<br />
Musik liebend/musikliebend<br />
Platz sparend/platzsparend<br />
Profit bringend/profitbringend<br />
Respekt einflößend/respekteinflößend<br />
Schauder erregend/schaudererregend<br />
Schrecken erregend/schreckenerregend<br />
Schwindel erregend/schwindelerregend<br />
Staub abweisend/staubabweisend<br />
Staunen erregend/staunenerregend<br />
Unheil verkündend/unheilverkündend (aber nur „Unheil bringend, kündend“)<br />
Verderben bringend/verderbenbringend<br />
Vertrauen erweckend/vertrauenerweckend<br />
viel sagend/vielsagend (aber nur nichts sagend)<br />
viel versprechend/vielversprechend<br />
Wasser abstoßend/wasserabstoßend<br />
Wasser abweisend/wasserabweisend<br />
weinbauend ist gestrichen<br />
Welten umspannend ist gestrichen<br />
(Einige andere Fälle wie mitleiderregend waren schon 1996 eingetragen – im<br />
Widerspruch zu § 36 der amtlichen Neuregelung.)<br />
Der ganze Umfang der Änderungen würde sich zeigen, wenn man auch die nicht<br />
eigens aufgeführten, aber gewiß analogen Fälle berücksichtigte: Strom sparend, Besitz<br />
ergreifend usw. – Allerdings bleibt hier eine gewisse Unsicherheit, denn die Revision<br />
verfährt keineswegs konsequent. Einerseits sind nämlich Fälle wie nichts sagend<br />
bisher nicht geändert, obwohl gesamthafte Steigerung üblich ist: noch nichtssagender,<br />
besonders nichtssagend. Andererseits sind aber nicht nur gesamthaft steigerbare<br />
Adjektive wenigstens fakultativ wiederhergestellt, sondern auch solche, bei denen<br />
Steigerung kaum oder gar nicht in Betracht kommt; dies jedoch sehr unsystematisch,<br />
also noch nicht etwa eisenverarbeitend, funkensprühend, ölexportierend, wohl aber:<br />
epochemachend, erholungsuchend. (Der Rotdruck ist wiederum unberechtigt, denn die<br />
Neuerungen sind damit aufgehoben; versäumt ist wiederum der Hinweis auf<br />
obligatorische Benutzung des Adjektivs bei prädikativem Gebrauch: das ist<br />
epochemachend.) Ganz neu eingetragen sind Kraft raubend/kraftraubend und einige<br />
andere Fügungen dieser Art.<br />
In umgekehrter Richtung sind auch getrennt geschriebene Gefüge nachgetragen:<br />
fruchtbringend/Frucht bringend<br />
fruchttragend/Frucht tragend<br />
zeitraubend/Zeit raubend<br />
252
zeitsparend/Zeit sparend<br />
Manchmal schießen die Autoren über das Ziel hinaus: blutreinigend, blutbildend,<br />
blutstillend, blutsaugend werden jetzt alle gleich behandelt, also „auch Blut reinigend“<br />
usw. – Das ist aber falsch im Sinne der amtlichen Regelung, denn es heißt zwar Blut<br />
bilden, aber nicht Blut reinigen (sondern das Blut reinigen); das wußten die Reformer<br />
und Dudenautoren Gallmann und Sitta 1996 in ihrem Duden-Taschenbuch noch sehr<br />
gut (S. 127). Sie verweisen auch auf durststillend, das aus demselben Grunde erhalten<br />
geblieben ist. Bei kostendeckend, Kosten sparend, „auch kostensparend“ ist das<br />
wenigstens halbwegs berücksichtigt, auch wenn kostensparend (das die Ausgabe von<br />
1996 noch nicht wieder kannte) den Regeln widerspricht und die gesamte<br />
Rotschreibung sowieso fehl am Platze ist, denn es bleibt nun wieder alles beim alten.<br />
zartbesaitet ist wieder Haupteintrag (im Kasten umgekehrt), ebenso verhält es sich bei<br />
zartfühlend, aber die Steigerung, die hier auch Getrenntschreibung rechtfertigen soll,<br />
wirkt seltsam: zarter fühlend. Und ist zartestfühlend überhaupt belegbar? Neben<br />
leidtragend findet man neuerdings auch Leid tragend, jedenfalls im Kasten; dagegen<br />
im Wvz. nur leidtragend. Dazu der Beispielsatz im Kasten: Die Leid Tragenden sind<br />
die Kinder (!).<br />
1996: fest angestellt, fest besoldet, der Festangestellte, Festbesoldete. 2000: fest<br />
angestellt, der fest Angestellte, auch Festangestellte (ebenso zu besoldet). Der<br />
Übergang von fest angestellt zu Festangestellte ist grammatisch unmöglich. Dieses<br />
setzt ein Adjektiv festangestellt voraus. Ebenso zu Dienst habende, der Diensthabende<br />
(aus den Regeln ableitbar wäre nur Dienst Habende, aber dies wird überhaupt nicht<br />
angeführt!). Dienst leistend ist neu eingeführt; es scheint aber keinen Dienstleistenden<br />
und keinen Dienst Leistenden zu geben, wohl aber neben dem Zivildienstleistenden<br />
neuerdings auch den Zivildienst Leistenden. Zu den Daheimgebliebenen gesellen sich<br />
daheim Gebliebene, nur daheimgebliebene Urlauber soll es nicht geben. All das wird<br />
sich nicht halten lassen.<br />
Unter den mit „K 1“ usw. bezeichneten Regeln finden sich weitere Hinweise, die mit<br />
einem „D“-Symbol gekennzeichnet sind und Interpretationen des Duden enthalten.<br />
Darunter auch die Regel S. 46 (als Ergänzung zu K 58), wonach bei Substantivierung<br />
auch Zusammenschreibung eintritt, obwohl sie grammatisch nicht ableitbar ist. Dieser<br />
unmögliche Übergang wird auch von der Reformkommission neuerdings behauptet.<br />
Übrigens hebt er den Anspruch auf Neuregelung und Rotdruck auf, denn Arbeit<br />
suchende Menschen, Arbeit Suchende und Arbeitsuchende hat es ja bisher schon ganz<br />
genauso gegeben.<br />
Neu nachgetragen sind: spät Gebärende (neben Spätgebärende), schwer Kranke<br />
(neben den irregulären Schwerkranken), die zu Hause Gebliebenen, der nicht<br />
Geschäftsfähige, das nicht Gewünschte, der nicht Sesshafte. Solche Gefüge waren<br />
natürlich auch bisher möglich; es wird leider nicht darauf hingewiesen, warum man sie<br />
meist vermeidet und durch echte Zusammensetzungen ersetzt. Eine neue Variante ist<br />
auch nicht zielend (ein schulgrammatischer Fachausdruck für „intransitiv“); das immer<br />
noch zugelassene nichtzielend widerspricht allerdings der Regel, daß beim Partizip nur<br />
noch getrennt geschrieben wird. Dieser Regel wiederum gehorcht zwar der neue<br />
Eintrag voll besetzt, aber es bleibt bei vollautomatisiert, vollbeschäftigt,<br />
vollklimatisiert. Kein leichtes Stück für den Lernenden.<br />
Eines der größten Probleme sind für die Neuregelung die durchweg sehr häufig<br />
253
gebrauchten Verben mit dem Zusatz wieder-. Der äußerst mißverständlich formulierte<br />
Paragraph 34 (1) führte dazu, daß der erste Reformduden in gutem Glauben, wenn<br />
auch sicherlich mit schlechtem linguistischen Gewissen, zwei Dutzend Verben dieser<br />
Art aufspaltete: wieder sehen usw. Vom schnell wieder zum Leitwörterbuch<br />
gewordenen Duden drang diese Fehlschreibung in alle Kinder- und Schulbücher sowie<br />
in die überaus befremdliche Schreibung der Nachrichtenagenturen. Hier war also eine<br />
größere Reparatur fällig, doch wie sieht sie aus? Wieder zusammenzu<strong>schreiben</strong> sind:<br />
wiederaufbereiten, wiederaufführen, wiederbeleben, wiedersehen. Fakultativ „auch“<br />
zusammengeschrieben kommen vor: wiederaufbauen, wiederentdecken, wiedererkennen,<br />
wiedereröffnen, wiedererwecken, wiederfinden, wiedergeboren,<br />
wiedervereinigen, wiederverwenden, wiederverwerten, wiederwählen. Weiterhin<br />
getrennt zu <strong>schreiben</strong> sind: wieder aufnehmen, wieder aufsuchen, wieder auftauchen,<br />
wieder einfallen, wieder einsetzen, wieder gutmachen und wieder herrichten. Hier<br />
glaubt die Redaktion, wie der zugehörige Kasten zeigt, weiterhin, daß der Verbzusatz<br />
wieder die Bedeutung nochmals, erneut habe und daher laut § 34 getrennt zu <strong>schreiben</strong><br />
sei. Das ist natürlich nicht richtig. Wer etwas wiederherrichtet, muß es nicht zuvor<br />
schon einmal hergerichtet haben, sondern versetzt es durch Herrichten in den früheren<br />
Zustand zurück; dieselbe Überlegung führt den Duden dazu, bei wiederherstellen, das<br />
unmittelbar auf wieder herrichten folgt, die Zusammenschreibung beizubehalten. Man<br />
muß nach den Erfahrungen mit dem ersten Bericht und der Mannheimer Anhörung<br />
(Januar 1998) leider annehmen, daß auch die Rechtschreibkommission den<br />
Zusammenhang immer noch nicht verstanden hat. Hier ist also die nächste Revision<br />
fällig.<br />
Der schlimmste Fehler (und ein Grund, den neuen Duden sofort wieder<br />
zurückzuziehen) ist jedoch folgender: Die Redaktion führt bei den fakultativen<br />
Getrenntschreibungen jeweils zwei Formen mit ganz unterschiedlichem Betonungsmuster<br />
an und erklärt dazu im Info-Kasten:<br />
„In vielen Fällen ist Getrennt- oder Zusammenschreibung möglich, vor allem<br />
dann, wenn die Betonung entweder nur auf ,wieder‘ oder sowohl auf ,wieder‘<br />
als auch auf dem Verb oder Adjektiv liegen kann: die Firma wieder aufbauen,<br />
auch wiederaufbauen (...)“ (S. 1074)<br />
Die vorige Ausgabe wußte noch wie alle früheren, daß der normale Wortakzent von<br />
wiederaufbauen nicht auf wieder, sondern auf auf liegt. Die neueste Aussprache<br />
kommt, wenn überhaupt, nur unter seltenen pragmatischen Sonderbedingungen in<br />
Betracht. Dieser Fehler scheint darauf zurückzugehen, daß der Bearbeiter die<br />
Betonungverhältnisse der Präfixverben (wieder entdecken/wiederentdecken, so S. 1075<br />
s. v.) unbesehen auf die ganz anders gebauten Doppelpartikelverben übertragen hat.<br />
Außerdem aber handelt es sich bei wieder aufbauen („aufs neue aufbauen“) und<br />
wiederaufbauen („durch Aufbauen in den früheren Zustand bringen“) um völlig<br />
verschiedene Ausdrücke, so daß die beiden Schreibweisen keinesfalls als orthographische<br />
Varianten angeführt und durch ein irreführendes „auch“ verknüpft werden<br />
dürfen!<br />
Bei den vielen Zusammensetzungen von Partizipien und Adjektiven mit hoch- sind<br />
zahlreiche Änderungen vorgenommen worden, die aber selten einleuchten und<br />
insgesamt eine große Unsicherheit der Reformer verraten. Neuerdings wiederzugelassen<br />
sind: hochbegabt (aber nur schwach begabt; immerhin gibt es jetzt wieder die<br />
Hochbegabtenförderung und nicht nur die Hoch-Begabten-Förderung), hoch gespannt<br />
254
(mit der schwer lernbaren Differenzierung hochgespannte Ströme/hoch gespannte<br />
Erwartungen), hochgesteckt (hochgesteckte Haare/hoch gesteckte Ziele),<br />
hochgewachsen. Daneben gibt es neue Getrenntschreibungen von Wörtern, die bisher<br />
angeblich zusammenzu<strong>schreiben</strong> waren, die aber der Duden von 1991 gar nicht<br />
enthielt: hoch angesehen, hoch dosiert, hoch motiviert, hoch spezialisiert. Der Info-<br />
Kasten zu hoch ist von ungewöhnlicher Kompliziertheit. Dazu nur ein Beispiel: Es<br />
wird behauptet, Zusammenschreibung trete ein, wenn hoch rein intensivierend<br />
gebraucht wird: hochanständig (sehr anständig) usw. Ist dies aber nicht auch bei<br />
hochempfindlich der Fall? Doch gerade dies darf nur getrennt geschrieben werden!<br />
(Diesen Kasten sollte man vorzeigen, wenn wieder einmal behauptet wird, die Reform<br />
mache das Schreiben leichter!)<br />
Bei den ebenfalls problematischen Partizipien mit wohl- sind folgende Änderungen<br />
vorgenommen worden: Die Getrenntschreibung wird fakultativ ausgedehnt auf wohl<br />
erzogen, wohl geformt, wohl gelitten, wohl genährt, wohl geraten, wohl proportioniert,<br />
wohl schmeckend (aber nur wohlriechend!). Umgekehrt wird fakultative<br />
Zusammenschreibung (wieder)eingeführt bei wohltemperiert. wohl vorbereitet ist neu<br />
eingefügt; es wurde bisher angeblich zusammengeschrieben, war aber im Duden von<br />
1991 gar nicht enthalten.<br />
Dieser Teil der Neuregelung krankt daran, daß die Reformer mit dem Kriterium der<br />
Steigerbarkeit arbeiten und – in schlechter Dudentradition – fälschlicherweise<br />
annehmen, besser sei der Komparativ zu wohl, während es in Wirklichkeit der<br />
Komparativ zu gut ist. besser schmeckend gehört also zu gut schmeckend, während<br />
wohlschmeckend natürlich den Komparativ wohlschmeckender hat und daher ebenso<br />
zusammengeschrieben werden müßte wie wohlriechend, wo die Dudenredaktion<br />
sonderbarerweise anders verfährt. Daß all dies nicht so bleiben kann, liegt auf der<br />
Hand.<br />
Andere Verbzusätze zeigen sporadische Änderungen gegenüber der vorigen Auflage,<br />
ohne daß die dahinter stehenden Überlegungen dem Benutzer deutlich würden.<br />
hinterdrein laufen kann neuerdings auch getrennt geschrieben werden; aber man muß<br />
sich geradezu wundern, daß es überhaupt wie hinterherlaufen zusammengeschrieben<br />
