Narkomfin-Kommunehaus, Wohnzimmer Narkomfin Community Building, living room (1987)
30 31 Der Sujew-Arbeiterklub: Ur-Matrix moderner Gebäude-Ecken Gebäude-Ecken faszinieren mich nicht erst, seitdem ich Bauhistoriker geworden bin. Sagen sie doch in bestimmten Fällen sehr viel mehr über die jeweilige Entwurfsideologie aus als die übrigen Teile eines Bauwerks. So lässt sich am Vergleich der Ecken von Peter Behrens AEG-Turbinenfabrik in Berlin (1909) mit Walter Gropius und Adolf Meyers Fagus- Werken in Alfeld an der Leine (1914) der Paradigmenwechsel von der Prä-Moderne zur kommenden Moderne wohl kaum anschaulicher nachvollziehen. Während Behrens die nicht tragende Ecke künstlich verstärkte, um die Fassade als abstrahierte Tempelfront wirken zu lassen, stellten Gropius und Meyer die Ecke frei, indem sie eine Vorhangfassade aus Stahl und Glas transparent um sie herum führten und dahinter die tragende Konstruktion sichtbar machten. Die schönste und vermutlich folgenreichste Ecke der Moderne steht aber in Moskau, genauer gesagt in der Lesnaja Uliza Nr. 18. Sie gehört zum Sujew-Arbeiterklub, den Ilja Golossow 1927 errichtet hat. Der Bau selbst ist eines der großen Demonstrationsobjekte der russischen Revolutionsarchitektur. Seine Gestaltung beruht auf der Idee, einen im Durchmesser etwa acht Meter tiefen Stahl- Glas-Zylinder für das Treppenhaus vertikal durch den rechtwinkligen Baukörper zu stecken. Damit wurde bei Tag, vor allem aber bei Dunkelheit das Auf- und Absteigen der Arbeiterinnen und Arbeiter dramaturgisch, ja fast schon kinematographisch in Szene gesetzt. Glücklicherweise steht das Gebäude trotz zahlreicher Umnutzungs- und Abrissabsichten noch heute. Lediglich marginale Veränderungen musste es bislang über sich ergehen lassen. Zwar fungiert es längst nicht mehr als Arbeiterklub, dient aber wie zu seiner Entstehungszeit als Tagungs- und Theaterzentrum. Wie sehr diese Ecklösung „schulbildend“ wirkte, beweist ein kurzer Blick auf Giuseppe Terragnis Wohnblock Novocomum in Como (1929). Auch hier stößt an der Ecke ein mächtiger Stahl-Glas-Zylinder vertikal durch den Baukörper. Wobei der einzige Unterschied zum himmelwärts stürmenden Su- jew-Club darin besteht, dass Terragnis offener Zylinder im ersten Obergeschoß durch eine abgerundete Eckpartie dringt und vor Erreichen des Flachdachs von einem horizontalen Geschoss abgefangen wird. Beim Vergleich beider Ecklösungen drängt sich fast zwangsläufig so etwas wie ein Plagiatsverdacht auf. 1945 steuerte Ludwig Mies van der Rohe mit der Konzeption seiner weltberühmten Ecke für die Alumni Memorial Hall auf dem Chicagoer IIT-Gelände eine Ecklösung bei, bei der die außen sichtbaren Stahlprofile mit der eigentlichen Konstruktion nicht identisch sind. Denn diese musste aus feuerpolizeilichen Gründen feuerfest ummantelt sein. Somit bilden die außen sichtbaren Metallprofile die dahinter liegenden Konstruktionen lediglich ab; ähnlich wie dies in der älteren Architekturgeschichte die gemeißelten Profile der Steinbauten taten, auf die sich Mies stets berief. Zu gleichen Teilen auf Golossow und Terragni berief sich Aldo Rossi, als er 1988 im Rahmen der IBA einen Wohnkomplex an der Berliner Wilhelmstraße errichtete. Wobei Rossi bei seiner „fliegenden Ecke“ freilich die gläsernen Zylinder seiner Vorgänger durch eine mehrere Meter dicke Betonsäule ersetzte, die drei verklinkerte Wohngeschosse trägt. Der Sujew-Klub verkörpert mithin so etwas wie die Ur-Matrix vieler analoger Ecklösungen von der Moderne bis zur Post- und Nachmoderne. Doch nie wieder haben diese Lösungen jene bildhafte, politische Ausdruckskraft und Suggestion erreicht wie das Original. Golossows Bau befindet sich heute in einem leidlichen Zustand. Sollte er nicht nachhaltig instand gehalten werden, dürfte ihn das gleiche Schicksal ereilen wie andere wichtige Bauten der russischen Revolutionsarchitektur: Verfall und Abriß. Frank R. Werner The Zuyev Workers’ Club – Primary Matrix of Modern Building Corners’ Building corners fascinated me even before I became an architectural historian. Indeed they reveal in certain cases much more about the respective design ideology than all the other parts of the building. A comparison of the corners of Peter Behrens’ AEG Turbine Factory in Berlin (1909) allows one to comprehend the paradigm change from the pre-Modern to the coming Modern in a most concrete way. While Behrens artificially strengthens the corners which are not load bearing so that the façade seems to be a temple front, Gropius and Meyer leave the corners free standing. They carry a transparent curtain wall of steel and glass around the building so that the load bearing structure is visible behind it. However, the most beautiful and presumably most effective corner of the Modern is in Moscow, more precisely at No. 18 Lesnaya Ulitsa. It is the Zuyev Workers’ Club which Ilya Golosov erected in 1926. The structure itself is one of the largest demonstration objects of the Russian Revolution. Its design is based on the idea of placing an 8 meter diameter steel glass cylinder vertically for the stairwell through the right angled structure. The ascent and descent of the workers was thus dramatically and indeed almost cinematographically staged by day and especially at night. Fortunately the building still stands today, despite numerous renovation and demolition plans. Until now it has had to suffer merely marginal alterations. Indeed for a long time it has not functioned as a workers’ club, but like the club, it still serves as a convention center and theater space. How instructive this corner solution works is proven by a short look at Giuseppe Terragni’s apartment building, Novocomum in Como (1929). Here also a mighty steel glass cylinder thrusts vertically through the building on the corner. That the only difference to the heaven-ward-storming Zuyev Club is that Terragni’s open cylinder pushes through a rounded part of the corner on the second floor and is propped up before reaching the flat roof by a horizontal floor. A suspicion arises almost of plagiarism when comparing