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Ärzteblatt Mai 2010 - Ärztekammer Mecklenburg-Vorpommern

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WISSENSCHAFT UND FORSCHUNG<br />

Das Post-Polio-Syndrom<br />

Peter Brauer<br />

Unter den Ärzten ist das Wissen um die Polio-Encephalo-<br />

Myelitis (PM) als Erkrankung und das Post-Polio-Syndrom<br />

(PPS) als ihre späte Folge besonders im Hinblick auf die einschlägige<br />

Patientenbetreuung bedauerlicherweise mehrheitlich<br />

katastrophal.<br />

Jede Polio-Infektion (PI) ist encephalitisch und hinterläßt<br />

neurogene strukturelle Defekte bei paralytischen wie aparalytischen<br />

Verläufen. Läsionen finden sich neurohistopathologisch<br />

und bei entsprechender Größenordnung auch magnetresonanztomographisch.<br />

Betroffen davon sind das Myelon,<br />

Myelencephalon, Metencephalo, Mesencephalon, Diencephalon<br />

und das Telencephalon in seinen motorischen wie<br />

prämotorischen Anteilen. Der Virusbefall des Myelons erfolgt<br />

nicht obligat. Die emotionalen und intellektuellen Funktionen<br />

sind nicht direkt erfaßt, die sensorischen Funktionen<br />

können teilweise beeinträchtigt sein.<br />

Nur etwa ein Prozent der Infizierten erkranken manifest paralytisch,<br />

etwa ein Prozent aparalytisch, etwa sechs Prozent<br />

abortiv und etwa 92 Prozent bleiben asymptomatisch. Alle<br />

Verlaufsformen erreichen bei erhaltenem oder entsprechend<br />

mehr oder weniger weitgehend wieder hergestelltem funktionellen<br />

Niveau nach einer PI einen klinisch stabilen Zustand<br />

als zeitlich begrenzte Phase. Die Subklinik ist allerdings instabil.<br />

Es handelt sich dabei im spinal motorischen Bereich um<br />

einen neurogenen Remodellierungsvorgang. Restierende gesunde<br />

und vorgeschädigte übernehmen die Funktion zerstörter<br />

Neurone durch Reinervation verwaister Muskeln unter<br />

Bildung motorischer Rieseneinheiten. Sie leisten damit das bis<br />

zu Zehnfache gegenüber dem physiologischen Zustand. Nicht<br />

erfaßte Muskulatur atrophiert. Die kompensierenden Muskeln<br />

hypertrophieren. Im cerebralen Bereich sind Kompensationsvorgänge<br />

in Form von neurogener Sprossung und Neubahnung<br />

zu vermuten. PPS-Symptomatik cerebralen Charakters<br />

legt diese Vermutung nahe. Stark betroffen sind zumeist<br />

verschiedene Stammhirnareale mit wichtigen neuroregulativen<br />

Funktionen wie beispielsweise Hirnaktivierung, Atmung,<br />

Temperatur, Herz-Kreislauf, Schlaf, Schmerz, Gleichgewicht.<br />

Die muskuläre Reinervation ist nicht stabil und unterliegt einem<br />

ständigen Auf- und Abbau von begrenzter Kapazität.<br />

Funktion und Struktur befinden sich auf Dauer kurz unterhalb<br />

oder direkt an ihrer Leistungsgrenze. Durchschnittlich<br />

35 Jahre nach der PM treten bei einem hohen Prozentsatz<br />

der Betroffenen unerwartet, häufig schleichend, seltener<br />

schlagartig neue Symptome auf, die als Tertiärfolgen zu dem<br />

PPS, einer eigenständigen Erkrankung zusammengefaßt werden<br />

und streng von den Polio-<br />

Primär- sowie Polio-Sekundär-Folgen<br />

zu trennen sind. Zu diesem<br />

Kreis gehören mindestens 75 Prozent<br />

der Polio-Überlebenden mit<br />

Folgeparalysen und -paresen, von<br />

den aparalytischen Erkrankungsfällen<br />

sind es etwa 40 %. Abortive<br />

und asymptomatische Infektionsverläufe<br />

sind zu etwa 20 Prozent<br />

betroffen. Das bedeutet für<br />

Deutschland zum gegenwärtigen<br />

Zeitpunkt immer noch eine Zahl<br />

von bis zu 100.000 offensichtlich<br />

Betroffenen. Die Dunkelziffer ist<br />

mit mindestens einer Million anzusetzen.<br />

Nach KOS könnte in der<br />

ärztlichen Praxis jeder 40. Patient<br />

der Geburtsjahrgänge bis 1962<br />

ein PPS haben. Das PPS-Risiko ist<br />

von der Größe und Lokalisation<br />

des poliobedingten Vorschadens<br />

Seite 150 ÄRZTEBLATT MECKLENBURG-VORPOMMERN

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