werden darf, denn nur hinterher steht in der geschlossenen Liste von § 34 (1).<br />
(Übrigens muß es mit sein wieder getrennt geschrieben werden, also hinterher sein!<br />
Auch dies gehört zu den vielgerühmten „Vereinfachungen“.) Bei dafürkönnen hatte der<br />
Duden 1996 Getrenntschreibung vorgeschrieben, der neue läßt auch die<br />
Zusammenschreibung wieder zu und fügt noch die Paare dafürhalten/dafür halten,<br />
dafürsprechen/dafür sprechen und dafürstehen/dafür stehen hinzu. Natürlich muß man<br />
nun zusätzlich lernen, daß es hier einen Spielraum gibt, anderswo aber wieder nicht.<br />
Nach dem alten Duden konnte man den Oberkörper frei machen oder ein paar Tage<br />
(und natürlich auch einen Brief) freimachen. 1996 legte der Reformduden fest: auch<br />
der Oberkörper wird freigemacht. Die neue Ausgabe kehrt genau zur alten Regelung<br />
zurück und macht wenigstens an dieser Stelle jeglichen Rotdruck rückgängig.<br />
wachhalten kann neuerdings wieder zusammengeschrieben werden, mit der schwer<br />
deutbaren Unterscheidung „jemanden wach halten, auch wachhalten; Erinnerungen<br />
wachhalten, auch wach halten“. Bei wachrufen, wachrütteln ist aber nur Zusammenschreibung<br />
zulässig. warmhalten darf wieder zusammengeschrieben werden, aber nur<br />
wenn es um einen Freund geht; das Essen wird, wie im alten Duden, warm gehalten.<br />
Bei warmlaufen ist es wieder ein wenig anders: den Motor warm laufen oder<br />
255
warmlaufen lassen, sich selbst warm laufen oder warmlaufen. Auch heißlaufen kann<br />
neuerdings getrennt geschrieben werden. reinwaschen wurde bisher in übertragenem<br />
Sinn zusammengeschrieben, in wörtlichem Sinn getrennt. 1996 sollte nur noch<br />
getrennt geschrieben werden, aber in der Neubearbeitung ist der alte Zustand<br />
wiederhergestellt. Ist das alles nun leichter zu lernen als die alte, ebenso sprachferne<br />
Dudenregelung? Was nützt die „Liberalisierung“, wenn sie an von Wort zu Wort<br />
wechselnde Bedingungen geknüpft ist, die sich nicht vorhersagen lassen – und von<br />
einer Auflage zur nächsten so unterschiedlich festgelegt werden? Dabei beschränke ich<br />
mich hier auf die neuen Unklarheiten, zu denen ja noch Tausende von längst bekannten<br />
hinzukommen (kleinkriegen, aber klein machen.).<br />
Obwohl, recht verstanden, auch nach der herkömmlichen Rechtschreibung<br />
Bindestriche fast nach Belieben gesetzt werden konnten, haben die Reformer viel<br />
Aufhebens davon gemacht, daß sie nun großzügiger verwendet werden dürfen. Der<br />
neue Duden zeigt überraschend viele obligatorische Bindestriche. Substantivierte<br />
Infinitive vom Typ das Außerachtlassen sind nicht mehr zulässig, es muß jetzt Außer-<br />
Acht-Lassen geschrieben werden. Daher auch „das Nicht-zustande-Kommen, auch<br />
Nicht-zu-Stande-Kommen“ (bisher Nichtzustandekommen, so auch noch 1996).<br />
Zur Entzerrung der neuen Buchstabenhäufungen wird bekanntlich der Bindestrich<br />
vorgeschlagen, der in reformierten Texten zu so linkischen Gebilden wie Schnell-<br />
Lebigkeit führt. Der neue Duden führt an: Brenn-Nessel, Miss-Stand, Miss-Stimmung,<br />
Still-Legung, Stoff-Fetzen u. a. – lauter ungeschickte Versuche, aus einer selbstgeschaffenen<br />
Kalamität wieder herauszukommen. Bekanntlich werden jetzt auch nach<br />
arabischen Ziffern Bindestriche notwendig, die man bisher mit Recht für überflüssig<br />
hielt: 3-mal. (Dabei erweist sich die Lehre vom Bindestrich als lückenhaft, denn der<br />
gelegentlich hinzukommende Ersparungsstrich nach Wortresten müßte eigentlich<br />
Verdoppelung des Zeichens ergeben: 2-- bis 3-mal; das ist natürlich nicht gemeint.) Die<br />
Regel, wonach bei Ableitungen von mehrteiligen geographischen Namen der<br />
Bindestrich weggelassen werden kann (Bad Hersfelder, New Yorker), führt nun auch<br />
zu gewöhnungsbedürftigem Costa Ricaner, Puerto Ricaner; die alten Schreibweisen<br />
(1996 noch als einzige angeführt) Costaricaner, Puertoricaner sollen jetzt gar nicht<br />
mehr zulässig sein.<br />
Völlig neu und sehr überraschend ist die Großschreibung bei heute Früh. Die Kritik<br />
hatte darauf hingewiesen, daß es widersinnig ist, in heute abend usw. die Tageszeit<br />
anders aufzufassen als in heute früh und daher groß zu <strong>schreiben</strong>. Diesem Einwand<br />
will der Duden nun offenbar zuvorkommen, indem er auch Früh als Substantiv deutet.<br />
Allerdings ist die Früh gar nicht durch ein eigenes Stichwort vertreten, sondern kommt<br />
nur idiomatisch gebunden unter die Frühe vor: in der Früh. Die Frühe wiederum<br />
kommt hier nicht in Betracht: heute Frühe gibt es nicht. Vielleicht erklärt sich daher,<br />
daß heute Früh nur fakultativ („auch“) möglich sein soll, anders als all die<br />
obligatorischen Großschreibungen der anderen Tageszeiten. Im amtlichen Regelwerk<br />
gibt es dazu kein Beispiel. Der Duden hat es auch versäumt, für Dienstag früh usw. die<br />
notwendige Folgerung zu ziehen, daß hier zumindest auch Dienstagfrüh (wie<br />
Dienstagabend) vorgesehen werden muß. (Zufällig findet man dieses Versäumnis<br />
schon im Mustereintrag auf dem vorderen Einbanddeckel.)<br />
Aus der Neuregel, daß man nach Belieben auch Ja sagen <strong>schreiben</strong> könne (obwohl der<br />
Grund dieser Großschreibung schwer einzusehen ist), hat die Redaktion<br />
wahrscheinlich zu Recht gefolgert, daß nun alle Partikeln in diesem Zusammenhang<br />
256
auch groß geschrieben werden dürfen: Hallo rufen, du musst Danke sagen, ich möchte<br />
Danke schön sagen, Bitte sagen (aber nicht Bitte schön?), Ja sagen, Ach und Weh<br />
schreien, Pieps sagen usw. – In diesem Bereich wartet die Reform bekanntlich mit<br />
vielen unvorhersagbaren Neuschreibungen auf, zum Beispiel: aus Schwarz Weiß<br />
machen (bisher aus schwarz weiß machen), jenseits von gut und böse (bisher jenseits<br />
von Gut und Böse). Was damit leichter werden soll, ist unerfindlich.<br />
Die Schreibweise Justizium („Gerichtsstillstand“) mit z wegen Justiz ist absurd, weil<br />
darin -stitium (zu lat. stare) steckt, ebenso wie in Solstitium, das unverändert bleibt.<br />
Der vielbelachte Spinnefeind ist wieder gestrichen, aber das grammatisch ebenso<br />
falsche jemandem Todfeind sein ist hinzugekommen, weil die Reformer um Gerhard<br />
Augst nicht zugeben wollen, daß sie sich mit jdm. Feind/Freund sein geirrt haben.<br />
leicht behindert fehlt immer noch, obwohl es im amtlichen Wörterverzeichnis<br />
ausdrücklich angeführt ist. Neu hinzugekommen ist rein weiß. Beim Paukenschlägel<br />
(bisher Paukenschlegel) ist jetzt nur die Umlautschreibung zulässig, ganz gleich, wie<br />
mancher es aussprechen mag. (Dabei ist die Unterscheidung von langem ä und e<br />
durchaus noch standardgemäß.) – Zu lang gestreckt: Hier muß auch Zusammenschreibung<br />
vorgesehen werden, denn das Adjektiv wird als ganzes gesteigert: Er<br />
erscheint noch langgestreckter als die vorher besprochenen Arten (Grzimek Bd. 5, S.<br />
169); die kleinste Art ist etwas langgestreckter (ebd. S. 263).<br />
„Maß, bes. bayr. auch Mass; 2 Mass Bier“: Hier bekommen die süddeutschen Kritiker<br />
also doch noch recht. Allerdings fragt man sich sogleich, warum andere Regionen<br />
vernachlässigt werden. Wären nicht Spass, Fussball, ja auch Glass ebenso zu<br />
berücksichtigen?<br />
Die Neuschreibung Kreme aus dem amtlichen Wörterverzeichnis hatte der Duden 1996<br />
einfach vergessen, jetzt ist sie überall nachgetragen, auch in Butterkreme usw.; nur das<br />
zugehörige Verb kremen ist nicht angepaßt worden, hier bleibt es bei cremen, während<br />
einkremen schon im alten Duden stand.<br />
Das amtliche Regelwerk ist so unübersichtlich, daß sogar der Mitverfasser Klaus<br />
Heller überrascht war, als ich ihn darauf hinwies, daß nach § 55 (4) nochmal nur noch<br />
zusammengeschrieben zulässig ist. Im ersten Reformduden war der Eintrag glatt<br />
übersehen, es gab nur noch mal, wie im alten Duden. Jetzt soll es „auch“ nochmal<br />
geben, aber die amtliche Regelung läßt diesen Ausweg nicht zu. Übrigens fehlt im<br />
Kasten zu Mal ausgerechnet jedes Mal, obwohl doch die Beseitigung des Wortes<br />
jedesmal ein besonders auffälliger Eingriff in den deutschen Wortschatz ist.<br />
Modernjazz ist nicht die alte und Modern Jazz nicht die neue Schreibung, sondern es<br />
verhält sich gerade umgekehrt. 1996 war das noch richtig dargestellt. Auch<br />
klatschenass und klatschnass sind natürlich nicht die alten Schreibungen. Daß<br />
hierlassen usw. bisher nur zusammengeschrieben wurde, stimmt so nicht; vgl. Duden<br />
1991 s. v. hier und da. Falsch ist auch die Angabe, bisher habe es nur festgeschnürt<br />
gegeben. Es soll übrigens jetzt heißen ein festgeknotetes Seil, aber eine fest geschnürte<br />
Schlinge. Kein geringes Lernproblem! Saucenlöffel, Saucenschüssel standen zufällig<br />
nicht im alten Duden, wohl aber Sauce; die Zusammensetzungen waren also auch<br />
bisher möglich, der Rotdruck ist nicht gerechtfertigt.<br />
Der Armesünder ist weiterhin unzulänglich dargestellt. Der Duden bemüht sich, die<br />
absurde Neuregelung plausibel vorzuführen, doch die Angabe, bei Flexion des<br />
257
Erstgliedes werde getrennt geschrieben, ist nicht richtig exemplifiziert. Denn die<br />
Beispiele lassen die Flexion erst mit dem Genitiv beginnen, so daß man meinen<br />
könnte, der arme Sünder sei unzulässig. Die vorgeführte Reihe lautet absurderweise:<br />
der Armesünder, des armen Sünders usw. gegenüber der Armesünder, des<br />
Armesünders usw. Dasselbe gilt für die erstmals verfügte Getrenntschreibung bei<br />
Langeweile: die Langeweile, der langen Weile usw.<br />
Zu Hämorrhoiden wird in der Ausgabe von 1996 richtig gesagt, daß es eine<br />
eingedeutschte Variante Hämorriden gibt; es ist allerdings keine Schreibvariante,<br />
sondern die Schreibung folgt der anderen Aussprache. In der Neuausgabe werden<br />
beide Formen als bloße Schreibvarianten angeführt; das ist deutlich schlechter.<br />
Mit Befriedigung nehmen wir zur Kenntnis, daß entgegen dem amtlichen<br />
Wörterverzeichnis nun klein geschrieben wird: das ist mir wurst/wurscht; denn man<br />
sagt ja auch wie wurscht mir das ist usw. – ein deutlicher Hinweis auf Entsubstantivierung.<br />
Leider bleibt es bei falschem so Leid es mir tut, wie Recht du doch<br />
hattest usw.; auch Pleite gehen wäre endlich zu korrigieren. Ganz kompliziert wird es<br />
bei den goldenen zwanziger Jahren (so die bisherige Schreibung). 1996 schrieb der<br />
Duden dann vor die goldenen Zwanzigerjahre, auch zwanziger Jahre. Der neue Duden<br />
hat nur die Goldenen Zwanzigerjahre.<br />
Die Fremdwortschreibung ist durch die Neuregelung deutlich erschwert. Bisher galt<br />
die einfache Regel, daß in mehrteiligen Fremdwörtern alle Bestandteile außer dem<br />
ersten klein geschrieben werden: Dolce vita, Ultima ratio usw. (Nur für das Englische<br />
gab und gibt es Sonderregelungen.) Neuerdings muß man die Wortart aller Teile<br />
kennen, damit man die Substantive groß <strong>schreiben</strong> kann. Hier hatten alle reformierten<br />
Wörterbücher, besonders das von Bertelsmann, nur sehr lückenhaft umgestellt. Der<br />
neue Duden repariert nun die vergleichsweise wenigen Fehler der ersten Ausgabe:<br />
Aide-Mémoire, Nomen Acti (ebenso Actionis, Agentis, Instrumenti), Pars pro Toto. Das<br />
Französische scheint hier besondere Schwierigkeiten zu bereiten, die es bisher nicht<br />
gab: Dem Agent provocateur wird der Agent Provocateur zur Seite gestellt, dem<br />
Chapeau claque der Chapeau Claque.<br />
Die Fachsprachen sollen von der Reform nicht betroffen sein – eine verständliche<br />
Vorsichtsmaßnahme der Reformer, weil sie keinen Widerstand von seiten der<br />
Wissenschaften heraufbeschwören wollten. Natürlich wußten sie, daß auf die Dauer<br />
kein Bereich der Sprache verschont bleiben würde. Immerhin sollte vorläufig Ruhe<br />
herrschen. Dieses Hintertürchen hat die Dudenredaktion schon im „Praxisduden“<br />
genutzt. Der neue Duden stellt nun blindfliegen, blind<strong>schreiben</strong> und blindspielen<br />
wieder her. Allerdings wäre auf diesem Wege noch manche Härte zu vermeiden<br />
