Ärzteblatt Mai 2010 - Ärztekammer Mecklenburg-Vorpommern
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WISSENSCHAFT UND FORSCHUNG<br />
einem Neuronenverlust von 50 Prozent ist der funktionelle<br />
Ausfall nicht mehr kompensierbar und wird klinisch. Das trifft<br />
auf die PM mit ihren Frühfolgen sowie auf das PPS zu. Unter<br />
diesem Gesichtspunkt existiert bei einer unterschwelligen Dekompensation<br />
auch ein subklinisches bzw. klinisch asymptomatisches<br />
PPS. Nicht selten können deswegen im Verlauf subjektive<br />
den objektivierbaren Symptomen vorangehen.<br />
Poliobedingte Schäden des Gehirns mit ihren Auswirkungen<br />
in Form des PPS gewinnen bei in der Literatur zur Genüge<br />
nachgewiesener pathophysiologischer Grundlage zunehmend<br />
an Interesse, um zentrale Symptome regulativer Art auf den<br />
Gebieten von Leistungsbereitschaft, Leistungsfähigkeit, Respiration,<br />
kardiovaskulärer Steuerung, Temperaturregulation,<br />
Schmerzverarbeitung, Gleichgewichtsregulation usw. einer<br />
Erklärung zuzuführen. Auch hier wäre an eine Verschleißdegeneration<br />
der vorgeschädigten Struktur zu denken.<br />
Wenn aus den neuerlichen Symptomen das PPS als Diagnose<br />
gestellt werden soll, sind aus heutiger Sicht nach BRAUER<br />
folgende Kriterien zugrunde zu legen, nach denen es differentialdiagnostisch<br />
in Erwägung zu ziehen ist:<br />
Die Patientin/der Patient setzt sich zwischen einen Türrahmen und drückt<br />
mit beiden Händen gegen den Rahmen, hält die Spannung 8 bis 10 Sekunden<br />
und macht 5 Wiederholungen.<br />
1. Eine frühere Poliomyelitiserkrankung mit oder ohne direkte<br />
klinische Folgen ist aus der Anamnese bekannt oder<br />
durch Befunde gezielter Diagnostik wahrscheinlich.<br />
2. Zwischen dem Zeitpunkt der sicheren oder wahrscheinlichen<br />
Infektion und dem Auftreten neuerlicher postpolioverdächtiger<br />
Beschwerden liegt eine klinisch stabil<br />
erscheinende Phase.<br />
3. Für die nunmehr auftretenden Krankheitserscheinungen<br />
gibt es keine erkennbar andere Ursache.<br />
Wichtigste Grundlage der Diagnostik ist die sorgfältig und<br />
mit Sachkunde erhobene Anamnese. Ihr kommt das Hauptgewicht<br />
bei der spezifischen Differenzierung zu.<br />
Das Erscheinungsbild der Polio-Spätfolgen ist mit der komplexen<br />
Kausalität in seiner Ausprägung nach Art und Stärke<br />
vielfältig und auf den Patienten bezogen sehr individuell.<br />
Das macht auch die uneinheitlichen, teilweise widersprüchlichen<br />
Ergebnisse von medizinischen Studien zu diesem Thema<br />
aus. Trotzdem sind gerade deswegen ihre Aussagen nicht<br />
pauschal in Zweifel zu ziehen. Die Existenz der eigenständigen<br />
Erkrankung PPS gilt als bewiesen und ist auf keinen Fall<br />
in Frage zu stellen.<br />
In einer Aussage von HALSTEAD und GRIMBY stellt sich das<br />
PPS als interdisziplinär-diagnostisches Problem mit hohem<br />
differentialdiagnostischen Aufwand dar:<br />
1. Ein pathognomonischer Test existiert nicht.<br />
2. Die Symptome sind überwiegend subjektiv und sehr allgemein.<br />
3. Es gibt kein eindeutig spezifisches Symptommuster.<br />
4. Die Diagnose ist eine Ausschlußdiagnose.<br />
Praktisch konfrontiert sind damit in erster Linie Allgemeinmediziner,<br />
Internisten, Kardiologen, Anästhesisten/Intensivmediziner,<br />
Orthopäden, Neurologen, Pulmologen und der<br />
Bereich der physikalischen Medizin. Das PPS ist zugleich ein<br />
therapeutisches Problem, denn es gibt keine hinreichend befriedigende<br />
physiotherapeutische und medikamentöse Einflußmöglichkeit.<br />
Kausal handelt es sich um einen neurogenen<br />
Strukturdefekt. Dieser ist als solcher nicht heilbar, sondern<br />
nur eingeschränkt symptomatisch behandelbar. Die<br />
wesentliche Therapie besteht in einer dosierten Be- und Entlastung<br />
des neuromuskulären Systems einschließlich der respiratorischen<br />
Komponente. Das gilt gleichfalls für die kontrollierte<br />
Physiotherapie unter Beachtung ihrer speziellen<br />
Risiken bezüglich des PPS. Nicht vergessen werden darf die<br />
Überlastungsprävention auf psychischem Gebiet.<br />
Bei seiner Gratwanderung zwischen Minder- und Überbeanspruchung<br />
befindet sich der Patient in einem Circulus vitiosus<br />
Seite 152 ÄRZTEBLATT MECKLENBURG-VORPOMMERN