Straßenszene Сцена на улице (1987)
78 79 Moskau 1991 Im Juli 1991 reiste ich zu Forschungszwecken für einen Monat nach Moskau. Ich wohnte in einer Privatwohnung, die mir Sergej, ein befreundeter Journalist, zur Verfügung gestellt hatte. Die nahe gelegene Metrostation Aeroport war mein täglicher Einstieg in das unterirdische Verkehrsnetz der Stadt, das mich zu Bibliotheken und Archiven brachte, wo ich meine Studien trieb. Moskau war ruhig und relativ leer – im Sommer ist man auf der Datscha. Zu einer festen Anlaufstelle wurde während dieses Monats die Germanistin K., die ganz in der Nähe wohnte. Ich hatte sie wenige Jahre zuvor in Deutschland kennengelernt. Inzwischen war sie über siebzig, dabei sehr vital, eine energische Person, die streng, fast ein wenig hart wirkte, wenn man sie im offiziellen Rahmen traf. Wenn sie mich jedoch in ihrer winzigen Wohnung empfing, zeigte sie sich von einer ganz anderen Seite. Wie sie mir mit ihren bescheidenen Mitteln russische Gastfreundlichkeit entgegenbrachte, rührte mich, und von ihrer Arbeit sprach sie mit fast jugendlichem Enthusiasmus. Sie wollte vieles von mir wissen, aber vor allem hatte sie spannende Dinge zu erzählen. Es waren Geschichten über Kämpfe um die deutschsprachige Literatur. Kämpfe mit den Instanzen der Zensur. Kämpfe um Autoren, um Texte, um Sätze, um einzelne Wörter. Mit Max Frisch war sie befreundet gewesen. Schon im Jahr davor hatte sie von seiner Krankheit gesprochen. Inzwischen war er gestorben, und die Betroffenheit über diesen Verlust war ihr anzumerken. Selbst bei Frisch, der politisch unproblematisch war, hatte es Textstellen gegeben, die die Zensur nicht durchgehen ließ. Sie hatte mit ihm darüber verhandeln müssen, wie weit eingegriffen werden durfte, ohne dass er einen ganzen Text zurückzog. Brecht, Kafka, Musil, Grass, Christa Wolf und viele andere hatte sie übersetzt. Kafka – in der Welt des sozialistischen Realismus eigentlich ein Unding, aber sie hatte ihn durchgesetzt. Und sie hatte viel vor. Unzensierte Werkausgaben – noch vor zehn Jahren undenkbar. Jetzt waren sie möglich. Über solchen Gesprächen verbrachten wir manchen Abend in ihrer Küche bei einem einfachen Essen, einem Kaffee, einem Gläschen Wein. Sergej scherzte schon: „Gehst Du wieder zu Deiner Freundin?“ Und ja. Es war so etwas wie Freundschaft entstanden in diesen Wochen. Am Tag vor meiner Abreise suchte ich Frau K. noch einmal auf, um einen Brief an Wellershoff abzuholen, den sie hatte schreiben wollen. „Ich habe es nicht geschafft“, sagte sie auf Deutsch, und ich musste an all das denken, was sie geschafft hatte. Wir verabschiedeten uns herzlich. Am 10. August 1991 flog ich zurück nach Deutschland. Eine gute Woche später, am 19. August, begann in Moskau der Putschversuch der reformfeindlichen Kommunisten gegen die Regierung Gorbatschow – der Anfang vom Ende der Sowjetunion. Frank Göbler Moscow 1991 In July 1991, I traveled for research purposes to Moscow for a month. I lived in a private apartment that a journalist friend of mine, Sergey, let me use. The nearby Metro station Aeroport was my daily entrance into the underground transportation network of the city. It brought me to libraries and archives where I conducted my studies. Moscow was peaceful and relatively empty, for the summer is spent at the datscha or country cottage. The Germanist K., who lived nearby, became a regular refuge for me during this month. I had become acquainted with her a few years before in Germany. In the meantime she was now 70 and yet a vigorous and energetic person who gave a severe and almost harsh impression when meeting her on official occasions. However, when welcoming me to her tiny apartment, she showed another side of herself. The Russian hospitality which she showed me with her modest means touched me. She spoke about her work with almost youthful enthusiasm. She wanted to learn much from me, but above all, she had excit- ing things to tell. There were stories about the battles for German literature, battles with the censor, and battles for authors, for texts, for sentences and for single words. She had been friends with Max Frisch. The year before, she had mentioned his illness. In the meantime, he had died and her sadness about this loss was noticeable. Even with Frisch, who was politically unproblematic, there had been texts which the censor had not allowed through. She had had to negotiate with Frisch, how much could be omitted before he withdrew the whole work from being translated. Brecht, Kafka, Musil, Grass, Christa Wolf and many others had been translated by her. Kafka was an absurdity in the world of socialist realism, but she had pushed him through. She had many plans, too. Uncensored work <strong>edition</strong>s were unthinkable even ten years ago. Now they could be done. With such conversations we spent many evenings in her kitchen with a simple meal, like coffee and a small glass of wine. Sergey even joked, “Are you going to visit your girlfriend?” Yes, indeed, something like friendship had grown between us in these weeks. On the day of my departure, I called on Mrs. K. to pick up a letter to Wellershoff which she had wanted to write. “I wasn’t able to write it,” she said in German, and I had to recall everything she had accomplished. We had a hearty farewell. On August 10th, 1991, I flew back to Germany. A good week later, on August 18th, the attempted revolt of the anti-reform communists against the Gorbachev government took place – the beginning of the end of the Soviet Union. Frank Goebler