gewesen. Niemand hat je Fonetik, Fonem usw. geschrieben, erst recht nicht wäre es<br />
nötig gewesen, die Antiphon der Kirchensprache in Antifon umzuwandeln. (Und das<br />
Kolophonium in Kolofonium zu ändern ist erst recht unangebracht, weil darin nicht der<br />
Stamm phon, sondern der Name der Stadt Kolophon zu erkennen ist. )<br />
Auf vielfache Vorhaltungen hat sich die Dudenredaktion dazu durchgerungen,<br />
wenigstens die Not leidenden Kredite wieder in notleidende umzuwandeln; das wird<br />
als „fachsprachlich“ gerechtfertigt. Die Bevölkerung bleibt jedoch ganz unfachlich Not<br />
leidend.<br />
Ohne ausdrücklichen Bezug auf die Fachsprache werden die sportspezifischen Ausdrücke<br />
halblinks und halbrechts (spielen) wiederhergestellt, die Getrenntschreibungen<br />
258
nur noch als Varianten geduldet. Der traditionelle Unterschied (halb links = ,ein wenig<br />
links‘, halblinks = ,auf der halblinken Position‘) ist aufgehoben, kaum zum Vorteil der<br />
Sprache, und für den Lerner ist die punktuelle Beliebigkeit auch kein Gewinn.<br />
Es folgt eine kleine Auswahl von Trennungen:<br />
A-bitur (aber Consilium Ab-eundi!), a-däquat, ap-ropos, Audi-ovision, Ausgehuniform,<br />
Bassa-rie, Bibli-ograf, Bleia-sche, Cro-margan, De-oroller, Di-alog, Diagnose<br />
(auch Prog-nose, aber nur Dia-gramm, Pro-gramm), Du-odenum, Esse-cke, Fideikommiss,<br />
ge-ozentrisch, Ge-ograph, Ge-odreieck, Harvardu-niversität (aber nur<br />
Lomonossow-universität), I-nundation, Koloni-akübel, Kont-rast (aber nur Kon-trakt),<br />
Kont-rolle, Kore-akrieg, Malu-tensilien, Parak-let (aber nur Para-klase), Subs-kribent,<br />
Subs-tanz (aber nur Sub-stantiv)<br />
Die Dudenredaktion gibt durch ihre eigene Praxis zu erkennen, daß sie die Trennung<br />
ei-nander für die bessere hält, denn selbst dort, wo ein-ander eine bessere<br />
Zeilenfüllung ergäbe, trennt sie ei-nander und nimmt dafür mehr leeren Raum am<br />
Zeilenende in Kauf (zum Beispiel s. v. Spagatprofessor). Ebenso bevorzugt die<br />
Redaktion die Trennung Res-pekt. In der Ausgabe von 1996 hatte die Dudenredaktion<br />
nur die Neutrennungen hi-nab usw. ausdrücklich vorgeführt, auf die klassische<br />
Trennung wurde durch pauschale Angabe einer Paragraphennummer verwiesen. Diese<br />
Bevorzugung der „Trennung nach Sprechsilben“ ist jetzt aufgegeben, alle Trennstellen<br />
sind gleichberechtigt vorgeführt, also hi-n-ab usw. Ebenso in zahllosen Fällen. Nur aus<br />
dem Regelverweis, d. h. durch zusätzliches Nachschlagen, konnte man 1996 allenfalls<br />
herausfinden, daß Diok-letian vielleicht auch noch etwas sinnvoller getrennt werden<br />
könnte. Der neue Duden führt die Trennung Dio-kletian immerhin gleichberechtigt<br />
vor; ihre Überlegenheit wird aber mit keiner Silbe angedeutet.<br />
Im Anschluß an eine Vorlage zur „Mannheimer Anhörung“ werden nun tatsächlich die<br />
neuen Trennungen Po-wer und To-wer eingeführt, und bei den Telto-wer (!) Rübchen<br />
soll die bisherige Trennung gar nicht mehr möglich sein. – Bei Chewinggum (einem<br />
ganz ungebräuchlichen Wort, das aber im amtlichen Wörterverzeichnis steht, weil es<br />
der Duden mitschleppte) und einigen anderen Einträgen sind bewährte Trennstellen<br />
fälschlicherweise als neu gekennzeichnet. Die neue Trennung vol-lenden ist endlich<br />
nachgetragen; sie steht ausdrücklich in § 112 des amtlichen Regelwerks, war aber von<br />
allen neuen Wörterbüchern übersehen und vom Mitverfasser Hermann Zabel sogar<br />
öffentlich abgestritten worden.<br />
Der Leiter der Dudenredaktion hat mit Recht darauf hingewiesen, daß die mit R 1 bis<br />
R 212 gekennzeichneten „Richtlinien“ des Duden noch nicht die Regeln, sondern<br />
bloße Adressen waren, unter denen man die eigentlichen Regeln fand. Das ist mit den<br />
„Paragraphen“ der Neuregelung und den „Kennziffern“ des neuesten Duden nicht<br />
anders. Die Neuauflage gibt den in Teil I dargestellten Zähltrick auf. Es werden nun<br />
ausschließlich orthographische Regeln angeführt, und die Zahl der Kennziffern beträgt<br />
169, was fast genau wieder auf die 171 Richtlinien des alten Duden hinausläuft; die „9<br />
Kommaregeln“ sind auf 32 Kennziffern mit zahlreichen Unterpunkten verteilt.<br />
Welche weiteren Änderungen sind zu erwarten?<br />
• Die Großschreibungen Leid tun, Recht haben, Pleite gehen, Bankrott gehen müssen<br />
zurückgenommen werden, da sie grammatisch falsch sind.<br />
• Zu den Steigerungsformen wie zufriedenstellender usw. muß auch der Positiv<br />
zufriedenstellend usw. wiedereingeführt werden, womit alles wieder beim alten<br />
259
wäre.<br />
• Ebenso gehört zur Substantivierung zusammengesetzter Adjektive (Leidtragender,<br />
Diensthabender) selbstverständlich eine ebenso zusammengesetzte Grundform<br />
(leidtragend, diensthabend).<br />
• Wenn es blutbildend, krebserregend usw. wieder gibt, ist nicht einzusehen, warum<br />
es eisenverarbeitend, fleischfressend und zahllose andere Ausdrücke dieser Art nicht<br />
geben sollte; sie werden gewiß bald wiederhergestellt.<br />
• Die willkürlich verfügte Getrenntschreibung bei auseinander setzen, wieder<br />
herrichten usw. wird zurückgenommen.<br />
• Die Getrenntschreibung von so genannt wird zurückgenommen werden; sie ist<br />
wahrscheinlich eine unbeabsichtigte Folge von § 36, denn die Schweizer<br />
Mitverfasser des Regelwerks, Gallmann und Sitta, wußten in ihrem Kommentar aus<br />
dem Jahre 1996 noch nichts davon.<br />
• Die Weglaßbarkeit vieler Kommas ist außerhalb der Schule nirgendwo akzeptiert<br />
und beispielsweise von den Nachrichtenagenturen und Zeitungen ausdrücklich<br />
zurückgewiesen worden. Auch in nochmals überarbeitete Schulbücher werden die<br />
weggestrichenen Kommas schon wieder eingesetzt. Man sollte diesen Teil der<br />
Neuregelung streichen.<br />
• Die Volksetymologien (Zierrat, einbläuen, Tollpatsch) wenigstens nicht mehr<br />
obligatorisch vorzu<strong>schreiben</strong> war schon 1997 vorgesehen; das dürfte bald kommen.<br />
260
261
262<br />
VIII. Zum dritten Bericht der Rechtschreibkommission
Am 15. Dezember 2001 sandte die Zwischenstaatliche Kommission für deutsche<br />
Rechtschreibung ihren dritten Bericht an das Sekretariat der Ständigen Konferenz der<br />
Kultusminister (KMK). 163 Eine vorläufige Fassung hatte dem deutschen Beirat für<br />
deutsche Rechtschreibung und dem österreichischen Beirat für Sprachentwicklung<br />
vorgelegen. Am 31. Januar/1. Februar 2002 nahm die Amtschefskonferenz der Kultusministerien<br />
den Bericht zustimmend zur Kenntnis. Eine Befassung der KMK mit dem<br />
Bericht, etwa auf der nächsten Plenarsitzung am 28.2./1.3.2002, war nicht vorgesehen.<br />
Vielmehr teilte das Sekretariat der KMK mit, die Amtschefskonferenz habe den<br />
Gegenstand abschließend behandelt. Die Pressestelle der KMK gab am 7.3.2002<br />
bekannt: „Die Kultusministerkonferenz hat auf ihrer 297. Sitzung in Berlin<br />
(28.2./1.3.02) keinen Beschluss zum Thema Rechtschreibreform bzw. speziell zu dem<br />
Dritten Bericht der Rechtschreibkommission gefasst, und es ist im Plenum auch nicht<br />
darüber beraten worden.“ Auch diese Auskunft läßt verschiedene Deutungen zu. Der<br />
rheinland-pfälzische Kultusminister Zöllner sagte zu Journalisten, das Thema sei nicht<br />
aktuell, denn die Rechtschreibung sei geregelt. Aus Presseberichten ging hervor, daß<br />
außerhalb der Tagesordnung dennoch über die neue Lage gesprochen wurde.<br />
Das An<strong>schreiben</strong> an die KMK<br />
Im An<strong>schreiben</strong> der Kommission an die KMK, unterzeichnet vom Geschäftsführer<br />
Heller und vom Vorsitzenden Augst, heißt es:<br />
„Dieser Bericht hat in einer Entwurfsfassung den nationalen Beiräten<br />
Deutschlands und Österreichs vorgelegen. Die Stellungnahmen sind im Anhang<br />
des Berichts abgedruckt, ferner sind Vorschläge, Hinweise und Bewertungen in<br />
die Endfassung des Berichts mit eingegangen.<br />
Gerade die Einschätzung der beiden Beiräte hat die Kommission in ihrer Grundeinsicht<br />
bestärkt, in diesem Bericht<br />
(1) die Einführung der neuen Rechtschreibung in allen Schreibbereichen genau<br />
zu untersuchen und darzulegen (Teil 1) und<br />
(2) die inhaltlichen Hauptkritikpunkte ausführlich zu erörtern und in einem Pro<br />
und Kontra vorgeschlagene Alternativlösungen zu diskutieren (Teil 2).<br />
Da der Befund unter (1) zeigt, dass die Einführung der neuen Rechtschreibung<br />
noch nicht abgeschlossen ist, und da unter (2) belegt wird, dass bisher vorgeschlagene<br />
Alternativen alle ihr Für und Wider haben, hat die Kommission sich<br />
entschlossen in diesem Bericht keine Vorschläge zur Veränderung zu machen.<br />
Sie möchte<br />
(1) die Entwicklung weiter beobachten und<br />
(2) die möglichen Veränderungen sorgfältig mit den Beiräten und der Fachwissenschaft<br />
wie der Fachdidaktik diskutieren.<br />
Der nächste Bericht Ende 2003 wird dann, falls notwendig, explizite Vorschläge<br />
enthalten. Den staatlichen Instanzen bleiben damit bis zum Ende der<br />
Übergangszeit (31. Juli 2005) eineinhalb Jahre Zeit, um sich mit den Vorschlägen<br />
163 Der als „vertraulich“ gekennzeichnete Bericht (zur Geheimhaltung s. u.) kann unter<br />
www.rechtschreibreform.com eingesehen werden.<br />
263
der Kommission zu befassen und sie ggf. rechtzeitig in Verordnungen<br />
umzusetzen.<br />
Bezogen auf den jetzt eingereichten Bericht möchten wir Ihnen noch die Empfehlung<br />
des deutschen Beirats weitergeben, den Bericht öffentlich zu machen. Wir<br />
möchten unsererseits dazu raten<br />
– dies im gegenseitigen Einvernehmen zwischen Deutschland, Liechtenstein,<br />
Österreich und Schweiz zu tun und<br />
– eine eigene bewertende Einschätzung bzw. mögliche Konsequenzen hinzuzufügen,<br />
um so die zu erwartende öffentliche Diskussion zumindest am Anfang<br />
zu steuern.“<br />
Die Mitgliedsorganisationen im deutschen Beirat und deren Vertreter sind laut<br />
Protokoll vom 26. September 2001:<br />
P.E.N.-Zentrum Bundesrepublik Deutschland (Heddy Pross-Werth)<br />
Verband deutscher Schriftsteller in der IG Medien<br />
Deutscher Journalistenverband (Ulrike Kaiser)<br />
Bundesverband deutscher Zeitungsverleger e.V. (Anja Pasquay)<br />
Verband deutscher Zeitschriftenverleger e.V.<br />
Arbeitsgemeinschaft der deutschsprachigen Nachrichtenagenturen (Albrecht<br />
Nürnberger)<br />
Börsenverein des Deutschen Buchhandels<br />
VdS Bildungsmedien e.V. (Michael Banse)<br />
Bundeselternrat (Renate Hendricks)<br />
Deutscher Gewerkschaftsbund - Lehrerorganisationen (Dr. Reinhard Mayer)<br />
Deutscher Beamtenbund – Lehrerorganisationen (Dr. Ludwig Eckinger - Verband<br />
Bildung und Erziehung)<br />
Deutsches Institut für Normung (Eva-Maria Baxmann-Krafft)<br />
Dudenredaktion (Dr. Werner Scholze-Stubenrecht)<br />
Bertelsmann-Lexikonverlag (Dr. Sabine Krome)<br />
Wahrig-Wörterbuchredaktion (Dr. Renate Wahrig-Burfeind)<br />
Verband der Freien Lektorinnen und Lektoren e.V. (Dr. Sonya Dase)<br />
Dem deutschen Beirat gehören offenbar keine Reformkritiker an, er hat bisher auch<br />
keinen Vorsitzenden (Mitteilung des Sekretariats der KMK). Die Mitglieder werden<br />
von der Zwischenstaatlichen Kommission selbst vorgeschlagen. 164 Daß der Beirat<br />
164 „Die Mitglieder des Beirats wurden von der Zwischenstaatlichen Kommission für<br />
deutsche Rechtschreibung der Kultusministerkonferenz der Länder vorgeschlagen, die<br />
ihrerseits über die Zusammensetzung des Beirats zu entscheiden hatte. Dieser<br />
Entscheidung musste im Weiteren die Bundesregierung zustimmen.“ (Website des<br />
Verbands der Freien Lektorinnen und Lektoren e.V)<br />
264
weniger die Kontrolle der Kommission als deren Unterstützung im Sinn hat, geht auch<br />
aus der Mitteilung hervor, daß zum Beispiel der Börsenverein die „Umfrage“ der<br />
Kommission bei den Verlagen organisiert hat, über die später berichtet wird<br />
(Börsenblatt vom 12.3.2002).<br />
Übrigens zeigen sprachliche und typographische Untersuchungen, besonders auch an<br />
der vorläufigen Fassung, daß Teil B großenteils aus der Schweiz stammt, d. h.<br />
hauptsächlich wohl von Peter Gallmann verfaßt ist.<br />
Geheimhaltung<br />
