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George Orwell - Mein Katalonien (1938)

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konnte ich die Männer in meiner Nähe sehen. Sie waren ein Haufen gekrümmter Schatten, die<br />

wie riesige schwarze Pilze langsam vorwärts glitten. Aber jedes Mal, wenn ich meinen Kopf<br />

hob, wisperte Benjamin dicht neben mir ungestüm in mein Ohr: »Den Kopf runterhalten! Den<br />

Kopf runterhalten!« Ich hätte ihm sagen können, er brauche sich nicht zu sorgen. Ich wusste<br />

aus Erfahrung, dass man in einer dunklen Nacht niemals einen Mann auf eine Entfernung von<br />

zwanzig Schritten sehen kann. Viel wichtiger war es, ohne einen Laut vorzugehen. Wenn sie<br />

uns einmal hörten, war es aus mit uns. Sie brauchten nur die Dunkelheit mit ihrem<br />

Maschinengewehrfeuer zu zerschneiden, und uns würde nichts anderes übrig bleiben, als<br />

wegzulaufen oder massakriert zu werden.<br />

Es war fast unmöglich, auf dem durchweichten Boden ruhig voranzukommen. Wie man es<br />

auch anstellte, die Füße blieben im Schlamm stecken, und jeder Schritt, den man machte, war<br />

ein Platsch-Platsch, Platsch-Platsch. Das Teuflische aber war, dass der Wind nachgelassen<br />

hatte und trotz des Regens die Nacht sehr ruhig war. Geräusche konnten selbst über größere<br />

Entfernungen hinweg gehört werden. Ich erlebte einen schrecklichen Augenblick, als ich<br />

gegen eine Blechdose trat und dachte, jeder Faschist im Umkreis von Kilometern müsse es<br />

gehört haben. Aber nein, kein Ton, kein Schuss als Antwort, keine Bewegung in der<br />

faschistischen Linie. Wir krochen weiter, immer langsamer. Ich kann gar nicht beschreiben,<br />

wie heftig mein Wunsch war, dorthin, also bis auf Handgranaten-Wurfweite,<br />

heranzukommen, ehe sie uns hörten! In einem derartigen Augenblick hat man nicht einmal<br />

Furcht, nur den riesigen, hoffnungslosen Wunsch, über das dazwischenliegende Gelände zu<br />

kommen. Bei der Jagd auf wilde Tiere habe ich genau das gleiche gefühlt, den gleichen<br />

qualvollen Wunsch, auf Schussweite heranzukommen, die gleiche traumhafte Gewissheit,<br />

dass es unmöglich ist. Wie sich die Entfernung dehnte! Ich kannte das Gelände gut, es waren<br />

kaum hundertfünfzig Meter, und doch schienen es eher anderthalb Kilometer zu sein. Wenn<br />

man in diesem Tempo kriecht, hat man ein Gefühl, wie eine Ameise es von den riesigen<br />

Unterschieden des Bodens haben mag: ein herrliches Fleckchen weiches Gras hier; ein<br />

hässliches Stück klebrigen Schlammes dort; die hohen, raschelnden Gräser, die man<br />

vermeiden muss; den Haufen Steine, die einen fast die Hoffnung aufgeben lassen, weil es<br />

unmöglich erscheint, ohne Lärm über sie hinwegzukommen.<br />

Wir waren so lange vorangekrochen, dass ich nahezu glaubte, wir hätten den falschen Weg<br />

eingeschlagen. Dann wurden in der Dunkelheit dünne, parallellaufende Linien aus etwas noch<br />

Schwärzerem gerade sichtbar. Es war der äußere Drahtverhau (die Faschisten hatten zwei<br />

Linien Drahtverhaue). Jorge kniete nieder und wühlte in seiner Tasche. Er hatte unsere<br />

einzige Drahtschere. Schnipp, schnipp. Die herumhängenden Drähte wurden vorsichtig zur<br />

Seite gehoben. Wir warteten auf die Männer am Schluss, damit sie aufschließen konnten. Sie<br />

schienen einen entsetzlichen Lärm zu machen. Es konnten noch fünfzig Meter bis zur<br />

faschistischen Brustwehr sein. Immer tief gebeugt vorwärts. Mit verstohlenem Schritt setzten<br />

wir unseren Fuß so sanft auf wie eine Katze, die sich einem Mauseloch nähert, dann eine<br />

Pause, um zu horchen, dann ein weiterer Schritt. Einmal hob ich meinen Kopf, schweigend<br />

legte Benjamin seine Hand hinter meinen Hals und zerrte mich heftig herunter.<br />

Ich wusste, dass der innere Stacheldraht kaum zwanzig Meter von der Brustwehr entfernt war.<br />

Es schien mir undenkbar, dass dreißig Mann, ohne gehört zu werden, dort hinkommen<br />

könnten. Schon unser Atem genügte, um uns zu verraten, aber irgendwie schafften wir es.<br />

Man konnte die faschistische Brustwehr jetzt sehen, ein verschwommener schwarzer<br />

Erdhügel, der hoch über uns aufragte. Wieder kniete Jorge und hantierte herum. Schnipp,<br />

schnipp. Es gab keine Methode, den Draht geräuschlos durchzuschneiden.<br />

Das war also der innere Drahtverhau. Wir krochen auf allen vieren hindurch, möglichst noch<br />

schneller als vorher. Wenn wir jetzt Zeit hatten, uns zu entfalten, war alles gut. Jorge und<br />

Benjamin krochen nach rechts hinüber. Aber die Männer hinter uns, die weiter<br />

auseinandergeschwärmt waren, mussten sich in einer Linie hintereinander ordnen, um durch<br />

die enge Lücke im Drahtverhau zu kommen. Genau in diesem Augenblick gab es am<br />

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