Weder der erste noch der zweite Bericht der Kommission sind veröffentlicht oder auch<br />
nur auf der Internetseite der Kommission (unter dem Dach des Mannheimer Instituts<br />
für deutsche Sprache) zu finden, und vermutlich wird es dem dritten Bericht nicht<br />
anders ergehen. Erst nachdem er von dritter Seite an die Öffentlichkeit gebracht<br />
worden war, traten die Reformer die Flucht nach vorn an und teilten fragenden<br />
Journalisten mit, die Veröffentlichung sei für den Sommer 2002 ohnehin vorgesehen<br />
gewesen. Die Geheimhaltung steht in scharfem Gegensatz zu früheren Erklärungen der<br />
Reformer:<br />
„Besser, als einen Privatverlag stillschweigend Einzelfallentscheidungen treffen<br />
zu lassen, ist es allemal, wenn von jetzt an eine der Öffentlichkeit Rechenschaft<br />
schuldende Expertengruppe systematische Lösungen sucht.“ (Klaus Heller 1997,<br />
brieflich)<br />
„Mit der Einrichtung der in staatlichem Auftrag tätigen Kommission ist ein<br />
erheblicher Vorteil für die weitere Entwicklung und Pflege der deutschen<br />
Rechtschreibung gewonnen. Anders als Verlagsredaktionen, die ihre orthographischen<br />
Entscheidungen nicht mitzuteilen und zu begründen brauchen, muss<br />
die Kommission ihre Empfehlungen und Vorschläge öffentlich vorlegen und<br />
vertreten. Sie ist damit für die engere wissenschaftliche und die weitere<br />
sprachinteressierte Öffentlichkeit kritisierbar.“ (Stellungnahme des IDS für das<br />
Bundesverfassungsgericht 10.11.1997)<br />
Welchen politischen Symbolwert die Rechtschreibreform mittlerweile gewonnen hat,<br />
geht aus einem Brief jenes Politikers hervor, der mir den dritten Bericht zugänglich<br />
machte:<br />
„Um Himmels willen! Sagen Sie bloß keinem, wo Sie den Bericht herhaben – ich<br />
werde von den eigenen Leuten gesteinigt!“<br />
„Pro und Kontra“<br />
Die eigenartige Darstellung in „Pro und Kontra“ erklärt sich aus den Erfahrungen der<br />
Kommission mit dem ersten Bericht und der Mannheimer Anhörung. Die Vorsichtsmaßnahme<br />
erwies sich als nützlich, nachdem der dritte Bericht zum Verdruß der<br />
Kommission an die Presse gelangt war. Die Kommission stellte am 15. 3. 2002 einen<br />
Text auf ihre Internetseite, in dem es u. a. heißt:<br />
„Im letzten turnusmäßigen Bericht der Zwischenstaatlichen Kommission an die<br />
zuständigen staatlichen Stellen in Deutschland, in der Schweiz, in Österreich und<br />
in Liechtenstein wird nirgends eine Regel- oder Schreibänderung empfohlen.“<br />
265
Das trifft in einem buchstäblichen Sinn zu: Die Änderungen werden nicht empfohlen,<br />
sondern bloß hypothetisch erörtert, die Empfehlung wird aber lediglich bis 2003 bzw.<br />
2005 aufgeschoben. Natürlich müssen die bereits vor fünf Jahren als „unumgänglich<br />
notwendig“ erkannten und nun aufs neue vorgestellten Änderungen bei nächster<br />
Gelegenheit auch offiziell beschlossen werden. Auch von Kommissionsmitgliedern<br />
wird im privaten Gespräch bestätigt, daß das „Pro und Kontra“ eine Fiktion ist und die<br />
Kommission selbstverständlich hinter den Änderungsvorschlägen steht.<br />
„Einleitung“<br />
Aus der Einleitung erfährt man, daß die Kommission im Berichtszeitraum neunmal zu<br />
zwei- bis dreitägigen Sitzungen zusammengetreten ist, sechsmal in Mannheim und je<br />
einmal in Salzburg, Eupen und Berlin. Mitglieder der Kommission haben auch an<br />
Sitzungen des Beirats für deutsche Rechtschreibung teilgenommen, und zwar am<br />
8.2.2001 in Mannheim und am 25./26.9.2001 in Berlin. Es ist schwer, in der Presse ein<br />
Echo dieser Tagungen nachzuweisen. Lediglich nach der Sitzung in Eupen erschien<br />
eine Notiz:<br />
„Eupen (rpo). Nach Einschätzungen von Experten scheinen sich die Deutschen<br />
langsam aber sicher an die neue Rechtschreibung zu gewöhnen. 'Anfangs gab es<br />
bei vielen Lesern von Zeitungen und Zeitschriften doch einigen Widerstand.<br />
Davon ist inzwischen weniger zu spüren', so der Vorsitzende der<br />
Zwischenstaatlichen Kommission für deutsche Rechtschreibung, Prof. Dr.<br />
Gerhard Augst. Auch habe der Vorstoß der 'Frankfurter Allgemeinen Zeitung'<br />
(FAZ), wieder zur alten Rechtschreibung zurückzukehren, überhaupt keine<br />
Nachahmer gefunden. 'Das bestärkt uns in der Annahme, dass die Umsetzung der<br />
neuen Rechtschreibung positiv verläuft', sagte der Wissenschaftler von der<br />
Universität Siegen nach der Frühjahrstagung des Gremiums der dpa.“ (Neuß-<br />
Grevenbroicher Zeitung 19.5.2001)<br />
Die Kommission behauptet:<br />
„Innerhalb der zwei Jahre, die dieser Bericht umfasst, kam es zu einer immer<br />
stärkeren Anwendung der neuen Rechtschreibung. Dies nicht nur in den<br />
Bereichen, in denen die Einführung der Neuregelung durch Erlass vorgeschrieben<br />
ist (also in Schulen und bei Behörden), sondern auch durch viele<br />
eigenverantwortliche Umstellungen, angefangen bei den Zeitungsverlagen bis hin<br />
zu privat Schreibenden.“<br />
Wir haben gesehen, mit welchen Mitteln die Scheinblüte der Reform herbeigeführt<br />
wurde. Im privaten Schriftverkehr ist auch die Wirkung der reformierten Textprogramme<br />
und der automatischen Rechtschreibkontrolle nicht zu unterschätzen, die nur<br />
mit einigem Geschick ausgeschaltet werden können. Schwer durchschaubar sind die<br />
Angaben über die Zusammenarbeit von Kommission und Beiräten:<br />
266<br />
„Beiden Beiräten wurde der vorläufige Bericht Anfang August 2001 zugesandt.<br />
Der bundesrepublikanische Beirat hat am 25. und 26. September über diesen<br />
Bericht mündlich verhandelt. Am ersten Tag haben der Vorsitzende und der<br />
Geschäftsführer der Zwischenstaatlichen Kommission beobachtend an der<br />
Beratung teilgenommen, am zweiten Tag auch die übrigen Mitglieder der<br />
Kommission. Als Gäste nahmen auch einige österreichische und Schweizer<br />
Mitglieder der Zwischenstaatlichen Kommission sowie der Vorsitzende des
österreichischen Beirats, Ministerialrat Dr. Fritz Rosenberger, Leiter der Gruppe<br />
V/E. BMBWK (Wien) teil.“ (S. 6)<br />
Diese Darstellung hat etwas Verwirrendes. Zuerst heißt es, auch „die übrigen“<br />
Mitglieder der Kommission hätten an der Beratung teilgenommen, also insgesamt alle<br />
zwölf, aber dann ist plötzlich davon die Rede, einige österreichische und Schweizer<br />
Mitglieder seien „als Gäste“ dabeigewesen. Dahinter verbirgt sich also wieder der<br />
ohnehin wenig bekannte Umstand, daß nur die sechs deutschen Mitglieder der<br />
Kommission sich überhaupt vom deutschen Beirat beraten lassen.<br />
Zu Teil A des Berichts<br />
Die Kommission bemüht sich, die hohe Akzeptanz der Reform in der Bevölkerung zu<br />
belegen. So deutliche Zeichen der Nichtakzeptanz wie der Volksentscheid in<br />
Schleswig-Holstein werden begreiflicherweise nicht erwähnt, auch nicht die Tatsache,<br />
daß Behörden und Schulen nur zwangsweise die Neuregelung anwenden und daß auch<br />
die Zeitungsredaktionen nicht freiwillig umstellten.<br />
Ferner wird in diesem Teil durchgehend die Fiktion aufrechterhalten, daß es „die“ neue<br />
Rechtschreibung überhaupt noch gebe. Die seit 1998 vorgenommenen, aber nur mit<br />
Bertelsmann und Duden abgesprochenen Änderungen werden nicht erwähnt.<br />
Im ersten Kapitel berichten die Verfasser über Erfahrungen mit der Rechtschreibreform<br />
im muttersprachlichen Unterricht deutscher Schulen. Wie an mehreren anderen Stellen<br />
weisen sie darauf hin, daß die „verpflichtende Umsetzung“ erst drei Jahre zuvor<br />
begonnen habe, die Ergebnisse also noch nicht sehr aussagestark sein könnten. In<br />
Wirklichkeit wurde an den meisten Schulen schon 1996, also fünf Jahre zuvor, mit der<br />
Umsetzung begonnen, und die Kultusminister sahen sich Anfang 1998 – also ein<br />
halbes Jahr vor dem Inkrafttreten – bereits im Besitz von hinreichenden Erfahrungen,<br />
um behaupten zu können: „Die Schulen kommen mit der Neuregelung gut zurecht.“ (s.<br />
o. S. 167) Als weitere Erschwernis wird angegeben, daß unter den Schülern viele<br />
Umlerner seien, wogegen die Vorzüge der Neuregelung nur bei Neulernern voll zur<br />
Wirkung gelangen könnten. Drittens gelte:<br />
„Noch immer sind – innerhalb und (zumal) außerhalb der Schule – Texte in alter<br />
Rechtschreibung weit verbreitet. Hier liegt – da normgetreues Schreiben nicht nur<br />
durch Regelvermittlung erlernt, sondern auch durch Einprägen von Wortbildern<br />
erreicht wird – zweifellos ein Hindernis. Das gilt auch für die in den Schulen<br />
verwendeten Schulbücher, denn auch wenn die Lernmittel in unterschiedlichem<br />
Ausmaß umgestellt sind, so sind doch noch zahlreiche Bestände vorhanden, vor<br />
allem in den Ländern, in denen Lernmittelfreiheit nach dem Ausleihprinzip<br />
durchgeführt wird.“<br />
Die Kommission kommt zu dem Ergebnis, „dass die Umsetzung der Neuregelung in<br />
den Schulen problemlos erfolgt ist.“ Das ist bei der Vagheit der Beweismittel nicht zu<br />
widerlegen, man braucht es aber auch nicht zu glauben. Was die Zufriedenheit der<br />
Lehrkräfte mit den angeblichen „Erleichterungen“ betrifft – wobei hier die Art der<br />
Datenerhebung gar nicht näher untersucht werden soll –, so muß man bedenken, daß<br />
die meisten Lehrer das amtliche Regelwerk nicht kennen, sondern Kurzfassungen und<br />
Handreichungen besitzen, die ein vereinfachtes Bild der Neuregelung und damit den<br />
Eindruck einer vereinfachten Rechtschreibung vermitteln.<br />
267
Der Bericht hat auch seine erheiternden Seiten, etwa wenn die Reformer ganz<br />
treuherzig über die Erfahrungen der Lehrer berichten:<br />
„Deutlich positiv wird die Neuregelung der Zeichensetzung bei mit und und oder<br />
verbundenen Hauptsätzen und bei Infinitiven mit zu beurteilt: Hier wird eine<br />
Erleichterung gesehen. Auf die Frage, ob die Schüler den durch die Neuregelung<br />
eröffneten Spielraum stilistisch nutzen, wird aber oft eine negative Antwort<br />
gegeben: Das Komma wird einfach weggelassen. Die Kommission registriert eine<br />
solche Entwicklung mit Bedauern, sie sieht aber Remedur nicht in einer<br />
Änderung der Regelung, sondern in didaktischen Maßnahmen.“ (S. 13f.)<br />
Kommas weglassen war schon immer eine Lieblingsbeschäftigung der Schüler –<br />
warum sollten sie damit aufhören, seit es „erlaubt“ ist? Interessanter wäre der Hinweis<br />
gewesen, daß mehrere Reformer die bisherige Kommasetzung beibehalten und auch<br />
theoretisch befürworten, die Nachrichtenagenturen sich von diesem Bereich der<br />
Neuregelung distanziert haben und in den zum zweitenmal umgearbeiteten<br />
Schulbüchern die weggestrichenen Kommas zur Zeit alle wieder eingesetzt werden.<br />
An mehreren Stellen lassen die Reformer durchblicken, daß sie nach wie vor an ihrem<br />
eigentlichen Hauptziel aus den siebziger Jahren, der gemäßigten Kleinschreibung,<br />
festhalten. Selbstverständlich haben sie dafür, wie S. 15 erwähnt, vor allem von<br />
Grundschullehrern Zustimmung erhalten, denen die Reform „nicht weit genug geht“.<br />
(Sie geht gerade in die entgegengesetzte Richtung.) Es liegt auf der Hand, daß diese<br />
Reformer ihr Ziel „gemäßigte Kleinschreibung“ niemals aufgeben werden, und man<br />
konnte ja schon früh vermuten, daß die exzessive Großschreibung nur ein besonders<br />
raffiniertes Mittel ist, um schließlich die Kleinschreibung als Erlösung aus dem nun<br />
angerichteten Durcheinander anpreisen zu können. Ich erinnere an die Dudenbroschüre<br />
von 1994:<br />
„Es ist ein Anfang gemacht worden, weitere Vereinfachungen und Verbesserungen<br />
können sich zu einem späteren Zeitpunkt anschließen.“ (S. 7)<br />
Und schon in der Abschlußerklärung von 1986 sagten dieselben Verfasser:<br />
„Erst in einem zweiten Schritt soll die umstrittene Groß- und Kleinschreibung in<br />
Angriff genommen werden.“<br />
Das Ziel ist klar und unverrückbar die „gemäßigte Kleinschreibung“.<br />
„Deutsch als Fremdsprache“<br />
Auch hier gibt es nach Mitteilung der Kommission keine besonderen Probleme. Die<br />
Kommission führt als einzigen Zeugen aus dem Ausland den ungarischen Germanisten<br />
Csaba Földes an, der nicht gegen die Rechtschreibreform ist. Kritische Stimmen wie<br />
Zemb, Goldschmidt, Korlén, Nakayama werden nicht zitiert. Vgl. etwa:<br />
268<br />
„Man hat zum Gewinn irgendwelcher Schmarrenverkäufer und für renommeesüchtige<br />
'Linguisten' oder Gymnasialpauker eine Rechtschreibreform 'durchzusetzen'<br />
versucht, über die sich sämtliche Germanisten der Welt vor Lachen<br />
biegen. Deutschland ist übrigens das einzige Land Europas, wo derartiger<br />
Quatsch ernst genommen wird, nirgendwo sonst hat man sich je irgendeiner<br />
solchen Reform 'unterworfen' und in Frankreich schon gar nicht, darüber macht<br />
man sich höchstens im Kabarett lustig. (...) Einschüchterung durch<br />
Rechtschreibreformen ist das beste Mittel, um falschen Respekt und Untertä-
nigkeit weiter als erprobte Regierungsmittel aufrechtzuerhalten.“ (Georges-<br />
Arthur Goldschmidt in der „Weltwoche“ vom 19.10.2000)<br />
Ferner: „Ein Grund mehr, nicht Deutsch zu lernen – Einspruch aus Paris: Die Reform<br />
der Orthographie schadet im Ausland“ von Jean-Marie Zemb (Frankfurter Allgemeine<br />
Zeitung vom 17.8.2000)<br />
Die verderblichen Auswirkungen der Reform auf die Lehr- und Nachschlagewerke im<br />
Bereich Deutsch als Fremdsprache sind oben schon angedeutet worden.<br />
Nachrichtenagenturen und Presseorgane<br />
Einzelne Kommissionsmitglieder und besonders Heller haben versucht, die Agenturen<br />
auf Vordermann zu bringen, weil natürlich die dezidierte Abweichung besonders bei<br />
der Groß- und Kleinschreibung von Nominationsstereotypen ein ständiges Ärgernis<br />
bleibt. dpa-Chef Herlyn und sein damaliger Mitarbeiter Nürnberger wurden kräftig<br />
bearbeitet. Am Schluß rühmt sich die Kommission, die Agenturen schon fast in die<br />
Knie gezwungen zu haben: nur noch zwei Dutzend fester Begriffe wollen sie groß<br />
<strong>schreiben</strong>. Daraus wird natürlich nichts werden, weil die Tendenz zur Großschreibung<br />
von Nominationsstereotypen eine der stärksten und begründetsten ist. Absurderweise<br />
weicht die Kommission gleichzeitig die verordnete Kleinschreibung unter dem<br />
Deckmantel der „Fachsprachlichkeit“ wieder auf. (Näheres unten zum Teil B des<br />
Berichts.)<br />
Mehrfach wird die „Woche“ als leuchtendes Beispiel erwähnt – so auch schon im<br />
ersten Bericht der Kommission und noch bei vielen anderen Gelegenheiten. Die<br />
„Woche“ hatte bekanntlich lange vor dem Inkrafttreten der Reform auf eine ziemlich<br />
reformgetreue Hausorthographie umgestellt (Ende 1996) und rühmte sich dessen<br />
jeweils auf der ersten Seite. Allerdings mußte sie im März 2002 ihr Erscheinen<br />
einstellen, so daß sie wohl ihre Rolle als Kronzeugin einer gelungenen Umstellung<br />
ausgespielt haben dürfte. Ein ständiges Ärgernis für die Reformer ist die<br />
Rückumstellung der F.A.Z. Die Kommission hat diese Unbotmäßigkeit von Beginn an<br />
mit gehässigen Kommentaren begleitet. An Seitenhieben fehlt es auch hier nicht.<br />
„Wörterbücher“<br />
„Die Kommission hat umstrittene Einzelfragen mit den Wörterbuchverlagen<br />
besprochen und zur einvernehmlichen Interpretation der Regeln beigetragen. Die<br />
Umsetzung geschah in den jeweils folgenden Auflagen: zunächst in der<br />
Bertelsmann-Rechtschreibung vom März 1999, dann in der 22. Auflage des<br />
Rechtschreibduden vom August 2000 und schließlich auch im Österreichischen<br />
Wörterbuch in seiner 39. Auflage. Damit gibt es zwischen diesen Standard-<br />
Nachschlagewerken in Bezug auf die Auslegung der neuen amtlichen<br />
Rechtschreibregeln keine nennenswerten Unterschiede mehr.“<br />
Die Klarstellungen, die durchaus den Charakter von Regeländerungen haben, sind<br />
nicht veröffentlicht worden, so daß andere Wörterbuchverlage und überhaupt die<br />
gesamte interessierte und betroffene Öffentlichkeit sich selbst kein Bild machen<br />
können. Auch muß man einfach glauben, daß die beiden führenden Wörterbuchverlage<br />
die geltende Regelung nunmehr richtig umsetzen, nachprüfen kann man es nicht. Der<br />
Bericht fährt fort:<br />
269
„An einem Einzelfall vorgeführt, bedeutet das: Die ersten Wörterbuchauflagen,<br />
die die neue Rechtschreibung darstellen, waren zu teilweise unterschiedlichen<br />
Interpretationen von Bildungen wie erfolgversprechend (Bertelsmann 1996) bzw.<br />
Erfolg versprechend (Duden 1996) gekommen (vgl. auch S. 62ff. dieses<br />
Berichts). Die Kommission stellte klar, dass immer dann beide Schreibungen<br />
möglich sind, wenn neben einer aus zwei Wörtern bestehenden Grundform<br />
(Erfolg versprechen), die zur ebenfalls in zwei Wörtern zu <strong>schreiben</strong>den<br />
partizipialen Form führt (Erfolg versprechend), auch gesteigerte Formen<br />
existieren, die nur zusammengeschrieben werden können (noch<br />
erfolgversprechender, sehr erfolgversprechend) und folgerichtig zu partizipialen<br />
Formen gehören, die auch dann zusammengeschrieben werden, wenn sie nicht<br />
gesteigert sind (erfolgversprechend).“<br />
Dies ist durchaus neu (s. oben S. 155f.) – und führt geradewegs zur bisherigen<br />
Rechtschreibung zurück, so daß die entsprechenden Sternchen im amtlichen<br />
Wörterverzeichnis (für „neu“) nicht mehr berechtigt sind. Näheres in Teil B.<br />
„Umschulungen – Kurse zur neuen Rechtschreibung“<br />
Die Kommission berichtet auf nicht weniger als fünf Seiten über Erfahrungen aus<br />
Umschulungskursen mit professionellen Schreibenden, sagt aber nichts über die Art<br />
der Datengewinnung, so daß die Repräsentativität der „Untersuchung“ völlig im<br />
dunkeln bleibt. Grundlage seien „Erfahrungen (der Kommissionsmitglieder) als<br />
Lehrende in Umschulungsseminaren sowie (...) eine Reihe von Gesprächen mit<br />
Einzelpersonen“ (S. 56).<br />
„Die überwiegende Mehrheit der Seminarteilnehmerinnen und -teilnehmer zeigte<br />
sich enttäuscht darüber, dass in der Neuregelung der deutschen Rechtschreibung<br />
darauf verzichtet wurde, die Kleinschreibung der Substantive einzuführen.“ (S.<br />
59)<br />
Hier liegt der Verdacht nahe, daß die Reformer diese vage Behauptung nur benutzen,<br />
um auf ihr eigentliches, schon vor Jahren einstimmig bekräftigtes Ziel, die „gemäßigte<br />
Kleinschreibung“, zurückzukommen.<br />
Die Kursleiter stellten, wie berichtet wird, zu ihrer eigenen Überraschung fest, daß die<br />
meisten Kursteilnehmer nicht über das grammatische Schulwissen verfügten, das die<br />
Neuregelung voraussetzt. Die Urteile dieser Teilnehmer müßten also besonders kritisch<br />
daraufhin untersucht werden, was eigentlich gesagt und was lediglich suggeriert<br />
wurde.<br />
„Die Seminarteilnehmerinnen und -teilnehmer begrüßten einstimmig folgende<br />
neue Großschreibungen: (...) Bezeichnungen für substantivische Tageszeiten (...):<br />
heute Abend.“<br />
Auch diese Angabe weckt Zweifel, denn solche „einstimmigen“ Voten für die eine<br />
oder andere Neuregelung sind eher selten und allenfalls bei sehr kleinen und homogenen<br />
Teilnehmergruppen denkbar. Unzweifelhaft richtig ist dagegen:<br />
270<br />
„Die neue s-Schreibung gilt als Erkennungssignal der neuen Rechtschreibung.“<br />
(S. 57)
Als Gewährsperson dient in diesem Abschnitt nur eine Frau Walgenbach, die offensichtlich<br />
ihren Lebensunterhalt mit Kursen zur neuen Rechtschreibung bestreitet und<br />
sich schon früher in gefälliger Weise über die Reform geäußert hat:<br />
„Die Reform ist ein Reförmchen. Zudem greift sie weder in das gewachsene<br />
Schriftbild der deutschen Sprache ein, noch beeinträchtigt sie die Lesbarkeit der<br />
Texte. Ihre Urheber verfolgen vielmehr die Absicht, die Grundregeln der<br />
deutschen Rechtschreibung zu verstärken, die Zahl der Ausnahmen zu reduzieren,<br />
Widersprüchliches zu beseitigen und das Regelwerk systematischer und damit<br />
verständlicher zu gestalten.“ (Rheinischer Merkur vom 7.1.2000)<br />
Daß die Reform der alten Dudenregeln nicht so brennend notwendig war, verrät<br />
indirekt die Fußnote:<br />
„Bei einer Untersuchung zur Wörterbuchbenutzung hat sich daher auch<br />
herausgestellt, dass viele gar nicht wussten, dass der Rechtschreibduden einen<br />
Regelteil hat.“ (S. 58; der Verweis bezieht sich offenbar auf: Gerhard Augst et al.:<br />
Rechtschreibwörterbücher in der Diskussion. Tübingen 1997)<br />
Kommentar zu Teil B des Berichts<br />
Der Bericht geht nur auf ausgewählte Teile der Reform ein. Im nächsten Bericht (2003)<br />
sollen weitere „Problemfälle“ (S. 61) der Neuregelung besprochen, zugleich aber auch<br />
Veränderungsvorschläge gemacht und nicht nur wie 2001 in einem Pro und Kontra<br />
erörtert werden:<br />
„Der nächste Bericht Ende 2003 wird, falls notwendig, explizite Vorschläge<br />
enthalten. Den staatlichen Instanzen bleiben damit bis zum Ende der Übergangszeit<br />
(31. Juli 2005) eineinhalb Jahre Zeit, um sich mit den Vorschlägen der<br />
Kommission zu befassen und sie ggf. rechtzeitig in Verordnungen umzusetzen.“<br />
Die vorläufig nur diskutierende Vorgehensweise wird folgendermaßen begründet:<br />
„Die Zwischenstaatliche Kommission hofft mit diesem Vorgehen einen Weg<br />
gewählt zu haben, mit dem die anstehenden Entscheidungen optimal vorbereitet<br />
werden können.“ (S. 62)<br />
Diese „Entscheidungen“ können nichts anderes sein als die ab 2005 einzuführenden<br />
Veränderungen.<br />
Trotz der eigentümlichen Vorgehensweise im vorliegenden Bericht zeichnet sich in<br />
vielen Fällen ab, mit welchen Änderungen mittel- und langfristig gerechnet werden<br />
muß. Die Problemerörterung wird eröffnet mit dem mißlungensten Teil der Neuregelung,<br />
der Getrennt- und Zusammenschreibung. Zunächst wird behauptet, der<br />
Komparativ gewinnbringender müsse laut § 36 der Neuregelung ohnehin zusammengeschrieben<br />
werden, weil es keinen zugehörigen einfachen Komparativ bringender<br />
gebe. Der Hinweis auf den Komparativ (und Superlativ) stammt eigentlich von den<br />
Kritikern und wird seit einiger Zeit von den Reformern als eigene Einsicht<br />
beansprucht. Im hier herangezogenen § 36 (2) handelt es sich aber um solche Fälle wie<br />
großspurig, kleinmütig usw. Auch ist das Beispiel gewinnbringend denkbar ungeeignet,<br />
denn es bildet zusammen mit grauenerregend die erratischen Einzelfälle des amtlichen<br />
Wörterverzeichnisses, deren Herleitung aus den Regeln immer unklar war. Neuerdings<br />
weiten die Reformer diese Beispiel so aus, daß man annehmen soll, alle vergleichbaren<br />
271
Fälle würden selbstverständlich im Falle der Steigerung zusammengeschrieben. (Allerdings<br />
fehlt dann der Positiv, es ergibt sich die befremdliche Reihe Besorgnis erregend,<br />
sehr besorgniserregend, noch besorgniserregender ...; s. u. zu 1.1.2. Später wird in<br />
widersprüchlicher Weise behauptet, aus dem Regelwerk ließen sich zwei Formen des<br />
Positivs ableiten: Gewinn bringend und gewinnbringend, schwer wiegend und<br />
schwerwiegend; nach dem Kriterium des selbständigen Vorkommens ist das jedoch<br />
ausgeschlossen.) Daß die Reformurheber das gedacht haben, läßt sich nicht widerlegen,<br />
gesagt haben sie es jedenfalls nicht. Das geben sie auch zu:<br />
„Die genannten Möglichkeiten werden im Regelteil nirgends explizit vorgeführt.<br />
Es lässt sich höchstens aus ein paar Einträgen im Wörterverzeichnis<br />
rekonstruieren, dass beide logisch denkbaren Schreibungen tatsächlich zugelassen<br />
sind. Dies widerspricht aber der Grundintention der Neuregelung, außerhalb<br />
bestimmter Teile der Wortschreibung keine Regelung über das Wörterverzeichnis<br />
vorzunehmen.“<br />
Was das Wörterverzeichnis betrifft, so versuchen die Reformer an mehreren Stellen, es<br />
aus der Schußlinie der Kritik zu nehmen, indem sie ihm nur eine untergeordnete<br />
Bedeutung zuweisen:<br />
„Bei der derzeit geltenden Regelung kann sich der Schreibende darauf verlassen,<br />
dass in Zweifelsfällen die amtlichen Regeln und nicht das Wörterverzeichnis (...)<br />
den Ausschlag geben. Abgesehen von den Laut-Buchstaben-Beziehungen hat das<br />
Wörterverzeichnis nur exemplarischen, also nicht normsetzenden Charakter.“ (S.<br />
83)<br />
Das steht nun in krassem Gegensatz zum amtlichen Regelwerk selbst und zu den<br />
früheren Verlautbarungen. Im Vorwort zur amtlichen Neuregelung heißt es:<br />
„Auf der Basis dieser grundlegenden Beziehungen wird durch den Regelteil und<br />
das Wörterverzeichnis die geltende Norm der deutschen Schreibung festgelegt.<br />
Dabei ergänzen sie einander.“<br />
Auch in den einschlägigen Beiträgen zum Sammelband „Zur Neuregelung der<br />
deutschen Orthographie“ (Augst et al. [Hg.]., 1997; darin besonders Augst/Schaeder<br />
und Heller/Scharnhorst) ist keine Rede von einer untergeordneten Funktion des<br />
Wörterverzeichnisses. Regeln und Wörterverzeichnis werden vielmehr als „komplementär“<br />
bezeichnet.<br />
Der Bericht berücksichtigt erstmals das Argument des prädikativen Gebrauchs. Bisher<br />
kam es weder im amtlichen Regelwerk noch in den Rechtfertigungsversuchen der<br />
Reformer vor. Die Reformer sehen jetzt ein, daß diese Investition ist Gewinn bringend<br />
„kaum akzeptierbar“ ist. Folglich trete hier „Univerbierung“ zum „komplexen<br />
Adjektiv“ ein. (Auch der Begriff der „Univerbierung“ ist neu, er stammt aus der<br />
Argumentation der Reformkritiker.) Deshalb wird die Wiederzulassung von<br />
gewinnbringend auch in der Grundform und nicht erst bei tatsächlicher Steigerung<br />
erwogen. Dies wird zweifellos kommen und mehrere Dutzend ganz geläufiger Wörter<br />
erfassen, die zum Teil in den neuesten Wörterbüchern schon wieder in herkömmlicher<br />
Weise geschrieben sind.<br />
Wenn es aber (wie der Text stellenweise nahelegt) seit je so gemeint war – was<br />
bedeuten dann die Sternchen im amtlichen Wörterverzeichnis? (großen) Gewinn<br />
bringend, sehr gewinnbringend, noch gewinnbringender usw. – das ist doch genau die<br />
272
isherige Schreibweise! Auf diese Frage sind die Reformer bisher eine Antwort<br />
schuldig geblieben. Stattdessen verkleiden sie den sich abzeichnenden Umsturz mit<br />
folgenden wohlgesetzten Worten:<br />
„Im hier diskutierten Bereich der Getrennt- und Zusammenschreibung ist in<br />
Fällen wie Gewinn bringend oder gewinnbringend also eine Toleranz-Metaregel<br />
anzusetzen. Dieser komplizierte Sachverhalt muss im amtlichen Regelwerk so<br />
nicht explizit aufgezeigt werden, er sollte aber wenigsten indirekt in einer<br />
passenden Erläuterung ein Äquivalent haben.“ (S. 65)<br />
Wie steht es aber mit der kritisierten Getrenntschreibung bei Fällen, die überhaupt<br />
nicht gesteigert werden können: allein stehend usw.?<br />
„Während die Komparierbarkeit zu Schreibvarianten wie gewinnbringend vs.<br />
Gewinn bringend und schwerwiegend vs. schwer wiegend führt, lässt sich für<br />
nichtkomparierbare Fügungen aus dem amtlichen Regelwerk nur eine einzige<br />
Schreibung ableiten, also beispielsweise nur allein stehend (und nicht auch<br />
alleinstehend). Aus grammatischer Sicht ist allerdings zu vermuten, dass auch in<br />
solchen Verbindungen eine Varianz zwischen zwei Arten von Lexikalisierung<br />
vorliegt, nämlich Lexikalisierung mit und ohne Univerbierung (im ersten Fall<br />
liegt ein einzelnes, morphologisch komplexes syntaktisches Wort vor, im zweiten<br />
Fall handelt es sich um eine lexikalisierte Phrase, um einen Phraseologismus aus<br />
mehreren syntaktisch selbstständigen Wörtern).“ (S. 65)<br />
Hier wird in bisher unbekannter Art die Sprachwirklichkeit gegen die Neuregelung in<br />
Stellung gebracht. Die Reformer erkennen erstmals an, daß es im Deutschen eben<br />
beide Schreibweisen gibt und daß sie in scharfem Gegensatz zum Regelwerk beide ihre<br />
Berechtigung haben. Damit ist aber das Tor geöffnet, durch das Zusammensetzungen<br />
wie alleinstehend wieder hereingelassen werden müssen.<br />
Außerdem wird endlich mit der falschen Behauptung aufgeräumt, daß Substantivierung<br />
von erweiterten Partizipien zur Zusammenschreibung führe. Der führende<br />
Reformer Gerhard Augst glaubt ja, daß Busfahren aus der Wortgruppe (wir wollen mit<br />
dem) Bus fahren entstanden ist:<br />
„Der ganze Ausdruck ist substantiviert gebraucht und wird dadurch zu einer<br />
Zusammensetzung.“ (Gerhard Augst/Mechthild Dehn: Rechtschreibung und<br />
Rechtschreibunterricht. Stuttgart 1998, S. 140)<br />
Ebenso werde aus Arbeit suchend der Arbeitsuchende, aus oben genannt das<br />
Obengenannte. Die Schweizer Reformer Gallmann und Sitta haben seit 1996 darauf<br />
hingewiesen, daß dies nicht zutrifft: substantiviert wird stets nur das Partizip: der<br />
Arbeit Suchende, das oben Genannte usw. Nun scheinen sie sich endlich durchgesetzt<br />
zu haben, denn der Bericht stellt kühl fest:<br />
„Dass in Verbindungen wie die Alleinstehenden oder das Kleingedruckte eine<br />
Neigung zur Zusammenschreibung besteht, hat also nichts mit Substantivierung<br />
zu tun, es ist vielmehr Univerbierung schon im zugrunde liegenden attributiven<br />
Gebrauch anzunehmen.“ (S. 66)<br />
Sind sich die Reformer darüber im klaren, daß sie damit entgegen der Neuregelung<br />
auch Komposita wie kleingedruckt wiedereinführen? An dieser Stelle ist das nicht ganz<br />
deutlich. Leider bleibt im Folgenden der Komplex eisenverarbeitend, fleischfressend<br />
usw. ausgespart, aber es kann für den Einsichtigen nicht zweifelhaft sein, daß auch<br />
273
diese jetzt „verbotenen“ Wörter sehr bald wiederauferstehen werden, notfalls unter der<br />
Rubrik „Fachsprache“.<br />
Im Widerspruch zu diesen neuen Einsichten der Kommission heißt es in einem<br />
polemischen, mir gewidmeten Anhang:<br />
„Es wird behauptet, dass Schreibungen wie der Schwerverletzte, die<br />
Schwerbewaffneten durch das Regelwerk nicht gedeckt sind und dass 'einige<br />
Reformer eine abenteuerliche grammatische Regel erfunden (hätten): Bei<br />
Substantivierung tritt fakultativ Großschreibung [gemeint: Zusammenschreibung]<br />
ein'.<br />
Einen Gegensatz zum amtlichen Regelwerk gibt es nicht.“<br />
Aber genau diesen Gegensatz hat die Kommission weiter oben eingeräumt! Hier weiß<br />
offenbar die rechte (deutsche) Hand nicht, was die linke (schweizerische) tut.<br />
Unter 1.2 wird der Fall Leid tun, Recht haben, Not tun erörtert. Stillschweigend setzen<br />
die Verfasser – wie auch an anderen Stellen – eine Maxime voraus, die im amtlichen<br />
Regelwerk nicht ausgesprochen, aber trotzdem wirksam ist und aus einer früheren<br />
Diskussion stammt: „Entweder klein und zusammen oder groß und getrennt!“<br />
Demnach wird als Alternative zu Leid tun lediglich leidtun ins Auge gefaßt, nicht aber<br />
die bisher allein gebräuchliche Schreibweise leid tun. (Die Zusammenschreibung hat<br />
Gallmann schon früher vorgeschlagen, vgl. Zeitschrift f. Sprachwissenschaft 18, 1999.<br />
Ähnlich soll ja laut Neuregelung die bisher übliche Schreibweise von seiten verboten<br />
und durch zwei bisher weniger übliche Schreibweisen, vonseiten und von Seiten ersetzt<br />
werden.)<br />
Die Diskussion über die Wortart ist verhältnismäßig breit, geht aber nicht auf das<br />
zwingende Hauptargument ein, das den Reformern seit mindestens sechs Jahren<br />
bekannt ist, also die Intensivierbarkeit: so Leid es mir tut und wie Recht du hast sind ja<br />
grammatisch falsch. Bei Not tun behaupten sie, die Wortart von Not (besser not) sei<br />
unklar und der adjektivische Gebrauch wie in not sein, Schiffahrt ist not obsolet; aber<br />
sie erwägen immerhin, neben der Großschreibung auch nottun zuzulassen und in die<br />
geschlossene Liste § 34 (3) aufzunehmen. Jedoch: „Die frühere Schreibung not tun<br />
(getrennt und klein) sollte nicht wiederbelebt werden.“ – Warum nicht, wenn sie doch<br />
bisher üblich war? Die Antwort ist wieder in der genannten, niemals ausgesprochenen<br />
Metaregel (vgl. S. 244) zu suchen. Bei Pleite gehen und Bankrott gehen wird zunächst<br />
die Behauptung wiederholt, dies könne „als Verkürzung einer Präpositionalphrase<br />
interpretiert werden: in die Pleite gehen → Pleite gehen“ (bzw. in den Bankrott gehen<br />
usw.). Das ist abwegig. Es handelt sich schlicht um die Adjektive pleite und bankrott,<br />
und die Konstruktion ist genauso zu deuten wie bei kaputt, verloren, verschütt,<br />
entzwei. Substantive kommen hier nicht in Betracht. Auch auf dieses ihnen bekannte<br />
Argument gehen die Verfasser nicht ein. Sie schlagen weitere Variantenschreibung vor:<br />
pleitegehen oder Pleite gehen. Als Vorzug dieser Lösung wird in diesen und ähnlichen<br />
Fällen jeweils angegeben, sie verhindere, „dass Wörterbücher plötzlich 'falsche'<br />
Einträge enthalten“ (S. 70). Die Rücksichtnahme auf die bereits reformierten<br />
Wörterbücher wird also ganz offen in Anschlag gebracht, eine direkte Rücknahme des<br />
gequält zugegebenen Mißgriffs aus diesem Grunde für untunlich gehalten. Schon im<br />
ersten Bericht Ende 1997 war diese Rücksichtnahme zu beobachten:<br />
274<br />
„[Die Kommission] glaubt, dass die vorgeschlagenen kleinen inhaltlichen
Modifikationen die Akzeptanz erhöhen werden. Sie haben keine unmittelbaren<br />
Auswirkungen auf die Schulbücher und auf die Wörterbücher.“<br />
Noch zynischer kommt die Interessenverflechtung mit den Wörterbuchverlagen in der<br />
folgenden Bemerkung des dritten Berichts zum Ausdruck:<br />
„Die Sprachgemeinschaft hat sich nach anfänglichem Zögern an die Schreibung<br />
Leid tun mit substantivischer Interpretation von Leid gewöhnt. Eine neuerliche<br />
Änderung verunsichert unnötig und bringt die Wörterbuchverlage in<br />
Schwierigkeiten.“ (S. 70)<br />
Hinter solchen wirtschaftlichen Rücksichten muß die Sprachrichtigkeit offenbar<br />
zurückstehen.<br />
„Groß- und Kleinschreibung“<br />
Besonders der deutsche Beirat drängt auf „eine behutsame Weiterentwicklung in<br />
Richtung auf eine noch stärkere Systematisierung der Regeln“:<br />
„Ausnahmen erschweren die Erlernbarkeit der Rechtschreibung. Insofern die<br />
Sprachgemeinschaft die interiorisierten Regeln per Analogiebildung auf<br />
bestehende Ausnahmen ausweitet, ist das Regelwerk an den beobachtbaren<br />
Schreibgebrauch anzupassen. Entsprechende Tendenzen zeichnen sich z. B. bei<br />
der Schreibung von Zahladjektiven wie *der Eine, *der Andere und *die Meisten<br />
ab.“ (S. 129)<br />
Die Zulassung dieser im 19. Jahrhundert zeitweise verbreiteten Schreibweisen<br />
entspricht, wie gezeigt wurde, besonders den Wünschen Peter Gallmanns.<br />
Die Tendenz, immer mehr Varianten zuzulassen – aber nicht als Anpassung an<br />
beobachtete Schreibgewohnheiten, sondern aus Verlegenheit: damit keine offene<br />
Revision des amtlichen Regelwerks erforderlich wird –, steht im Widerspruch zu der<br />
andernorts hervorgehobenen Einsicht, daß „staatliche Normierung der Rechtschreibung<br />
stets mit einer Reduktion von Variantenschreibungen einher(ging)“.<br />
„Variantenschreibungen setzen den Schreiber unter Entscheidungszwang und<br />
tragen in Ermangelung einer konsistenten Variantenführung häufig zur Verunsicherung<br />
bei. Deshalb sollen auch im zweiten Teil des Berichts die Vorschläge<br />
nicht berücksichtigt werden, die zu wesentlich mehr Varianten führen.“ (S. 129)<br />
Nimmt jedoch das Wörterbuch dem Schreibenden die Entscheidung ab, so ist er<br />
gezwungen, ständig nachzuschlagen. Damit wird der vielbeklagte alte Zustand<br />
wiederhergestellt („Den Duden braucht jeder“).<br />
Zu Acht geben <strong>schreiben</strong> die Verfasser u. a.:<br />
„Die Rückkehr zur früheren Zusammenschreibung achtgeben ist nur dann<br />
sinnvoll, wenn für die anderen Wendungen (außer derjenigen mit dem<br />
Indefinitum aller) zumindest fakultativ auch die Zusammenschreibung nach § 39<br />
E3 (1) vorgesehen wird: achtgeben (ich gebe acht), sich inacht nehmen, (ich<br />
nehme mich inacht), außeracht lassen (ich lasse außeracht); vgl. Verbindungen<br />
wie infrage stellen, instand setzen (neben: in Frage stellen, in Stand setzen). Die<br />
Rückkehr zu den alten Schreibungen sich in acht nehmen, außer acht lassen ist<br />
abzulehnen, da bei ursprünglich substantivischen Bestandteilen die zwitterhafte<br />
275
Kombination von Getrennt- und Kleinschreibung in der Neuregelung<br />
systematisch beseitigt worden ist.“ (S. 73)<br />
Gerade dies war ein Kardinalfehler der Neuregelung, geboren aus jenem früh gefaßten<br />
Vorurteil von der „zwitterhaften“ Kombination, die ja die im Deutschen seit langem<br />
übliche war. Die Reformer erweisen sich hier als Gefangene ihrer willkürlichen, den<br />
Schreibgebrauch mißachtenden Festlegung, die niemals mehr zur Disposition gestellt<br />
wurde. In dieser selbstverschuldeten Zwangslage sehen sie sich dann genötigt, die<br />
völlig neuen Zusammenschreibungen außeracht usw. als Alternative zu erwägen.<br />
Sehr sonderbar beginnen die Ausführungen zu Recht haben:<br />
„Die französische Entsprechung avoir raison legt es nahe, dass in dieser Verbindung<br />
das Substantiv (das) Recht und nicht das Adjektiv recht vorliegt.“ (S. 74)<br />
Wozu dieser Ausflug ins Französische, wo doch das Deutsche selbst klar zeigt, daß es<br />
sich nicht (mehr) um das Substantiv handeln kann: wie recht du damit hast usw.?<br />
Im übrigen schlagen sich die Reformer in dem erstaunlich umfangreichen Kapitel über<br />
die Groß- und Kleinschreibung wie bisher mit den Begriffen „Eigenname“,<br />
„eigennamenähnlich“, „feste Fügung“ usw. herum, weil sie die Tatsache („offensichtliche<br />
Tendenz“, S. 79) nicht bestreiten können, daß die Sprachgemeinschaft mehr<br />
und mehr Verbindungen aus Adjektiv und Substantiv groß schreibt und auch die<br />
Nachrichtenagenturen sich von der verordneten Kleinschreibung ausdrücklich<br />
distanziert haben.<br />
Der Grund der Misere liegt darin, daß die Reformer sich weiterhin weigern, den<br />
wahren Grund der Großschreibung zu erkennen. Zuerst versuchen sie es mit dem<br />
Begriff der festen, d. h. phraseologischen Verbindung und wundern sich dann, daß<br />
komischer Vogel, direkte Verbindung oder schöne Bescherung nicht ebenfalls groß<br />
geschrieben werden. In Wirklichkeit hat die Großschreibung von Erste Hilfe,<br />
Schwarzes Brett, Schneller Brüter usw. mit Phraseologie gar nichts zu tun. Vielmehr<br />
geht es darum, nomenklatorische von rein be<strong>schreiben</strong>den Ausdrücken zu<br />
unterscheiden. Diese Erklärung ist den Reformern bekannt, sie gehen aber nicht darauf<br />
ein. Statt dessen erwägen sie, ob es sich bei der Roten Karte usw. um eine<br />
„Aufmerksamkeitsgroßschreibung“ handele und damit um eine typographische (!)<br />
Angelegenheit wie „Kursiv- oder Fettdruck“, die vom amtlichen Regelwerk nicht<br />
behandelt werden müsse (S. 84). Diese offensichtlich fruchtlose Erörterung wird dann<br />
ergebnislos abgebrochen.<br />
„Adjektivische Ableitungen von Eigennamen“<br />
Hier wird gar nicht beachtet, daß „Adjektive“ höchst heterogen sind und vor allem die<br />
Bezugsadjektive, um die es bei der Großschreibung Ohmsches Gesetz geht, eine<br />
Sondergruppe bilden. Die zum Vergleich – und Erweis der angeblichen Unzulänglichkeit<br />
der bisherigen Regelung – herangezogenen Adjektive „auf -esk und -istisch<br />
wie in kafkaesk, darwinistisch“ (ebd.) sind keine Bezugsadjektive, sondern qualitative,<br />
folglich prädikativ verwendbare. Der „adjektivische Wortartstatus“, an dem sich die<br />
Neuregelung orientiert (ebd.), ist also etwas sehr Uneinheitliches, und es ist kein<br />
Wunder, wenn sich die Intuition der Schreibenden gegen die Neuerung sträubt. Als<br />
Anlaß für neue Überlegungen wird lediglich angegeben, daß „manche Schreibende vor<br />
der generellen Kleinschreibung der Ableitungen zurückschrecken und auch nicht<br />
Gebrauch von der Möglichkeit machen, den Personennamen zur Hervorhebung mit<br />
276
Apostroph abzutrennen.“ Warum das so sein könnte, wird nicht gefragt. Es ist<br />
erstaunlich, daß auf angeblich so schwacher Grundlage dann doch über mehrere Seiten<br />
hin Alternativen zur Neuregelung erörtert werden. Es werden nicht weniger als vier<br />
Möglichkeiten diskutiert.<br />
Die naheliegendste, von der ZEIT gewählte Möglichkeit ist die Beibehaltung der<br />
bisherigen Dudenregelung. Hier fassen sich die Reformer am kürzesten, indem sie<br />
umstandslos behaupten, die frühere Regel sei „ohne enzyklopädisches Hintergrundwissen<br />
nicht zu bewältigen“ (S. 89). Das wäre kein so starker Einwand, denn die<br />
meisten Fälle dieser Art gehören ohnehin in fachliche Zusammenhänge.<br />
Als zweite Möglichkeit wird die Hausorthographie der Nachrichtenagenturen angeführt,<br />
die allerdings wegen ihrer bekannten Unbedarftheit kaum so viel Beachtung<br />
verdienen dürfte. Die Agenturen hatten allgemeine Großschreibung festgelegt, aber<br />
wahrscheinlich gar nicht so gemeint.<br />
Dritte Möglichkeit soll die angloamerikanische generelle Großschreibung sein. Das ist<br />
m. W. in der bisherigen Reformkritik überhaupt noch nicht ernsthaft vorgeschlagen<br />
worden und wird hier offenbar nur im Sinne einer Reductio ad absurdum vorgeführt.<br />
Warum sollte man plötzlich Deutsche Sprache, Kafkaeske Gestalten, Eulenspiegelhaftes<br />
Treiben, Amerikanische Industrie usw. <strong>schreiben</strong>?<br />
Auch die vierte Möglichkeit, generelle Kleinschreibung, wird sofort auf die Ableitungen<br />
mit -er ausgedehnt: schweizer Berge, münchner Innenstadt, mit Bindestrich: sanktgaller<br />
Bibliotheken usw. – lauter Schreibweisen, von denen die Reformer sogleich mit<br />
Recht sagen können: „Es ist unsicher, ob solche Schreibungen auf Akzeptanz stoßen<br />
werden.“ (S. 92) – Warum werden sie dann erwogen? Das Ganze erweist sich als<br />
Scheingefecht, das lediglich die Offenheit der Kommission für kritische Argumente<br />
zeigen soll, aber in keiner Weise ernst genommen werden kann.<br />
„Zusammenfassung“<br />
Die Reformer versuchen mit allen Mitteln, die Sprachgemeinschaft vom gefährlichsten<br />
aller Gedanken abzuhalten: daß die bisher übliche Rechtschreibung, äußerst<br />
leserfreundlich und unvergleichlich besser als die reformierte ist. Daß jemand schlicht<br />
zur bisherigen Rechtschreibung zurückkehrt und damit den Wünschen der Leser<br />
ebenso gerecht wird wie der simpelsten Sprachrichtigkeit – diese selbstverständliche<br />
Antwort auf das mutwillig erzeugte Durcheinander wird von der Kommission und<br />
ihren Parteigängern als gänzlich undenkbar perhorresziert.<br />
„In den Schulen und darüber hinaus sollte stärker als bisher die Einsicht in die<br />
Dynamik der Sprache deutlich gemacht werden. Diese Dynamik erscheint<br />
synchron als Varianz und diachron als Sprachgeschichte. Die Veränderung der<br />
Rechtschreibung könnte damit trotz (amtlicher) Normierung als etwas der<br />
Rechtschreibung Wesengemäßes verstanden und toleriert werden. Damit könnten<br />
Varianten akzeptabler und Veränderungen tolerabler werden.“ (S. 112)<br />
Hier wird mit dem Wort „Veränderung“ gespielt, das ja nicht mehr erkennen läßt, ob<br />
Sprache sich im Gebrauch selbst verändert oder durch einen Eingriff von außen<br />
verändert wird.<br />
Die Kommission stellt hier auch zum wiederholten Male die unwahre Behauptung auf,<br />
das Buch „Rechtschreibreform und Nationalsozialismus“ von Hanno Birken-Bertsch<br />
277
und Reinhard Markner sei eine „Auftragsarbeit des Präsidenten der Deutschen<br />
Akademie für Sprache und Dichtung“.<br />
Anlage 1<br />
Als Anlage 1 ist dem Bericht der schon bekannte Text „Immer wieder falsche<br />
Beispiele“ angefügt, der seit 2000 auch auf der Internetseite der Kommission steht. Zur<br />
Kennzeichnung der Vorgehensweise seien hier drei aufeinander folgende Beispiele<br />
herausgegriffen. Ich füge der Gegenüberstellung von „Falschmeldung“ und<br />
„Richtigstellung“ jeweils meinen Kommentar hinzu:<br />
Falschmeldung:<br />
„[...] der Staat [...] überschreitet seine Kompetenz, [...] indem er meint, diktieren<br />
zu können, [...] daß Schneuzen von Schnauze kommt.“ (Appell der Deutschen<br />
Akademie für Sprache und Dichtung, FAZ vom 4.8.2000)<br />
Richtigstellung:<br />
Ein Blick in die einschlägigen etymologischen Wörterbücher belegt die<br />
Verwandtschaft von Schnauze und schnäuzen. Vgl. Kluge, 23. Aufl. 1995, S. 735<br />
ff. und Pfeifer (Hrsg.), München 1997, S. 1228 ff.<br />
Kommentar: Die Wörterbücher sagen sachlich richtig, daß die beiden Wörter verwandt<br />
sind, nicht aber, daß schneuzen (mhd. sniuzen) von Schnauze abgeleitet ist. Mehr hatte<br />
auch die Akademie nicht behauptet.<br />
Falschmeldung:<br />
„Und verbläuen ist nicht mit blau verwandt.“ (K. Reumann, FAZ vom 10.8.2000;<br />
S. 3)<br />
Richtigstellung:<br />
„Zerbläut ihn! Schlagt! / Sein Maul soll jedes Wort entgelten!“ (aus einem<br />
Gedicht Friedrich von Hagedorns, 1757, in der FAZ vom 9.8.2000 (!); S. N 6)<br />
Kommentar: Es ist nichts Neues, daß manche Menschen verbleuen, einbleuen usw. mit<br />
blau in Verbindung bringen. Das mag auch Hagedorn so empfunden haben – dessen<br />
Text allerdings aus einer orthographischen Frühzeit stammt und nur begrenzt solche<br />
Rückschlüsse zuläßt. Dennoch ist es nicht damit verwandt, und die von der Reform<br />
verordnete, nunmehr allein gültige volksetymologische Schreibweise ist damit nicht zu<br />
rechtfertigen.<br />
278<br />
Falschmeldung:<br />
„Die Kultusminister haben ... gesagt, die Neuerung schaffe kein einziges Wort ab.<br />
Aber das ist nicht die Wahrheit; denn so dumm sind die Minister nicht, daß sie<br />
nicht wüßten, welch ein Bedeutungsunterschied zwischen schwer fallen und<br />
schwerfallen besteht.“ (K. Reumann, FAZ vom 10.8.2000)<br />
Richtigstellung:<br />
Er ist schwer gefallen und es ist ihm schwer gefallen sind syntaktisch ganz<br />
unterschiedliche Konstruktionen. Auch wenn schwer fallen jetzt – wegen der<br />
Steigerbarkeit des Adjektivs – in beiden Fällen getrennt geschrieben wird, geht<br />
keine Bedeutung verloren, sondern allenfalls ein Wörterbucheintrag. Im Kontext
ist schwer fallen immer eindeutig. Das Gleiche gilt für leicht fallen, heilig<br />
sprechen usw.“<br />
Kommentar: „Bedeutungen“ gehen freilich nie verloren, denn man kann sie in jeder<br />
beliebigen Sprache und Schrift ausdrücken. Verloren geht durch die obligatorische<br />
Getrenntschreibung eine Unterscheidungsschreibung, die bisher möglich war und hier<br />
sogar durch unterschiedliche Betonung gestützt wurde. Durch die Reform gehen<br />
Wörter insofern verloren, als sie aus den Wörterbüchern verschwinden, z. B.<br />
sogenannt.<br />
Damit ist die eristische Vorgehensweise der Kommission hinreichend veranschaulicht:<br />
Man widerlegt etwas, was keiner behauptet hat, und beweist etwas, was niemand<br />
bestritten hat.<br />
Anlage 2<br />
Dieser Teil ist mir gewidmet. Ich greife nur weniges heraus. Vorab ein Abschnitt aus<br />
der „Zusammenfassung“:<br />
„Th. Ickler, der als einer der schärfsten Kritiker der Neuregelung in der<br />
Öffentlichkeit bekannt geworden ist, hat in der Zwischenzeit ein eigenes<br />
Wörterbuch publiziert, das weder die Regeln der alten DUDEN-Rechtschreibung<br />
noch die Neuregelung befolgt. Im völligen Widerspruch zu seiner heftigen Kritik<br />
an vielen neuen Getrenntschreibungen (z. B. des Typs sitzen bleiben in allen<br />
Bedeutungen) lässt er diese in seinem Wörterbuch nun selbst als fakultative<br />
Varianten zu. Auch Wissenschaftler und Rezensenten [eine Fußnote verweist auf<br />
Kürschner, Niederhauser und Schoebe] außerhalb der Kommission sehen darin<br />
einen eklatanten Glaubwürdigkeitsverlust [vorläufige Fassung: „eine eklatante<br />
Diskreditierung“] Icklers als Kritiker der Neuregelung“. (S. 110)<br />
Ich habe kritisiert, daß die Neuregelung bei sitzen bleiben usw. Getrenntschreibung<br />
obligatorisch vorschreibt. Die tatsächlich zu beobachtenden Tendenz zur Unterscheidungsschreibung<br />
bei den sog. Positionsverben mit bleiben ist in meinem<br />
Wörterbuch sehr wohl berücksichtigt, bei gleichzeitiger Anerkennung der noch<br />
herrschenden Nichtunterscheidung. Ferner habe ich die Behauptung kritisiert,<br />
zwischen kennenlernen und schwimmen lernen gebe es keine strukturellen<br />
Unterschiede. Diese gibt es sehr wohl; aber sie berechtigen nicht dazu, über die<br />
fakultative Gleichbehandlung hinwegzugehen, wie es einerseits der alte Duden,<br />
andererseits (mit anderem Ergebnis) die Neuregelung tun. Die Kommission<br />
unterschlägt die erklärte Absicht meines Rechtschreibwörterbuchs: die bisherige<br />
Rechtschreibung so darzustellen, wie sie wirklich war und ist. Daß ich dabei weder die<br />
Dudenregeln noch die Neuregelung ab<strong>schreiben</strong> konnte, liegt auf der Hand.<br />
Zur Kennzeichnung der Argumentationsweise sei das zweite Beispiel aus der Anlage 2<br />
zitiert:<br />
„Als regelwidrig hingestellt werden auch die Schreibungen blutbildend und<br />
blutsaugend.<br />
Auch diese Schreibungen sind regelkonform.<br />
279
Begründung:<br />
Die Variantenschreibungen blutbildend/Blut bildend und blutsaugend/Blut<br />
saugend ergeben sich nach § 36 E2, da die Rückführbarkeit auf eine Wortgruppe<br />
nach § 36(1) zwar möglich, aber nicht zwingend ist (neues Blut bilden →<br />
blutbilden [gemeint: blutbildend]; Blut bilden → Blut bildend).“<br />
Aus dem Regelwerk geht hervor, daß nur bei Rückführbarkeit des ersten Teils auf eine<br />
Wortgruppe Zusammenschreibung eintritt. Aus Blut bilden kann man Blut bildend<br />
ableiten, folglich tritt zwingend Zusammenschreibung ein, da der erste Bestandteil<br />
(Blut) nicht für eine Wortgruppe steht (vgl. § 36 (1), also, wie der Duden früher zu<br />
sagen pflegte, nichts ausgelassen wird. Die Kommission führt jedoch vor, daß man<br />
zunächst ein willkürlich ausgewähltes Wort hinzufügen und dann wieder weglassen<br />
kann, so daß doch eine Wortgruppe zugrunde liegt: neues Blut bilden → blutbildend;<br />
Blut bilden → Blut bildend. Auf dieselbe Weise käme man ja auch mühelos zu altes<br />
Eisen verarbeiten → eisenverarbeitend. Damit wäre eine große Gruppe eigens gekennzeichneter<br />
und vielgerühmter Neuschreibungen (fleischfressend, erdölexportierend<br />
usw.) wiederhergestellt. Das Ganze wirkt wie ein frivoler Scherz, und man wundert<br />
sich, daß die Beiräte solchen Unfug gebilligt haben.<br />
„Kritisiert wird die inkonsequente Handhabung der Fälle zufrieden stellend und<br />
nichts sagend.<br />
Die Variantenschreibungen zufriedenstellend und nichtssagend entsprechen zwar<br />
der amtlichen Regelung, sind im amtlichen Wörterverzeichnis aber nicht<br />
ausdrücklich genannt. Entsprechend der unter 1. gegebenen Begründung<br />
(Steigerbarkeit) wäre es richtig, die zusammengeschriebenen Formen bei einer<br />
Neuauflage des Duden (der jetzt schon ein zufriedenstellenderes Ergebnis<br />
verzeichnet) zu berücksichtigen.“<br />
Hier tun die Reformer so, als habe die Zusammenschreibung von zufriedenstellend<br />
schon immer ihrer Absicht entsprochen. In Wirklichkeit war davon 1996 noch keine<br />
Rede. Erst später beugten sich die Reformer einem der Argumente ihrer Kritiker,<br />
nämlich der gesamthaften Steigerbarkeit, und erkannten die Zusammenschreibung der<br />
gesteigerten Formen an. Der neubearbeitete Duden von 2000 hat folglich (wie schon<br />
1996) ein zufrieden stellendes, aber zufriedenstellenderes Ereignis. Bertelsmann und<br />
das Österreichische Wörterbuch, die ebenfalls direkt von der Kommission beraten<br />
worden sind, haben den Eintrag entweder gar nicht (Bertelsmann nur den getrennt<br />
geschriebenen Infinitiv) oder nur die Getrenntschreibung zufrieden stellend (so das<br />
ÖWB auch in der letzten Neubearbeitung). Und in dieser Form haben Bertelsmann und<br />
Duden die ausdrückliche Billigung der Kommission gefunden, vgl. oben S. 101, Anm.<br />
80, sowie die folgende Äußerung:<br />
280<br />
Vgl. auch: „Die Differenzen zwischen DUDEN und BERTELSMANN, die Sie<br />
festgestellt haben wollen und die es in einigen wenigen Grenzfällen sicher<br />
gegeben hat, sollten Sie anhand der 22. Auflage des RECHTSCHREIBDUDENS<br />
überprüfen, der – anders als missgünstige Kritiker das gern gesehen hätten – die<br />
amtlichen Regeln noch strenger befolgt, so dass Unterschiede gegenüber der<br />
BERTELSMANN-RECHTSCHREIBUNG wohl kaum noch auszumachen sind.“<br />
(Heller brieflich im Februar 2001)
Daraus und aus der Mahnung des dritten Berichts an den Duden geht klar hervor, daß<br />
die Wiederherstellung der Grundform zufriedenstellend erst zu den neuesten Einsichten<br />
der Kommission gehört. Auf einem großen Umweg ist somit genau die alte<br />
Schreibweise wiederhergestellt. Nur das Verbgefüge muß noch getrennt geschrieben<br />
werden, aber auch hier fragt man sich, wie lange das noch gelten soll – und warum<br />
eigentlich, zumal die unterschiedliche Schreibweise von Verb und Partizip ein enormes<br />
Lernproblem darstellt.<br />
„Als regelwidrig werden die Schreibungen Hohelied und Hohepriester<br />
bezeichnet.<br />
Die Angaben des Duden sind korrekt. Die neu aufgenommenen Schreibungen<br />
sind fachsprachlich. Die Aufnahme fachsprachlicher Schreibungen ist den<br />
Wörterbüchern unbenommen.“<br />
Der Rekurs auf Fachsprachlichkeit scheint das Türchen zu sein, durch das neuerdings<br />
die flächendeckende Wiederzulassung der zuvor willkürlich ausgeschiedenen<br />
Schreibweisen ermöglicht wird. Fachsprachlichkeit muß, wie man hier schon sieht, in<br />
einem sehr weiten Sinne verstanden werden, wenn sie schon die Sprache der<br />
Bibelübersetzung umfaßt.<br />
Ich hatte ferner die Neuschreibung Messmer kritisiert. Die Kommission antwortet:<br />
„Eine Übertragung von Schreibungen, die im Regelwerk vorgegeben sind, auf<br />
analoge, jedoch nicht amtlich zu regelnde Fälle (Regionalismen), ist den<br />
Wörterbüchern überlassen.<br />
Begründung:<br />
Das amtliche Wörterverzeichnis enthält Messner, Mesner und (als Helvetismus)<br />
Mesmer. Der Duden gibt analog zu hochsprachlich Messner auch die Form<br />
Messmer für den schweizerischen Regionalismus Mesmer an. Diese Schreibung<br />
ist mit dem schweizerischen Dudenausschuss abgesprochen worden.“<br />
Von solchen Absprachen kann der Benutzer natürlich nichts wissen. Hinter dem<br />
Rotgedruckten scheint sich noch allerlei Nichtamtliches zu verbergen. Auf Anweisung<br />
der Kommission haben die neuesten Wörterbücher ja sogar die Mass Bier eingeführt.<br />
Übrigens trifft es nicht zu, daß die amtliche Neuregelung keine Regionalismen<br />
betreffe; im amtlichen Wörterverzeichnis sind Dutzende von schweizerischen und<br />
österreichischen Besonderheiten vermerkt.<br />
Zur selektiven Wiederaufnahme von Verbzusatzbildungen mit wieder-, die ich kritisiert<br />
hatte, bringt die Kommission eine sehr umfangreiche Verteidigung, die mir nur<br />
teilweise verständlich ist. Warum wieder herrichten und wiederherstellen laut Duden<br />
(2000) so unterschiedlich geschrieben werden sollen, wird nicht erklärt.<br />
Der Bericht gibt jedenfalls zu, daß die Auffassung des Duden sich geändert hat und<br />
folglich die Neubearbeitung ganz andere Auskünfte gibt als die damit überholte erste<br />
Reformausgabe. Daß die Unterscheidung zwischen Adverb und Verbzusatz auch bei<br />
der Kommission noch im Fluß ist, belegt der letzte Abschnitt:<br />
„Zu überlegen wäre, ob nicht in zwei der kritisierten Fälle auch die<br />
Zusammenschreibung zugelassen werden sollte: Bei wieder aufnehmen und<br />
wieder gutmachen liegt eine Herleitung aus den Substantiven Wiederaufnahme<br />
bzw. Wiedergutmachung und damit Zusammenschreibung nahe.“<br />
281
Der Umweg über die Substantive ist zwar nicht notwendig, aber die Richtung stimmt.<br />
Eine ähnliche Unfertigkeit zeigen die Ausführungen über wohl und hoch. Warum<br />
sollten wohlschmeckend/wohl schmeckend und wohlriechend (nur zusammen)<br />
verschieden behandelt werden? Wenn wirklich besser die Steigerungsform von wohl<br />
wäre, wie die Kommission annimmt, dann kann etwas sowohl besser schmecken als<br />
auch besser riechen, folglich wäre Gleichbehandlung angezeigt. Die wirren<br />
Ausführungen über hoch enden mit der Perspektive:<br />
„Zu überlegen wäre, ob nicht das angeführte Beispiel hoch empfindlich künftig<br />
besser der letzten Gruppe zugeordnet werden sollte, da hoch hier auch bedeutungsmodifizierend<br />
verstanden werden könnte.“<br />
Wir können also nur abwarten, zu welchen Einsichten die anpassungsbereite<br />
Kommission in zwei Jahren gekommen sein wird.<br />
„Stellungnahme des bundesdeutschen Beirates“ (Anlage 5)<br />
„Der Beirat versteht sich als beratendes Gremium, das vom Standpunkt der<br />
Praxis aus die Vorschläge der Kommission im Hinblick auf Praktikabilität und<br />
Akzeptanz überprüft.<br />
Auf der Basis einer fünfstündigen Diskussion des Berichtsentwurfs und unter<br />
Einbeziehung zweier schriftlicher Voten gelangt der bundesrepublikanische<br />
Beirat zu nachstehender Stellungnahme:<br />
Der bundesrepublikanische Beirat setzt sich mit Nachdruck dafür ein,<br />
1. dass keine grundlegende alternative Regelung von zentralen Komplexen des<br />
amtlichen Regelwerks vorgenommen wird, sondern dass die vorhandenen Regeln<br />
präzisiert werden.<br />
Diese Präzisierungen sollen ausschließlich auf der Basis des amtlichen<br />
Regelwerks erfolgen. Eine 'Reform der Reform' ist weder sachlich begründet<br />
noch aus der Sicht der Schreibenden sinnvoll. Trotz der in einigen Punkten<br />
divergierenden linguistischen Ansichten darf nicht übersehen werden, dass das<br />
Regelwerk in weiten Bereichen eine deutliche Systematisierung vornimmt (z. B.<br />
generelle Getrenntschreibung von Infinitiv und Verb). Aufgabe kann es daher nur<br />
sein, die vorhandenen Regeln erforderlichenfalls zu präzisieren.<br />
2. dass vor dem Ablauf der Übergangszeit aufgrund unzureichender Erfahrungen<br />
keine Präzisierungen am amtlichen Regelwerk vorgenommen werden.“<br />
Der Beirat möchte auf jeden Fall verhindern, daß die gesamte Neuregelung noch<br />
einmal überdacht und gegebenenfalls zur Disposition gestellt wird. Auch brauchen<br />
Bertelsmann, Duden usw. die Zeit bis 2005, damit die gewaltigen Kosten der<br />
Umstellung sich amortisieren. Unter diesem Aspekt wird die Fiktion aufrechterhalten,<br />
es habe bisher noch keine „Präzisierungen“, d. h. Veränderungen gegeben.<br />
Von linguistischem Unverstand zeugt zum ersten der Hinweis auf die Getrenntschreibung<br />
von Infinitiv und Verb, denn gerade diese Festlegung beruht auf der<br />
unsinnigen Behauptung, zwischen kennenlernen und schwimmen lernen gebe es<br />
keinerlei grammatischen Unterschied. Vom selben Schlag ist die Behauptung, die<br />
bisherige Kleinschreibung der Zahladjektive sei eine „Ausnahme“. Hier wird in längst<br />
überholter, gerade auch vom Reformarbeitskreis zurückgewiesener Weise die<br />
282
Artikelfähigkeit als Kriterium der Wortart Substantiv und damit der Großschreibung<br />
zugrunde gelegt.<br />
Der Beirat setzt sich ferner dafür ein,<br />
„dass bis zum Jahre 2005 ein Ausgleich zwischen dem amtlichen Regelwerk und<br />
den in einzelnen Punkten davon abweichenden Schreibanweisungen in<br />
bestimmten Praxisbereichen herbeizuführen ist.“ (S. 129)<br />
Aus dem Protokoll vom 26. September 2000 (das nicht zu den Anlagen des Berichts<br />
gehört) geht hervor, daß hier auf die Hausorthographien angespielt wird. Offenbar soll<br />
auch das amtliche Regelwerk in einigen Punkten geändert werden. Der Beirat regt<br />
ferner an, den Begriff der Fachsprachlichkeit so auszuweiten, daß es der<br />
Sprachgemeinschaft freigestellt ist, die Rote Karte usw. auch wieder groß zu <strong>schreiben</strong>,<br />
ohne daß die Regeln geändert werden müßten.<br />
„Stellungnahme des österreichischen Beirats“ (Anlage 6)<br />
In dieselbe Richtung zielt der Vorschlag des österreichischen Beirats für Sprachentwicklung.<br />
Er sieht<br />
„in der Frage der Groß- und Kleinschreibung von Nominationsstereotypen nach<br />
der Art S/schwarzes Brett die praktikabelste Lösung darin, dass grundsätzlich<br />
Kleinschreibung des ersten Bestandteils (Adjektiv) vorgesehen wird, dass es aber<br />
keinerlei 'Fehler' sein soll, wenn betroffene Personen (etwa Mitglieder<br />
bestimmter Vereine, Interessensvertretungen) ihre jeweiligen Anliegen (z. B.<br />
Offenes Lernen, Lebensbegleitendes Lernen, Gelbe Karte) durch Großschreibung<br />
kennzeichnen wollen. Das Regelwerk muss sich dazu nicht unbedingt äußern.“<br />
(S. 131)<br />
Ebenso möchte der österreichische Beirat „dem Toleranzgedanken, namentlich im<br />
Bereich der Getrennt- und Zusammenschreibung, mehr Raum geben“. Fazit: Man<br />
schreibt in diesen umstrittenen Bereichen wieder so wie früher, tut aber so, als sei alles<br />
mit der Neuregelung verträglich.<br />
283
Literatur<br />
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